Max Frisch. Skizze [Schinz]
OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru
Heinrich Gottlieb Schinz, Rechtsanwalt, Vater von vier gesunden
Kindern, deren altestes sich bald verheiratet, ist sechsundfunfzig Jahre
alt, als ihm eines Tages, wie er es nennt, der Geist begegnet ... Schinz,
wie der Name schon sagt, ist Sohn aus gutem Haus; das Verlangen, dem Geist
zu begegnen, hat er schon als Jungling; er spielt Klavier und macht mehrere
Reisen als Student. Paris, Rom, Florenz, Sizilien. Spater London, Berlin,
Munchen, wo er ein Jahr verbringt. Er schwankt zwischen Kunstgeschichte und
Naturwissenschaft; sein Beruf als Rechtsanwalt, teilweise eine Entscheidung
seines Vaters, der ebenfalls ein namhafter Rechtsanwalt gewesen ist, bringt
ihm bald die ublichen Erfolge, Ehe und Ehrenamter, darunter auch solche von
wirklicher, von mehr als gesellschaftlicher Bedeutung: Winterhilfe,
Denkmalpflege, Umschulung fur Fluchtlinge, Kunstverein und so weiter ...
Seine Begegnung mit dem Geist ist keineswegs unbemerkt geblieben, einige
Wochen gehort sie sogar zum Gesprach in den Stra?enbahnen; die Au?enwelt,
sofern man eine mittelgro?e Stadt so bezeichnen will, sieht es allerdings
als klinischen Fall, ratselhaft auch so, aufsehenerregend auch so,
erschutternd auch so, aber fur die Au?enwelt ohne jede Folge.
Eines Sonntagmorgens, es schneit, ist Schinz, wie er das seit Jahren zu
tun pflegt, in den Wald gegangen, begleitet von seinem Hund,
gesundheitshalber. Aufgewachsen in dieser Gegend, wo schon das
gro?vaterliche Haus gestanden hat, kennt er den Wald wie sein Leben. Auch
der Hund kennt ihn; eine Dogge. Sein Erstaunen, als die vertraute Lichtung
sich nicht einstellt, ist nicht gering, aber durchaus gelassen. Eine Weile
bleibt er einfach stehen, ebenso der Hund mit schwitzender Zunge; es
schneit, aber nicht so machtig, dass Schinz deswegen den Weg verfehlt hat.
Der Weg ist durchaus sichtbar, nur die Lichtung nicht. Die Dogge muss sich
gedulden, bis Schinz sich ein Zigarillo angezundet hat; wie er das gerne
macht in Augenblicken, wo er nicht weiter wei?, sei es als Rechtsanwalt oder
fruher als Major. Ein Zigarillo gibt Ruhe. Es ist jederzeit moglich, dass
Baume verschwinden, ganze Gruppen, ein halber Wald; aber dass eine Lichtung
verschwindet, ist nicht anzunehmen. Das kommt, sagt sich Schinz, allenfalls
in der Poesie vor; wenn ein Dichter dartun mochte, dass auf marchenhafte
Weise viel Zeit vergangen ist oder etwas dieser Art. Schinz ist belesen.
Weitergehend, um die Dogge nicht langer warten zu lassen, denkt er so das
eine und andere, sein Zigarillo rauchend; irgendwann wird die verdammte
Lichtung schon kommen. Auch er hat sich einmal in der Poesie versucht; kein
Grund, deswegen zu lacheln. Wie gesagt: das Verlangen, dem Geist zu
begegnen, hat er schon als Jungling gekannt. Dann die Zeit mit der
Naturwissenschaft; eine schone Zeit, Schinz denkt gerne daran, Mikroskop und
so. Das eine und andere ist auch geblieben, nicht blo? gewisse Kenntnisse,
die etwas verwischt sein mogen, aber eine gewisse Art, den Kindern zu
zeigen, wie das Holz aussieht unter der Lupe, und zu erklaren, wieso das
Wasser von den Wurzeln emporsteigt in die Zweige. Doch all dies horen die
Kinder jetzt in der Schule; Schinz hat die Lupe, auch wenn er allein ist.
Und dann die Kunstgeschichte bei Wolfflin; damals in Munchen. Auch eine gute
Zeit, Schinz denkt gerne daran; im Kunstverein ist er zuweilen der einzige,
der nicht faselt; das hat ihm der alte Wolfflin mit einer einzigen Blamage
beigebracht, und kurz darauf hat er auch die Kunstgeschichte verlassen. Das
eine und andere ist dennoch geblieben; Durer und so. Die Welt, wenn man eine
mittelgro?e Stadt so bezeichnen will, hat wohl nicht unrecht, wenn sie
Heinrich Gottlieb Schinz als einen geistigen Menschen betrachtet: obschon er
seinerseits, das ist bemerkenswert, nie von Geist redet; er meidet dieses
Wort, als hasse er es, umgeht es auf alle Arten, oft auf sehr witzige Art,
als ware es etwas Unanstandiges, mindestens ist er in seiner Gegend sehr
zuruckhaltend, im Grunde nicht ohne Ahnung, dass der Geist, der wirkliche,
etwas durchaus Furchterliches ist, etwas Erdbebenhaftes, das man nicht rufen
soll, etwas Katastrophales, das alles Vorhandene uber den Haufen wirft,
etwas Todliches, wenn man ihm nicht durch au?erordentliche Gaben gewachsen
ist -.
Die Lichtung ist nicht gekommen.
Funf Uhr abends, und Schinz ist zum Mittagessen erwartet worden,
dammert es, dass man bald uberhaupt nichts mehr sieht. Schinz sitzt auf
einem gefallten Stamm, froh, Spuren menschlicher Arbeit zu sehen; ein
gewisses Bangen hat ihn doch beschlichen. Vor ihm die Dogge, keuchend,
irgendwie entsetzt und verwirrt. Wie die Hunde vor einem Erdbeben! denkt
Schinz. Zigarillos hat er keine mehr. Es schneit ohne Unterlass. Stille; das
Keuchen der Dogge, das nur dazu da ist, dass die Stille zwischen den Stammen
noch dichter wird. Einmal fallt Schnee von einer Tanne, ganz in der Nahe,
aber lautlos. So muss es sein, wenn man taub ist. Dann macht Schinz, was bei
belesenen Leuten vorkommt: er leistet sich den Witz, seine Lage literarisch
zu sehen; die Dammerung, die unfassbare Zeit, die Stille zwischen den
Stammen, die Dogge, das alles ist sehr poetisch, irgendwie bekannt, und auch
die Angst, plotzlich taub zu sein, ist nicht ohne Hintergrundiges. Schinz
ist sehr bewusst; er pfeift nicht, aber der kleine Witz, seine Lage
literarisch zu nehmen, ist nichts anderes, als wenn ein Junge in den Keller
gehen muss und dazu pfeift. Auch das ist ihm bewusst. Er schlagt den nassen
Schnee von seinem Hut, entschlossen, aufzustehen und weiterzugehen. Wohin?
Die Dogge sieht, wie der Herr einen gebrochenen Ast nimmt, einen Knebel; sie
winselt vor Hoffnung, der Herr werde ihn werfen, sie lauft umsonst. Einmal,
ganz unwillkurlich, schlagt er mit dem Knebel gegen einen Stamm. Nicht aus
Angst, taub zu sein! Nur so. Wie es hallt: dumpf, fast ohne Ton, obschon er
immer kraftiger schlagt, bis der Knebel zerbricht. Einen Ton, der wirklich
tragt, hat es nicht gegeben. Das macht naturlich der Schnee. Alles wie
Watte. Wieso sollte ein Mensch plotzlich taub werden? Er nimmt die Dogge an
die Leine. Es gibt nichts als Gehen. Und vor allem sagt sich Schinz: Nicht
sich selber verruckt machen. Das hat schon gar keinen Sinn. Jeder Wald hat
irgendwo ein Ende! Und im ubrigen sind sie immer noch auf einem Weg, Schinz
und die Dogge, deren Knurren ihm anzeigt, dass jemand kommt. Von hinten. Nur
jetzt nicht denken: Das ist der Geist. Die Dogge bellt, so dass er die Leine
schon kraftiger fassen muss. Ein Mann im Lodenmantel, vielleicht ein
Forster, ein Holzfaller, ein Naturfreund und Sonntagsganger, der die Menge
meidet, uberholt ihn
- "Erlauben Sie", sagt Schinz -
Obschon ihm der Schwei? auf der Stirn steht, ist er ganz ruhig, froh,
seine eigene Stimme zu horen, die nach dem Weg in die Stadt fragt; dabei
muss er die bellende Dogge halten, ist nicht imstande, den Fremden naher
anzusehen.
"Sie haben sich verirrt?"
"Ja", lacht Schinz: "das ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen
-."
Schinz hort selber, wie ungeheuerlich das tont: ein Mensch, der sich in
seinem Leben noch nie verirrt habe! und fugt hinzu:
"Dabei kenne ich diesen Wald wie mich selbst."
Die Dogge kann sich nicht beruhigen.
" WO wollen Sie denn hin?"
"In die Stadt", sagt Schinz: "wo ich herkomme -."
Der Forster betrachtet die Dogge.
"Wo ich herkomme", sagt Schinz noch einmal: "Bevor es Nacht ist."
Die Dogge, springend wie gegen einen Einbrecher, rei?t ihn fast um, so,
dass Schinz kaum zum vernunftigen Sprechen kommt. Sie benimmt sich wirklich
wie ein Biest, die verdammte Dogge, dann merkt man erst, was fur ein
Riesentier das ist. Zum Gluck zeigt der Forster keine Angst, nur Interesse.
Im ubrigen, was den Weg in die Stadt betrifft, sagt der Forster, was Schinz
sich selbet hatte sagen konnen:
" Warum gehen Sie nicht einfach zuruck?"
"Auf dem gleichen Weg -?"
Eigentlich wahr, denkt Schinz.
"Oder wenn Sie mit mir kommen wollen, ich wei? ja nicht, in der Strecke
kommt es aufs gleiche heraus - so oder so..."
Schinz muss sich entscheiden.
"Sehr freundlich von Ihnen -."
" Wie Sie wollen."
Unterwegs, Schinz hat sich fur das Vorwarts entschieden, ist die Dogge
wieder ganz manierlich. Der Mann ist wirklich ein Forster. Sie sprechen uber
Doggen. Alles ganz alltaglich; warum sollte es anders sein! Naturlich reden
sie nicht immerzu. Es gibt solche Holzwege, die im Kreis herumfuhren, um den
Wald zu erschlie?en. Schinz ist zum Umsinken mude, aber zufrieden, auf
Stunden kommt es ihm nicht mehr an, wenn er nur in die Stadt kommt. Das
Literarische, das Hintergrundige in dem Gedanken, dass er auf einem anderen
Weg in die Stadt zuruckkomme, Gedanken, dIe er in schweigsamen
Viertelstunden vornimmt, das alles hat wenig Bestand, sobald der Mann im
Lodenmantel, der im Dunkeln immer unsichtbarer wird, seinen Mund aufmacht;
er redet wirklich nicht wie ein Geist. Einmal flucht er auf den Staat,
obschon er bei diesem angestellt ist; Argerliches mit einem Konsortium. Es
schneit immer noch. Ein andermal plaudern sie uber Zellulose, wobei Schinz
einige naturwissenschaftliche Kenntnisse verrat, die den Forster auf falsche
Vermutungen bringen, so, dass Schinz sich genotigt fuhlt, seinen wirklichen
Beruf zu nennen. "Rechtsanwalt sind Sie?"
"Ja."
"Hm."
"Warum nicht?"
Der Forster erzahlt ihm einen Fall: so und so, etwas umstandlich
erzahlt, so dass Schinz hin und wieder versucht, nach Art von Fachleuten
einzugreifen, um allzu Bekanntes abzukurzen. Ein Fall wie tausend Falle. Der
Forster lasst sich seine umstandliche Darstellung aber nicht nehmen.
"Nein", widerspricht er: "der Mann hat nicht gestohlen, das sage ich
nicht, der Mann war in schwerer Not, denn eines Tages -"
"Und dann hat er gestohlen."
"Nein."
"Aber Sie sagen doch -"
"Nein", wiederholt er mit der zahen Beharrlichkeit gewisser einfacher
Leute, die keine Nerven haben und etwas langsam denken: "Ich sage, der Mann
war in schwerer Not, denn eines Tages -"
Schinz ist nicht an seinem Schreibtisch, sondern im Wald; er hat keine
andere Wahl, als zuzuhoren, seine gro?e Dogge an der Leine. Kein Telefon,
das ihr Gesprach unterbricht, keine Mamsell, die hereinkommt und dem Doktor
einen deutlichen Vorwand bringt, um aufzustehen, nichts von alledem; Schinz
muss zuhoren. Von stadtischen Lichtern ist noch immer nichts zu sehen. Der
Fall ist nicht blod, zugegeben, aber keineswegs ungewohnlich, und es ist fur
Schinz nicht einzusehen, warum er alles in solcher Umstandlichkeit anzuhoren
hat. Hin und wieder, wenn sie vor einer Gabelung ihres Weges stehen,
verstummt das Gesprach; Schinz ist sich bewusst, dass er den Forster
braucht. Mindestens bis zu den ersten Laternen. Es bleibt ihm nichts, als
die Geschichte weiter anzuhoren. Nicht dass der Mann keinen fachmannischen
Einwand duldete! Schinz kann jederzeit sagen, wie er die Sache ansieht; der
Forster fallt ihm nicht in die Rede, aber auch nicht aus der eigenen heraus.
"Verstehe!" sagt er nicht unhoflich: "Aber so war es nicht, das konnen
Sie naturlich nicht wissen: eines Tages namlich -"
Einmal sagt Schinz:
"Sie entschuldigen!"
Er kann nicht mehr anders, muss auf die Seite treten, wo er an einem
Stamm etwas verrichtet. Die Dogge schnuppert, der Forster wartet, der Schnee
fallt lautlos zwischen den Stammen.
"Ich komme nach!" ruft Schinz.
Stille ... Um die Pause zu verlangern, bringt er nicht nur seine
Kleider in Ordnung, gelassener als sonst, er nimmt den Hut, um den Schnee
abzuschutteln, sogar den Mantel, den er zum selben Zweck auszieht. Er sucht
in samtlichen Taschen, ob er nicht doch ein Zigarillo findet. Umsonst.
Endlich wieder in Ordnung, bewussterma?en mit einem neuen Gesprach
gewappnet, stapft er auf den Weg zuruck; der Schnee ist schon tief, die
Hosensto?e platschnass. "Da sind Sie ja!" sagt Schinz erleichtert und
aufgeraumt: "Als wir Buben waren, wissen Sie, da haben wir in diesem Wald
einmal Rauber gespielt; da ist mir doch einmtal das Folgende passiert -"
Der Forster hort zu. "Im Hemd!" schlie?t der Erzahler: "Im Hemd stand
ich da, sage und schreibe, und so musste ich zuruck in die Stadt." Sie
lachen.
"Dieser Forster", sagt Schinz nach einigen Schritten: vielleicht waren
Sie das!"
