lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne, morsche Fetzen, ein Flaschenhals.
Tote Dinge und doch so merkwьrdig bekannt.
Und auch die Mauern - wie die Risse und Sprьnge dann deutlich wurden! -
wo hatte ich sie nur gesehen?
Ich nahm das Kartenpдckchen zur Hand - es dдmmerte mir auf: hatte ich
die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit?
Es war ein uraltes Tarockspiel. Mit hebrдischen Zeichen. - Nummer 12
muЯ der "Gehenkte" sein, ьberkam's mich wie halbe Erinnerung. - Mit dem Kopf
abwдrts? Die Arme auf dem Rьcken? - Ich blдtterte nach: Da! Da war er.
Dann wieder, halb Traum, halb GewiЯheit, tauchte ein Bild vor mir auf:
Ein geschwдrztes Schulhaus, bucklig, schief, ein mьrrisches Hexengebдude,
die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem Nebenhaus verwachsen. -
- - Wir sind mehrere halbwьchsige Jungen - ein verlassener Keller ist
irgendwo - - -
Dann sah ich an meinem Kцrper herab und wurde wieder irre: Der
altmodische Anzug war mir vцllig fremd.
Der Lдrm eines holpernden Karrens schreckte mich auf, doch als ich
hinabblickte: Keine Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen an
einem Eckstein.
Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen!
Zwei alte Weiber kamen langsam die StraЯe dahergetrottet, und ich
zwдngte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an.
Mit offenem Mund glotzten sie in die Hцhe und berieten sich. Aber als
sie mich sahen, stieЯen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon.
Sie haben mich fьr den Golem gehalten, begriff ich.
Und ich erwartete, daЯ ein Zusammenlauf von Menschen entstehen wьrde,
denen ich mich verstдndlich machen kцnnte, aber wohl eine Stunde verging,
und nur hie und da spдhte unten vorsichtig ein blasses Gesicht herauf zu
mir, um sofort in Todesschreck wieder zurьckzufahren.
Sollte ich warten, bis vielleicht nach Stunden oder gar erst morgen
Polizisten kamen - die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte?
Nein, lieber wollte ich einen Versuch machen, die unterirdischen Gдnge
ein Stьck weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen.
Vielleicht fiel jetzt bei Tag durch Ritzen im Gestein eine Spur von
Licht hinab?
Ich kletterte die Leiter hinunter, setzte den Weg, den ich gestern
gekommen war, fort - ьber ganze Halden zerbrochener Ziegelsteine und durch
versunkene Keller - erklomm eine Treppenruine und stand plцtzlich - - im
Hausflur des schwarzen Schulhauses, das ich vorhin wie im Traum gesehen.
Sofort stьrzte eine Flutwelle von Erinnerungen auf mich ein: Bдnke,
bespritzt mit Tinte von oben bis unten, Rechenhefte, plдrrender Gesang, ein
Junge, der Maikдfer in der Klasse loslдЯt, Lesebьcher mit zerquetschten
Butterbroten darin und der Geruch nach Orangenschalen. Jetzt wuЯte ich mit
GewiЯheit: Ich war einst als Knabe hier gewesen. - Aber ich lieЯ mir keine
Zeit nachzudenken und eilte heim.
Der erste Mensch, der mir in der Salnitergasse begegnete, war ein
verwachsener alter Jude mit weiЯen Schlдfenlocken. Kaum hatte er mich
erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den Hдnden und heulte laut hebrдische
Gebete herunter.
Auf den Lдrm hin muЯten wahrscheinlich viele Leute aus ihren Hцhlen
gestьrzt sein, denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir los.
Ich drehte mich um und sah ein wimmelndes Heer totenblasser,
entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachwдlzen.
Erstaunt blickte ich an mir herunter und verstand: - ich trug noch
immer die seltsam mittelalterlichen Kleider von nachts her ьber meinem
Anzug, und die Leute glaubten, den "Golem" vor sich zu haben.
Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riЯ mir die modrigen
Fetzen vom Leibe.
Gleich darauf raste die Menge mit geschwungenen Stцcken und geifernden
Mдulern schreiend an mir vorьber.

    Licht


Einigemal im Lauf des Tages hatte ich an Hillels Tьre geklopft; - es
lieЯ mir keine Ruhe: ich muЯte ihn sprechen und fragen, was alle diese
seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieЯ es, er sei noch nicht zu
Hause.
Sowie er heimkдme vom jьdischen Rathaus, wollte mich seine Tochter
sofort verstдndigen. -
Ein sonderbares Mдdchen ьbrigens, diese Mirjam!
Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
Eine Schцnheit, so fremdartig, daЯ man sie im ersten Moment gar nicht
fassen kann, - eine Schцnheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht,
und ein unerklдrliches Gefьhl, so etwas, wie leise Mutlosigkeit in einem
erweckt.
Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden verlorengegangen sein
mьssen, ist dieses Gesicht geformt, grьbelte ich mir zurecht, wie ich es so
im Geiste wieder vor mir sah.
Und ich dachte nach, welchen Edelstein ich wдhlen mьЯte, um es als
Gemme festzuhalten und dabei den kьnstlerischen Ausdruck richtig zu wahren:
Schon an dem rein ДuЯerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und der
Augen, der alles ьbertraf, worauf ich auch riet, scheiterte es. - Wie erst
die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und visionsgemдЯ in eine Kamee
bannen, ohne sich in die stumpfsinnige Дhnlichkeitsmacherei der kanonischen
"Kunst"richtung festzurennen!
Nur durch ein Mosaik lieЯ es sich lцsen, erkannte ich klar, aber was
fьr Material wдhlen? Ein Menschenleben gehцrte dazu, das passende zusammen
zu finden. - -
Wo nur Hillel blieb!
Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.
Merkwьrdig, wie er mir in den wenigen Tagen - und ich hatte ihn doch,
genaugenommen, nur ein einziges Mal im Leben gesprochen, - ins Herz
gewachsen war.
Ja, richtig: die Briefe - ihre Briefe - wollte ich doch besser
verstecken. Zu meiner Beruhigung, falls ich wieder einmal lдnger von zu
Hause fort sein sollte.
Ich nahm sie aus der Truhe: - in der Kassette wьrden sie sicherer
aufbewahrt sein.
Eine Photographie glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte nicht
hinschauen, aber es war zu spдt.
Den Brokatstoff um die bloЯen Schultern gelegt - so wie ich ›sie‹ das
erste Mal gesehen, als sie in mein Zimmer flьchtete aus Saviolis Atelier -
blickte sie mir in die Augen.
Ein wahnsinniger Schmerz bohrte sich in mich ein. Ich las die Widmung
unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:
Deine Angelina.
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Angelina!!!
Wie ich den Namen aussprach, zerriЯ der Vorhang, der meine Jugendjahre
vor mir verbarg, von oben bis unten.
Vor Jammer glaubte ich zusammenbrechen zu mьssen. Ich krallte die
Finger in die Luft und winselte, - biЯ mich in die Hand: - - nur wieder
blind sein, Gott im Himmel, - den Scheintot weiterleben, wie bisher, flehte
ich.
Das Weh stieg mir in den Mund. - Quoll. - Schmeckte seltsam sьЯ, - wie
Blut. - -
Angelina!!
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Der Name kreiste in meinen Adern und wurde - zu unertrдglicher
gespenstischer Liebkosung.
Mit einem gewaltsamen Ruck riЯ ich mich zusammen und zwang mich - mit
knirschenden Zдhnen - das Bild anzustarren, bis ich langsam Herr darьber
wurde!
Herr darьber!
Wie heute nacht ьber das Kartenblatt.
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Endlich: Schritte! Mдnnertritte.
Er kam!
Voll Jubel eilte ich zur Tьr und riЯ sie auf.
Schemajah Hillel stand StrauЯen und hinter ihm - ich machte mir leise
Vorwьrfe, daЯ ich es als Enttдuschung empfand - mit roten Bдckchen und
runden Kinderaugen: der alte Zwakh.
"Wie ich zu meiner Freude sehe, sind Sie wohlauf, Meister Pernath",
fing Hillel an.
Ein kaltes "Sie"?
Frost. Schneidender, ertцtender Frost lag plцtzlich im Zimmer.
Betдubt, mit halbem Ohr, hцrte ich hin, was Zwakh, atemlos vor
Aufregung, auf mich losplapperte:
"Wissen Sie schon, der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir
davon, wissen Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist auf. Vrieslander
hat ihn selbst gesehen, den Golem. Und wieder hat es, wie immer, mit einem
Mord begonnen" - Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?
Zwakh schьttelte mich: "Ja, wissen Sie denn von gar nichts, Pernath?
Unten hдngt doch groЯmдchtig ein Polizeiaufruf an den Ecken: den dicken
Zottmann, den ›Freimaurer‹ - na, ich meine doch den
Lebensversicherungsdirektor Zottmann, - soll man ermordet haben. Der Loisa -
hier im Haus - ist bereits verhaftet. Und die rote Rosina: spurlos
verschwunden. - Der Golem - der Golem - es ist ja haarstrдubend."
Ich gab keine Antwort und suchte in Hillels Augen: warum blickte er
mich so unverwandt an?
Ein verhaltenes Lдcheln zuckte plцtzlich um seine Mundwinkel.
Ich verstand. Es galt mir.
Am liebsten wдre ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.
AuЯer mir in meinem Entzьcken, lief ich planlos im Zimmer umher. Was
zuerst bringen? Glдser? Eine Flasche Burgunder? (Ich hatte doch nur eine.)
Zigarren? - Endlich fand ich Worte: "Aber warum setzt ihr euch denn nicht?!"
- Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. - - -
Zwakh fing an, sich zu дrgern: "Warum lдcheln Sie denn immerwдhrend,
Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, daЯ der Golem spukt? Mir scheint. Sie
glauben ьberhaupt nicht an den Golem?"
"Ich wьrde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor
mir sдhe", antwortete Hillel gelassen mit einem Blick auf mich. - Ich
verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.
Zwakh hielt erstaunt im Trinken inne: "Das Zeugnis von Hunderten von
Menschen gilt Ihnen nichts, Hillel? - Aber warten Sie nur, Hillel, denken
Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich
kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her."
"Die Hдufung gleichartiger Ereignisse ist nichts Wunderbares",
erwiderte Hillel. Er sprach im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die
Scheiben hinab auf den Trцdlerladen - "Wenn der Tauwind weht, rьhrt sich's
in den Wurzeln. In den sьЯen wie, in den giftigen."
Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.
"Wenn der Rabbi nur reden wollte, der kцnnte uns Dinge erzдhlen, daЯ
einem die Haare zu Berge stьnden", warf er halblaut hin.
Schemajah drehte sich um.
"Ich bin nicht ›Rabbi‹, wenn ich auch den Titel tragen darf. Ich bin
nur ein armseliger Archivar im jьdischen Rathaus und fьhre die Register ьber
die Lebendigen und die Toten
."
Eine verborgene Bedeutung lag in seiner Rede, fьhlte ich. Auch der
Marionettenspieler schien es unterbewuЯt zu empfinden, - er wurde still, und
eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.
"Hцren Sie mal, Rabbi -, verzeihen Sie: ›Herr Hillel‹, wollte ich
sagen", - fing Zwakh nach einer Weile wieder an, und seine Stimme klang
auffallend ernst, "ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen mir
ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mцgen, oder nicht dьrfen - - -"
Schemajah trat an den Tisch und spielte mit dem Weinglas - er trank
nicht; vielleicht verbot es ihm das jьdische Ritual.
"Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh."
"- - Wissen Sie etwas ьber die jьdische Geheimlehre, die Kabbala,
Hillel?"
"Nur wenig."
"Ich habe gehцrt, es soll ein Dokument geben, aus dem man die Kabbala
lernen kann: den ›Sohar‹ - -"
"Ja, den Sohar - das Buch des Glanzes."
"Sehen Sie, da hat man's", schimpfte Zwakh los. "Ist es nicht eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit, daЯ eine Schrift, die angeblich die
Schlьssel zum Verstдndnis der Bibel und zur Glьckseligkeit enthдlt -"
Hillel unterbrach ihn: "- nur einige Schlьssel."
"Gut, immerhin einige! - also, daЯ diese Schrift infolge ihres hohen
Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den Reichen zugдnglich ist? In einem
einzigen Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie ich mir habe
erzдhlen lassen? Und ьberdies chaldдisch, aramдisch, hebrдisch - oder was
weiЯ ich wie - geschrieben? - Habe ich zum Beispiel je im Leben Gelegenheit
gehabt, diese Sprachen zu lernen oder nach London zu kommen?"
"Haben Sie denn alle Ihre Wьnsche so heiЯ auf dieses Ziel gerichtet?"
fragte Hillel mit leisem Spott.
"Offen gestanden - nein", gab Zwakh einigermaЯen verwirrt zu.
"Dann sollten Sie sich nicht beklagen", sagte Hillel trocken, "wer
nicht nach dem Geist schreit mit allen Atomen seines Leibes, - wie ein
Erstickender nach Luft, - der kann die Geheimnisse Gottes nicht schauen."
"Es sollte trotzdem ein Buch geben, in dem sдmtliche Schlьssel zu den
Rдtseln der anderen Welt stehen, nicht nur einige", schoЯ es mir durch den
Kopf, und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich immer noch
in der Tasche trug, aber ehe ich die Frage in Worte kleiden konnte, hatte
Zwakh sie bereits ausgesprochen.
Hillel lдchelte wieder sphinxhaft: "Jede Frage, die ein Mensch tun
kann, ist im selben Augenblick beantwortet, in dem er sie geistig gestellt
hat."

"Verstehen Sie, was er damit meint?", wandte sich Zwakh an mich.
Ich gab keine Antwort und hielt den Atem an, um kein Wort von Hillels
Rede zu verlieren.
Schemajah fuhr fort:
"Das ganze Leben ist nichts anderes als formgewordene Fragen, die den
Keim der Antwort in sich tragen - und Antworten, die schwanger gehen mit
Fragen. Wer irgend etwas anderes drin sieht, ist ein Narr."
Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:
"Jawohl: Fragen, die jedesmal anders lauten, und Antworten, die jeder
anders versteht."
"Gerade darauf kommt es an", sagte Hillel freundlich. "Alle Menschen
ьber einen Lцffel zu - kurieren, ist lediglich Vorrecht der Дrzte. Der
Fragende erhдlt die Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht die Kreatur
den Weg ihrer Sehnsucht. Glauben Sie denn, unsere jьdischen Schriften sind
bloЯ aus Willkьr nur in Konsonanten geschrieben? - Jeder hat sich selbst die
geheimen Vokale dazu zu finden, die ihm den nur fьr ihn allein bestimmten
Sinn erschlieЯen, - soll nicht das lebendige Wort zum toten Dogma
erstarren."
Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:
"Das sind Worte, Rabbi, Worte! Pagad Ultimo will ich heiЯen, wenn ich
daraus klug werde."
Pagad!! - Das Wort schlug in mich ein wie der Blitz. Ich fiel vor
Entsetzen beinahe vom Stuhl.
Hillel wich meinen Augen aus.
"Pagad ultimo? Wer weiЯ, ob Sie nicht wirklich so heiЯen, Herr Zwakh!"
- schlug Hillels Rede wie aus weiter Ferne an mein Ohr. "Man soll seiner
Sache niemals allzu sicher sein. - Ьbrigens, da wir gerade von Karten
sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarock?"
"Tarock? Natьrlich. Von Kindheit an."
"Dann wundert's mich, wieso Sie nach einem Buche fragen kцnnen, in dem
die ganze Kabbala steht, wo Sie es doch selbst Tausende Male in der Hand
gehabt haben."
"Ich? In der Hand gehabt? Ich?" - Zwakh griff sich an den Kopf.
"Jawohl, Sie! Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daЯ das Tarockspiel 22
Trьmpfe hat, - genausoviel, wie das hebrдische Alphabet Buchstaben? Zeigen
unsere bцhmischen Karten nicht zum ЬberfluЯ noch Bilder dazu, die
offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der Teufel, das Letzte Gericht?
- Wie laut, lieber Freund, wollen Sie eigentlich, daЯ Ihnen das Leben die
Antworten in die Ohren schreien soll? - - Was Sie allerdings nicht zu wissen
brauchen, ist, daЯ ›Tarok‹ oder ›Tarot‹ soviel bedeutet wie die jьdische
›Tora‹ = das Gesetz, oder das altдgyptische ›Tarut‹ = ›die Befragte‹, und in
der uralten Zendsprache das Wort: ›tarisk‹ = ›ich verlange die Antwort‹. -
Aber die Gelehrten sollten es wissen, bevor sie die Behauptung aufstellen,
das Tarock stamme aus der Zeit Karls des Sechsten. - Und so, wie der Pagad
die erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch die erste Figur in seinem
eignen Bilderbuch, sein eigner Doppelgдnger: - - der hebrдische Buchstabe
Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit der einen Hand zum Himmel
zeigt und mit der andern abwдrts: das heiЯt also: ›So wie es oben ist, ist
es auch unten; so wie es unten ist, ist es auch oben.‹ - Darum sagte ich
vorhin: Wer weiЯ, ob Sie wirklich Zwakh heiЯen und nicht: ›Pagad‹ - berufen
Sie's nicht," - Hillel blickte mich dabei unverwandt an, und ich ahnte, wie
sich unter seinen Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutung auftat - "berufen
Sie's nicht, Herr Zwakh! Man kann da in finstere Gдnge geraten, aus denen
noch keiner zurьckfand, der nicht - einen Talisman bei sich trug. Die
Ьberlieferung erzдhlt, daЯ einmal drei Mдnner hinabgestiegen seien ins Reich
der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur der dritte,
Rabbi ben Akiba, kam heil wieder heim und sagte, er sei sich selbst
begegnet. Schon so mancher, werden Sie sagen, ist sich selbst begegnet, z.
B. Goethe, gewцhnlich auf einer Brьcke, oder sonst einem Steig, der von
einem Ufer eines Flusses zum andern fьhrt, - hat sich selbst ins Auge
geblickt und ist nicht wahnsinnig geworden. Aber dann war's eben nur eine
Spiegelung des eigenen BewuЯtseins und nicht der wahre Doppelgдnger: nicht
das, was man ›den Hauch der Knochen‹, den ›Habal Garmin‹ nennt, von dem es
heiЯt: Wie er in die Grube fuhr, unverweslich, im Gebein, so wird er
auferstehn am Tage des Letzten Gerichts.
" - Hillels Blick bohrte sich immer
tiefer in meine Augen - "Unsere GroЯmьtter sagen von ihm: ›er wohnt hoch
ьber der Erde in einem Zimmer ohne Tьre, nur mit einem Fenster, von dem aus
eine Verstдndigung mit den Menschen unmцglich ist. Wer ihn zu bannen und zu
- - verfeinern versteht, der wird gut Freund mit sich selbst." - - - Was
schlieЯlich das Tarock betrifft, so wissen Sie so gut wie ich: Fьr jeden
Spieler liegen die Karten anders, wer aber die Trьmpfe richtig verwendet,
der gewinnt die Partie - - -. Aber kommen Sie jetzt, Herr Zwakh! Gehen wir,
Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen Wein aus, und es bleibt nichts
mehr ьbrig fьr ihn selbst."

    Not


Eine Flockenschlacht tobte vor meinem Fenster. Regimenterweise jagten
die Schneesterne - winzige Soldaten in weiЯen, zottigen Mдntelchen -
hintereinander her an den Scheiben vorьber - minutenlang - immer in
derselben Richtung, wie auf gemeinsamer Flucht vor einem ganz besonders
bцsartigen Gegner. Dann hatten sie das Davonlaufen mit einemmal dick satt,
schienen aus rдtselhaften Grьnden einen Wutanfall zu bekommen und sausten
wieder zurьck, bis ihnen von oben und unten neue feindliche Armeen in die
Flanken fielen und alles in ein heilloses Gewirbel auflцsten.
Monate schien mir zurьckzuliegen, was ich an Seltsamem erst vor kurzem
erlebt hatte, und wдren nicht tдglich einigemal immer neue krause Gerьchte
ьber den Golem zu mir gedrungen, die alles wieder frisch aufleben lieЯen,
ich glaube, ich hдtte mich in Augenblicken des Zweifels verdдchtigen kцnnen,
das Opfer eines seelischen Dдmmerzustandes gewesen zu sein.
Aus den bunten Arabesken, die die Ereignisse um mich gewoben, stach in
schreienden Farben hervor, was mir Zwakh ьber den noch immer unaufgeklдrten
Mord an dem sogenannten "Freimaurer" erzдhlt hatte.
Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte mir
nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht abschьtteln
konnte, - fast unmittelbar darauf, als Prokop in jener Nacht aus dem
Kanalgitter ein unheimliches Gerдusch gehцrt zu haben geglaubt, hatten wir
den Burschen beim "Loisitschek" gesehen. Allerdings lag kein AnlaЯ vor, den
Schrei unter der Erde, der ьberdies geradesogut eine Sinnestдuschung gewesen
sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu deuten. - - -
Das Schneegestцber vor meinen Augen blendete mich und ich fing an,
alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder
auf die Gemme vor mir. Das Wachsmodell, das ich von Mirjams Gesicht
entworfen hatte, muЯte sich vortrefflich auf den blдulich leuchtenden
Mondstein da ьbertragen lassen. - Ich freute mich: es war ein angenehmer
Zufall, daЯ sich etwas so Geeignetes unter meinem Mineralienvorrat gefunden
hatte. Die tiefschwarze Matrix von Hornblende gab dem Stein gerade das
richtige Licht und die Konturen paЯten so genau, als habe ihn die Natur
eigens geschaffen, ein bleibendes Abbild von Mirjams feinem Profil zu
werden.
Anfangs war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die
den дgyptischen Gott Osiris darstellen sollte, und die Vision des
Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die ich mir jederzeit mit auffallender
Deutlichkeit ins Gedдchtnis zurьckrufen konnte, regte mich kьnstlerisch
stark an, aber allmдhlich entdeckte ich nach den ersten Schnitten eine
solche Дhnlichkeit mit der Tochter Schemajah Hillels, daЯ ich meinen Plan
umstieЯ. - - -
- Das Buch Ibbur! -
Erschьttert legte ich den Stahlgriffel weg. UnfaЯbar, was in der kurzen
Spanne Zeit in mein Leben getreten war!
Wie jemand, der sich plцtzlich in eine unabsehbare Sandwьste versetzt
sieht, wurde ich mir mit einem Schlage der tiefen, riesengroЯen Einsamkeit
bewuЯt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.
Konnte ich je mit einem Freund - Hillel ausgenommen - davon reden, was
ich erlebt?
Wohl war mir in den stillen Stunden der verflossenen Nдchte die
Erinnerung wiedergekehrt, daЯ mich all meine Jugendjahre - von frьher
Kindheit angefangen - ein unsagbarer Durst nach dem Wunderbaren, dem
jenseits aller Sterblichkeit Liegenden, bis zur Todespein gefoltert hatte,
aber die Erfьllung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm gekommen und
erdrьckte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.
Ich zitterte vor dem Augenblick, wo ich zu mir selbst kommen und das
Geschehene in seiner vollen markverbrennenden Lebendigkeit als Gegenwart
empfinden muЯte.
Nur jetzt sollte es noch nicht kommen! Erst den GenuЯ auskosten:
Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!
Ich hatte es doch in meiner Macht! Brauchte nur hinьber zu gehen in
mein Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das
Geschenk der Unsichtbaren, lag!
Wie lang war's her, da hatte es meine Hand berьhrt, als ich Angelinas
Briefe dazuschloЯ!
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Dumpfes Drцhnen drauЯen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angehдuften
Schneemassen von den Dдchern hinab vor die Hдuser warf, gefolgt von Pausen
tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut verschlang.
Ich wollte weiterarbeiten, - da plцtzlich stahlscharfe Hufschlдge unten
die Gasse entlang, daЯ man's fцrmlich Funken sprьhen sah.
Das Fenster zu цffnen und hinauszuschauen, war unmцglich: Muskeln aus
Eis verbanden seine Rдnder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur
Hдlfte weiЯ verweht. Ich sah nur, daЯ Charousek scheinbar ganz friedlich
neben dem Trцdler Wassertrum stand - sie muЯten soeben ein Gesprдch
mitsammen gefьhrt haben - sah, wie die Verblьffung, die sich in ihrer beider
Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der meinen Blicken
entzogen war, anstarrten.
Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. - Sie selbst konnte
es nicht sein! Mit ihrer Equipage hier bei mir vorzufahren - in der
HahnpaЯgasse! - vor aller Leute Augen! Es wдre hellichter Wahnsinn gewesen.
- Aber was sollte ich zu ihrem Gatten sagen, wenn er's wдre und mich auf den
Kopf zu fragte?
Leugnen, natьrlich leugnen.
Hastig legte ich mir die Mцglichkeiten zurecht: es kann nur ihr Gatte
sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, - von Wassertrum - daЯ sie hier
gewesen sei zu einem Rendezvous, und sie hat eine Ausrede gebraucht:
wahrscheinlich, daЯ sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir bestellt habe. -
- - Da! wьtendes Klopfen an meiner Tьr und - Angelina stand vor mir.
Sie konnte kein Wort hervorbringen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes
verriet mir alles: sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Das Lied war
aus.
Dennoch lehnte sich irgend etwas in mir auf gegen diese Annahme. Ich
brachte es nicht fertig, zu glauben, daЯ das Gefьhl, ihr helfen zu kцnnen,
mich belogen haben sollte.
Ich fьhrte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und
sie verbarg, todmьde wie ein Kind, ihren Kopf an meiner Brust.
Wir hцrten das Knistern der brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie
der rote Schein ьber die Dielen huschte, aufflammte und erlosch - aufflammte
und erlosch - aufflammte und erlosch - - -
"Wo ist das Herz aus rotem Stein - - -" klang es in meinem Innern. Ich
fuhr auf: Wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?
Und ich forschte sie aus, - vorsichtig, leise, ganz leise, daЯ sie
nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht berьhre.
Bruchstьckweise erfuhr ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte es
mir zusammen wie ein Mosaik:
"Ihr Gatte weiЯ - -?"
"Nein, noch nicht; er ist verreist."
Also um Dr. Saviolis Leben drehte sich's; - Charousek hatte es richtig
erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war sie
hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff ich.
Wassertrum war abermals bei Dr. Savioli gewesen. Hatte sich mit
Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.
Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?
Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, daЯ
- - daЯ - er wollte, daЯ sich Dr. Savioli - - ein Leid antue.
Sie kenne jetzt auch die Grьnde von Wassertrums wildem besinnungslosem
HaЯ: "Dr. Savioli habe einst seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den Tod
getrieben."
Sofort schlug ein Gedanke in mich ein wie der Blitz: hinunterlaufen,
dem Trцdler alles verraten: daЯ Charousek den Schlag gefьhrt hatte - aus dem
Hinterhalt - und nicht Savioli, der nur das Werkzeug war - - -. "Verrat!
Verrat!" heulte es mir ins Hirn, "du willst also den armen schwindsьchtigen
Charousek, der dir helfen wollte und ihr, der Rachsucht dieses Halunken
preisgeben?" - Und es zerriЯ mich in blutende Hдlften. - Dann sprach ein
Gedanke eiskalt und gelassen die Losung aus: "Narr! Du hast es doch in der
Hand! Brauchst ja nur die Feile dort auf dem Tisch zu nehmen, hinunter zu
laufen und sie dem Trцdler durch die Gurgel zu jagen, daЯ die Spitze hinten
zum Genick herausschaut."
Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.
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Ich forschte weiter:
"Und Dr. Savioli?"
Kein Zweifel, daЯ er Hand an sich legen wird, wenn sie ihn nicht
rettete. Die Krankenschwestern lieЯen ihn nicht aus den Augen, hatten ihn
mit Morphium betдubt, aber vielleicht erwacht er plцtzlich - vielleicht
gerade jetzt - und - und - nein, nein, sie mьsse fort, dьrfe keine Sekunde
Zeit mehr versдumen, - sie wolle ihrem Gatten schreiben, ihm alles
eingestehen, - solle er ihr das Kind nehmen, aber Savioli sei gerettet, denn
sie hдtte Wassertrum damit die einzige Waffe aus der Hand geschlagen, die er
besдЯe und mit der er drohe.
Sie wolle das Geheimnis selbst enthьllen, ehe er es verraten kцnne.
"Das werden Sie nicht tun, Angelina!" schrie ich und dachte an die
Feile und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude ьber meine Macht.
Angelina wollte sich losreiЯen: ich hielt sie fest.
"Nur noch eins: Ьberlegen Sie, wird Ihr Gatte denn dem Trцdler so ohne
weiteres glauben?"
"Aber Wassertrum hat doch Beweise, offenbar meine Briefe, vielleicht
auch ein Bild von mir, - alles, was im Schreibtisch nebenan im Atelier
versteckt war."
Briefe? Bild? Schreibtisch? - ich wuЯte nicht mehr, was ich tat: ich
riЯ Angelina an meine Brust und kьЯte sie. Auf den Mund, auf die Stirn, auf
die Augen.
Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.
Dann hielt ich sie an ihren schmalen Hдnden und erzдhlte ihr mit
fliegenden Worten, daЯ der Todfeind Wassertrums - ein armer bцhmischer
Student - die Briefe und alles in Sicherheit gebracht hдtte und sie in
meinem Besitz seien und fest verwahrt.
Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. KьЯte
mich. Rannte zur Tьr. Kehrte wieder um und kьЯte mich wieder.
Dann war sie verschwunden.
Ich stand wie betдubt und fьhlte noch immer den Atem ihres Mundes an
meinem Gesicht.
Ich hцrte wie die Wagenrдder ьber das Pflaster donnerten und den
rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute spдter war alles still. Wie ein Grab.
Auch in mir.
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Plцtzlich knarrte die Tьr leise hinter mir, und Charousek stand im
Zimmer:
"Verzeihen Sie, Herr Pernath, ich habe lange geklopft, aber Sie
schienen es nicht zu hцren."
Ich nickte nur stumm.
"Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daЯ ich mich mit Wassertrum versцhnt
habe, weil Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?" - Charouseks hohnisches
Lдcheln sagte mir, daЯ er nur einen grimmigen SpaЯ machte. - "Sie mьssen
nдmlich wissen: Das Gluck ist mir hold; die Kanaille da unten fдngt an, mich
in ihr Herz zu schlieЯen, Meister Pernath. - - Es ist eine seltsame Sache,
das mit der Stimme des Blutes", setzte er leise - halb fьr sich - hinzu.
Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich hдtte
etwas ьberhцrt. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in mir.
"Er wollte mir einen Mantel schenken", fuhr Charousek laut fort. "Ich
habe natьrlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut genug.
- Und dann hat er mir Geld aufgedrдngt."
"Sie haben es angenommen?!", wollte es mir herausfahren, aber ich hielt
noch rasch meine Zunge im Zaum.
Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:
"Das Geld habe ich selbstverstдndlich angenommen."
Mir wurde ganz wirr im Kopf!
"- an - genommen?", stammelte ich.
"Ich hдtte nie gedacht, daЯ man auf Erden eine so reine Freude
empfinden kann!" - Charousek hielt einen Augenblick inne und schnitt eine
Fratze. - "Ist es nicht ein erhebendes Gefьhl, im Haushalt der Natur
›Mьtterchens Vorsehung‹ цkonomischen Finger allenthalben in Weisheit und
Umsicht walten zu sehen!?" - Er sprach wie ein Pastor und klimperte dabei
mit dem Geld in seiner Tasche, - "wahrlich, als hehre Pflicht empfinde ich
es, den Schatz, mir anvertraut von milder Hand, auf Heller und Pfennig
dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzufьhren."
War er betrunken? Oder wahnsinnig?
Charousek дnderte plцtzlich den Ton:
"Es liegt eine satanische Komik darin, daЯ Wassertrum sich die - Arznei
selber bezahlt. Finden Sie nicht?"
Eine Ahnung dдmmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg,
und mir graute vor seinen fiebernden Augen.
"Ьbrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die
laufenden Geschдfte. Vorhin, die Dame, das war ›sie‹ doch? Was ist ihr denn
eingefallen, hier цffentlich vorzufahren?"
Ich erzдhlte Charousek, was geschehen war.
"Wassertrum hat bestimmt keine Beweise in den Hдnden", unterbrach er
mich freudig, "sonst hдtte er nicht heute morgen abermals das Atelier
durchsucht. - Merkwьrdig, daЯ Sie ihn nicht gehцrt haben!? Eine volle Stunde
lang war er drьben."
Ich staunte, woher er alles so genau wissen kцnne, und sagte es ihm.
"Darf ich?" - als Erklдrung nahm er sich eine Zigarette vom Tisch,
zьndete sie an und erlдuterte: "Sehen Sie, wenn Sie jetzt die Tьr цffnen,
bringt die Zugluft, die vom Stiegenhaus hereinweht, den Tabakrauch aus der
Richtung. Es ist das vielleicht das einzige Naturgesetz, das Herr Wassertrum
genau kennt, und fьr alle Fдlle hat er in der StraЯenmauer des Ateliers -
das Haus gehцrt ihm, wie Sie wissen - eine kleine, versteckte, offene Nische
anbringen lassen: eine Art Ventilation, und darin ein rotes Fдhnchen. Wenn
nun jemand das Zimmer betritt oder verlдЯt, das heiЯt: die Zugtьr цffnet, so
merkt es Wassertrum unten an dem heftigen Flattern des Fдhnchens. Allerdings
weiЯ ich es ebenfalls," setzte Charousek trocken hinzu, "wenn's mir drum zu
tun ist, und kann es von dem Kellerloch vis-а-vis, in dem zu hausen ein
gnдdiges Schicksal mir huldreichst gestattet, genau beobachten. - Der
niedliche Scherz mit der Ventilation ist zwar ein Patent des wьrdigen
Patriarchen, aber auch mir seit Jahren gelдufig."
"Was fьr einen ьbermenschlichen HaЯ Sie gegen ihn haben mьssen, daЯ Sie
so jeden seiner Schritte belauern. Und noch dazu seit langem, wie Sie
sagen!" warf ich ein.
"HaЯ?" Charousek lдchelte krampfhaft. "HaЯ? - HaЯ ist kein Ausdruck.
Das Wort, das meine Gefьhle gegen ihn bezeichnen kцnnte, muЯ erst geschaffen
werden. - Ich hasse, genaugenommen, auch gar nicht ihn. Ich hasse sein Blut.
Verstehen Sie das? Ich wittere wie ein wildes Tier, wenn auch nur ein
Tropfen von seinem Blut in den Adern eines Menschen flieЯt, - und" - er biЯ
die Zдhne zusammen - "das kommt ›zuweilen‹ vor hier im Getto." Unfдhig
weiter zu sprechen vor Aufregung lief er ans Fenster und starrte hinaus. -
Ich hцrte wie er sein Keuchen unterdrьckte. Wir schwiegen beide eine Weile.
"Hallo, was ist denn das?" fuhr er plцtzlich auf und winkte mir hastig:
"Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?"
Wir spдhten vorsichtig hinter den Vorhдngen hinunter:
Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des Trцdlerladens und bot,
soviel wir aus seiner Zeichensprache erraten konnten, Wassertrum einen
kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf an.
Wassertrum fuhr danach wie ein Geier und zog sich damit in seine Hцhle
zurьck.
Gleich darauf stьrzte er wieder hervor - totenblaЯ - und packte Jaromir
an der Brust: Es entspann sich ein heftiges Ringen. - Mit einem Mal lieЯ
Wassertrum los und schien zu ьberlegen. Nagte wьtend an seiner gespaltenen
Oberlippe. Warf einen grьbelnden Blick zu uns herauf und zog dann Jaromir am
Arm friedlich in seinen Laden.
Wir warteten wohl eine Viertelstunde lang: sie schienen nicht fertig
werden zu kцnnen mit ihrem Handel.
Endlich kam der Taubstumme mit befriedigter Miene wieder heraus und
ging seines Weges.
"Was halten Sie davon?", fragte ich. "Es scheint nichts Wichtiges zu
sein? Vermutlich hat der arme Bursche irgendeinen erbettelten Gegenstand
versilbert."
Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder an den
Tisch.
Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr
nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:
"Ja. Also ich sagte, ich hasse sein Blut. - Unterbrechen Sie mich,
Meister Pernath, wenn ich wieder heftig werde. Ich will kalt bleiben. Ich
darf meine besten Empfindungen nicht so vergeuden. Es packt mich sonst
nachher wie Ernьchterung. Ein Mensch mit Schamgefьhl soll in kьhlen Worten
reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder - oder ein Dichter. -
Seit die Welt steht, wдr's niemand eingefallen, vor Leid die ›Hдnde zu
ringen‹, wenn nicht die Schauspieler diese Geste als besonders ›plastisch‹
ausgetьftelt hдtten."
Ich begriff, daЯ er mit Absicht blind drauflos redete, um innerlich
Ruhe zu bekommen.
Es wollte ihm nicht recht gelingen. Nervцs lief er im Zimmer auf und
ab, faЯte alle mцglichen Gegenstдnde an und stellte sie zerstreut zurьck an
ihren Platz.
Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:
"Aus den kleinsten unwillkьrlichen Bewegungen eines Menschen verrдt
sich mir dieses Blut. Ich kenne Kinder, die ›ihm‹ дhnlich sehen und als
seine gelten, aber doch sind sie nicht vom selben Stamme - man kann mich
nicht tдuschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, daЯ Dr. Wassory sein Sohn ist,
aber ich habe es - ich mцchte sagen - gerochen.
Schon als kleiner Junge, als ich noch nicht ahnen konnte, in welchen
Beziehungen Wassertrum zu mir steht," - sein Blick ruhte eine Sekunde
forschend auf mir, - "besaЯ ich diese Gabe. Man hat mich mit FьЯen getreten,
mich geschlagen, daЯ es wohl keine Stelle an meinem Kцrper gibt, die nicht
wьЯte, was rasender Schmerz ist, - hat mich hungern und dursten lassen, bis
ich halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde gefressen habe, aber niemals
konnte ich diejenigen hassen, die mich peinigten. Ich konnte einfach nicht.
Es war kein Platz mehr in mir fьr HaЯ. - Verstehen Sie? Und doch war mein
ganzes Wesen getrдnkt damit.
Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan - ich will damit
sagen, daЯ er mich jemals weder geschlagen oder beworfen, noch auch
irgendwie beschimpft hat, wenn ich mich als Gassenjunge unten herumtrieb:
ich weiЯ das genau, - und doch richtete sich alles, was an Rachsucht und Wut
in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!
Merkwьrdig ist, daЯ ich ihm trotzdem nie als Kind einen Schabernack
gespielt habe. Wenn's die andern taten, zog ich mich sofort zurьck. Aber
stundenlang konnte ich im Torweg stehen und, hinter der Haustьr versteckt,
durch die Angelritzen sein Gesicht unverwandt anstieren, bis mir vor
unerklдrlichem HaЯgefьhl schwarz vor den Augen wurde.
Damals, glaube ich, habe ich den Grundstein zu dem Hellsehen gelegt,
das sofort in mir aufwacht, wenn ich mit Wesen, ja sogar mit Dingen in
Berьhrung komme, die in Verbindung mit ihm stehen. Ich muЯ wohl jede seiner
Bewegungen: seine Art, den Rock zu tragen und wie er Sachen anfaЯt, hustet
und trinkt, und all das Tausenderlei damals unbewuЯt auswendig gelernt
haben, bis sich's mir in die Seele fraЯ, daЯ ich ьberall die Spuren davon
auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit als seine Erbstьcke erkennen
kann.
Spдter wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose Gegenstдnde
von mir, bloЯ weil mich der Gedanke quдlte, seine Hand kцnne sie berьhrt
haben, - andere wieder waren mir ans Herz gewachsen; ich liebte sie wie
Freunde, die ihm Bцses wьnschten."
Charousek schwieg einen Moment. Ich sah, wie er geistesabwesend ins
Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem Tisch.
"Als dann ein paar mitleidige Lehrer fьr mich gesammelt hatten und ich
Philosophie und Medizin studierte - auch nebenbei selbst denken lernte -, da
kam mir langsam die Erkenntnis, was HaЯ ist:
Wir kцnnen nur etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil von
uns selbst ist.
Und wie ich spдter dahinter kam, - nach und nach alles erfuhr: was
meine Mutter war - und - und noch sein muЯ, wenn - wenn sie noch lebt, - und
daЯ mein eigener Leib" - er wendete sich ab, damit ich sein Gesicht nicht
sehen sollte, - "voll ist von seinem eklen Blut - nun ja, Pernath, - warum
sollen Sie's nicht wissen: er ist mein Vater! - da wurde mir klar, wo die
Wurzel lag. - - - Zuweilen kommt's mir sogar wie ein geheimnisvoller
Zusammenhang vor, daЯ ich schwindsьchtig bin und Blut spucken muЯ: mein
Kцrper wehrt sich gegen alles, was von ›ihm‹ ist, und stцЯt es mit Abscheu
von sich.
Oft hat mich mein HaЯ bis in den Traum begleitet und zu trцsten gesucht
mit Geschichten von allen nur erdenklichen Foltern, die ich ›ihm‹ zufьgen
durfte, aber immer verscheuchte ich sie selber, weil sie den faden
Beigeschmack des - Unbefriedigtseins in mir hinterlieЯen.
Wenn ich ьber mich selbst nachdenke und mich wundern muЯ, daЯ es so gar
niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, - ja nicht einmal
als antipathisch zu empfinden imstande wдre, auЯer ›ihn‹ und seinen Stamm, -
beschleicht mich oft das widerliche Gefьhl: ich kцnnte das sein, was man
einen ›guten Menschen‹ nennt. Aber zum Glьck ist es nicht so. - Ich sagte
Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.
Und glauben Sie nur ja nicht, daЯ ein trauriges Schicksal mich
verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat, erfuhr ich ьberdies erst
in spдteren Jahren) - ich habe einen Freudentag erlebt, der weit in den
Schatten stellt, was sonst einem Sterblichen vergцnnt ist. Ich weiЯ nicht,
ob Sie kennen, was innere, echte, heiЯe Frцmmigkeit ist, - ich hatte es bis
dahin auch nicht gekannt - als ich aber an jenem Tage, an dem Wassory sich
selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und sah, wie ›er‹ die Nachricht
bekam, - sie ›stumpfsinnig‹, wie ein Laie, der die echte Bьhne des Lebens
nicht kennt, hдtte glauben mьssen, - hinnahm, wohl eine Stunde lang
teilnahmslos stehen blieb, seine blutrote Hasenscharte nur ein ganz klein
biЯchen hцher ьber die Zдhne gezogen als sonst und den Blick so gewiЯ - - so
- so - so eigenartig nach innen gekehrt, - - - - da fьhlte ich den
Weihrauchduft von den Schwingen des Erzengels. - - Kennen Sie das Gnadenbild
der schwarzen Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder und
die Finsternis des Paradieses hьllte meine Seele ein." -
- - - Wie ich Charousek so dastehen sah, die groЯen, trдumerischen
Augen voll Trдnen, da fielen mir Hillels Worte ein von der Unbegreiflichkeit
des dunklen Pfades, den die Brьder des Todes gehen.
Charousek fuhr fort:
"Die дuЯeren Umstande, die meinen HaЯ ›rechtfertigen‹ oder in den
Gehirnen der amtlich besoldeten Richter begreiflich erscheinen lassen
kцnnten, werden Sie vielleicht gar nicht interessieren: - Tatsachen sehen
sich an wie Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie sind das
aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den Tafeln der Protzen, das
nur der Schwachsinnige fьr das Wesentliche eines Gelages hдlt. - Wassertrum
hat meine Mutter mit all den infernalischen Mitteln, die seinesgleichen
Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu Willen zu sein, - wenn es nicht noch viel
schlimmer war. Und dann - - nun ja - und dann hat er sie an - ein
Freudenhaus verkauft, - - - so etwas ist nicht schwer, wenn man Polizeirдte
zu Geschдftsfreunden hat, - aber nicht etwa, weil er ihrer ьberdrьssig
gewesen wдre, o nein! Ich kenne die Schlupfwinkel seines Herzens: an dem
Tage hat er sie verkauft, wo er sich voll Schrecken bewuЯt wurde, wie heiЯ
er sie in Wirklichkeit liebte. So einer wie er handelt da scheinbar
widersinnig, aber immer gleich. Das Hamsterhafte in seinem Wesen quietscht
auf, sowie jemand kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner Trцdlerbude
gegen noch so teures Geld: er empfindet nur den Zwang des ›Hergebenmьssens‹.
Er mцchte den Begriff ›haben‹ am liebsten in sich hineinfressen und kцnnte
er sich ьberhaupt ein Ideal ausdenken, so wдr's das, sich dereinst in den
abstrakten Begriff ›Besitz‹ aufzulцsen. - -
Und da ist es damals riesengroЯ in ihm gewachsen bis zu einem Berg von
Angst: "seiner selbst nicht mehr sicher" zu sein, - nicht: etwas an Liebe
geben zu wollen, sondern geben zu mьssen: die Gegenwart eines Unsichtbaren
in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er mцchte, daЯ es sein
Wille sein sollte, heimlich in Fesseln schlug. - So war der Anfang. Was dann
folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht mechanisch zubeiЯen muЯ, - ob er
will oder nicht - wenn ein blitzender Gegenstand zu rechter Zeit
vorьberschwimmt.
Das Verschachern meiner Mutter ergab sich fьr Wassertrum als natьrliche
Folge. Es befriedigte den Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften: die
Gier nach Gold und die perverse Wonne an der Selbstqual. - - - Verzeihen
Sie, Meister Pernath," - Charouseks Stimme klang plцtzlich so hart und
nьchtern, daЯ ich erschrak, - "verzeihen Sie, daЯ ich so furchtbar gescheit
daherrede, aber wenn man an der Universitдt ist, kommt einem eine Menge
vertrottelter Bьcher unter die Hдnde; unwillkьrlich verfдllt man dann in
eine teppenhafte Ausdrucksweise." -
Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem Lдcheln; innerlich verstand ich
gar wohl, daЯ er mit dem Weinen kдmpfte.
Irgendwie muЯ ich ihm helfen, ьberlegte ich, wenigstens seine bitterste
Not zu lindern versuchen, soweit das in meiner Macht steht. Ich nahm
unauffдllig die Hundertguldennote, die ich noch zu Hause hatte, aus der
Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.
"Wenn Sie spдter einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf