Abron seufzte gequ?lt. "Ja, sicher, Vater, aber ich bin nicht gl?cklich bei dieser Vorstellung. Am liebsten m?chte ich gar kein Haarteppichkn?pfer sein."
   "Ich bin ein Haarteppichkn?pfer, und deswegen wirst du ebenfalls ein Haarteppichkn?pfer sein!" Ostvan zeigte mit einer erregten Geste auf den unvollendeten Teppich im Kn?pfrahmen. "Mein ganzes Leben lang habe ich an diesem Teppich gekn?pft, mein ganzes Leben, und von dem Erl?s daf?r wirst du einmal dein Leben lang zehren. Du hast eine Schuld an mir, Abron, und ich verlange, da? du sie an deinem Sohn wieder abbezahlst. Und gebe Gott, da? er dir nicht so viel Kummer macht wie du mir!"
   Abron wagte nicht, seinen Vater anzusehen, als er entgegnete: "Es gibt Ger?chte in der Stadt, von einer Rebellion, und da? der Kaiser abdanken mu?… Wer kann denn noch Haarteppiche bezahlen, wenn der Kaiser nicht mehr da ist?"
   "Eher verl?schen die Sterne, als da? der Ruhm des Kaisers erlischt!" dr?hnte Ostvan. "Habe ich dir diesen Satz nicht schon beigebracht, als du noch kaum neben mir am Kn?pfrahmen sitzen konntest? Glaubst du, irgendwer kann einfach daherkommen und die Ordnung umsto?en, wie Gott sie gef?gt hat?"
   "Nein, Vater", murmelte Abron. "Nat?rlich nicht."
   Ostvan betrachtete ihn. "Geh jetzt und arbeite am Entwurf deines Teppichs."
   "Ja, Vater."
   Am sp?ten Abend setzten bei Garliad die Wehen ein. Die Frauen begleiteten sie in das vorbereitete Geb?rzimmer; Ostvan und Abron blieben in der K?che.
   Ostvan holte zwei Becher und eine Flasche Wein, und sie tranken schweigend. Gelegentlich h?rten sie Garliad im Geb?rzimmer schreien oder st?hnen, dann geschah wieder lange Zeit nichts. Es w?rde eine lange Nacht werden.
   Als sein Vater die zweite Flasche Wein holte, fragte Abron:
   "Was, wenn es ein Junge ist?"
   "Das wei?t du so gut wie ich", erwiderte Ostvan dumpf.
   "Was wirst du dann tun?"
   "Seit ewigen Zeiten gilt das Gesetz, da? ein Teppichkn?pfer nur einen Sohn haben darf, weil ein Teppich nur eine Familie ern?hren kann." Ostvan deutete auf ein altes, fleckiges Schwert, das an der Wand hing. "Damit hat dein Gro?vater meine zwei Br?der am Tag ihrer Geburt get?tet."
   Abron schwieg. "Du hast gesagt, Gott hat diese Ordnung gef?gt", brach es schlie?lich aus ihm heraus. "Das mu? ein grausamer Gott sein, findest du nicht?"
   "Abron!" donnerte Ostvan.
   "Ich will nichts zu tun haben mit deinem Gott!" schrie Abron und st?rzte aus der K?che.
   "Abron! Bleib hier!"
   Aber Abron rannte die Treppe zu den Schlafr?umen hinauf und kam nicht mehr zur?ck.
   So wartete Ostvan alleine, aber er trank nicht mehr. Die Stunden vergingen, und seine Gedanken verd?sterten sich. Schlie?lich mischten sich die ersten Schreie eines Kindes in die Schreie der Geb?renden, und Ostvan h?rte die Frauen klagen und weinen. Er stand schwerf?llig auf, als bereite ihm jede Bewegung Schmerzen, nahm das Schwert von der Wand und legte es auf den Tisch. Dann stand er da und wartete mit dumpfer Geduld, bis die Weise Frau aus dem Geb?rzimmer kam, das Neugeborene im Arm. "Es ist ein Junge", sagte sie gefa?t. "Werdet Ihr ihn t?ten, Herr?"
   Ostvan sah in das rosige, zerknitterte Gesicht des Kindes. "Nein", sagte er. "Er soll leben. Ich will, da? er Ostvan hei?t, genau wie ich. Ich werde ihn das Handwerk eines Haarteppichkn?pfers lehren, und wenn ich nicht mehr lange genug leben sollte, wird ein anderer seine Ausbildung abschlie?en. Bring ihn wieder zu seiner Mutter, und sag ihr, was ich dir gesagt habe."
   "Ja, Herr", sagte die Weise Frau und trug das Kind wieder hinaus.
   Ostvan aber nahm das Schwert vom Tisch, ging hinauf damit in die Schlafr?ume und erschlug seinen Sohn Abron.