"Vielleicht." - Schweigen.
"Und dann", sagt die Stimme des Forsters: "dann ging diese Geschichte
naturlich weiter; wie gesagt, der Mann war in schwerer Not, er hatte keine
Wahl, wie Sie selber zugeben, eines Tages hat er das Fahrrad gestohlen, und
jetzt ging es naturlich los, eines Tages werde ich als Zeuge gerufen -"
Das ist von Schinz der letzte Versuch gewesen, dieser Geschichte mit
dem Fahrrad auszuweichen. Eine kleine, aber umstandliche, eine alltagliche,
eine verzwackte, aber wirkliche Geschichte ... Es ist, als sie endlich zu
den ersten Laternen kommen, beinahe Mitternacht. In der Stadt ist der Schnee
nicht geblieben, lauter Nasse, die Flocken sinken aus den stadtischen
Bogenlampen, eine Limousine fahrt durch spritzende Tumpel, kein Mensch, zum
Gluck gibt es noch eine Stra?enbahn, eine letzte, so dass Schinz, was der
Forster hoffentlich begreift, sich nicht lange verabschieden kann. Hinein
mit dem Hund! Drinnen gru?t Schinz mit dem triefenden Hut, ohne den Forster
im Dunkeln zu sehen -.
"So ein Wetter!" sagt er.
Der Schaffner gibt keine Antwort, nur zwei Karten, eine fur Schinz und
eine fur den Riesenhund, der auf der Plattform steht, dieweil Schinz sich
gerne gesetzt hat ... Im Licht ist alles wie nie gewesen! ...
Naturlich hat Schinz keine Schlussel, wenn er mit dem Hund einen
Morgenbummel macht. Aber Bimba, versteht sich, hat ohnehin nicht geschlafen;
sie ist au?er sich.
"Nicht einmal ein Anruf!" sagt sie.
Sein einziger Wunsch: ins Badzimmer, bevor sie fragt, wo er gewesen
sei. Sie wird es nicht glauben. Er gahnt; etwas mehr als unwillkurlich; um
nicht sprechen zu mussen.
"Wo bist du denn gewesen?"
Keine Antwort; er zieht die Schuhe aus, im Grunde zufrieden, dass er
wieder zu Hause ist, argerlich nur, um jetzt nicht gefragt zu werden.
Umsonst! Bimba kennt ihn, wei?, dass er keine Auskunft geben will; kein
Gesprach, sondern ein hei?es Bad. Bimba lasst es einlaufen, ihrerseits
argerlich, immerhin holt sie ein frisches Frottiertuch, legt es wortlos hin,
argerlich uber solchen Mannerkniff: Ich habe Arger, lass mich in Ruhe! Auch
der Hund, der im Office frisst, trieft vor Nasse. Die Kinder schlafen
bereits, ebenso das Dienstmadchen. "Wieso willst du nichts essen?" sagt
Bimba: "Ich mache einen Tee, Eier, kaltes Fleisch ist auch noch da -."
"Danke."
Bimba sieht ihn an.
"Gottlieb, was ist mit dir?"
"Nichts", sagt er: "Mude -."
Das Bad ist voll.
"Danke", sagt er -
Einmal gibt sie ihm einen Kuss, um zu wissen, ob er getrunken hat.
Keine Spur. Schinz gibt den Ku? zuruck, um endlich baden zu durfen.
"Du hast ja Fieber?"
"Unsinn", sagt er.
"Bestimmt hast du Fieber!"
"Komm", sagt er: "Lass mich -."
"Warum kannst du nicht sagen, wo du den ganzen Tag gewesen bist?
Verstehe ich nicht. Nicht einmal ein Anruf! Ich sitze den ganzen Tag, rege
mich auf wie eine Irrsinnige - und du kommst um Mitternacht, wo wir seit dem
Mittagessen warten, und sagst nicht einmal, wo du gewesen bist."
"Im Wald!" schreit er.
Ture zu! ... Hoffentlich sind die Kinder nicht erwacht, es ist sehr
unbeherrscht gewesen, sehr unschinzisch. Dreiviertel Stunden dauert das Bad.
Als Schinz herauskommt, rosig und wie neugeboren, sitzt Bimba mit verheulten
Augen.
" Was ist denn los?"
"Ruhr mich nicht an!" sagt sie.
Bald zwei Uhr, es ware wunderbar, jetzt schlafen zu konnen, wenn Bimba
nicht weinen wurde. Eine Frau von vierundvierzig Jahren, Mutter von vier
gesunden Kindern, deren altestes demnachst heiraten wird, schluchzt mit
zitternden Schultern! nur weil der Gatte sich erlaubt hat, einen Sonntag
lang sich im Wald zu verirren.
"Bimba", sagt er - und streicht ihr immer noch schones Haar: "Morgen
ist Montag!"
"Bitte, geh schlafen."
"Ich bin wirklich im Wald gewesen -"
"Wenn das wieder losgeht!" weint sie.
"Was?"
"Warum lugst du?" sagt sie plotzlich ohne Tranen: "Wenn es ein
Frauenzimmer ist, warum sagst du es nicht?"
Pause.
"Es ist kein Frauenzimmer."
Pause.
"Und wenn!" schreit er plotzlich: "Ich habe gelogen, ja, ich habe
gelogen! Ein Leben lang habe ich gelogen - - -"
Bimba versteht kein Wort, eine Viertelstunde geht er hin und her,
Heinrich Gottlieb Schinz, der nicht getrunken hat, das wei? sie; hin und
her, schreiend, um so lauter schreiend, je mehr sie ihn dampfen will, Dinge
redend, die keinen Sinn haben, die alles auf den Kopf stellen, aber wirklich
alles, kein Glaube bleibt an seinem gewohnten Ort, kein Wort, das gestern
noch gegolten, ein Leben lang gegolten hat - Vielleicht hat er wirklich
Fieber ... Anders kann Bimba es nicht erklaren, sein wirres Geschrei, Bimba
sagt fast nichts; nur einmal: "Gottlieb, ich bin nicht taub."
Bimba hat ihn noch nie so erlebt.
Am andern Morgen, wie gesagt, es ist Montag, Arbeitstag, die Kinder
mussen ins Gymnasium, fruhstucken im Stehen, die Mappe unter dem Arm,
obschon Schinz diese Schlamperei nicht haben will - am andern Morgen, als
Schinz und seine Bimba zusammen fruhstucken, scheint alles wieder in
Ordnung; kein Wort uber die nachtliche Szene; Bimba im Morgenrock, der ihr
besonders schmeichelt, rostet die Brote wie immer am Montag, wenn das
frische Brot noch nicht da ist; Schinz uberfliegt die Morgenzeitung, indem
er es ganz seinen Handen uberlasst, das Ei zu kopfen, kurzum, die Gewohnung:
- alle Worte stehen wieder an ihrem Ort ... Von Fieber kann nicht die Rede
sein, Schinz hat sich gemessen.
"Got sei Dank", sagt Bimba: "du hattest dich zu Tode erkalten konnen."
Sie glaubt jetzt an den Wald.
"Jedenfalls werden wir dich am Nachmittag wieder messen!" meint sie:
"Die Anita hat eine wirkliche Erkaltung erwischt." (Anita hei?t gie Dogge.)
Der Montag vergeht wie gewohnlich, die laufenden Geschafte bringen
nichts Besonderes, Schinz fuhlt sich durchaus in Ordnung, so dass sie die
Karten fur den "Rosenkavalier" nicht zuruckgeben. Nach dem Theater, alles
wie gewohnt, trinken sie ein Glas Wein; Bimba im schwarzen Pelz. Sie ist
besonders zartlich zu ihm, unwillkurlich, etwa wie zu einem Kranken. Schinz
merkt es mehr als sie: etwas Behutendes, etwas auch von einer Mutter, welche
die Leute nicht will merken lassen, dass ihr Kind ein fallendes Weh hat. Da
er sich tadellos fuhlt, krankt es ihn nicht; immerhin bemerkt er es, hofft,
sie werde diese etwas ruhrende Art bald wieder verlieren. Nicht Bimbas
eigentliche Art! Doch sagen will er nichts. Mein Liebes, musste er etwa
sagen, ich bin nicht verruckt! Drau?en auf der Stra?e kauft Schinz eine
Zeitung, alles wie gewohnt; als er zum Wagen zuruckkommt, sitzt Bimba
bereits am Steuer. Sie mochte wieder einmal fahren! Schinz schweigt.
"Sonst verlerne ich es", sagt sie.
Auf der Heimfahrt redet Schinz kein einziges Wort, das ist selten bei
ihm, aber auch schon dagewesen. Immerhin sagt Bimba:
"Was ist mit dir, Gottlieb?"
"Was soll denn sein."
"Bist so still!"
"Nichts", sagt er: "Mude -."
"Die Steinhofer war doch herrlich!"
"Sehr."
"Sie ist reifer geworden", sagt Bimba: "Oder findest du nicht?"
Keine Antwort.
"Ich fand sie herrlich."
Wenn das so weitergeht, denkt Schinz, wird es eine Holle. Wenn was
weitergeht? Das wei? er nicht. Aber eine Holle, das ist sicher... Er
schlie?t die Garage, wahrend Bimba, obschon es regnet, auf der Treppe
wartet.
"Geh doch schon!" ruft er. Sie wartet. Er, plotzlich am Rande seiner
Beherrschung, rei?t nochmals die Garage auf, macht Licht, offnet den Wagen.
" Was ist denn los?" ruft Bimba.
Schinz hat die Zeitung vergessen. "Geh schon!" ruft er -
Aber Bimba wartet, sie ist sogar einige Stufen heruntergekommen, als
habe sie Angst, Schinz konnte den Wagen nehmen und nochmals wegfahren. In
den Wald, zu der Geliebten in den Wald! denkt er, lasst sich au?erordentlich
Zeit, bis er die Garage wieder geschlossen hat. Sie wartet wie eine
Krankenwarterin! denkt er...
Das ist der Montag gewesen.
Ebenso der Dienstag, der Mittwoch, der Donnerstag... am Donnerstag hat
Schinz einen neuen Fall, einen ziemlich gewohnlichen: Anklage auf Diebstahl.
Nicht Diebstahl eines Fahrrades! Auch Schinz hat sogleich daran gedacht,
etwas literarisch wie er nun einmal ist; uberrascht hatte es ihn nicht, wenn
es die Geschichte gewesen ware, die der Forster so umstandlich erzahlt hat.
Aber so ist das Leben ja nicht, so witzig, so vorlaut. Gestohlen wurde nicht
ein Fahrrad, sondern ein Wagen, ein Citroen. Schinz hort sich die Geschichte
an, eine umstandliche, aber alltagliche, eine verzwackte, aber wirkliche
Geschichte. Er ist bereit, die Sache zu fuhren, wie er es von jeher getan
hat, namlich gewissenhaft; er tut nichts anderes als sonst; er sucht das
Recht; er stellt die Sache hin, wie er sie sieht - und der Skandal ist da!
(Sein erster Skandal.)
Heinrich Gottlieb Schinz, Rechtsanwalt, Sohn eines namhaften
Rechtsanwaltes, ein bekannter und uberall geschatzter Mann in einer
mittelgro?en Stadt, Vater von vier gesunden Kindern, die das Gymnasium
besuchen oder bereits uberstanden haben, Heinrich Gottlieb Schinz steht im
Gericht, dem er drei Jahrzehnte lang alle Ehre gemacht hat, und sagt:
"Nein! Der Mann hat nicht gestohlen, nicht mehr gestohlen als der Herr,
dem dieser Wagen gehort, der Mann war in schwerer Not, denn eines Tages -"
"Nein! der Mann hat nicht gestohlen -."
Es ist spater ein geflugeltes Wort geworden, das einzige, das Schinz
auf dieser Erde hinterlassen hat... Andere Witze, die man zur Zeit dieses
ersten kleinen Skandales horen kann, sind nicht uberpersonlich genug, um die
Zeit zu uberdauern; einer davon geht so:
" Wissen Sie das Neueste?"
"Was denn?"
"Schinz ist nicht mehr Rechtsanwalt."
"Sondern?"
"Linksanwalt."
Daruber hat mehr als einer gelacht, sogar Schinz - nur Bimba nicht, die
das Ganze durch einen Anruf erfahren hat; etwa in dem Ton: Was ist los mit
Ihrem verehrten Herrn Gemahl? Nicht umsonst ist Bimba auf alles gefasst
gewesen. Seit dem nachtlichen Ausbruch an jenem Sonntag. Die Nachricht
empfindet sie fast wie eine Entspannung. Wenn es nur das ist! Peinlich
genug, da es naturlich in der Zeitung steht. Schinz liest es beim Fruhstuck,
nicht gleichgultig, aber auch nicht erregt.
Das stimmt nicht", sagt er nur.
Ein sehr gemeiner Bericht.
"Ich werde ihnen sofort schreiben", sagt er, indem er seine Hauszeitung
hinlegt und sich Kaffee eingie?t: "das mussen sie richtigstellen."
Nach zwei Tagen kommt seine Einsendung zuruck, was ihn ordentlich
betrifft. Wieder beim Fruhstuck. Bimba ist noch im Badezimmer, als er die
Post bekommt. Er steckt das Kuvert in die Tasche seines Morgenrockes, bevor
Bimba kommt.
"Wei?t du", sagt Bimba: "du solltest doch zu einem Arzt gehen -."
Doch! sagt sie; weil sie im stillen schon seit Wochen daran gedacht
hat: Nervenarzt. O ja! Um nicht zu sagen: Irrenarzt... Er loffelt sein Ei;
eine halbe Stunde spater erbricht er es wieder, tut aber alles, dass Bimba
es nicht merkt.
"Wo gehst du hin?"
Keine Antwort.
An diesem Morgen geht Schinz zu seinem Freund, der allerdings nicht vom
Fach ist, aber ein wirklicher Freund, eigentlich der einzige, wenn auch die
Freundschaft etwas einseitig ist; fur Schinz bedeutet sie mehr als fur den
andern. Er ist Musiker. Ein lieber Mensch, der etwas gerne Recht gibt.
Schinz wei?: Es hei?t nicht viel, wenn Alexis dir Recht gibt! Es hei?t, dass
er eine Sympathie zu dir hat. Aber darum geht es jetzt nicht. Alexis ist
Emigrant, das ist wichtig; ein Fremdling. Als Zeuge ohne volles Gewicht; er
hat sich halt daran gewohnt. Alexis ist froh, wenn er geduldet ist; er liebt
es nicht, sich einzumischen. Aber ein feiner Mensch, einer von den wenigen.
Fur Schinz wurde es sich nur darum handeln, dass Alexis die beiden Texte
liest, den Bericht in der Zeitung und seine eigene Einsendung. Um dann zu
sagen, ob er die Einsendung richtig findet oder verfehlt, anma?end,
ubertrieben. Nur keine Ubertreibung!
"Ich brauche deinen Rat."
Alexis liegt noch im Bett.
"Ich habe einen kleinen Skandal -."
"Ich wei?."
"Nun ist folgendes -"
Telefon, Alexis nimmt es ab. Schinz wartet, erhebt sich etwas unrastig,
tritt ans Fenster, um eine Zigarette zu rauchen... Bimba will wissen, ob ihr
Mann vielleicht bei Alexis ist - Eine Minute spater, ohne seine Sache
vorzubringen, ist Schinz wieder gegangen, unhaltbar wie ein launischer
Junge; ein Mann von sechsundfunfzig Jahren, Doktor Schinz, Rechtsanwalt,
Vorstand des Kunstvereins. Alexis ruft Bimba an:
"Was habt ihr denn?" fragt er.
Bimba weint...
So geht das weiter, alles etwas komisch, etwas kleinlich, etwas
ubertrieben. Schinz ist auf die Zeitung gegangen; man kennt sich
gesellschaftlich, und die Leute mussen ihn empfangen, tun es auch, alles
nicht unfreundlich, aber es gelingt ihnen nicht, Schinz zu uberzeugen, dass
seine Einsendung, um nur davon zu reden, unmoglich ist.
"Nein! der Mann hat nicht gestohlen -."
Die Herren sehen einander nur an, schweigen, wie die arme Bimba
geschwiegen hat, als Schinz damals hin und her gegangen ist, Dinge redend,
die alles auf den Kopf stellen, aber wirklich alles, kein Glaube bleibt an
seinem gewohnten Ort, kein Wort, das ein Leben lang gegolten hat...
"Gut", sagt der Schriftleiter: "bleiben wir bei der Sache! Sie beharren
also darauf, dass wir Ihre Einsendung veroffentlichen -"
"Ja."
"Herr Doktor", sagt der Herr: "darauf kann ich Ihnen nur eines sagen:
ich bin bereit, aber ich warne Sie."
Schinz, von dem zweifellos menschlichen Ton beruhrt, hat seine
Einsendung nochmals zur Hand genommen, obschon er ihren Text nachgerade
kennt. Der Herr halt es fur seine menschliche Pflicht, Schinz zu warnen; er
wiederholt das noch einige Male. Schinz will naturlich nicht starrsinnig
sein. Eine Pose des Mutes? Der Herr halt es gar nicht fur Mut, wenn Schinz
daran festhalt, sondern fur Irrsinn; er sagt es gelinder: Fauxpas. Auch
Schinz halt es nicht fur Mut; die Einsendung sagt wirklich nichts, was ihm
nicht selbstverstandlich ist. Nicht so: Euch will ich es einmal sagen, ich,
Heinrich Gottlieb Schinz! Sondern ganz simpel: Warum soll ich verschweigen.
was ich finde? Als einer von Mut redete, hat es ihm fast Angst gemacht; aber
er kann nichts Mutiges daran finden. "Wie Sie wollen". sagt der Herr -
Seine Einsendung bleibt also da.
"Und ohne jeden Strich?"
"Ja", sagt Schinz: "es sind ja kaum anderthalb Seiten -."
Schinz, seine Mappe in der linken Hand, hat sich verabschiedet, wie er
es gewohnt ist, hoflich, Auge in Auge; sie schauen ihn an wie einen, der an
die Front geht... Am andern Morgen, wie er wieder beim Fruhstuck sitzt, ist
die Einsendung erschienen. Oben auf der zweiten Seite. sehr sichtbar,
versehen mit einem kurzen Nachwortlein, worin die Schriftleitung, wie sie
behauptet, es dem Leser uberlasst, seine Meinung uber einen solchen
Rechtsanwalt zu bilden. Das ist das erste, was Schinz uberfliegt. Dann liest
er den eigenen Text, etwas bange, ob sie wirklich nichts verstummelt haben.
Das nicht; aber es ist, als wurden die Lettern, gewohnt das genaue Gegenteil
auszusagen, sich weigern, seinen Sinn wiederzugeben. Zum ersten Male, Schinz
erbleicht von Zeile zu Zeile, zum allerersten Male merkt er, dass etwas
geschehen ist, dass er sich verwandelt hat, dass das Selbstverstandliche,
was er zu sagen hat, in Widerspruch steht zu aller Umgebung, in einem
endgultigen und unversohnbaren Widerspruch. Darum die Warnung? Jetzt erst,
gleichsam erwachend, bemerkt er auch den Titel, den sie daruber gesetzt
haben: "Nein! Der Mann hat nicht gestohlen..."
In diesem Augenblick wei? Schinz, dass er erledigt ist; allermindestens
als Rechtsanwalt; allermindestens in dieser Stadt.
Der Rest ist wie ein boser Traum. Er ist bald erzahlt, glaube ich, die
Entscheidung ist gefallen damals im Wald, als er mit dem Forster gegangen
ist, vorwarts statt ruckwarts. Er kam aus seiner Stadt, er wollte in seine
Stadt. Die Dogge, die schone Anita, ist kurz darauf eingegangen; jeder Hund
geht einmal ein; Schinz hat sich sehr gewehrt, diesem naturlichen Hundetod
irgend etwas beizumessen, aber betroffen hat es ihn doch; es ist ihm, als
habe er seinen letzten Zeugen verloren, seinen letzten Begleiter; eines
Tages sieht Schinz sich an der Grenze, allein, anders als fruher, wenn er
nach Paris gereist ist, nach Rom, nach Florenz, nach London, nach Munchen;
ohne Gepack, ziemlich unrasiert steht er in einem kleinen kahlen Raum, wo er
sich ausziehen muss, ausziehen bis aufs Hemd - Schinz zogert, als konne er
es nicht glauben, aber der Kommissar wiederholt es:
"Bis aufs Hemd."
Jede Tasche wird untersucht, nicht grob, aber unbarmherzig. Schinz hat
keine Ahnung, was sie suchen. Er ist nicht uber einen Bach geschwommen,
nicht uber nachtliche Acker gekrochen; er ist mit der Bahn gefahren. Ohne
Gepack. Vielleicht hat das ihn verdachtig gemacht. Sein Pass ist gultig,
auch wenn man ihn gegen das grellste Licht halt. Waffen hat er nicht, auch
keine Goldbarren, nicht einmal Schriftstucke, nichts, was aus seinen
Unterhosen herausfallt. Aber verdachtig ist verdachtig. Schinz versucht,
ruhig zu sein, nichts zu sagen. Die andern, die ihn betasten, sagen
ebenfalls nichts. Korper eines alteren Mannes, das ist alles, was sie
finden. Auch zwischen den Schuhsohlen, die trotz seiner ehrenwortlichen
Versicherung aufgetrennt worden sind, ist nichts. Schinz kann sich wieder
ankleiden. Der Kommissar, seinen Pass in der Hand, verlasst die kahle Zelle;
der Gendarm bleibt. Durch einen Turspalt sieht Schinz, wie die anderen
Reisenden eben ihre gepruften oder ungepruften Koffer wieder verschlie?en,
Herren und Damen, Pelze, Hutschachteln, die Trager nehmen die bunten Colis.
"Wenn Sie so freundlich waren", sagt Schinz: "die Ture zu schlie?en -."
Der Gendarm gibt einen Fu?tritt.
"Nur die Ruhe!" sagt er: "Den Zug bekommen Sie sowieso nicht mehr."
"Wieso nicht?"
Der Gendarm tragt ein Gewahr.
"Wieso nicht?" fragt Schinz -
Der Gendarm konnte sein Sohn sein.
"Fertig?"
Das fragt nicht der Gendarm, sondern ein dritter, der die Tur wieder
geoffnet hat, um sie wieder nicht ganz zu schlie?en; herein und hinaus -
Fertig? nichts weiter als das: Fertig?... Schinz bemuht sich, nicht zu
hassen; das ist ihr Dienst, sagt er sich, ein widerlicher Dienst, mitten in
der Nacht eine Uniform anziehen und auf die verspateten Zuge warten, Leute
sehen, die ans Meer fahren oder ins Gebirge, Leute untersuchen, die daran
schuld sind, dass man solchen Dienst uberhaupt machen muss. Schinz bemuht
sich, seine misshandelten Schuhe anzuziehen und nicht zu hassen. Ein alterer
Mann wie er, im Augenblick nicht gerade gepflegt, Hosen mit Hosentragern,
Hemd ohne Kragen, dazu das grunliche Licht, Schinz begreift, dass er hier
nicht die Formen erwarten kann, welche die Herren auf der Zeitung noch
gewahrt haben, bevor sie den Titel wahlten:
"Nein! Der Mann hat nicht gestohlen..."
Man wird sehr rasch bekannt.
"Nehmen Sie Platz", sagt der Kommissar, als Schinz, seinen Mantel auf
dem Arm, vor dem Tisch steht und wieder eine Krawatte tragt: "Bitte, nehmen
Sie Platz."
Schinz bleibt stehen.
"Ich mochte Sie darauf aufmerksam machen", sagt er: "dass mein Zug in
vier Minuten weitertfahrt."
"Das geht mich nichts an."
Pause.
"Meinetwegen bleiben Sie stehen."
Schinz setzt sich, es hat keinen Sinn, die Leute vor den Kopf zu
sto?en; das ist ihr Dienst, ein widerlicher Dienst.
"Schinz, Heinrich Gottlieb -."
"Ja."
"Doktor jur."
"Ja."
"Rechtsanwalt -."
"Ja", sagt Schinz; es fehlt jetzt nur noch, denkt er, dass der
Hornochse mir vorliest, wie viel Zentimeter ich habe.
"Geboren -"
"Ja"
Drau?en hort man das Gepaff der Lokomotive, bereit, jeden Augenblick
abzufahren; Schinz bei?t auf die Lippen, der Hornochse blattert im Pass, als
hatte er noch keinen gesehen.
"Wo fahren Sie hin?"
"Hinaus", sagt Schinz.
192
"Ich frage, wo Sie hinfahren."
"Ich sage: Hinaus."
Pause.
"Ich frage Sie zum letzten Mal."
Schinz hat Muhe, nicht zu hassen, alie zu hassen in diesem Einzigen,
der da hockt, seinen Pass in der Hand, zu hassen, zu hassen... Nicht die
Nerven verlieren! denkt er: "Ich muss hinaus, ich muss, ich kann es nicht
aushalten, Unrecht zu sehen und zu schweigen, Zeitungen zu lesen, die das
Gegenteil sagen, Menschen zu sehen, die mich wie einen armen Kranken
behandeln, wie ein Kind mit einem fallenden Weh, zu fuhlen, wie sie Angst
haben vor meinem nachsten Fauxpas, diese mutterliche Sorge, ich konnte
unseren Wagen auf ein Trottoir fahren, diesen freundschaftlichen Rat, ich
solle nicht so viel rauchen und mich nicht in eine Sache hineinsteigern, das
Schweigen, wenn ich mich erklare, die unausgesprochene Hoffnung, dass ich
endlich zu einem Nervenarzt gehe, ich halte es nicht mehr aus, ich muss
hinaus! - und noch ist der Zug nicht abgefahren, die paffende Lokomotive,
die zum Platzen voll Dampf ist..."
"Wo fahren Sie hin?"
"Das geht Sie einen Dreck an!"
Schinz ist aufgesprungen,
"Bitte", sagt der Kommissar -
"Das geht Sie einen Dreck an!" schreit Schinz: "Das geht Sie einen
Dreck an!"
Schreien ist so unschinzisch, er merkt es jedesmal, bereut es jedesmal,
nicht weil der Hornochse ihn jetzt strafen wird, bereut es, weil es ihm
nicht liegt... Gottlieb, hat Bimba damals gesagt, ich bin nicht taub - Und
ob sie taub sind! Alle sind sie taub! Sie horen, dass man schreit, aber
nicht, was man schreit. Das ist es! Naturlich sind sie taub, sonst wurden
sie sich selber nicht aushalten, sie wurden eingehen wie die Dogge, weil sie
es gehort haben und nicht sagen konnen, wie die Dogge! denkt er, wahrend der
Kommissar sich ebenfalls erhebt und trocken lachelt:
"Bitte. Sie konnen gehen."
Den Pass hat er in die Schublade geworfen, die Schublade schlie?t er
ab, den Schlussel steckt er in die hintere Hosentasche, die Fulle seines
Arsches zeigend - Schinz hat begriffen, nimmt seinen Mantel, geht hinaus,
doch kommt er nicht weit, bis der junge Gendarm ihn einholt.
"Sie sollen zuruckkommen."
" Warum?"
"Sie sollen zuruckkommen."
Schinz geht zuruck; der Kommissar steht, eine Pfeife anzundend, so dass
er eine Weile nicht sprechen kann; dann sagt er: "Schlie?en Sie die Ture wie
ein anstandiger Mensch, Herr Doktor."
Schinz schluckt. Der Kommissar raucht, bereits anderweitig beschaftigt.
Schinz schlie?t die Ture wie ein anstandiger Mensch... Drei Uhr morgens, es
regnet wieder in Stromen, geht er schwarz uber die Grenze, Heinrich Gottlieb
Schinz, Rechtsanwalt, ein Mann ohne Papiere.
Die Kinder schamen sich im Gymnasium.
Einige Nachte sieht sich Schinz, wie ,er in Stadeln ubernachtet, nie
ganz schlafend, wachsam, solange er sich im Grenzgebiet befindet. So
ungefahr, denkt er, ist Alexis uber unsere Grenze gekommen, der Emigrant,
der als Zeuge kein volles Gewicht hat; man ist sehr rasch ein Emigrant. Man
ist ansassig, wie man ansassiger nicht sein kann, hat einen Stammbaum und
ein Haus; plotzlich ist man ein Emigrant. Das ist schon ofter vorgekommen!
Man sieht die Dinge etwas anders, als die andern sie lehren; man kann nichts
dafur, dass die Zeitungen das Gegenteil schreiben... Eines Tages melden sie,
dass Schinz geschnappt worden ist, namlich auf der andern Seite. Er soll,
wie der behordliche Ausdruck lautet, abgeschoben werden. Abgeschoben! Fur
die Familie ein nicht ausdenkbarer Schlag. Nur Bimba halt sich gro?artig;
sie ist alt geworden, hat fast keinen Umgang. Nicht dass die Menschen sie
meiden! So sind die Menschen ja auch wieder nicht; nur Bimba halt sie nicht
aus, nicht einmal ihr Schweigen. Sie verteidigt nicht alles, was Schinz
gesagt und getan hat; etwa sein lacherlicher Zank mit der Zeitung; aber der
Fall mit dem Wagen, ja, das findet auch Bimba, dass der Mann, je ofter sie
daruber nachdenkt, und zwar allein, nicht gestohlen hat. Komisch, wie anders
man sieht, wenn einmal der gewohnte Umgang etwas nachlasst! Und wie er
nachlasst, wenn man anders sieht; das ist dann nicht mehr komisch, Bimba ist
sehr alt geworden. Wieder sitzt da ein Kommissar:
"Schinz, Heinrich Gottlieb -?"
Schinz schweigt.
"Doktor jur."
Schinz schweigt.
"Rechtsanwalt!" sagt der Kommissar, der diesmal keinen Pass halt,
sondern einen Steckbrief, und fahrt fort: "Warum leben Sie unter einem
falschen Namen?"
Schinz schweigt.
"Sie haben die Grenze schwarz uberschritten. Ihr eigenes Land hat Ihnen
die Papiere entzogen."
"Das ist nicht wahr!"
"Sie haben also die Grenze nicht uberschritten?" sagt der Kommissar
nicht ohne Stolz auf die zwingende Fuhrung des Verhors:
"Sie befinden sich also nicht in diesem Land?"
"Man hat mir keine Papiere entzogen."
" Wieso haben Sie denn keine?"
Schinz, sich furs erste mit einem kurzen hamischen Lachen begnugend,
nimmt ein Taschentuch heraus, ein sehr ungewaschenes, wie es bei einem
Schinz hochstens noch in der Bubenzeit hat vorkommen konnen, grau und
verwurstelt, feucht, widerlich, dann sagt er:
"Das ist eine lange Geschichte -"
Bald erinnert er sich selber nicht mehr!
"Damit geben Sie also zu", sagt der Kommissar: "dass Sie nicht Bernauer
hei?en, sondern Schinz - Heinrich Gottlieb, Rechtsanwalt?"
"Ja."
Schinz schneuzt sich; es brauchte keine spiegelnde Fenster scheibe,
damit er wei?, wie er aussieht! Kein Geld fur frische Hemden, einige Nachte
in den Wartesalen dritter Klasse, Verlust der Bugelfalten, einige Nachte im
Freien, kein warmes Wasser, Seife von offentlichen Aborten, ein Mantel, der
sozusagen zu deiner Wohnung geworden ist, und das Kostum eines Verdachtigen
ist da. Verlasse dich nicht auf dein Gesicht, auf die Zuge deines Gesichtes!
Vergiss den Rosenkavalier, vergiss den Kunstverein, vergiss die
Denkmalpflege; Kenntnisse dienen nur noch dazu, dich restlos verdachtig zu
machen. Ein Mann wie du, der ein Haus hat und einen Wagen, warum hast du
deine Stadt verlassen? Warum hast du es notig, Bernauer zu hei?en?... Das
Protokoll, das erste von vielen kommenden, kannst du unterzeichnen, wenn es
fertig ist; es sind da noch einige Fragen.
"Herr Doktor", sagt der Kommissar, das noch bescheidene Dossier
offnend, und sein Ton, wenn er Doktor sagt, ist nicht etwa hohnisch, sondern
durchaus achtungsvoll, da der gewohnliche Landstreicher nun entlarvt ist als
ernsthafter Fund: "Sie haben Verbindungen zu einem gewissen Becker?"
Schinz stutzt.
"Becker, Alexis, Emigrant."
Schinz schweigt.
"Ja oder nein?"
Schinz schweigt.
"Bitte", lachelt der Kommissar: "vielleicht erinnern Sie sich, wenn ich
Ihnen das Bild zeige -."
Schinz hat das Gefuhl, rot zu werden.
"Das Bild ist allerdings alt", sagt der Kommissar: "Ihr Freund tragt
keinen Schnurrbart mehr, so viel wir wissen."
Schinz schweigt.
"Ich will Sie nicht uberrumpeln, Herr Doktor, Sie werden Zeit genug
haben, sich alles zu uberlegen", sagt der Kommissar mit dem fast kollegialen
Ton von Todfeinden, die ihre Spielregeln kennen: "Ferner kennen Sie sehr
wahrscheinlich einen gewissen Marini..."
"Marini?"
;,Francesco Marini."
"Nein. -"
"Oder Stepanow."
"Stepanow?"
"Ossip Stepanow."
"Nein!"
"Oder Espinel."
"Nein!" sagt Schinz.
"Roderigo Espinel."
"Nein!" sagt Schinz.
"Seine Namen tun nichts zur Sache", sagt der Kommissar:
"Aber wenn Sie ihn kennen, erinnern Sie sich an sein Gesicht - ein sehr
markantes Gesicht, das hat noch keiner vergessen, der ihn einmal gesehen
hat."
Und damit gibt er das Foto:
"Ein fertiger Christuskopf!"
Schinz erbleicht...
"Sie erinnern sich, Herr Doktor?"
Schinz halt das Foto: der Forster, der Lodenmantel - Man will mich
wahnsinnig machen, denkt er, man will mich wahnsinnig machen! - Er steht in
dem Lodenmantel, ein Forster am Sonntag, der sich vor seine Stamme stellt
und eine Aufnahme machen lasst, etwas verlegen, ein schlechtes Foto, aber
deutlich, ein dilettantisches Foto. Schinz legt es auf den Tisch zuruck,
unwillkurlich und etwas rasch, so, als verbrenne es seine Finger oder als
ware es schwer wie ein Stein... Der Kommissar hat sich unterdessen eine
Zigarette genommen, zundet an; jetzt sagt er:
"Kennen Sie den Menschen?"
Die Zelle, die Schinz bekommt, ist ganz ordentlich. Sie hat sogar
Sonne, ein etwas hochgelegenes Fenster, so dass man nichts von der Welt
sieht, nur einen Kamin, namlich wenn Schinz auf seiner Pritsche steht. Die
Pritsche ist hart, aber sauber, nicht unwurdig. Drei Uhr mittags
verschwindet die Sonne; kurz danach hort man eine Turmuhr. Schinz findet es
schon viel, dass er nicht gegen eine Mauer sieht, womoglich lloch eine
Schattenmauer, sondern gegen den Himmel. Seine Zelle ist offenbar im
obersten Stockwerk; jedenfalls hort man oft das Geflatter der Tauben, hin
und wieder schwirrt eine vor dem Gitter vorbei. Manchmal ist Schinz ganz
heiter: Man muss halt nicht uber die Grenze schleichen! sagt er sich. Die
Zelle ist klein; es erinnert ihn an das bekannte Kloster in Fiesole.
Uberhaupt die Erinnerungen! Seine erste Angst, als er an dieser Stelle
sitzt: Jetzt nicht den Glauben an deine Unschuld verlieren! Das Foto mit dem
Forster, sagt er sich, ist eine Hysterie gewesen; er hat es ja kaum wirklich
betrachtet; er ist erschrocken und hat es weggelegt. Erschrocken uber einen
Lodenmantel, wie es Tausende gibt! Das Gesicht, sagt Schinz sich mit Recht,
hat er damals gar nicht so deutlich gesehen; es war ja schon Dammerung, dann
sogar Nacht. Lass dich nicht irrsinnig machen! Und wenn schon, denkt er ein
anderes Mal, wenn er es wirklich gewesen ware: was habe ich verbrochen? Ich
habe ihn gesehen, gut, ich habe mit ihm geplaudert, gut, vor allem hat er
geplaudert. Was weiter? sagt Schinz, indem er plotzlich in seinem Hin und
Her wieder stehen bleibt: Was geht dieser Marini mich an oder dieser
Stepanow oder wie er hei?t? Dann legt er sich auf die Pritsche: Man will
mich irrsinnig machen, sagt er sich ziemlich gelassen, man will mich
irrsinnig machen. Drau?en hort man das Gackern von Huhnern. Irgendwie schon.
Ein Fenster voll Himmel; das Gitter davor ist nicht so schlimm; Schinz hat
ja keine Absicht, hinunterzuspringen in den Tod oder hinauszufliegen uber
die Kamine. Einmal, denkt er, wird ein Gericht stattfinden. Hin und wieder
hort man auch das Hupen von Wagen, aber ziemlich ferne; jenseits von Baumen,
jenseits eines Hofes oder so. Das ganze Gebaude, wer wei?, war vielleicht
einmal ein Kloster; Schinz hat auf seinen Reisen so viele alte Kloster
besucht, sich manchmal vorzustellen versucht: Wenn du in einer solchen Zelle
leben musstest? und dann ist Bimba gekommen, begeistert von einem Kreuzgang,
man ist hinuntergegangen, hat Fresken bewundert, langsam ist man
hinausgegangen, Sonne auf einer Piazza, gegenuber ein kleines Ristorante.
Die Fresken: Sebastiano mit den Pfeilen im Leib, ein Kindermord zu
Bethlehem, ein Christophorus, die drei bekannten Kreuze auf Golgatha, viel
bittere Geschichten, aber schon. Wolfflin fallt ihm ein! Und so weiter. Zum
Gluck sind die Kinder schon gro?. Manchmal steht Schinz einfach an der Wand,
die Arme an der Wand, den Kopf in den Armen, so dass er nichts sieht; mit
offenen Augen. Der Himmel ist zum Verzweifeln. Schlafen geht nicht. Traume
machen alles so ma?los. EinmaI wird das Essen kommen. Dann wird es sich
zeigen! ob es Gendarmen sind oder Warterinnen, Gefangnis oder Irrenhaus. Das
ist seine einzige Angst. Wenn du nirgends auf der Welt ein voller Zeuge mehr
bist. Als sie kommen, die Schritte, nimmt er den Kopf nicht von der Wand;
die Ture geht auf, Schinz bleibt so, die Ture geht zu. Schinz schaut: ein
Geschirr ist da, ein blechernes, aber sauber, Kartoffelsuppe und Brot, ein
etwas komisches Gefa? mit frischem Wasser... Wochen wie Jahre, Jahre wie
Wochen, Verhore, die sich wortlich wiederholen, Namen, die Schinz nicht
kennt, hin und wieder ist er durchdrungen vom Bewusstsein, dass alles nur
ein Traum ist, aber das andert nichts daran; sooft er erwacht, sieht er das
Gitter von dem Himmel, und jeden Morgen, wenn es grau wird, hort er, wie die
Hahne krahen -. Endlich ist es soweit.
Eines Tages sieht sich Schinz, wie er es von Bildern kennt, in Hemd und
Hose und mit einem kleinen Strick um die Handgelenke. Er ist nicht allein.
Sie stehen in einem Schulhaushof, Kies, die Kastanien bluhen mit wei?en und
roten Kerzen. Stunden ohne Ahnung. Die Soldaten, die sie bewachen, tragen
eine Uniform, die Schinz noch nie gesehen hat; die Historie, scheint es, hat
sich wieder einmal gewendet, die Mutzen sind anders, der Schnitt der Hosen,
anders ist auch die Art, das Gewehr zu tragen. Es ist schon ziemlich hell,
aber vor Sonnenaufgang. Was Schinz, ubrigens der einzige Deutschsprechende
in seiner Gruppe, mehr beschaftigt als die unbekannten Uniformen, ist der
kleine Huhnerhof des Hauswartes, wo er zum ersten Male die beiden bekannten
Hahne sieht, die er jeden Morgen gehort hat! noch haben sie nicht gekraht...
Auf der Treppe der Turnhalle erscheint ein Mann ohne Uniform, ein ziemlich
junger Bursche, der eine Armbinde tragt; eine Liste verlesend:
"Stepanow, Ossip."
"Hier."
"Becker, Alexis."
"Hier."
"Schinz, Heinrich Gottlieb."
"Hier."
Die ubrigen blicken auf den Kies. Je ein Soldat fuhrt die eben
Gerufenen aus ihrer Gruppe. Hinuber in die Turnhalle, die immer noch,
obschon es tagt, hell erleuchtet ist. Naturlich wird nicht gekreuzigt,
sondern erhangt. Die Vorrichtung ist lacherlich einfach, fast
schulbubenhaft; drei Ringseile sind heruntergelassen, daran je ein ziemlich
dunner Strick mit einer Schlaufe. Darunter je ein fluchtig genagelter
Holzblock mit drei Stufen. Schinz denkt: Das kann aber nicht euer Ernst
sein! ohne sich jedoch eine Hoffnung zu machen, dass es deswegen nicht
stattfinden werde. Auch daruber ist Schinz sich klar, dass er nie mehr
erfahren wird, worin sein Verbrechen eigentlich bestanden hat. Irgendwie
spielt es wirklich keine Rolle; so weit ist er schon gekommen. Wieder
vergeht eine Weile. Die drei Gerufenen sind so gestellt, dass sie sich den
Rucken zuwenden, einander nicht sprechen und nicht sehen konnen. Schinz
sieht einen Tisch, gemacht aus zwei Hurden und einem Brett, darauf ein
Eisenstab, zwei Handschuhe, wie die Schwei?er sie haben, drei kleine
Schnappzangen, ein Bunsenbrenner, ein vielfach vergluhter Draht, das genugt,
damit lasst sich foltern, so viel man nur will. Eine Uniform spricht mit
einer Art von Arzt, der mehrmals die Achseln zuckt. Dann, da die bei den
offenbar zu keinem Ende kommen, wendet sich die Uniform, drei Fotos in der
Hand; jeder wird nochmals mit seinem Foto verglichen. Dann kommt der junge
Bursche mit der Armbinde, weist ihnen die Platze an. Links Becker, Stepanow
in der Mitte, rechts Schinz. Die Schlaufe sollen sie sich selber um den Hals
legen - es ist wirklich der Forster. Er sagt:
"Warum haben Sie mich verraten?"
Schinz hat keine Stimme.
"Warum haben Sie mich verraten?"
Der Forster hilft ihm, vorwurfslos, so wie er dem armen Becker schon
geholfen hat, so, als ware er schon unzahlige Male gehangt worden, er
selber. Schinz schaut ihn an und sagt:
"Ich verstehe kein Wort."
Der Forster lachelt.
"Ich habe Sie nicht angesprochen, Herr Doktor, Sie haben mich
angesprochen, Sie haben mich nach dem Weg gefragt -."
"Nein", sagt Schinz.
"Tragen wir es."
Da, sein Christus-Gesicht vor Augen, kann Schinz es nicht ertragen,
schreit, als konne er daran erwachen, schreit, wie ein Mensch nur schreien
kann, schreit:
"Nein! Nein! Nein!"
Das ist das letzte Mal gewesen, dass Schinz seine eigene Stimme gehort
hat - - - Erwacht, schwei?uberstromt, die eigene Hand an seinem Hals, der
unversehrt ist, merkt er es nicht sogleich, Bimba streicht ihm die Stirne,
Bimba ist alt, Bimba lachelt, der Arzt steht am Fu?ende des Bettes, Bimba
bewegt die Lippen, aber sie sagt kein Wort, auch der Arzt bewegt die Lippen,
aber niemand sagt ein Wort. Schinz ist taub. Als er es wei?, schlie?t er die
Augen; als musste, wenn er sie dann abermals aufmacht, alles verandert sein.
Nichts ist verandert, sie bewegen die Lippen. Als er es sagen will, dass er
sie nicht mehr horen kann, merkt er, dass er auch stumm ist.
Schinz hat nach diesem Ereignis noch sieben Jahre gelebt, ohne seine
Vaterstadt zu verlassen. Mit dreiundsechzig Jahren stirbt er eines
naturlichen Todes. Und nicht ohne Ansehen. Sein sonderbarer Fauxpas ist zwar
nicht vergessen worden, aber verziehen; man hat den taubstummen Herrn auch
auf der Stra?e immer zuvorkommend begru?t; die Au?enwelt, ausgenommen Bimba,
hat das Ganze, wie schon gesagt, durchaus als einen klinischen Fall
betrachtet, aufsehenerregend auch so, erschutternd auch so, aber fur die
Au?enwelt ohne jede Folge.
OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru
OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru
Heinrich Gottlieb Schinz, Rechtsanwalt, Vater von vier gesunden
Kindern, deren altestes sich bald verheiratet, ist sechsundfunfzig Jahre
alt, als ihm eines Tages, wie er es nennt, der Geist begegnet ... Schinz,
wie der Name schon sagt, ist Sohn aus gutem Haus; das Verlangen, dem Geist
zu begegnen, hat er schon als Jungling; er spielt Klavier und macht mehrere
Reisen als Student. Paris, Rom, Florenz, Sizilien. Spater London, Berlin,
Munchen, wo er ein Jahr verbringt. Er schwankt zwischen Kunstgeschichte und
Naturwissenschaft; sein Beruf als Rechtsanwalt, teilweise eine Entscheidung
seines Vaters, der ebenfalls ein namhafter Rechtsanwalt gewesen ist, bringt
ihm bald die ublichen Erfolge, Ehe und Ehrenamter, darunter auch solche von
wirklicher, von mehr als gesellschaftlicher Bedeutung: Winterhilfe,
Denkmalpflege, Umschulung fur Fluchtlinge, Kunstverein und so weiter ...
Seine Begegnung mit dem Geist ist keineswegs unbemerkt geblieben, einige
Wochen gehort sie sogar zum Gesprach in den Stra?enbahnen; die Au?enwelt,
sofern man eine mittelgro?e Stadt so bezeichnen will, sieht es allerdings
als klinischen Fall, ratselhaft auch so, aufsehenerregend auch so,
erschutternd auch so, aber fur die Au?enwelt ohne jede Folge.
Eines Sonntagmorgens, es schneit, ist Schinz, wie er das seit Jahren zu
tun pflegt, in den Wald gegangen, begleitet von seinem Hund,
gesundheitshalber. Aufgewachsen in dieser Gegend, wo schon das
gro?vaterliche Haus gestanden hat, kennt er den Wald wie sein Leben. Auch
der Hund kennt ihn; eine Dogge. Sein Erstaunen, als die vertraute Lichtung
sich nicht einstellt, ist nicht gering, aber durchaus gelassen. Eine Weile
bleibt er einfach stehen, ebenso der Hund mit schwitzender Zunge; es
schneit, aber nicht so machtig, dass Schinz deswegen den Weg verfehlt hat.
Der Weg ist durchaus sichtbar, nur die Lichtung nicht. Die Dogge muss sich
gedulden, bis Schinz sich ein Zigarillo angezundet hat; wie er das gerne
macht in Augenblicken, wo er nicht weiter wei?, sei es als Rechtsanwalt oder
fruher als Major. Ein Zigarillo gibt Ruhe. Es ist jederzeit moglich, dass
Baume verschwinden, ganze Gruppen, ein halber Wald; aber dass eine Lichtung
verschwindet, ist nicht anzunehmen. Das kommt, sagt sich Schinz, allenfalls
in der Poesie vor; wenn ein Dichter dartun mochte, dass auf marchenhafte
Weise viel Zeit vergangen ist oder etwas dieser Art. Schinz ist belesen.
Weitergehend, um die Dogge nicht langer warten zu lassen, denkt er so das
eine und andere, sein Zigarillo rauchend; irgendwann wird die verdammte
Lichtung schon kommen. Auch er hat sich einmal in der Poesie versucht; kein
Grund, deswegen zu lacheln. Wie gesagt: das Verlangen, dem Geist zu
begegnen, hat er schon als Jungling gekannt. Dann die Zeit mit der
Naturwissenschaft; eine schone Zeit, Schinz denkt gerne daran, Mikroskop und
so. Das eine und andere ist auch geblieben, nicht blo? gewisse Kenntnisse,
die etwas verwischt sein mogen, aber eine gewisse Art, den Kindern zu
zeigen, wie das Holz aussieht unter der Lupe, und zu erklaren, wieso das
Wasser von den Wurzeln emporsteigt in die Zweige. Doch all dies horen die
Kinder jetzt in der Schule; Schinz hat die Lupe, auch wenn er allein ist.
Und dann die Kunstgeschichte bei Wolfflin; damals in Munchen. Auch eine gute
Zeit, Schinz denkt gerne daran; im Kunstverein ist er zuweilen der einzige,
der nicht faselt; das hat ihm der alte Wolfflin mit einer einzigen Blamage
beigebracht, und kurz darauf hat er auch die Kunstgeschichte verlassen. Das
eine und andere ist dennoch geblieben; Durer und so. Die Welt, wenn man eine
mittelgro?e Stadt so bezeichnen will, hat wohl nicht unrecht, wenn sie
Heinrich Gottlieb Schinz als einen geistigen Menschen betrachtet: obschon er
seinerseits, das ist bemerkenswert, nie von Geist redet; er meidet dieses
Wort, als hasse er es, umgeht es auf alle Arten, oft auf sehr witzige Art,
als ware es etwas Unanstandiges, mindestens ist er in seiner Gegend sehr
zuruckhaltend, im Grunde nicht ohne Ahnung, dass der Geist, der wirkliche,
etwas durchaus Furchterliches ist, etwas Erdbebenhaftes, das man nicht rufen
soll, etwas Katastrophales, das alles Vorhandene uber den Haufen wirft,
etwas Todliches, wenn man ihm nicht durch au?erordentliche Gaben gewachsen
ist -.
Die Lichtung ist nicht gekommen.
Funf Uhr abends, und Schinz ist zum Mittagessen erwartet worden,
dammert es, dass man bald uberhaupt nichts mehr sieht. Schinz sitzt auf
einem gefallten Stamm, froh, Spuren menschlicher Arbeit zu sehen; ein
gewisses Bangen hat ihn doch beschlichen. Vor ihm die Dogge, keuchend,
irgendwie entsetzt und verwirrt. Wie die Hunde vor einem Erdbeben! denkt
Schinz. Zigarillos hat er keine mehr. Es schneit ohne Unterlass. Stille; das
Keuchen der Dogge, das nur dazu da ist, dass die Stille zwischen den Stammen
noch dichter wird. Einmal fallt Schnee von einer Tanne, ganz in der Nahe,
aber lautlos. So muss es sein, wenn man taub ist. Dann macht Schinz, was bei
belesenen Leuten vorkommt: er leistet sich den Witz, seine Lage literarisch
zu sehen; die Dammerung, die unfassbare Zeit, die Stille zwischen den
Stammen, die Dogge, das alles ist sehr poetisch, irgendwie bekannt, und auch
die Angst, plotzlich taub zu sein, ist nicht ohne Hintergrundiges. Schinz
ist sehr bewusst; er pfeift nicht, aber der kleine Witz, seine Lage
literarisch zu nehmen, ist nichts anderes, als wenn ein Junge in den Keller
gehen muss und dazu pfeift. Auch das ist ihm bewusst. Er schlagt den nassen
Schnee von seinem Hut, entschlossen, aufzustehen und weiterzugehen. Wohin?
Die Dogge sieht, wie der Herr einen gebrochenen Ast nimmt, einen Knebel; sie
winselt vor Hoffnung, der Herr werde ihn werfen, sie lauft umsonst. Einmal,
ganz unwillkurlich, schlagt er mit dem Knebel gegen einen Stamm. Nicht aus
Angst, taub zu sein! Nur so. Wie es hallt: dumpf, fast ohne Ton, obschon er
immer kraftiger schlagt, bis der Knebel zerbricht. Einen Ton, der wirklich
tragt, hat es nicht gegeben. Das macht naturlich der Schnee. Alles wie
Watte. Wieso sollte ein Mensch plotzlich taub werden? Er nimmt die Dogge an
die Leine. Es gibt nichts als Gehen. Und vor allem sagt sich Schinz: Nicht
sich selber verruckt machen. Das hat schon gar keinen Sinn. Jeder Wald hat
irgendwo ein Ende! Und im ubrigen sind sie immer noch auf einem Weg, Schinz
und die Dogge, deren Knurren ihm anzeigt, dass jemand kommt. Von hinten. Nur
jetzt nicht denken: Das ist der Geist. Die Dogge bellt, so dass er die Leine
schon kraftiger fassen muss. Ein Mann im Lodenmantel, vielleicht ein
Forster, ein Holzfaller, ein Naturfreund und Sonntagsganger, der die Menge
meidet, uberholt ihn
- "Erlauben Sie", sagt Schinz -
Obschon ihm der Schwei? auf der Stirn steht, ist er ganz ruhig, froh,
seine eigene Stimme zu horen, die nach dem Weg in die Stadt fragt; dabei
muss er die bellende Dogge halten, ist nicht imstande, den Fremden naher
anzusehen.
"Sie haben sich verirrt?"
"Ja", lacht Schinz: "das ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen
-."
Schinz hort selber, wie ungeheuerlich das tont: ein Mensch, der sich in
seinem Leben noch nie verirrt habe! und fugt hinzu:
"Dabei kenne ich diesen Wald wie mich selbst."
Die Dogge kann sich nicht beruhigen.
" WO wollen Sie denn hin?"
"In die Stadt", sagt Schinz: "wo ich herkomme -."
Der Forster betrachtet die Dogge.
"Wo ich herkomme", sagt Schinz noch einmal: "Bevor es Nacht ist."
Die Dogge, springend wie gegen einen Einbrecher, rei?t ihn fast um, so,
dass Schinz kaum zum vernunftigen Sprechen kommt. Sie benimmt sich wirklich
wie ein Biest, die verdammte Dogge, dann merkt man erst, was fur ein
Riesentier das ist. Zum Gluck zeigt der Forster keine Angst, nur Interesse.
Im ubrigen, was den Weg in die Stadt betrifft, sagt der Forster, was Schinz
sich selbet hatte sagen konnen:
" Warum gehen Sie nicht einfach zuruck?"
"Auf dem gleichen Weg -?"
Eigentlich wahr, denkt Schinz.
"Oder wenn Sie mit mir kommen wollen, ich wei? ja nicht, in der Strecke
kommt es aufs gleiche heraus - so oder so..."
Schinz muss sich entscheiden.
"Sehr freundlich von Ihnen -."
" Wie Sie wollen."
Unterwegs, Schinz hat sich fur das Vorwarts entschieden, ist die Dogge
wieder ganz manierlich. Der Mann ist wirklich ein Forster. Sie sprechen uber
Doggen. Alles ganz alltaglich; warum sollte es anders sein! Naturlich reden
sie nicht immerzu. Es gibt solche Holzwege, die im Kreis herumfuhren, um den
Wald zu erschlie?en. Schinz ist zum Umsinken mude, aber zufrieden, auf
Stunden kommt es ihm nicht mehr an, wenn er nur in die Stadt kommt. Das
Literarische, das Hintergrundige in dem Gedanken, dass er auf einem anderen
Weg in die Stadt zuruckkomme, Gedanken, dIe er in schweigsamen
Viertelstunden vornimmt, das alles hat wenig Bestand, sobald der Mann im
Lodenmantel, der im Dunkeln immer unsichtbarer wird, seinen Mund aufmacht;
er redet wirklich nicht wie ein Geist. Einmal flucht er auf den Staat,
obschon er bei diesem angestellt ist; Argerliches mit einem Konsortium. Es
schneit immer noch. Ein andermal plaudern sie uber Zellulose, wobei Schinz
einige naturwissenschaftliche Kenntnisse verrat, die den Forster auf falsche
Vermutungen bringen, so, dass Schinz sich genotigt fuhlt, seinen wirklichen
Beruf zu nennen. "Rechtsanwalt sind Sie?"
"Ja."
"Hm."
"Warum nicht?"
Der Forster erzahlt ihm einen Fall: so und so, etwas umstandlich
erzahlt, so dass Schinz hin und wieder versucht, nach Art von Fachleuten
einzugreifen, um allzu Bekanntes abzukurzen. Ein Fall wie tausend Falle. Der
Forster lasst sich seine umstandliche Darstellung aber nicht nehmen.
"Nein", widerspricht er: "der Mann hat nicht gestohlen, das sage ich
nicht, der Mann war in schwerer Not, denn eines Tages -"
"Und dann hat er gestohlen."
"Nein."
"Aber Sie sagen doch -"
"Nein", wiederholt er mit der zahen Beharrlichkeit gewisser einfacher
Leute, die keine Nerven haben und etwas langsam denken: "Ich sage, der Mann
war in schwerer Not, denn eines Tages -"
Schinz ist nicht an seinem Schreibtisch, sondern im Wald; er hat keine
andere Wahl, als zuzuhoren, seine gro?e Dogge an der Leine. Kein Telefon,
das ihr Gesprach unterbricht, keine Mamsell, die hereinkommt und dem Doktor
einen deutlichen Vorwand bringt, um aufzustehen, nichts von alledem; Schinz
muss zuhoren. Von stadtischen Lichtern ist noch immer nichts zu sehen. Der
Fall ist nicht blod, zugegeben, aber keineswegs ungewohnlich, und es ist fur
Schinz nicht einzusehen, warum er alles in solcher Umstandlichkeit anzuhoren
hat. Hin und wieder, wenn sie vor einer Gabelung ihres Weges stehen,
verstummt das Gesprach; Schinz ist sich bewusst, dass er den Forster
braucht. Mindestens bis zu den ersten Laternen. Es bleibt ihm nichts, als
die Geschichte weiter anzuhoren. Nicht dass der Mann keinen fachmannischen
Einwand duldete! Schinz kann jederzeit sagen, wie er die Sache ansieht; der
Forster fallt ihm nicht in die Rede, aber auch nicht aus der eigenen heraus.
"Verstehe!" sagt er nicht unhoflich: "Aber so war es nicht, das konnen
Sie naturlich nicht wissen: eines Tages namlich -"
Einmal sagt Schinz:
"Sie entschuldigen!"
Er kann nicht mehr anders, muss auf die Seite treten, wo er an einem
Stamm etwas verrichtet. Die Dogge schnuppert, der Forster wartet, der Schnee
fallt lautlos zwischen den Stammen.
"Ich komme nach!" ruft Schinz.
Stille ... Um die Pause zu verlangern, bringt er nicht nur seine
Kleider in Ordnung, gelassener als sonst, er nimmt den Hut, um den Schnee
abzuschutteln, sogar den Mantel, den er zum selben Zweck auszieht. Er sucht
in samtlichen Taschen, ob er nicht doch ein Zigarillo findet. Umsonst.
Endlich wieder in Ordnung, bewussterma?en mit einem neuen Gesprach
gewappnet, stapft er auf den Weg zuruck; der Schnee ist schon tief, die
Hosensto?e platschnass. "Da sind Sie ja!" sagt Schinz erleichtert und
aufgeraumt: "Als wir Buben waren, wissen Sie, da haben wir in diesem Wald
einmal Rauber gespielt; da ist mir doch einmtal das Folgende passiert -"
Der Forster hort zu. "Im Hemd!" schlie?t der Erzahler: "Im Hemd stand
ich da, sage und schreibe, und so musste ich zuruck in die Stadt." Sie
lachen.
"Dieser Forster", sagt Schinz nach einigen Schritten: vielleicht waren
Sie das!"
"Vielleicht." - Schweigen.
"Und dann", sagt die Stimme des Forsters: "dann ging diese Geschichte
naturlich weiter; wie gesagt, der Mann war in schwerer Not, er hatte keine
Wahl, wie Sie selber zugeben, eines Tages hat er das Fahrrad gestohlen, und
jetzt ging es naturlich los, eines Tages werde ich als Zeuge gerufen -"
Das ist von Schinz der letzte Versuch gewesen, dieser Geschichte mit
dem Fahrrad auszuweichen. Eine kleine, aber umstandliche, eine alltagliche,
eine verzwackte, aber wirkliche Geschichte ... Es ist, als sie endlich zu
den ersten Laternen kommen, beinahe Mitternacht. In der Stadt ist der Schnee
nicht geblieben, lauter Nasse, die Flocken sinken aus den stadtischen
Bogenlampen, eine Limousine fahrt durch spritzende Tumpel, kein Mensch, zum
Gluck gibt es noch eine Stra?enbahn, eine letzte, so dass Schinz, was der
Forster hoffentlich begreift, sich nicht lange verabschieden kann. Hinein
mit dem Hund! Drinnen gru?t Schinz mit dem triefenden Hut, ohne den Forster
im Dunkeln zu sehen -.
"So ein Wetter!" sagt er.
Der Schaffner gibt keine Antwort, nur zwei Karten, eine fur Schinz und
eine fur den Riesenhund, der auf der Plattform steht, dieweil Schinz sich
gerne gesetzt hat ... Im Licht ist alles wie nie gewesen! ...
Naturlich hat Schinz keine Schlussel, wenn er mit dem Hund einen
Morgenbummel macht. Aber Bimba, versteht sich, hat ohnehin nicht geschlafen;
sie ist au?er sich.
"Nicht einmal ein Anruf!" sagt sie.
Sein einziger Wunsch: ins Badzimmer, bevor sie fragt, wo er gewesen
sei. Sie wird es nicht glauben. Er gahnt; etwas mehr als unwillkurlich; um
nicht sprechen zu mussen.
"Wo bist du denn gewesen?"
Keine Antwort; er zieht die Schuhe aus, im Grunde zufrieden, dass er
wieder zu Hause ist, argerlich nur, um jetzt nicht gefragt zu werden.
Umsonst! Bimba kennt ihn, wei?, dass er keine Auskunft geben will; kein
Gesprach, sondern ein hei?es Bad. Bimba lasst es einlaufen, ihrerseits
argerlich, immerhin holt sie ein frisches Frottiertuch, legt es wortlos hin,
argerlich uber solchen Mannerkniff: Ich habe Arger, lass mich in Ruhe! Auch
der Hund, der im Office frisst, trieft vor Nasse. Die Kinder schlafen
bereits, ebenso das Dienstmadchen. "Wieso willst du nichts essen?" sagt
Bimba: "Ich mache einen Tee, Eier, kaltes Fleisch ist auch noch da -."
"Danke."
Bimba sieht ihn an.
"Gottlieb, was ist mit dir?"
"Nichts", sagt er: "Mude -."
Das Bad ist voll.
"Danke", sagt er -
Einmal gibt sie ihm einen Kuss, um zu wissen, ob er getrunken hat.
Keine Spur. Schinz gibt den Ku? zuruck, um endlich baden zu durfen.
"Du hast ja Fieber?"
"Unsinn", sagt er.
"Bestimmt hast du Fieber!"
"Komm", sagt er: "Lass mich -."
"Warum kannst du nicht sagen, wo du den ganzen Tag gewesen bist?
Verstehe ich nicht. Nicht einmal ein Anruf! Ich sitze den ganzen Tag, rege
mich auf wie eine Irrsinnige - und du kommst um Mitternacht, wo wir seit dem
Mittagessen warten, und sagst nicht einmal, wo du gewesen bist."
"Im Wald!" schreit er.
Ture zu! ... Hoffentlich sind die Kinder nicht erwacht, es ist sehr
unbeherrscht gewesen, sehr unschinzisch. Dreiviertel Stunden dauert das Bad.
Als Schinz herauskommt, rosig und wie neugeboren, sitzt Bimba mit verheulten
Augen.
" Was ist denn los?"
"Ruhr mich nicht an!" sagt sie.
Bald zwei Uhr, es ware wunderbar, jetzt schlafen zu konnen, wenn Bimba
nicht weinen wurde. Eine Frau von vierundvierzig Jahren, Mutter von vier
gesunden Kindern, deren altestes demnachst heiraten wird, schluchzt mit
zitternden Schultern! nur weil der Gatte sich erlaubt hat, einen Sonntag
lang sich im Wald zu verirren.
"Bimba", sagt er - und streicht ihr immer noch schones Haar: "Morgen
ist Montag!"
"Bitte, geh schlafen."
"Ich bin wirklich im Wald gewesen -"
"Wenn das wieder losgeht!" weint sie.
"Was?"
"Warum lugst du?" sagt sie plotzlich ohne Tranen: "Wenn es ein
Frauenzimmer ist, warum sagst du es nicht?"
Pause.
"Es ist kein Frauenzimmer."
Pause.
"Und wenn!" schreit er plotzlich: "Ich habe gelogen, ja, ich habe
gelogen! Ein Leben lang habe ich gelogen - - -"
Bimba versteht kein Wort, eine Viertelstunde geht er hin und her,
Heinrich Gottlieb Schinz, der nicht getrunken hat, das wei? sie; hin und
her, schreiend, um so lauter schreiend, je mehr sie ihn dampfen will, Dinge
redend, die keinen Sinn haben, die alles auf den Kopf stellen, aber wirklich
alles, kein Glaube bleibt an seinem gewohnten Ort, kein Wort, das gestern
noch gegolten, ein Leben lang gegolten hat - Vielleicht hat er wirklich
Fieber ... Anders kann Bimba es nicht erklaren, sein wirres Geschrei, Bimba
sagt fast nichts; nur einmal: "Gottlieb, ich bin nicht taub."
Bimba hat ihn noch nie so erlebt.
Am andern Morgen, wie gesagt, es ist Montag, Arbeitstag, die Kinder
mussen ins Gymnasium, fruhstucken im Stehen, die Mappe unter dem Arm,
obschon Schinz diese Schlamperei nicht haben will - am andern Morgen, als
Schinz und seine Bimba zusammen fruhstucken, scheint alles wieder in
Ordnung; kein Wort uber die nachtliche Szene; Bimba im Morgenrock, der ihr
besonders schmeichelt, rostet die Brote wie immer am Montag, wenn das
frische Brot noch nicht da ist; Schinz uberfliegt die Morgenzeitung, indem
er es ganz seinen Handen uberlasst, das Ei zu kopfen, kurzum, die Gewohnung:
- alle Worte stehen wieder an ihrem Ort ... Von Fieber kann nicht die Rede
sein, Schinz hat sich gemessen.
"Got sei Dank", sagt Bimba: "du hattest dich zu Tode erkalten konnen."
Sie glaubt jetzt an den Wald.
"Jedenfalls werden wir dich am Nachmittag wieder messen!" meint sie:
"Die Anita hat eine wirkliche Erkaltung erwischt." (Anita hei?t gie Dogge.)
Der Montag vergeht wie gewohnlich, die laufenden Geschafte bringen
nichts Besonderes, Schinz fuhlt sich durchaus in Ordnung, so dass sie die
Karten fur den "Rosenkavalier" nicht zuruckgeben. Nach dem Theater, alles
wie gewohnt, trinken sie ein Glas Wein; Bimba im schwarzen Pelz. Sie ist
besonders zartlich zu ihm, unwillkurlich, etwa wie zu einem Kranken. Schinz
merkt es mehr als sie: etwas Behutendes, etwas auch von einer Mutter, welche
die Leute nicht will merken lassen, dass ihr Kind ein fallendes Weh hat. Da
er sich tadellos fuhlt, krankt es ihn nicht; immerhin bemerkt er es, hofft,
sie werde diese etwas ruhrende Art bald wieder verlieren. Nicht Bimbas
eigentliche Art! Doch sagen will er nichts. Mein Liebes, musste er etwa
sagen, ich bin nicht verruckt! Drau?en auf der Stra?e kauft Schinz eine
Zeitung, alles wie gewohnt; als er zum Wagen zuruckkommt, sitzt Bimba
bereits am Steuer. Sie mochte wieder einmal fahren! Schinz schweigt.
"Sonst verlerne ich es", sagt sie.
Auf der Heimfahrt redet Schinz kein einziges Wort, das ist selten bei
ihm, aber auch schon dagewesen. Immerhin sagt Bimba:
"Was ist mit dir, Gottlieb?"
"Was soll denn sein."
"Bist so still!"
"Nichts", sagt er: "Mude -."
"Die Steinhofer war doch herrlich!"
"Sehr."
"Sie ist reifer geworden", sagt Bimba: "Oder findest du nicht?"
Keine Antwort.
"Ich fand sie herrlich."
Wenn das so weitergeht, denkt Schinz, wird es eine Holle. Wenn was
weitergeht? Das wei? er nicht. Aber eine Holle, das ist sicher... Er
schlie?t die Garage, wahrend Bimba, obschon es regnet, auf der Treppe
wartet.
"Geh doch schon!" ruft er. Sie wartet. Er, plotzlich am Rande seiner
Beherrschung, rei?t nochmals die Garage auf, macht Licht, offnet den Wagen.
" Was ist denn los?" ruft Bimba.
Schinz hat die Zeitung vergessen. "Geh schon!" ruft er -
Aber Bimba wartet, sie ist sogar einige Stufen heruntergekommen, als
habe sie Angst, Schinz konnte den Wagen nehmen und nochmals wegfahren. In
den Wald, zu der Geliebten in den Wald! denkt er, lasst sich au?erordentlich
Zeit, bis er die Garage wieder geschlossen hat. Sie wartet wie eine
Krankenwarterin! denkt er...
Das ist der Montag gewesen.
Ebenso der Dienstag, der Mittwoch, der Donnerstag... am Donnerstag hat
Schinz einen neuen Fall, einen ziemlich gewohnlichen: Anklage auf Diebstahl.
Nicht Diebstahl eines Fahrrades! Auch Schinz hat sogleich daran gedacht,
etwas literarisch wie er nun einmal ist; uberrascht hatte es ihn nicht, wenn
es die Geschichte gewesen ware, die der Forster so umstandlich erzahlt hat.
Aber so ist das Leben ja nicht, so witzig, so vorlaut. Gestohlen wurde nicht
ein Fahrrad, sondern ein Wagen, ein Citroen. Schinz hort sich die Geschichte
an, eine umstandliche, aber alltagliche, eine verzwackte, aber wirkliche
Geschichte. Er ist bereit, die Sache zu fuhren, wie er es von jeher getan
hat, namlich gewissenhaft; er tut nichts anderes als sonst; er sucht das
Recht; er stellt die Sache hin, wie er sie sieht - und der Skandal ist da!
(Sein erster Skandal.)
Heinrich Gottlieb Schinz, Rechtsanwalt, Sohn eines namhaften
Rechtsanwaltes, ein bekannter und uberall geschatzter Mann in einer
mittelgro?en Stadt, Vater von vier gesunden Kindern, die das Gymnasium
besuchen oder bereits uberstanden haben, Heinrich Gottlieb Schinz steht im
Gericht, dem er drei Jahrzehnte lang alle Ehre gemacht hat, und sagt:
"Nein! Der Mann hat nicht gestohlen, nicht mehr gestohlen als der Herr,
dem dieser Wagen gehort, der Mann war in schwerer Not, denn eines Tages -"
"Nein! der Mann hat nicht gestohlen -."
Es ist spater ein geflugeltes Wort geworden, das einzige, das Schinz
auf dieser Erde hinterlassen hat... Andere Witze, die man zur Zeit dieses
ersten kleinen Skandales horen kann, sind nicht uberpersonlich genug, um die
Zeit zu uberdauern; einer davon geht so:
" Wissen Sie das Neueste?"
"Was denn?"
"Schinz ist nicht mehr Rechtsanwalt."
"Sondern?"
"Linksanwalt."
Daruber hat mehr als einer gelacht, sogar Schinz - nur Bimba nicht, die
das Ganze durch einen Anruf erfahren hat; etwa in dem Ton: Was ist los mit
Ihrem verehrten Herrn Gemahl? Nicht umsonst ist Bimba auf alles gefasst
gewesen. Seit dem nachtlichen Ausbruch an jenem Sonntag. Die Nachricht
empfindet sie fast wie eine Entspannung. Wenn es nur das ist! Peinlich
genug, da es naturlich in der Zeitung steht. Schinz liest es beim Fruhstuck,
nicht gleichgultig, aber auch nicht erregt.
Das stimmt nicht", sagt er nur.
Ein sehr gemeiner Bericht.
"Ich werde ihnen sofort schreiben", sagt er, indem er seine Hauszeitung
hinlegt und sich Kaffee eingie?t: "das mussen sie richtigstellen."
Nach zwei Tagen kommt seine Einsendung zuruck, was ihn ordentlich
betrifft. Wieder beim Fruhstuck. Bimba ist noch im Badezimmer, als er die
Post bekommt. Er steckt das Kuvert in die Tasche seines Morgenrockes, bevor
Bimba kommt.
"Wei?t du", sagt Bimba: "du solltest doch zu einem Arzt gehen -."
Doch! sagt sie; weil sie im stillen schon seit Wochen daran gedacht
hat: Nervenarzt. O ja! Um nicht zu sagen: Irrenarzt... Er loffelt sein Ei;
eine halbe Stunde spater erbricht er es wieder, tut aber alles, dass Bimba
es nicht merkt.
"Wo gehst du hin?"
Keine Antwort.
An diesem Morgen geht Schinz zu seinem Freund, der allerdings nicht vom
Fach ist, aber ein wirklicher Freund, eigentlich der einzige, wenn auch die
Freundschaft etwas einseitig ist; fur Schinz bedeutet sie mehr als fur den
andern. Er ist Musiker. Ein lieber Mensch, der etwas gerne Recht gibt.
Schinz wei?: Es hei?t nicht viel, wenn Alexis dir Recht gibt! Es hei?t, dass
er eine Sympathie zu dir hat. Aber darum geht es jetzt nicht. Alexis ist
Emigrant, das ist wichtig; ein Fremdling. Als Zeuge ohne volles Gewicht; er
hat sich halt daran gewohnt. Alexis ist froh, wenn er geduldet ist; er liebt
es nicht, sich einzumischen. Aber ein feiner Mensch, einer von den wenigen.
Fur Schinz wurde es sich nur darum handeln, dass Alexis die beiden Texte
liest, den Bericht in der Zeitung und seine eigene Einsendung. Um dann zu
sagen, ob er die Einsendung richtig findet oder verfehlt, anma?end,
ubertrieben. Nur keine Ubertreibung!
"Ich brauche deinen Rat."
Alexis liegt noch im Bett.
"Ich habe einen kleinen Skandal -."
"Ich wei?."
"Nun ist folgendes -"
Telefon, Alexis nimmt es ab. Schinz wartet, erhebt sich etwas unrastig,
tritt ans Fenster, um eine Zigarette zu rauchen... Bimba will wissen, ob ihr
Mann vielleicht bei Alexis ist - Eine Minute spater, ohne seine Sache
vorzubringen, ist Schinz wieder gegangen, unhaltbar wie ein launischer
Junge; ein Mann von sechsundfunfzig Jahren, Doktor Schinz, Rechtsanwalt,
Vorstand des Kunstvereins. Alexis ruft Bimba an:
"Was habt ihr denn?" fragt er.
Bimba weint...
So geht das weiter, alles etwas komisch, etwas kleinlich, etwas
ubertrieben. Schinz ist auf die Zeitung gegangen; man kennt sich
gesellschaftlich, und die Leute mussen ihn empfangen, tun es auch, alles
nicht unfreundlich, aber es gelingt ihnen nicht, Schinz zu uberzeugen, dass
seine Einsendung, um nur davon zu reden, unmoglich ist.
"Nein! der Mann hat nicht gestohlen -."
Die Herren sehen einander nur an, schweigen, wie die arme Bimba
geschwiegen hat, als Schinz damals hin und her gegangen ist, Dinge redend,
die alles auf den Kopf stellen, aber wirklich alles, kein Glaube bleibt an
seinem gewohnten Ort, kein Wort, das ein Leben lang gegolten hat...
"Gut", sagt der Schriftleiter: "bleiben wir bei der Sache! Sie beharren
also darauf, dass wir Ihre Einsendung veroffentlichen -"
"Ja."
"Herr Doktor", sagt der Herr: "darauf kann ich Ihnen nur eines sagen:
ich bin bereit, aber ich warne Sie."
Schinz, von dem zweifellos menschlichen Ton beruhrt, hat seine
Einsendung nochmals zur Hand genommen, obschon er ihren Text nachgerade
kennt. Der Herr halt es fur seine menschliche Pflicht, Schinz zu warnen; er
wiederholt das noch einige Male. Schinz will naturlich nicht starrsinnig
sein. Eine Pose des Mutes? Der Herr halt es gar nicht fur Mut, wenn Schinz
daran festhalt, sondern fur Irrsinn; er sagt es gelinder: Fauxpas. Auch
Schinz halt es nicht fur Mut; die Einsendung sagt wirklich nichts, was ihm
nicht selbstverstandlich ist. Nicht so: Euch will ich es einmal sagen, ich,
Heinrich Gottlieb Schinz! Sondern ganz simpel: Warum soll ich verschweigen.
was ich finde? Als einer von Mut redete, hat es ihm fast Angst gemacht; aber
er kann nichts Mutiges daran finden. "Wie Sie wollen". sagt der Herr -
Seine Einsendung bleibt also da.
"Und ohne jeden Strich?"
"Ja", sagt Schinz: "es sind ja kaum anderthalb Seiten -."
Schinz, seine Mappe in der linken Hand, hat sich verabschiedet, wie er
es gewohnt ist, hoflich, Auge in Auge; sie schauen ihn an wie einen, der an
die Front geht... Am andern Morgen, wie er wieder beim Fruhstuck sitzt, ist
die Einsendung erschienen. Oben auf der zweiten Seite. sehr sichtbar,
versehen mit einem kurzen Nachwortlein, worin die Schriftleitung, wie sie
behauptet, es dem Leser uberlasst, seine Meinung uber einen solchen
Rechtsanwalt zu bilden. Das ist das erste, was Schinz uberfliegt. Dann liest
er den eigenen Text, etwas bange, ob sie wirklich nichts verstummelt haben.
Das nicht; aber es ist, als wurden die Lettern, gewohnt das genaue Gegenteil
auszusagen, sich weigern, seinen Sinn wiederzugeben. Zum ersten Male, Schinz
erbleicht von Zeile zu Zeile, zum allerersten Male merkt er, dass etwas
geschehen ist, dass er sich verwandelt hat, dass das Selbstverstandliche,
was er zu sagen hat, in Widerspruch steht zu aller Umgebung, in einem
endgultigen und unversohnbaren Widerspruch. Darum die Warnung? Jetzt erst,
gleichsam erwachend, bemerkt er auch den Titel, den sie daruber gesetzt
haben: "Nein! Der Mann hat nicht gestohlen..."
In diesem Augenblick wei? Schinz, dass er erledigt ist; allermindestens
als Rechtsanwalt; allermindestens in dieser Stadt.
Der Rest ist wie ein boser Traum. Er ist bald erzahlt, glaube ich, die
Entscheidung ist gefallen damals im Wald, als er mit dem Forster gegangen
ist, vorwarts statt ruckwarts. Er kam aus seiner Stadt, er wollte in seine
Stadt. Die Dogge, die schone Anita, ist kurz darauf eingegangen; jeder Hund
geht einmal ein; Schinz hat sich sehr gewehrt, diesem naturlichen Hundetod
irgend etwas beizumessen, aber betroffen hat es ihn doch; es ist ihm, als
habe er seinen letzten Zeugen verloren, seinen letzten Begleiter; eines
Tages sieht Schinz sich an der Grenze, allein, anders als fruher, wenn er
nach Paris gereist ist, nach Rom, nach Florenz, nach London, nach Munchen;
ohne Gepack, ziemlich unrasiert steht er in einem kleinen kahlen Raum, wo er
sich ausziehen muss, ausziehen bis aufs Hemd - Schinz zogert, als konne er
es nicht glauben, aber der Kommissar wiederholt es:
"Bis aufs Hemd."
Jede Tasche wird untersucht, nicht grob, aber unbarmherzig. Schinz hat
keine Ahnung, was sie suchen. Er ist nicht uber einen Bach geschwommen,
nicht uber nachtliche Acker gekrochen; er ist mit der Bahn gefahren. Ohne
Gepack. Vielleicht hat das ihn verdachtig gemacht. Sein Pass ist gultig,
auch wenn man ihn gegen das grellste Licht halt. Waffen hat er nicht, auch
keine Goldbarren, nicht einmal Schriftstucke, nichts, was aus seinen
Unterhosen herausfallt. Aber verdachtig ist verdachtig. Schinz versucht,
ruhig zu sein, nichts zu sagen. Die andern, die ihn betasten, sagen
ebenfalls nichts. Korper eines alteren Mannes, das ist alles, was sie
finden. Auch zwischen den Schuhsohlen, die trotz seiner ehrenwortlichen
Versicherung aufgetrennt worden sind, ist nichts. Schinz kann sich wieder
ankleiden. Der Kommissar, seinen Pass in der Hand, verlasst die kahle Zelle;
der Gendarm bleibt. Durch einen Turspalt sieht Schinz, wie die anderen
Reisenden eben ihre gepruften oder ungepruften Koffer wieder verschlie?en,
Herren und Damen, Pelze, Hutschachteln, die Trager nehmen die bunten Colis.
"Wenn Sie so freundlich waren", sagt Schinz: "die Ture zu schlie?en -."
Der Gendarm gibt einen Fu?tritt.
"Nur die Ruhe!" sagt er: "Den Zug bekommen Sie sowieso nicht mehr."
"Wieso nicht?"
Der Gendarm tragt ein Gewahr.
"Wieso nicht?" fragt Schinz -
Der Gendarm konnte sein Sohn sein.
"Fertig?"
Das fragt nicht der Gendarm, sondern ein dritter, der die Tur wieder
geoffnet hat, um sie wieder nicht ganz zu schlie?en; herein und hinaus -
Fertig? nichts weiter als das: Fertig?... Schinz bemuht sich, nicht zu
hassen; das ist ihr Dienst, sagt er sich, ein widerlicher Dienst, mitten in
der Nacht eine Uniform anziehen und auf die verspateten Zuge warten, Leute
sehen, die ans Meer fahren oder ins Gebirge, Leute untersuchen, die daran
schuld sind, dass man solchen Dienst uberhaupt machen muss. Schinz bemuht
sich, seine misshandelten Schuhe anzuziehen und nicht zu hassen. Ein alterer
Mann wie er, im Augenblick nicht gerade gepflegt, Hosen mit Hosentragern,
Hemd ohne Kragen, dazu das grunliche Licht, Schinz begreift, dass er hier
nicht die Formen erwarten kann, welche die Herren auf der Zeitung noch
gewahrt haben, bevor sie den Titel wahlten:
"Nein! Der Mann hat nicht gestohlen..."
Man wird sehr rasch bekannt.
"Nehmen Sie Platz", sagt der Kommissar, als Schinz, seinen Mantel auf
dem Arm, vor dem Tisch steht und wieder eine Krawatte tragt: "Bitte, nehmen
Sie Platz."
Schinz bleibt stehen.
"Ich mochte Sie darauf aufmerksam machen", sagt er: "dass mein Zug in
vier Minuten weitertfahrt."
"Das geht mich nichts an."
Pause.
"Meinetwegen bleiben Sie stehen."
Schinz setzt sich, es hat keinen Sinn, die Leute vor den Kopf zu
sto?en; das ist ihr Dienst, ein widerlicher Dienst.
"Schinz, Heinrich Gottlieb -."
"Ja."
"Doktor jur."
"Ja."
"Rechtsanwalt -."
"Ja", sagt Schinz; es fehlt jetzt nur noch, denkt er, dass der
Hornochse mir vorliest, wie viel Zentimeter ich habe.
"Geboren -"
"Ja"
Drau?en hort man das Gepaff der Lokomotive, bereit, jeden Augenblick
abzufahren; Schinz bei?t auf die Lippen, der Hornochse blattert im Pass, als
hatte er noch keinen gesehen.
"Wo fahren Sie hin?"
"Hinaus", sagt Schinz.
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"Ich frage, wo Sie hinfahren."
"Ich sage: Hinaus."
Pause.
"Ich frage Sie zum letzten Mal."
Schinz hat Muhe, nicht zu hassen, alie zu hassen in diesem Einzigen,
der da hockt, seinen Pass in der Hand, zu hassen, zu hassen... Nicht die
Nerven verlieren! denkt er: "Ich muss hinaus, ich muss, ich kann es nicht
aushalten, Unrecht zu sehen und zu schweigen, Zeitungen zu lesen, die das
Gegenteil sagen, Menschen zu sehen, die mich wie einen armen Kranken
behandeln, wie ein Kind mit einem fallenden Weh, zu fuhlen, wie sie Angst
haben vor meinem nachsten Fauxpas, diese mutterliche Sorge, ich konnte
unseren Wagen auf ein Trottoir fahren, diesen freundschaftlichen Rat, ich
solle nicht so viel rauchen und mich nicht in eine Sache hineinsteigern, das
Schweigen, wenn ich mich erklare, die unausgesprochene Hoffnung, dass ich
endlich zu einem Nervenarzt gehe, ich halte es nicht mehr aus, ich muss
hinaus! - und noch ist der Zug nicht abgefahren, die paffende Lokomotive,
die zum Platzen voll Dampf ist..."
"Wo fahren Sie hin?"
"Das geht Sie einen Dreck an!"
Schinz ist aufgesprungen,
"Bitte", sagt der Kommissar -
"Das geht Sie einen Dreck an!" schreit Schinz: "Das geht Sie einen
Dreck an!"
Schreien ist so unschinzisch, er merkt es jedesmal, bereut es jedesmal,
nicht weil der Hornochse ihn jetzt strafen wird, bereut es, weil es ihm
nicht liegt... Gottlieb, hat Bimba damals gesagt, ich bin nicht taub - Und
ob sie taub sind! Alle sind sie taub! Sie horen, dass man schreit, aber
nicht, was man schreit. Das ist es! Naturlich sind sie taub, sonst wurden
sie sich selber nicht aushalten, sie wurden eingehen wie die Dogge, weil sie
es gehort haben und nicht sagen konnen, wie die Dogge! denkt er, wahrend der
Kommissar sich ebenfalls erhebt und trocken lachelt:
"Bitte. Sie konnen gehen."
Den Pass hat er in die Schublade geworfen, die Schublade schlie?t er
ab, den Schlussel steckt er in die hintere Hosentasche, die Fulle seines
Arsches zeigend - Schinz hat begriffen, nimmt seinen Mantel, geht hinaus,
doch kommt er nicht weit, bis der junge Gendarm ihn einholt.
"Sie sollen zuruckkommen."
" Warum?"
"Sie sollen zuruckkommen."
Schinz geht zuruck; der Kommissar steht, eine Pfeife anzundend, so dass
er eine Weile nicht sprechen kann; dann sagt er: "Schlie?en Sie die Ture wie
ein anstandiger Mensch, Herr Doktor."
Schinz schluckt. Der Kommissar raucht, bereits anderweitig beschaftigt.
Schinz schlie?t die Ture wie ein anstandiger Mensch... Drei Uhr morgens, es
regnet wieder in Stromen, geht er schwarz uber die Grenze, Heinrich Gottlieb
Schinz, Rechtsanwalt, ein Mann ohne Papiere.
Die Kinder schamen sich im Gymnasium.
Einige Nachte sieht sich Schinz, wie ,er in Stadeln ubernachtet, nie
ganz schlafend, wachsam, solange er sich im Grenzgebiet befindet. So
ungefahr, denkt er, ist Alexis uber unsere Grenze gekommen, der Emigrant,
der als Zeuge kein volles Gewicht hat; man ist sehr rasch ein Emigrant. Man
ist ansassig, wie man ansassiger nicht sein kann, hat einen Stammbaum und
ein Haus; plotzlich ist man ein Emigrant. Das ist schon ofter vorgekommen!
Man sieht die Dinge etwas anders, als die andern sie lehren; man kann nichts
dafur, dass die Zeitungen das Gegenteil schreiben... Eines Tages melden sie,
dass Schinz geschnappt worden ist, namlich auf der andern Seite. Er soll,
wie der behordliche Ausdruck lautet, abgeschoben werden. Abgeschoben! Fur
die Familie ein nicht ausdenkbarer Schlag. Nur Bimba halt sich gro?artig;
sie ist alt geworden, hat fast keinen Umgang. Nicht dass die Menschen sie
meiden! So sind die Menschen ja auch wieder nicht; nur Bimba halt sie nicht
aus, nicht einmal ihr Schweigen. Sie verteidigt nicht alles, was Schinz
gesagt und getan hat; etwa sein lacherlicher Zank mit der Zeitung; aber der
Fall mit dem Wagen, ja, das findet auch Bimba, dass der Mann, je ofter sie
daruber nachdenkt, und zwar allein, nicht gestohlen hat. Komisch, wie anders
man sieht, wenn einmal der gewohnte Umgang etwas nachlasst! Und wie er
nachlasst, wenn man anders sieht; das ist dann nicht mehr komisch, Bimba ist
sehr alt geworden. Wieder sitzt da ein Kommissar:
"Schinz, Heinrich Gottlieb -?"
Schinz schweigt.
"Doktor jur."
Schinz schweigt.
"Rechtsanwalt!" sagt der Kommissar, der diesmal keinen Pass halt,
sondern einen Steckbrief, und fahrt fort: "Warum leben Sie unter einem
falschen Namen?"
Schinz schweigt.
"Sie haben die Grenze schwarz uberschritten. Ihr eigenes Land hat Ihnen
die Papiere entzogen."
"Das ist nicht wahr!"
"Sie haben also die Grenze nicht uberschritten?" sagt der Kommissar
nicht ohne Stolz auf die zwingende Fuhrung des Verhors:
"Sie befinden sich also nicht in diesem Land?"
"Man hat mir keine Papiere entzogen."
" Wieso haben Sie denn keine?"
Schinz, sich furs erste mit einem kurzen hamischen Lachen begnugend,
nimmt ein Taschentuch heraus, ein sehr ungewaschenes, wie es bei einem
Schinz hochstens noch in der Bubenzeit hat vorkommen konnen, grau und
verwurstelt, feucht, widerlich, dann sagt er:
"Das ist eine lange Geschichte -"
Bald erinnert er sich selber nicht mehr!
"Damit geben Sie also zu", sagt der Kommissar: "dass Sie nicht Bernauer
hei?en, sondern Schinz - Heinrich Gottlieb, Rechtsanwalt?"
"Ja."
Schinz schneuzt sich; es brauchte keine spiegelnde Fenster scheibe,
damit er wei?, wie er aussieht! Kein Geld fur frische Hemden, einige Nachte
in den Wartesalen dritter Klasse, Verlust der Bugelfalten, einige Nachte im
Freien, kein warmes Wasser, Seife von offentlichen Aborten, ein Mantel, der
sozusagen zu deiner Wohnung geworden ist, und das Kostum eines Verdachtigen
ist da. Verlasse dich nicht auf dein Gesicht, auf die Zuge deines Gesichtes!
Vergiss den Rosenkavalier, vergiss den Kunstverein, vergiss die
Denkmalpflege; Kenntnisse dienen nur noch dazu, dich restlos verdachtig zu
machen. Ein Mann wie du, der ein Haus hat und einen Wagen, warum hast du
deine Stadt verlassen? Warum hast du es notig, Bernauer zu hei?en?... Das
Protokoll, das erste von vielen kommenden, kannst du unterzeichnen, wenn es
fertig ist; es sind da noch einige Fragen.
"Herr Doktor", sagt der Kommissar, das noch bescheidene Dossier
offnend, und sein Ton, wenn er Doktor sagt, ist nicht etwa hohnisch, sondern
durchaus achtungsvoll, da der gewohnliche Landstreicher nun entlarvt ist als
ernsthafter Fund: "Sie haben Verbindungen zu einem gewissen Becker?"
Schinz stutzt.
"Becker, Alexis, Emigrant."
Schinz schweigt.
"Ja oder nein?"
Schinz schweigt.
"Bitte", lachelt der Kommissar: "vielleicht erinnern Sie sich, wenn ich
Ihnen das Bild zeige -."
Schinz hat das Gefuhl, rot zu werden.
"Das Bild ist allerdings alt", sagt der Kommissar: "Ihr Freund tragt
keinen Schnurrbart mehr, so viel wir wissen."
Schinz schweigt.
"Ich will Sie nicht uberrumpeln, Herr Doktor, Sie werden Zeit genug
haben, sich alles zu uberlegen", sagt der Kommissar mit dem fast kollegialen
Ton von Todfeinden, die ihre Spielregeln kennen: "Ferner kennen Sie sehr
wahrscheinlich einen gewissen Marini..."
"Marini?"
;,Francesco Marini."
"Nein. -"
"Oder Stepanow."
"Stepanow?"
"Ossip Stepanow."
"Nein!"
"Oder Espinel."
"Nein!" sagt Schinz.
"Roderigo Espinel."
"Nein!" sagt Schinz.
"Seine Namen tun nichts zur Sache", sagt der Kommissar:
"Aber wenn Sie ihn kennen, erinnern Sie sich an sein Gesicht - ein sehr
markantes Gesicht, das hat noch keiner vergessen, der ihn einmal gesehen
hat."
Und damit gibt er das Foto:
"Ein fertiger Christuskopf!"
Schinz erbleicht...
"Sie erinnern sich, Herr Doktor?"
Schinz halt das Foto: der Forster, der Lodenmantel - Man will mich
wahnsinnig machen, denkt er, man will mich wahnsinnig machen! - Er steht in
dem Lodenmantel, ein Forster am Sonntag, der sich vor seine Stamme stellt
und eine Aufnahme machen lasst, etwas verlegen, ein schlechtes Foto, aber
deutlich, ein dilettantisches Foto. Schinz legt es auf den Tisch zuruck,
unwillkurlich und etwas rasch, so, als verbrenne es seine Finger oder als
ware es schwer wie ein Stein... Der Kommissar hat sich unterdessen eine
Zigarette genommen, zundet an; jetzt sagt er:
"Kennen Sie den Menschen?"
Die Zelle, die Schinz bekommt, ist ganz ordentlich. Sie hat sogar
Sonne, ein etwas hochgelegenes Fenster, so dass man nichts von der Welt
sieht, nur einen Kamin, namlich wenn Schinz auf seiner Pritsche steht. Die
Pritsche ist hart, aber sauber, nicht unwurdig. Drei Uhr mittags
verschwindet die Sonne; kurz danach hort man eine Turmuhr. Schinz findet es
schon viel, dass er nicht gegen eine Mauer sieht, womoglich lloch eine
Schattenmauer, sondern gegen den Himmel. Seine Zelle ist offenbar im
obersten Stockwerk; jedenfalls hort man oft das Geflatter der Tauben, hin
und wieder schwirrt eine vor dem Gitter vorbei. Manchmal ist Schinz ganz
heiter: Man muss halt nicht uber die Grenze schleichen! sagt er sich. Die
Zelle ist klein; es erinnert ihn an das bekannte Kloster in Fiesole.
Uberhaupt die Erinnerungen! Seine erste Angst, als er an dieser Stelle
sitzt: Jetzt nicht den Glauben an deine Unschuld verlieren! Das Foto mit dem
Forster, sagt er sich, ist eine Hysterie gewesen; er hat es ja kaum wirklich
betrachtet; er ist erschrocken und hat es weggelegt. Erschrocken uber einen
Lodenmantel, wie es Tausende gibt! Das Gesicht, sagt Schinz sich mit Recht,
hat er damals gar nicht so deutlich gesehen; es war ja schon Dammerung, dann
sogar Nacht. Lass dich nicht irrsinnig machen! Und wenn schon, denkt er ein
anderes Mal, wenn er es wirklich gewesen ware: was habe ich verbrochen? Ich
habe ihn gesehen, gut, ich habe mit ihm geplaudert, gut, vor allem hat er
geplaudert. Was weiter? sagt Schinz, indem er plotzlich in seinem Hin und
Her wieder stehen bleibt: Was geht dieser Marini mich an oder dieser
Stepanow oder wie er hei?t? Dann legt er sich auf die Pritsche: Man will
mich irrsinnig machen, sagt er sich ziemlich gelassen, man will mich
irrsinnig machen. Drau?en hort man das Gackern von Huhnern. Irgendwie schon.
Ein Fenster voll Himmel; das Gitter davor ist nicht so schlimm; Schinz hat
ja keine Absicht, hinunterzuspringen in den Tod oder hinauszufliegen uber
die Kamine. Einmal, denkt er, wird ein Gericht stattfinden. Hin und wieder
hort man auch das Hupen von Wagen, aber ziemlich ferne; jenseits von Baumen,
jenseits eines Hofes oder so. Das ganze Gebaude, wer wei?, war vielleicht
einmal ein Kloster; Schinz hat auf seinen Reisen so viele alte Kloster
besucht, sich manchmal vorzustellen versucht: Wenn du in einer solchen Zelle
leben musstest? und dann ist Bimba gekommen, begeistert von einem Kreuzgang,
man ist hinuntergegangen, hat Fresken bewundert, langsam ist man
hinausgegangen, Sonne auf einer Piazza, gegenuber ein kleines Ristorante.
Die Fresken: Sebastiano mit den Pfeilen im Leib, ein Kindermord zu
Bethlehem, ein Christophorus, die drei bekannten Kreuze auf Golgatha, viel
bittere Geschichten, aber schon. Wolfflin fallt ihm ein! Und so weiter. Zum
Gluck sind die Kinder schon gro?. Manchmal steht Schinz einfach an der Wand,
die Arme an der Wand, den Kopf in den Armen, so dass er nichts sieht; mit
offenen Augen. Der Himmel ist zum Verzweifeln. Schlafen geht nicht. Traume
machen alles so ma?los. EinmaI wird das Essen kommen. Dann wird es sich
zeigen! ob es Gendarmen sind oder Warterinnen, Gefangnis oder Irrenhaus. Das
ist seine einzige Angst. Wenn du nirgends auf der Welt ein voller Zeuge mehr
bist. Als sie kommen, die Schritte, nimmt er den Kopf nicht von der Wand;
die Ture geht auf, Schinz bleibt so, die Ture geht zu. Schinz schaut: ein
Geschirr ist da, ein blechernes, aber sauber, Kartoffelsuppe und Brot, ein
etwas komisches Gefa? mit frischem Wasser... Wochen wie Jahre, Jahre wie
Wochen, Verhore, die sich wortlich wiederholen, Namen, die Schinz nicht
kennt, hin und wieder ist er durchdrungen vom Bewusstsein, dass alles nur
ein Traum ist, aber das andert nichts daran; sooft er erwacht, sieht er das
Gitter von dem Himmel, und jeden Morgen, wenn es grau wird, hort er, wie die
Hahne krahen -. Endlich ist es soweit.
Eines Tages sieht sich Schinz, wie er es von Bildern kennt, in Hemd und
Hose und mit einem kleinen Strick um die Handgelenke. Er ist nicht allein.
Sie stehen in einem Schulhaushof, Kies, die Kastanien bluhen mit wei?en und
roten Kerzen. Stunden ohne Ahnung. Die Soldaten, die sie bewachen, tragen
eine Uniform, die Schinz noch nie gesehen hat; die Historie, scheint es, hat
sich wieder einmal gewendet, die Mutzen sind anders, der Schnitt der Hosen,
anders ist auch die Art, das Gewehr zu tragen. Es ist schon ziemlich hell,
aber vor Sonnenaufgang. Was Schinz, ubrigens der einzige Deutschsprechende
in seiner Gruppe, mehr beschaftigt als die unbekannten Uniformen, ist der
kleine Huhnerhof des Hauswartes, wo er zum ersten Male die beiden bekannten
Hahne sieht, die er jeden Morgen gehort hat! noch haben sie nicht gekraht...
Auf der Treppe der Turnhalle erscheint ein Mann ohne Uniform, ein ziemlich
junger Bursche, der eine Armbinde tragt; eine Liste verlesend:
"Stepanow, Ossip."
"Hier."
"Becker, Alexis."
"Hier."
"Schinz, Heinrich Gottlieb."
"Hier."
Die ubrigen blicken auf den Kies. Je ein Soldat fuhrt die eben
Gerufenen aus ihrer Gruppe. Hinuber in die Turnhalle, die immer noch,
obschon es tagt, hell erleuchtet ist. Naturlich wird nicht gekreuzigt,
sondern erhangt. Die Vorrichtung ist lacherlich einfach, fast
schulbubenhaft; drei Ringseile sind heruntergelassen, daran je ein ziemlich
dunner Strick mit einer Schlaufe. Darunter je ein fluchtig genagelter
Holzblock mit drei Stufen. Schinz denkt: Das kann aber nicht euer Ernst
sein! ohne sich jedoch eine Hoffnung zu machen, dass es deswegen nicht
stattfinden werde. Auch daruber ist Schinz sich klar, dass er nie mehr
erfahren wird, worin sein Verbrechen eigentlich bestanden hat. Irgendwie
spielt es wirklich keine Rolle; so weit ist er schon gekommen. Wieder
vergeht eine Weile. Die drei Gerufenen sind so gestellt, dass sie sich den
Rucken zuwenden, einander nicht sprechen und nicht sehen konnen. Schinz
sieht einen Tisch, gemacht aus zwei Hurden und einem Brett, darauf ein
Eisenstab, zwei Handschuhe, wie die Schwei?er sie haben, drei kleine
Schnappzangen, ein Bunsenbrenner, ein vielfach vergluhter Draht, das genugt,
damit lasst sich foltern, so viel man nur will. Eine Uniform spricht mit
einer Art von Arzt, der mehrmals die Achseln zuckt. Dann, da die bei den
offenbar zu keinem Ende kommen, wendet sich die Uniform, drei Fotos in der
Hand; jeder wird nochmals mit seinem Foto verglichen. Dann kommt der junge
Bursche mit der Armbinde, weist ihnen die Platze an. Links Becker, Stepanow
in der Mitte, rechts Schinz. Die Schlaufe sollen sie sich selber um den Hals
legen - es ist wirklich der Forster. Er sagt:
"Warum haben Sie mich verraten?"
Schinz hat keine Stimme.
"Warum haben Sie mich verraten?"
Der Forster hilft ihm, vorwurfslos, so wie er dem armen Becker schon
geholfen hat, so, als ware er schon unzahlige Male gehangt worden, er
selber. Schinz schaut ihn an und sagt:
"Ich verstehe kein Wort."
Der Forster lachelt.
"Ich habe Sie nicht angesprochen, Herr Doktor, Sie haben mich
angesprochen, Sie haben mich nach dem Weg gefragt -."
"Nein", sagt Schinz.
"Tragen wir es."
Da, sein Christus-Gesicht vor Augen, kann Schinz es nicht ertragen,
schreit, als konne er daran erwachen, schreit, wie ein Mensch nur schreien
kann, schreit:
"Nein! Nein! Nein!"
Das ist das letzte Mal gewesen, dass Schinz seine eigene Stimme gehort
hat - - - Erwacht, schwei?uberstromt, die eigene Hand an seinem Hals, der
unversehrt ist, merkt er es nicht sogleich, Bimba streicht ihm die Stirne,
Bimba ist alt, Bimba lachelt, der Arzt steht am Fu?ende des Bettes, Bimba
bewegt die Lippen, aber sie sagt kein Wort, auch der Arzt bewegt die Lippen,
aber niemand sagt ein Wort. Schinz ist taub. Als er es wei?, schlie?t er die
Augen; als musste, wenn er sie dann abermals aufmacht, alles verandert sein.
Nichts ist verandert, sie bewegen die Lippen. Als er es sagen will, dass er
sie nicht mehr horen kann, merkt er, dass er auch stumm ist.
Schinz hat nach diesem Ereignis noch sieben Jahre gelebt, ohne seine
Vaterstadt zu verlassen. Mit dreiundsechzig Jahren stirbt er eines
naturlichen Todes. Und nicht ohne Ansehen. Sein sonderbarer Fauxpas ist zwar
nicht vergessen worden, aber verziehen; man hat den taubstummen Herrn auch
auf der Stra?e immer zuvorkommend begru?t; die Au?enwelt, ausgenommen Bimba,
hat das Ganze, wie schon gesagt, durchaus als einen klinischen Fall
betrachtet, aufsehenerregend auch so, erschutternd auch so, aber fur die
Au?enwelt ohne jede Folge.
OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru