Erich Maria Remarque. Der schwarze Obelisk



Roman


(Auszug:
Kapitel 1, 12, 13
OCR: Korrektor)
Der Roman einer Generation zwischen den Kriegen: Das Inflationsjahr
1923. Es ist die Zeit der Spekulanten und Schieber, der kleinen Beamten und
großen Kaufleute, der verarmten Rentner und Kriegsversehrten, einer
Gesellschaft in moralischer Auflusung, Eine ganze Generation hat auf bittere
Weise gelernt zu uberleben - aber nicht, sich im Leben zurechtzufinden. Wie
Ludwig, der im Krieg wie so viele andere seine Jugend verlor und nicht
weiß, wo er hingehurt Auf der Suche nach Liebe und einem Platz im
leben begegnet er der schunen, aber schizophrenen Isabelle..,

"Mit seinem Schwarzen Obelisken hat Erich Maria Remarque einer kurzen,
aber wesentlichen Epoche der jungeren deutschen Geschichte ein literarisches
Denkmal gesetzt." Frankfurter Allgemeine Zeitung
Scheltet nicht, wenn ich einmal von alten Zeiten rede. Die Welt liegt
wieder im fahlen Licht der Apokalypse, der Geruch des Blutes und der Staub
der letzten Zersturung sind noch nicht verflogen, und schon arbeiten
Laboratorien und Fabriken aufs neue mit Hochdruck daran, den Frieden zu
erhalten durch die Erfindung von Waffen, mit denen man den ganzen Erdball
sprengen kann.
Den Frieden der Welt! Nie ist mehr daruber geredet und nie weniger
dafur getan worden als in unserer Zeit; nie hat es mehr falsche Propheten
gegeben, nie mehr Lugen, nie mehr Tod, nie mehr Zersturung und nie mehr
Trunen als in unserem Jahrhundert, dem zwanzigsten, dem des Fortschritts,
der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordens. -
Darum schelte nicht, wenn ich einmal zuruckgehe zu den sagenhaften
Jahren, als die Hoffnung noch wie eine Flagge uber uns wehte und wir an so
verduchtige Dinge glaubten wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz - und
auch daran, daß ein Weltkrieg genug Belehrung sein musse fur eine
Generation. -
1 Die Sonne scheint in das Buro der Grabdenkmalsfirma Heinrich Kroll
& Suhne. Es ist April 1923, und das Geschuft geht gut. Das Fruhjahr hat
uns nicht im Stich gelassen, wir verkaufen glunzend und werden arm dadurch,
aber was kunnen wir machen - der Tod ist unerbittlich und nicht abzuweisen,
und menschliche Trauer verlangt nun einmal nach Monumenten in Sandstein,
Marmor und, wenn das Schuldgefuhl oder die Erbschaft betruchtlich sind,
sogar nach dem kostbaren schwarzen schwedischen Granit, allseitig poliert.
Herbst und Fruhjahr sind die besten Jahreszeiten fur die Hundler mit den
Utensilien der Trauer- dann sterben mehr Menschen als im Sommer und im
Winter -; im Herbst, weil die Sufte schwinden, und im Fruhjahr, weil sie
erwachen und den geschwuchten Kurper verzehren wie ein zu dicker Docht eine
zu dunne Kerze. Das wenigstens behauptet unser ruhrigster Agent, der
Totengruber Liebermann vom Stadtfriedhof, und der muß es wissen; er
ist achtzig Jahre alt, hat uber zehntausend Leichen eingegraben, sich von
seiner Provision an Grabdenkmulern ein Haus am Fluß mit einem Garten
und einer Forellenzucht gekauft und ist durch seinen Beruf ein abgeklurter
Schnapstrinker geworden. Das einzige, was er haßt, ist das Krematorium
der Stadt. Es ist unlautere Konkurrenz. Wir mugen es auch nicht. An Urnen
ist nichts zu verdienen.
Ich sehe auf die Uhr. Es ist kurz vor Mittag, und da heute Sonnabend
ist, mache ich Schluß. Ich stulpe den Blechdeckel auf die
Schreibmaschine, trage den Vervielfultigungsapparat "Presto" hinter den
Vorhang, ruume die Steinproben beiseite und nehme die photographischen
Abzuge von Kriegerdenkmulern und kunstlerischem Grabschmuck aus dem
Fixierbad. Ich bin nicht nur Reklamechef, Zeichner und Buchhalter der Firma;
ich bin seit einem Jahr auch ihr einziger Buroangestellter und als solcher
nicht einmal vom Fach.
Genießerisch hole ich eine Zigarre aus der Schublade. Es ist eine
schwarze Brasil. Der Reisende fur die Wurttembergische Metallwarenfabrik hat
sie mir am Morgen gegeben, um hinterher zu versuchen, mir einen Posten
Bronzekrunze anzudrehen; die Zigarre ist also gut. Ich suche nach
Streichhulzern, aber, wie fast immer, sind sie verlegt. Zum Gluck brennt ein
kleines Feuer im Ofen. Ich rolle einen Zehnmarkschein zusammen, halte ihn in
die Glut und zunde mit damit die Zigarre an. Das Feuer im Ofen ist Ende
April eigentlich nicht mehr nutig; es ist nur ein Verkaufseinfall meines
Arbeitgebers Georg Kroll. Er glaubt, daß Leute in Trauer, die Geld
ausgeben mussen, das lieber in einem warmen Zimmer tun, als wenn sie
frieren. Trauer sei bereits ein Frieren der Seele, und wenn dazu noch kalte
Fuße kumen, sei es schwer, einen guten Preis herauszuholen. Wurme taue
auf; auch den Geldbeutel. Deshalb ist unser Buro uberheizt, und unsere
Vertreter haben als obersten Grundsatz eingepaukt bekommen, nie bei kaltem
Wetter oder Regen zu versuchen, auf dem Friedhof einen Abschluß zu
machen - immer nur in der warmen Bude und, wenn muglich, nach dem Essen.
Trauer, Kulte und Hunger sind schlechte Geschuftspartner.
Ich werfe den Rest des Zehnmarkscheins in den Ofen und richte mich auf.
Im selben Moment hure ich, wie im Hause gegenuber ein Fenster
aufgestoßen wird. Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen, was los
ist. Vorsichtig beuge ich mich uber den Tisch, als hutte ich noch etwas an
der Schreibmaschine zu tun. Dabei schiele ich verstohlen in einen kleinen
Handspiegel, den ich so gestellt habe, daß ich das Fenster beobachten
kann. Es ist, wie immer, Lisa, die Frau des Pferdeschluchters Watzek, die
nackt dort steht und guhnt und sich reckt. Sie ist erst jetzt aufgestanden.
Die Straße ist alt und schmal, Lisa kann uns sehen und wir sie, und
sie weiß es; deshalb steht sie da. Plutzlich verzieht sie ihren
großen Mund, lacht mit allen Zuhnen und zeigt auf den Spiegel. Sie hat
ihn mit ihren Raubvogelaugen entdeckt. Ich urgere mich, erwischt zu sein,
benehme mich aber, als merke ich nichts und gehe in einer Rauchwolke in den
Hintergrund des Zimmers. Nach einer Weile komme ich zuruck. Lisa grinst. Ich
blicke hinaus, aber ich sehe sie nicht an, sondern tue, als winke ich jemand
auf der Straße zu. Zum uberfluß werfe ich noch eine
Kußhand ins Leere. Lisa fullt darauf herein. Sie ist neugierig und
beugt sich vor, um nachzuschauen, wer da sei. Niemand ist da. Jetzt grinse
ich. Sie deutet urgerlich mit dem Finger auf die Stirn und verschwindet.
Ich weiß eigentlich nicht, warum ich diese Komudie auffuhre. Lisa
ist das, was man ein Prachtweib nennt, und ich kenne einen Haufen Leute, die
gern ein paar Millionen zahlen wurden, um jeden Morgen einen solchen Anblick
zu genießen. Ich genieße ihn auch, aber trotzdem reizt er mich,
weil diese faule Krute, die erst mittags aus dem Bett klettert, ihrer
Wirkung so unverschumt sicher ist. Sie kommt gar nicht auf den Gedanken,
daß nicht jeder sofort mit ihr schlafen muchte. Dabei ist ihr das im
Grunde ziemlich gleichgultig. Sie steht am Fenster mit ihrer schwarzen
Ponyfrisur und ihrer frechen Nase und schwenkt ein Paar Bruste aus
erstklassigem Carrara-Marmor herum wie eine Tante vor einem Suugling eine
Spielzeugklapper. Wenn sie ein Paar Luftballons hutte, wurde sie fruhlich
die hinaushalten. Da sie nackt ist, sind es eben ihre Bruste, das ist ihr
vullig egal. Sei freut sich ganz einfach daruber, daß sie lebt und
daß alle Munner verruckt nach ihr sein mussen, und dann vergißt
sie es und fullt mit ihrem gefrußigen Mund uber ihr Fruhstuck her. Der
Pferdeschluchter Watzek tutet inzwischen mьde, alte Droschkenguule.
Lisa erscheint aufs neue. Sie trugt jetzt einen ansteckbaren
Schnurrbart und ist außer sich uber diesen geistvollen Einfall. Sie
grußte militurisch, und ich nehme schon an, daß sie so
unverschumt ist, damit den alten Feldwebel a.D. Knopf von nebenan zu meinen;
dann aber erinnere ich mich, daß Knopfs Schlafzimmer nur ein Fenster
nach dem Hof hat. Und Lisa ist raffiniert genug, zu wissen, daß man
sie von den paar Nebenhuusern nicht beobachten kann.
Plutzlich, als bruchen irgendwo Schalldumme, beginnen die Glocken der
Marienkirche zu luuten. Die Kirche steht am Ende der Gasse, und die Schluge
druhnen, als fielen sie vom Himmel direkt ins Zimmer. Gleichzeitig sehe ich
vor dem zweiten Burofenster, das nach dem Hof geht, wie eine geisterhafte
Melone den kahlen Schudel meines Arbeitgebers vorubergleiten. Lisa macht
eine rupelhafte Geburde und schließt ihr Fenster. Die tugliche
Versuchung des heiligen Antonius ist wieder einmal uberstanden.
Georg Kroll ist knapp vierzig Jahre; aber sein Kopf glunzt bereits wie
die Kegelbahn im Gartenrestaurant Boll. Er glunzt, seit ich ihn kenne, und
das ist jetzt uber funf Jahre her. Er glunzt so, daß im
Schutzengraben, wo wir im selben Regiment waren, ein Extrabefehl bestand,
daß Georg auch bei ruhigster Front seinen Stahlhelm aufbehalten musse
- so sehr hutte seine Glatze selbst den sanftmutigsten Gegner verlockt,
durch einen Schuß festzustellen, ob sie ein riesiger Billardball sei
oder nicht.
Ich reiße die Knochen zusammen und melde: "Hauptquartier der
Firma Kroll und Suhne! Stab bei Feindbeobachtung. Verduchtige
Truppenbewegungen im Bezirk des Pferdeschluchters Watzek."
"Aha!" sagt Georg. "Lisa bei der Morgengymnastik. Ruhren Sie Gefreiter
Bodmer! Warum tragen Sie vormittags keine Scheuklappen wie das Paukenpferd
einer Kavalleriekapelle und schutzen so Ihre Tugend? Kennen Sie die drei
kostbarsten Dinge des Lebens nicht?"
"Wie soll ich sie kennen, Herr Oberstaatsanwalt, wenn ich das Leben
selbst noch suche?"
"Tugend, Einfalt und Jugend", dekretiert Georg. "Einmal verloren, nie
wieder zu gewinnen! Und was ist hoffnungsloser als Erfahrung. Alter und
kahle Intelligenz?"
"Armut, Krankheit und Einsamkeit", erwidere ich und ruhre.
"Das sind nur andere Namen fur Erfahrung, Alter und mißleite
Intelligenz."
Georg nimmt mir die Zigarre aus dem Mund, betrachtet sie kurz und
bestimmt sie wie ein Sammler einen Schmetterling. "Beute von der
Metallwarenfabrik."
Er zieht eine schune angerauchte, goldbraune Meerschaumspitze aus der
Tasche, paßt die Brasil hinein und raucht sie weiter.
"Ich habe nichts gegen die Beschlagnahme der Zigarre", sage ich. "Es
ist rohe Gewalt, und mehr kennst du ehemaliger Unteroffizier ja nicht vom
Leben. Aber wozu die Zigarrenspitze? Ich bin kein Syphilitiker."
"Und ich kein Homosexueller."
"Georg", sage ich. "Im Kriege hast du mit meinem Luffel Erbsensuppe
gegessen, wenn ich sie in der Kuche gestohlen hatte. Und der Luffel wurde in
meinen schmutzigen Stiefeln aufbewahrt und nie gewaschen."
Georg betrachtet die Asche der Brasil. Sie ist schneeweiß.
"Der Krieg ist viereinhalb Jahre vorbei", doziert er. "Damals sind wir
durch maßloses Ungluck zu Menschen geworden. Heute hat uns die
schamlose Jagd nach Besitz aufs neue zu Ruubern gemacht. Um das zu
tarnen, brauchen wir wieder den Firnis gewisser Manieren. Ergo! Aber
hast du nicht noch eine zweite Brasil? Die Metallwarenfabrik versucht
Angestellte nie mit einer einzigen zu bestechen."
Ich hole die zweite Zigarre aus der Schublade und gebe sie ihm.
"Intelligenz, Erfahrung und Alter scheinen doch fur etwas gut zu sein", sage
ich.
Er grinst und hundigt mir dafur eine Schachtel Zigaretten aus, in der
sechs fehlen. "War sonst was los?" fragt er.
"Nichts. Keine Kunden. Aber ich muß dringend um eine
Gehaltserhuhung ersuchen."
"Schon wieder? Du hast doch erst gestern eine gehabt!"
"Nicht gestern. Heute morgen um neun. Lumpige achttausend Mark.
Immerhin, heute morgen um neun war das wenigstens noch etwas. Inzwischen ist
der neue Dollarkurs herausgekommen, und ich kann nun statt einer neuen
Krawatte nur noch eine Flasche billigen Wein dafur kaufen. Ich brauche aber
eine Krawatte."
"Wie steht der Dollar jetzt?"
"Heute mittag sechsunddreißigtausend Mark. Heute morgen waren es
noch dreißigtausend."
Georg Kroll besieht seine Zigarre. "Sechsunddreißigtausend! Das
geht ja wie das Katzenrammeln! Wo soll das enden?"
"In einer allgemeinen Pleite, Herr Feldmarschall", erwidere ich.
"Inzwischen aber mussen wir leben. Hast du Geld mitgebracht?"
"Nur einen kleinen Handkoffer voll fur heute und morgen. Tausender,
Zehntausender, sogar noch ein paar Pakete mit lieben, alten Hundertern. Etwa
funf Pfund Papiergeld. Die Inflation geht ja jetzt so schnell, daß die
Reichsbank mit dem Drucken nicht mehr nachkommt. Die neuen
Hunderttausendernoten sind erst seit vierzehn Tagen raus -und jetzt mussen
bald schon Millionenscheine gedruckt werden. Wann sind wir in den
Milliarden?"
"Wenn es so weitergeht, in ein paar Monaten."
"Mein Gott!" seufzt Georg. "Wo sind die schunen ruhigen Zeiten von
1922. Da stieg der Dollar in einem Jahr nur von zweihundertfunfzig auf
zehntausend. Ganz zu schweigen von 1921 - da waren es nur lumpige
dreihundert Prozent."
Ich sehe aus dem Fenster, das zur Straße hinausgeht. Lisa trugt
jetzt einen seidenen Schlafrock, mit Papageien bedruckt. Sie hat einen
Spiegel an die Fensterklinke gehungt und burstet ihre Muhne.
"Sieh das da an", sage ich bitter. "Es sut nicht, es erntet nicht, und
der himmlische Vater ernuhrt es doch. Den Schlafrock hatte sie gestern noch
nicht. Seide, meterweise! Und ich kann nicht den Zaster fur eine Krawatte
zusammenkriegen."
Georg schmunzelt: "Du bist eben ein schlichtes Opfer der Zeit. Lisa
dagegen schwimmt mit vollen Segeln auf den Wogen der deutschen Inflation.
Sie ist die Schune Helena der Schieber. Mit Grabsteinen kann man nun mal
nicht reich werden, mein Sohn. Warum gehst du nicht in die Heringsbranche
oder in den Aktienhandel, wie dein Freund Willy?"
"Weil ich ein sentimentaler Philosoph bin und den Grabsteinen treu
bleibe. Also wie ist es mit der Gehaltserhuhung? Auch Philosophen brauchen
einen bescheidenen Aufwand an Garderobe."
"Kannst du den Schlips nicht morgen kaufen?"
"Morgen ist Sonntag. Und morgen brauche ich ihn."
Georg holt vom Vorplatz den Koffer mit Geld herein. Er greift hinein
und wirft nur zwei Pakete zu. "Reicht das?"
Ich sehe, daß es meistens Hunderter sind. "Gib ein halbes Kilo
mehr von dem Tapetenpapier", sage ich. "Das hier sind huchstens funftausend.
Katholische Schieber legen das sonntags als Meßpfennig auf den Teller
und schumen sich, weil sie so geizig sind."
Georg kratzt sich den kahlen Schudel - eine atavistische Geste, ohne
Sinn bei ihm. Dann reicht er mir einen dritten Packen. "Gott sei Dank,
daß morgen Sonntag ist", sagt er. "Da gibt es keine Dollarkurse. Einen
Tag in der Woche steht die Inflation still. Gott hat das sicher nicht so.
gemeint, als er den Sonntag schuf."
"Wie ist es eigentlich mit uns ?" frage ich. "Sind wir pleite, oder
geht es uns glunzend?"
Georg tut einen langen Zug aus seiner Meerschaumspitze.
"Ich glaube, das weiß heute keiner mehr von sich in Deutschland.
Nicht einmal der guttliche Stinnes. Die Sparer sind naturlich alle pleite.
Die Arbeiter und Gehaltsempfunger auch. Von den kleinen Geschuftsleuten die
meisten, ohne es zu wissen. Wirklich glunzend geht es nur
den Leuten mit Devisen, Aktien oder großen Sachwerten. Also nicht
uns. Genugt das zu deiner Erleuchtung?"
"Sachwerte!" Ich sehe hinaus in den Garten, in dem unser Lager steht.
"Wir haben wahrhaftig nicht mehr allzu viele. Hauptsuchlich Sandstein und
gegossenes Zeug. Aber wenig Marmor und Granit. Und das bißchen, was
wir haben, verkauft uns dein Bruder mit Verlust. Am besten wure es, wir
verkauften gar nichts, was?"
Georg braucht nicht zu antworten. Eine Fahrradglocke erklingt
draußen. Schritte kommen uber die alten Stufen. Jemand hustet
rechthaberisch. Es ist das Sorgenkind des Hauses, Heinrich Kroll junior, der
zweite Inhaber der Firma.
Er ist ein kleiner, korpulenter Mann mit einem strohigen Schnurrbart
und staubigen, gestreiften Hosen, die durch Radfahrklammern unten
zusammengehalten werden. Mit leichter MiЯbilligung streifen seine Augen
Georg und mich. Wir sind fur ihn die Burohengste, die den ganzen Tag
herumbummeln, wuhrend er der Mann der Tat ist, der den Außendienst
betreut. Er ist unverwustlich. Mit dem Morgengrauen zieht er jeden Tag zum
Bahnhof und dann mit dem Fahrrad auf die entlegensten Durfer, wenn unsere
Agenten, die Totengruber oder Lehrer, eine Leiche gemeldet haben. Er ist
nicht ungeschickt. Seine Korpulenz ist vertrauenswurdig; deshalb hult er sie
durch fleißige Fruh- und Dummerschoppen auf der Huhe. Bauern haben
kleine Dicke lieber als verhungert aussehende Dunne. Dazu kommt sein Anzug.
Er trugt nicht, wie die Konkurrenz bei Steinmeyer, einen schwarzen Gehrock;
auch nicht, wie die Reisenden von Hollmann und Klotz, blaue
Straßenanzuge - das eine ist zu deutlich, das andere zu unbeteiligt.
Heinrich Kroll trugt den kleinen Besuchsanzug, gestreifte Hose mit
Marengo-Jackett, dazu einen altmodischen, harten Stehkragen mit Ecken und
eine gedumpfte Krawatte mit viel Schwarz darin. Er hat vor zwei Jahren einen
Augenblick geschwankt, als er dieses Kostum bestellte; er uberlegte, ob ein
Cutaway nicht passender fur ihn wure, entschied sich dann aber dagegen, weil
er zu klein ist. Es war ein glucklicher Verzicht; auch Napoleon hutte
lucherlich in einem Schwalbenschwanz ausgesehen. So, in der heutigen
Aufmachung, wirkt Heinrich Kroll wie ein kleiner Empfangschef des lieben
Gottes - und das ist genau, wie es sein soll. Die
Radfahrklammern geben dem Ganzen noch einen heimeligen, aber
raffinierten Zug - von Leuten, die sie tragen, glaubt man, im Zeitalter des
Autos billiger kaufen zu kunnen.
Heinrich legt seinen Hut ab und wischt sich mit dem Taschentuch uber
die Stirn. Es ist draußen ziemlich kuhl, und er schwitzt nicht; er tut
es nur, um uns zu zeigen, was fur ein Schwerarbeiter er gegen uns
Schreibtischwanzen ist.
"Ich habe das Kreuzdenkmal verkauft", sagte er mit gespielter
Bescheidenheit, hinter der ein gewaltiger Triumph schweigend brullt.
"Welches? Das kleine aus Marmor?" frage ich hoffnungsvoll.
"Das große", erwidert er noch schlichter und starrt mich an.
"Was? Das aus schwedischem Granit mit dem Doppelsockel und den
Bronzeketten?"
"Das! Oder haben wir noch ein anderes?"
Heinrich genießt deutlich seine blude Frage als einen Huhepunkt
sarkastischen Humors.
"Nein", sage ich. "Wir haben kein anderes mehr. Das ist ja das Elend!
Es war das letzte. Der Felsen von Gibraltar."
"Wie hoch hast du verkauft?" fragt jetzt Georg Kroll.
Heinrich reckt sich. "Fur dreiviertel Millionen, ohne Inschrift, ohne
Fracht und ohne Einfassung. Die kommen noch dazu."
"Großer Gott!" sagen Georg und ich gleichzeitig.
Heinrich spendet uns einen Blick voll Arroganz; tote Schellfische haben
manchmal so einen Ausdruck. "Es war ein schwerer Kampf", erklurt er und
setzt aus irgendeinem Grunde seinen Hut wieder auf.
"Ich wollte, Sie hutten ihn verloren", erwidere ich.
"Was?"
"Verloren! Den Kampf!"
"Was?" wiederholt Heinrich gereizt. Ich irritiere ihn leicht.
"Er wollte, du huttest nicht verkauft", sagt Georg Kroll.
"Was? Was soll denn das nun wieder heißen? Verdammt noch mal, man
plagt sich von morgens bis abends und verkauft glunzend, und dann wird man
als Lohn in dieser Bude mit Vorwurfen empfangen! Geht mal selber auf die
Durfer und versucht -"
"Heinrich", unterbricht Georg ihn milde. "Wir wissen, daß du dich
schindest. Aber wir leben heute in einer Zeit, wo Verkaufen arm macht.
Wir haben seit Jahren eine Inflation. Seit dem Kriege, Heinrich. Dieses Jahr
aber ist die Inflation in galoppierende Schwindsucht verfallen. Deshalb
bedeuten Zahlen nichts mehr."
"Das weiß ich selbst. Ich bin kein Idiot."
Niemand antwortet darauf etwas. Nur Idioten machen solche
Feststellungen. Und denen zu widersprechen ist zwecklos. Ich weiß das
von meinen Sonntagen in der Irrenanstalt. Heinrich zieht ein Notizbuch
hervor. "Das Kreuzdenkmal hat uns im Einkauf funfzigtausend gekostet. Da
sollte man meinen, daß dreiviertel Millionen ein ganz netter Profit
wuren."
Er plutschert wieder in Sarkasmus. Er glaubt, er musse ihn bei mir
anwenden, weil ich einmal Schulmeister gewesen bin. Ich war das kurz nach
dem Kriege, in einem verlassenen Heidedorf, fur neun Monate, bis ich
entfloh, die Wintereinsamkeit wie einen heulenden Hund auf den Fersen.
"Es wure ein noch grußerer Profit, wenn Sie statt des herrlichen
Kreuzdenkmals den verdammten Obelisken draußen vor dem Fenster
verkauft hutten", sage ich. "Den hat Ihr verstorbener Herr Vater vor sechzig
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