   © 1995

Das fliegende Auge

   Mister President, meine Damen und Herren, ich will die Zeit des Anflugs nutzen, um die technischen Hintergr?nde dieses Projekts genauer zu erl?utern. Wie Sie sich vielleicht erinnern – es ging damals durch die Presse – ist es Ende 1999 in Berkeley Wissenschaftlern erstmals gelungen, die Augen einer Katze so an einen Computer anzuschlie?en, da? auf dem Bildschirm erschien, was diese Augen sahen. Kurze Zeit sp?ter – wie soll ich sagen? – fanden die wichtigsten Mitglieder dieses Forscherteams das Angebot attraktiv, von Berkeley nach Langley zu wechseln und die Ergebnisse ihrer Arbeit nicht mehr zu publizieren, im Austausch f?r die Gewi?heit, ihrem Land und der Freiheit zu dienen – und f?r eine Menge Geld, nat?rlich. Im Jahr darauf funktionierte das, was mit Katzenaugen gegl?ckt war, auch mit den Augen von V?geln, und 2001 waren die zugeh?rigen Sender klein und leicht genug, um sie den Tieren auch einzupflanzen. Sie erinnern sich an die Aufnahmen aus Muammar Ghaddafis Garten? Ein Falke, den wir ihm ?ber einen Mittelsmann zukommen lie?en. Ein sch?nes Tier. Und Sie wissen ja, wie diese Orientalen sind – vernarrt in Falken und Hengste und all solches Zeug.
   Hmm, ja. Das ist leider wahr – man hatte vergessen, die Ohren des Tieres anzuschlie?en. Wir konnten Ghaddafi bei zahlreichen Gespr?chen beobachten, aber nichts h?ren. Ja, korrekt; das f?hrte zu einem ?berraschenden Wechsel an der Spitze des CIA. Nein, wir haben nat?rlich Lippenleser eingesetzt, auch solche, die des Arabischen m?chtig sind, aber diese Schnauzb?rte… Aussichtslos.
   So, wir sehen nun Peking, meine Damen und Herren, aus etwa f?nfzig Metern H?he. Das Auge einer Fliege an einen Computer anzuschlie?en, ich kann es Ihnen versichern, ist eine technische Meisterleistung. Wie Sie vielleicht wissen, hat eine Fliege, wie alle Insekten, Facettenaugen, die v?llig anders funktionieren als die Augen von S?ugetieren oder V?geln. Eine Vielzahl von einzelnen starren Augen, nicht wahr, die eine Vielzahl von einzelnen Bildern liefern… Aber da sie alle an einen Computer angeschlossen sind, kann man mit entsprechender Software die Informationen der einzelnen Facetten zu einem Gesamtbild umrechnen, das uns Menschen verst?ndlich ist.
   Ja, richtig, das ist das, was Sie hier auf dem Bildschirm sehen, Herr Verteidigungsminister. Peking, wie es eine Fliege sieht. Das, was wir gerade ?berfliegen, m??te der T’ien-T’an-Park sein, dieses Geb?ude da unten die Gebetshalle f?r gute Ernten… Stammt nat?rlich noch aus der Zeit vor der Revolution. Dort vorne sieht man schon das gro?e Mao-Standbild, wir sind also tats?chlich im Ch’ung-Wen-Distrikt… Achten Sie auf das niedrige gelbe Geb?ude schr?g dahinter, ungef?hr in Bildmitte, das ist der Sitz des chinesischen Ministerpr?sidenten. Wir halten direkt darauf zu.
   Wie bitte? Ja, selbstverst?ndlich, wir k?nnen die Fliege steuern. Sonst w?rden wir wahrscheinlich im n?chsten Misthaufen landen, nicht wahr, ha ha? Dirigieren ist das bessere Wort, ja. Kleine elektrische Impulse, die die Flugrichtung beeinflussen. Es funktioniert ziemlich gut – jedenfalls haben die Jungs eine Menge erstklassiger Aufnahmen aus Damenumkleider?umen… Oh, Verzeihung, Frau Au?enminister.
   Wie auch immer, diese Fliege ist vor einigen Tagen von einem ferngelenkten Miniatur-U-Boot an der nordchinesischen K?ste ausgesetzt worden und hat sich in langen Flugetappen Richtung Peking bewegt. Die Funksignale sind nat?rlich verschl?sselt und werden per Satellit… Die Energie? Ja, Sie haben recht. Das ginge nicht, wenn wir der Fliege auch noch eine Batterie h?tten aufb?rden m?ssen; damit w?re sie auch nicht weit gekommen. Nein, die elektrischen Anschl?sse im K?rper der Fliege beziehen ihre Energie direkt aus den Zellen, ?ber einen elektrochemischen Proze?, den ich, ehrlich gesagt, nicht verstanden habe. Der Professor kann Ihnen das nachher sicher besser erkl?ren als ich. Nein, billiger ist es auf keine Fall. Die Umr?stung dieser Fliege hat ungef?hr f?nfzehn Millionen US-Dollar gekostet. Wobei man ber?cksichtigen mu?, da? sich dieser Betrag reduzieren wird, sobald wir ?ber das Prototyp-Stadium hinaus sind. Ich sage das, weil der Herr Staatssekret?r hier einen Moment bla? wurde… Nichts f?r ungut, Jim!
   So – das m??te das Fenster zum B?ro des Ministerpr?sidenten sein. Wir lassen die Fliege auf der Fensterscheibe landen, so da? wir hineinschauen k?nnen. Hervorragend. Punktlandung. Die Fliege dreht sich einmal auf der Stelle, damit unsere Jungs in der Steuerung sich in Ruhe umschauen k?nnen. Ich sch?tze mal, sie werden die L?ftungsklappe dort oben nehmen… Richtig. Sicherheitshalber bleibt die Fliege am Boden, beziehungsweise an der Scheibe, weil… f?nfzehn Millionen Dollar, daf?r kann man eine Menge Cadillacs kaufen, nicht wahr?
   Ah! Fliegengitter! Das ist jetzt nat?rlich ein Hindernis. Aber ich sch?tze, jeder von Ihnen kennt das – man glaubt, man hat das ganze Haus abgedichtet, und trotzdem kommen die Biester irgendwie rein. Ja, und was soll ich sagen: seit wir mit der Fliege durch die Gegend schwirren, wissen wir auch, warum. Wie die das machen. Sehen Sie, hier hat das Fliegengitter im Fenster des chinesischen Ministerpr?sidenten eine L?cke. Die haben nicht wir gefunden, die hat die Fliege selber gefunden. Die Burschen aus der Steuerzentrale haben ihr nur das dringende Bed?rfnis eingegeben, in den Raum dahinter zu gelangen, und siehe da, unsere Fliege findet einen Weg. Und drin sind wir!
   Das ist der besondere Vorteil dieses Verfahrens – da? das Tier lebt. Es ist kein Roboter, kein ferngesteuertes Flugobjekt – es ist ein Lebewesen, das wir lediglich dorthin lenken, wo wir es haben wollen. Alles andere macht es selber. Es fliegt, es versorgt sich mit Nahrung – um all das m?ssen wir uns nicht k?mmern.
   So, Ladies und Gentlemen, das ist jetzt der Anflug auf den Schreibtisch. Nein, nein, das ist keine Aufzeichnung, das ist alles live. Nat?rlich laufen Recorder mit, au?erdem sitzen Agenten mit hervorragenden Kenntnissen des Chinesischen im Nebenraum… Wie bitte? Ja, ich glaube, Sie haben recht – die zweite Person ist der Verteidigungsminister! Gut m?glich, da? die Papiere auf dem Tisch geheime milit?rische Unterlagen sind. Sehen Sie nun, wie wunderbar das ist? Eine unscheinbare, absolut unverd?chtige Fliege ist unser Auge und unser Ohr. Bitte sehen Sie mir meine Begeisterung nach. Ein harmloses Insekt, nicht der Rede wert, krabbelt am Rand des Tisches, an dem diese beiden M?nner sitzen, und sie kommen nicht im Traum auf die Idee, da? sie belauscht und beobachtet werden. Eine kleine Schmei?fliege, die ein besserer Agent ist, als James Bond es je…
   Oh! Das ist jetzt nat?rlich ziemlich… wie soll ich sagen? Bitte – einen Moment… Kann ich eben mal kurz telefonieren? Sicher gibt es daf?r einen Grund…
   Hi, George? Was ist los? Ihr habt den Funkkontakt verloren.
   Nein? Aber hier ist alles tot. Der Bildschirm zeigt nur noch Schneegest?ber, und ich glaube nicht, da? es im Sommer in Peking…
   Wie? Nein, das habe ich jetzt nicht verstanden. Was hat das letzte Bild damit zu tun? Ihr habt es analysiert, ja, und? Was ist darauf zu sehen?
   Ah. Die Peking Rundschau…?
   © 1999

Warum es w?hrend der Sonnenfinsternis regnen mu?te

   In der Woche vor der Sonnenfinsternis 1999 war im Himmel die H?lle los. Botenengel flitzten, das Hosiannasingen wurde mehrere Male kurzfristig abgesagt, und das Frohlocken fiel deutlich unfroher aus als ?blich. »Wie allgemein bekannt sein d?rfte«, er?ffnete einer der Erzengel die Krisensitzung und hielt dabei den Fahrplan der Himmelsk?rper in die H?he, »findet am 11. August ?ber Europa eine totale Sonnenfinsternis statt.« »Sch?n!« freute sich der Leiter der Schutzengelstaffel. »Ja, sicher.« Der Erzengel warf ihm einen absolut unlustigen Blick zu. »Eines der ergreifendsten Naturschauspiele, die der Chef erfunden hat, zweifellos – die Situation ist nur, da? wir in einer Weise ausgetrickst worden sind, da? ich mich frage, was die Schutzengel die ganze letzte Zeit eigentlich getan haben.« »Wir haben unseren Dienst getan«, verwahrte der Angesprochene sich. »Ganz normal.« »Ausgetrickst?« fragte ein anderer Engel. »Von wem?« Der Erzengel seufzte. »Von wem wohl?«
   »Vom Versucher?« Der Engel kratzte sich am Heiligenschein. »Aber der kann doch nichts ausrichten gegen die Bewegung der Gestirne…?« »Das Problem ist«, setzte der Erzengel auseinander, »da? die Sonne sehr hell ist. Nicht so hell wie Sein Antlitz, nat?rlich, aber immerhin so hell, da? die Menschen eine Schutzbrille ben?tigen, um hineinzusehen. Und hineinsehen werden sie, um die ?berdeckung von Mond und Sonne zu beobachten.« »Und der Versucher hat verhindert, da? solche Schutzbrillen hergestellt werden!« »Leider war er viel raffinierter. Er hat einige Hersteller solcher Schutzbrillen dazu verf?hrt, den Tods?nden des Geizes und der Unm??igkeit anheimzufallen.« Als er die fragenden Blicke der anderen Konferenzteilnehmer bemerkte, f?gte der Erzengel zur Erl?uterung hinzu: »Ein paar Gesch?ftsleute, die den Hals nicht vollkriegen konnten, haben bei der Herstellung ihrer Brillen geknausert und minderwertige Lichtschutzfolie verwendet. Trotzdem haben diese Brillen das Pr?fsiegel erhalten – vermutlich haben sich einige Pr?fer des weiteren der Tods?nde der Tr?gheit schuldig gemacht -, und als Resultat sind nun Millionen von Schutzbrillen im Umlauf, die die Augen nicht ausreichend sch?tzen, aber von den tauglichen Brillen nicht zu unterscheiden sind.« Emp?rung und Entsetzen erklang in der Runde. »Die Schutzengel m?ssen eingreifen!« forderte jemand, ein anderer rief: »Dann mu? die Sonnenfinsternis ausfallen!« »Wir tun, was wir k?nnen«, erkl?rte der oberste Schutzengel, »aber ich verwahre mich dagegen, die L?sung des Problems allein auf uns abw?lzen zu wollen!« Hier stimmte ihm der Erzengel zu. »Der Chef hat ganz klar gemacht, da? ein Wunder nicht in Frage kommt. Er will, da? wir die Situation m?glichst unauff?llig bereinigen. Und mir f?llt dazu nur eine L?sung ein.« Er sah jeden einzelnen der Anwesenden an, bis sein Blick auf Petrus h?ngenblieb. »Eine Wolkendecke.« »Ja!« rief jemand. »Genau!« ein anderer. »Genial!« ein dritter. »Moment!« rief Petrus. »Halt! Schlagt euch das aus dem Kopf. Es ist August. Mitten im Sommer. Wir sind gerade dabei, eine richtiggehende Hitzewelle abzufackeln. Da geht gar nichts.« Der Erzengel breitete die Fl?gel aus, was bei seiner Spannweite ehrfurchtgebietend aussah. »Millionen schwitzender Menschen in den ?berf?llten Wartezimmern von Augen?rzten werden das zu sch?tzen wissen«, erkl?rte er sarkastisch. Petrus raufte sich den Bart. »Wo soll ich denn jetzt Wolken hernehmen? Ich habe ?ber Europa gerade nur Hochdruckzonen, hei?e Luftmassen, Warmluftfronten… Letztens hie? es noch, ich soll daf?r sorgen, da? es ein Jahrhundertereignis wird. Strahlender Himmel und Sonnenschein war gew?nscht. Bitte, ist unterwegs. Und jetzt auf einmal soll ich es regnen lassen?« Der Erzengel sah ihn bek?mmert an. »Wenn dir das nicht gelingt, und uns nichts anderes einf?llt«, meinte er, »dann hat der Verderber gesiegt. So sieht es aus.« Einer der kleinen Rauschgoldengel fl?tete: »Denk doch an die Kinder und ihre gro?en, unschuldigen Augen!« Petrus seufzte. »Wolken und Regen, ausgerechnet am Tag der Sonnenfinsternis. Das wird meinen Ruf endg?ltig ruinieren.« Er zuckte ergeben die Schultern. »Aber gut – ich werde tun, was ich kann…«
   © 1999

Jenseits der Berge

   Sie hatten Livet erwischt. Sie waren aus dem Nachthimmel heruntergekommen wie ein einst?rzendes Dach, schwarzes Geflatter dunkler als die Nacht, wirbelnde Krallen, messerscharf, gierig zischende M?uler, hatten Livet mit sich fortgetragen und Bran zur?ckgelassen, einfach so. Und ihr ohrenbet?ubendes Kreischen hatte geklungen wie h?hnisches Gel?chter.
   Bran blieb liegen, bis er glauben konnte, da? es vorbei war. Als die Schreie sich verloren, hob er den Kopf aus dem kalten Schlamm, aber er konnte sich nur auf den R?cken drehen, so sehr zitterte er noch. Seine Hand bekam den Dornenstock zu greifen, und ein w?tendes, hilfloses Schluchzen drang wie von selbst aus ihm heraus. Nutzlos. Es gab keine Waffen, keinen Schutz.
   Wenn Opferzeit war, mu?te Blut flie?en, so war es. Wenn sie nachts keine Beute fanden, kamen sie bei Tage. Wenn sie auf den Feldern und in den Gassen niemanden kriegen konnten, drangen sie in die H?user ein. Wenn die Vampire hungrig waren, dann mu?te ein Mensch sterben.
   Und heute nacht war die Reihe an Livet gewesen. Bran stemmte sich elend hoch. Gellende Schreie hallten von den Bergen wieder, weit entfernt. Jetzt waren sie im Blutrausch. Er mu?te machen, da? er das Dorf erreichte. Heute nacht w?rden sie jeden nehmen, den sie kriegen konnten, ob sie noch hungrig waren oder nicht.
   Aber er war genug gerannt heute nacht. Seine Schenkel brannten vor Ersch?pfung, und der kalte Wind, der den Schnee von den Bergen herabtrug, fror ihm das Leben aus dem Leib.
   Einfach vorn?berkippen, liegenbleiben, selbst zur Beute werden. Es endlich ?berstanden haben. Nur die F??e waren nicht einverstanden, trugen ihn weiter, stapften durch aufgeweichte Gassen, fanden den Weg zum Versammlungshaus, und dort zogen ihn H?nde zur T?r herein, in dampfende W?rme.
   "Bran… er ist zur?ck… er lebt…" Gemurmel um ihn herum. Man setzte ihn an den Ofen, jemand reichte ihm eine Schale mit Br?he. Es war eine sehr d?nne Br?he. Dieses Jahr reichte es kaum zum Leben. Die Vampire hatten die Felder verw?stet wie selten zuvor.
   "Geht es dir besser?"
   Er nickte, w?rmte die H?nde an der Schale. Aber die Wahrheit war, da? er nicht wu?te, ob es ihm gut ging oder nicht. "Livet?"
   "Sie haben ihn geholt."
   Das Raunen trug Livets Namen weiter. Aus dem Raum der Frauen drang gleich drauf Wehklagen. Aber gleichzeitig war so etwas wie Aufatmen zu sp?ren – Hoffnung, da? die Vampire nun wieder einmal zufrieden sein w?rden f?r eine Weile.
   "Dies ist ein Abend der Wunder", rief pl?tzlich jemand. "Von dreien, die wir tot glaubten, sind zwei unversehrt zur?ckgekehrt!"
   "Ehre sei dem Herrn des Tages und der Nacht", murmelte ein Chor dumpfer M?nnerstimmen.
   Bran sah den Mann neben sich fragend an.
   "Siren ist zur?ckgekommen", erkl?rte der.
   "Siren? Aber wie kann das..?" Bran erinnerte sich, da? der junge Bursche vor zwei Monden verschwunden war. Nat?rlich hatte ihn jeder f?r tot gehalten. Es war unglaublich, da? er diese lange Zeit ohne den Schutz des Dorfes ?berstanden haben sollte.
   "Dort hinten sitzt er. Und erz?hlt Dinge, die nicht mal das d?mmste Kind glauben w?rde."
   "Ja? Was denn?"
   "Kannst ihm ja zuh?ren. Er h?rt gar nicht auf zu reden."
   Bran erhob sich m?hsam und mischte sich unter die M?nner, die einen Tisch umringten, an dem wahrhaftig Siren sa?, gesund und lebendig, und aufgeregt anredete gegen die Wand aus zweifelnden oder sp?ttisch grinsenden Gesichtern ringsum.
   "Stellt euch Wiesen vor, gr?n und saftig, soweit der Blick geht. Stellt euch Felder vor, jedes so gro? wie unser ganzes Dorf, die herrlich bl?hen. Stellt euch B?ume vor, Hunderte davon, die voller s??er Fr?chte h?ngen…"
   "M?rchenland!" warf jemand ein.
   "Die Menschen dort", rief ihm Siren entgegen, "wissen nicht einmal, was Vampire sind. Sie versammeln sich nachts unter freiem Himmel und feiern, z?nden gro?e Feuer an, um die herum sie fr?hlich tanzen, lachen, singen, essen und trinken. Sie haben keine Angst vor der Nacht – sie lieben sie geradezu!"
   "Geschichten erz?hlen konntest du schon immer, Siren", meinte einer und erntete zustimmendes Gel?chter.
   "Ich habe das alles gesehen!" erregte sich Siren. "Ich habe das alles gesehen, mit diesen Augen! Mit diesen H?nden habe ich reife Fr?chte von B?umen gepfl?ckt, ganze K?rbe voll. Mit diesen Beinen bin ich durch Felder gegangen, deren Korn mir bis zur H?fte reichte -"
   "Wo ist dieses Land?" fragte Bran.
   Siren sah ihn an. "Ich sagte es doch schon – jenseits der Berge. Ich habe einen Weg ?ber die Berge gefunden. Und ich sage euch, auf der anderen Seite liegt ein Land, das unvorstellbar sch?n und reich ist; ein Land, in dem es keine Vampire gibt!" Er hob hilflos die H?nde. "Warum versteht mich denn keiner? Sehe ich so aus, als sei ich verr?ckt geworden? Ich h?tte dort bleiben k?nnen. Ich h?tte nicht zur?ckzukommen brauchen, um euch davon zu berichten. Ich h?tte nicht riskieren m?ssen, da? die Vampire mich doch noch erwischen. Ich h?tte einfach bleiben k?nnen. Ihr glaubt mir nicht, sch?n – aber ihr braucht mir nicht zu glauben! Ihr k?nnt einfach mit mir kommen, und ich zeige euch den Weg, den ich gegangen bin. Wir brauchen nicht hierzubleiben, versteht ihr? Wir brauchen uns nicht sinnlos den Vampiren zu opfern. Wir k?nnen einfach fortgehen in ein besseres Land."
   "Vielleicht", warf eine bed?chtige, Ehrfurcht gebietende Stimme ein, "hat das alles seinen guten Grund." Der Spott und das Gel?chter erstarben. Die M?nner wichen respektvoll beiseite, um den alten Gurot durchzulassen. Man machte ihm Platz, damit er sich an den Tisch setzen konnte, Siren gegen?ber.
   Gespannte Stille herrschte pl?tzlich. Gurot legte die Heilige Schrift vor sich hin, rieb sich die Reste der Opferkr?uter von den Fingerspitzen und musterte den jungen Siren aufmerksam, der unter diesen Blicken kleiner zu werden schien. Langsam sagte er: "Ich m?chte dir zun?chst sagen, Siren, da? ich mich freue, da? du noch am Leben bist, und da? ich dich begl?ckw?nsche."
   "Danke", sagte Siren tonlos.
   "Man hat mir von deinen Erz?hlungen berichtet, w?hrend ich das Huldigungsopfer darbrachte", fuhr der Alte bed?chtig fort, "und ich denke, ehe du dich immer wieder und wieder wiederholst, sollten wir alles einmal gr?ndlich bedenken und von allen Seiten betrachten."
   Siren sagte nichts.
   "Du bist der ?berzeugung, da? du uns etwas von enormer Wichtigkeit mitzuteilen hast; hat man mir das richtig ?berbracht?"
   "Ja." "Und du wunderst dich, da? deine Schilderungen hier auf, sagen wir einmal, Skepsis sto?en. Sehe ich das recht?" "Genau."
   Gurot faltete die H?nde in einer Geste der Nachdenklichkeit. "Nun, Siren, ich m?chte, da? du dich einmal in die Lage dieser Leute hier versetzt. Du bist noch sehr jung, gerade mannbar geworden, in dir brennt noch die Hitze der Jugend und ihre Phantasie. ?berdies wei?t du selbst, da? du nicht gerade das warst, was man ein wohlerzogenes Kind nennt; du erinnerst dich sicher selber am besten an manche Streiche, L?gen und andere Vorf?lle, die man beim besten Willen nicht als Zeichen ?berm??iger Zuverl?ssigkeit verstehen kann. Versteh mich recht, ich verurteile damit weder dich noch das, was du sagst, ich m?chte im Gegenteil alles gr?ndlich bedenken, aber ich m?chte zun?chst, da? du mir sagst, ob ich gerade etwas Unwahres ?ber dich erz?hlt habe."
   "Nein", gestand Siren, "aber…"
   Gurot hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. "Ferner m?chte ich wissen, ob du dir vorstellen kannst, da? einige der hier Anwesenden einfach aufgrund deiner Jugend und der Erinnerungen an deine Kinderstreiche voreingenommen gegen dich sind. Kannst du dir das vorstellen?"
   "Ja."
   "Gut. Aber wie gesagt, wir wollen alles gr?ndlich bedenken, unabh?ngig von all diesem." Der alte Mann legte seine Hand auf das Buch vor ihm. "Du wei?t, da? ich mich eingehend mit den alten Schriften und ?berlieferungen befa?t habe. Danach zu urteilen, hat es immer diese zwei Seiten gegeben: auf der einen Seite wir, die Menschen – auf der anderen Seite sie, die Vampire. Man kann nat?rlich fragen, warum. Und viele alte Schriften tun das auch. Meistens fragen sie gleichzeitig nach Gott, nach dem Sch?pfer aller Dinge, und nach der Rolle, die wir oder die Vampire im Sch?pfungsplan spielen. Die unangenehmste Antwort ist meist die, da? wir Menschen vielleicht einfach nur als Futter f?r die Vampire dienen sollen. Das gef?llt uns nicht. Mir gef?llt das auch nicht, ebensowenig wie dir, aber andererseits k?nnen wir unser Gefallen oder Mi?fallen nicht zum Ma?stab aller Dinge machen, nicht wahr? Etwas ist so, wie es ist, unabh?ngig davon, ob es mir gef?llt oder nicht. Eine andere Erkl?rung, die immer wieder gefunden wird, ist, da? es einfach immer ein Gleichgewicht geben mu? zwischen der Zahl der Menschen und der Zahl der Vampire. Wenn es viele Menschen gibt, steigt die Zahl der Vampire, und diese dezimieren wieder die Anzahl der Menschen. Gibt es umgekehrt zu wenig Menschen, verhungern viele Vampire, und die Menschen k?nnen sich wieder vermehren. Ohne die Vampire, hei?t das, w?rden wir Menschen uns schrankenlos, ins Unerme?liche vermehren." Gurot spreizte die Finger. "Aber, wie gesagt, das ist auch nur ein Erkl?rungsversuch, der uns nicht zu gefallen braucht. Was man mit Sicherheit sagen kann, ist, da? wir nicht wissen, wozu Vampire da sind. Wir wissen aber auch nicht, wozu der Tag da ist oder die Nacht. Wir wissen nicht einmal, wozu wir selber da sind, oder wozu es so etwas wie Leben ?berhaupt gibt. Letztlich ist alles ein Mysterium. Alles ist einfach so, wie es ist."
   Gurot sah in die Runde, in andachtsvoll lauschende Gesichter. "Ich mu? wohl nicht erw?hnen, da? in den alten Schriften nirgends, nicht an einer einzigen Stelle, die Rede davon ist, da? es jenseits der Berge so etwas wie ein gesegnetes Land geben k?nnte. In den ?berlieferungen existiert nicht der geringste Hinweis auf ein Land, wo keine Vampire, sondern nur gl?ckliche Menschen leben. Allerdings sprechen die Schriften von einem gelobten Land, aber um dorthin zu gelangen, mu? man ein gottgef?lliges Leben im Diesseits f?hren, ein Leben der Arbeit, der Entsagungen und der Pr?fungen. Das ist nat?rlich anstrengend und unangenehm. Da? man dieses gelobte Land auch anders, n?mlich durch einen einfachen Fu?marsch erreichen k?nne – das hat noch nie jemand behauptet. Noch nie bis heute abend. Bis du kamst, Siren. Sag mir eines: findest du das nicht selber merkw?rdig?"
   "Vielleicht ist vor mir noch nie jemand zur?ckgekehrt von dort?"
   "Ah ja?" Gurot hob die Augenbrauen. "Aber jetzt bist ja du da, nicht wahr? Jetzt wird alles anders. Die heiligen Schriften, die alten B?cher, das k?nnen wir alles bedenkenlos verbrennen, denn du bringst uns ja die Wahrheit. Unsere zahllosen Toten k?nnen wir vergessen, denn sie sind ja ganz sinnlos gestorben. Denn ein Zeitalter geht zu Ende heute abend, nicht wahr, und ein neues beginnt. Sollen wir es das Zeitalter des Siren nennen?" Seine Stimme war schneidend scharf geworden.
   Siren schaute hilflos drein. "Ich kann euch nur sagen, da? ich…"
   "Ganz zweifellos glaubst du, was du sagst, Siren", nickte Gurot. "Ich glaube dir. Wirklich. Ich bin der festen ?berzeugung, da? du wirklich glaubst, jenseits der Berge liege die Erl?sung."
   "Ja?"
   "Ja, sicher. Siehst du, Siren, mir geht es so, da? ich das gerne auch glauben w?rde. Wirklich, mein Herz brennt danach, dir zu glauben. Aber mein Kopf…" Er lehnte sich zur?ck und l?chelte wehm?tig. "Mein Kopf kennt mittlerweile die Schliche des Herzens. Das Herz glaubt, was es sich w?nscht. H?re mir nun gut zu, Siren, und versuche von meiner Lebenserfahrung zu profitieren. Ich will dich nicht verurteilen. Ich m?chte dir nur erkl?ren, was in dir vorgeht. Man glaubt das, von dem man sich w?nscht, es w?re so. Und es ist immer das Herz, das sich etwas w?nscht. Es ist auch das Herz, das Angst hat. Und wenn das Herz in Aufruhr ger?t, dann denkt der Kopf nicht mehr klar, dann ger?t er in Fieber und verstrickt sich in die unglaublichsten Hirngespinste. Wer von uns hat das noch nicht erlebt? Man verliebt sich in ein M?dchen – und schon gewinnt man aus der kleinsten Freundlichkeit, die sie einem erweist – und ebenso leicht aus jeder Unfreundlichkeit – die unumst??liche Gewi?heit, da? sie unsere Liebe insgeheim erwidert. Sagt, erinnere ich mich da richtig?"
   Die M?nner lachten.
   "Versuche dich zu erinnern, was in dir vorgegangen ist, Siren. Ich wei? es nicht, du allein wei?t es. Du hast vielleicht ?berlegt, was f?r ein erb?rmliches Leben das ist, das da auf dich wartet: Ein Leben, in dem es hei?t, einem kargen, felsigen Boden Nahrung abzutrotzen, und dabei st?ndig Angst haben zu m?ssen vor den Vampiren. Du wei?t nicht, ob du einmal so alt wirst wie ich, oder ob du morgen schon stirbst. Es ist unangenehm, ?ber all das nachzudenken. Und vielleicht hast du dich in eine Phantasie gefl?chtet. Doch solange man noch wei?, da? es nur eine Phantasie ist, kann sie einen nicht tr?sten, vergeht die Angst nicht. Es mu? zur Gewi?heit werden. Du steigerst dich hinein, du glaubst fest daran, zweifelst nicht mehr an der Realit?t dessen, was du glaubst – aber unter der Oberfl?che bleibt ein leiser Zweifel. Dieser heimliche Zweifel ist es, der dich antreibt, andere ?berzeugen zu wollen. Dein Kopf ist in Phantasien verstrickt, und er will die Best?tigung anderer: wenn andere dir zustimmen, dir sagen, da? du recht hast, dann kannst du es besser glauben, als wenn du allein bleibst damit…"
   "Es ist genug, alter Mann!" rief Siren w?tend und sprang auf. Becher fielen um. Jeder hielt den Atem an. Noch nie hatte jemand gewagt, Gurot derart zu unterbrechen. "Du versuchst mit tausend klugen Worten die Wahrheit hinwegzuerkl?ren, nichts weiter. Bleib von mir aus bei deinen staubigen alten B?chern, wenn sie dir mehr bedeuten als dein Leben! Ich sage euch nur, ich bin dortgewesen, im gelobten Land, und morgen fr?h werde ich wieder dorthin zur?ckgehen, und wer von euch will, der kann mit mir kommen."
   Ein Raunen ging durch die Reihen. Siren kam hinter dem Tisch vor und sah sich um in den Gesichtern. "Nun? Was ist?"
   Niemand sagte etwas. Ein paar M?nner wandten sich ab.
   "Es scheint nicht so leicht zu sein, ein neues Zeitalter einzul?uten, wie?" lie? sich Gurot sp?ttisch vernehmen.
   "Was war ich f?r ein Narr, noch einmal zur?ckzukehren!" rief Siren aus. "Ihr sagt, ich sei verr?ckt? Ich war es, da? ich mein Leben noch einmal aufs Spiel gesetzt habe!"
   "Ich komme mit", sagte Bran leise.
   "Siren!" rief jemand aus dem Hintergrund des Raums. "Du hast so sch?nes Lockenhaar – du solltest zu den Frauen hin?bergehen, die kannst du sicher leichter verf?hren!" Alle lachten.
   "Wenigstens einer", sagte Siren zu Bran. "Dann hat es sich doch gelohnt."
   Am n?chsten Morgen bei Sonnenaufgang, als alle anderen noch schliefen, verlie?en Siren, Bran und drei Frauen das Dorf und kehrten nie mehr wieder.
   © 1999