Sechs Kurze Geschichten

Dolls

   "Gentechnisches Labor IV" stand auf dem kleinen Plastikschild neben der T?r.
   Es war still in den kahlen, verlassenen Korridoren, in denen jedes Wort, jeder Schritt raunenden Widerhall erzeugte. Alles lag verlassen. Wir schienen die einzigen zu sein, die sich so sp?t in der Nacht noch in den Universit?tsgeb?uden herumtrieben, und ich wurde das Gef?hl nicht los, etwas Verbotenes zu tun – als seien wir Einbrecher und ganz unerlaubt hier.
   Jarmusch ahnte nichts von meinen ?ngsten. Er bewegte sich so unbek?mmert, als sei er hier zu Hause – was wohl auch nicht ganz falsch war -, angelte ger?uschvoll ein gewaltiges Schl?sselbund aus den Tiefen seiner Hosentasche und schlo? mit ohrenbet?ubendem Klappern und Rasseln auf.
   Als in dem Raum dahinter die Neonr?hren angingen, beleuchteten sie eine kolossale Anh?ufung von Gl?sern, Kolben und kompliziert aussehenden Apparaten, die durch R?hren, Schl?uche und Stromleitungen miteinander verbunden waren und den Raum fast vollst?ndig ausf?llten.
   "Meine Diplomarbeit", sagte Jarmusch mit einer wegwerfenden Handbewegung und schlo? die T?r hinter uns. "Kannst du ignorieren; funktioniert ohnehin alles nicht so, wie der Herr Professor sich das vorgestellt hat."
   "Aha."
   Ich folgte ihm vorsichtig, bem?ht, nirgends anzusto?en und nichts umzuwerfen. Jarmusch zw?ngte seine massige Gestalt durch das Dickicht des Versuchsaufbaus hindurch zu einer mannshohen gr?nen Maschine, schaltete sie ein, dr?ckte Kn?pfe.
   "Das ist der HXG", sagte er.
   Ein feines Surren wurde h?rbar und vertrieb die Stille aus dem Raum.
   "Damit bastelst du also an Genen herum?" fragte ich.
   "Ja. Nicht gerade der letzte Schrei, aber ganz brauchbar. Vor allem hat es ein Interface zu einem Personalcomputer – das hei?t, man kann all die herrlichen illegalen Programme damit ausprobieren, die es so gibt."
   Er lachte verschw?rerisch und zog sich den einzigen Stuhl im Raum vor den Tisch, auf dem der Computer stand.
   Mit einer l?ssigen Handbewegung bet?tigte er den Einschaltknopf auf der R?ckseite des Ger?ts. W?hrend der Bildschirm langsam hell wurde, f?rderte Jarmusch aus seiner Aktentasche eine Diskettenschachtel zutage, die er aufgeklappt neben den Rechner stellte. Es waren zw?lf Disketten darin, die er eine nach der anderen dem Computer verf?tterte. Nach der ersten erschien ein buntes Bild auf dem Schirm, das in einem kleinen K?stchen die folgenden Disketten mitz?hlte.
   Das Programm hie? GEISHA, und als Hersteller firmierte eine Forbidden Love Inc.
   "Brandneu, das Ding. Ich hab’s mir von einem Bekannten am Max-Planck– Institut kopiert, der es letzte Woche aus den USA mitgebracht hat. Dr?ben sind sie in solchen Dingen einfach weiter als wir, in jeder Hinsicht."
   Er holte einige zerknitterte Fotokopien hervor, wohl die Bedienungsanleitung f?r das Programm – oder das, was Jarmusch davon hatte ergattern k?nnen. Er versuchte, sie in der richtigen Reihenfolge zu ordnen. Ich setzte mich auf eine freie Tischkante, so gut es ging, und wartete ab, was nun geschehen w?rde.
   "Zun?chst wird abgefragt, welches Ausgangsmaterial wir nehmen wollen", erl?uterte Jarmusch und betrachtete den Bildschirm. "Das hei?t, ich dr?cke jetzt… hmm?"
   Er konsultierte die Anleitung. Es war mehr ein Selbstgespr?ch, das ich mit anh?ren durfte.
   "Ah ja, F6 f?r Schimpanse. So. Jetzt… nein, das ist wohl die Abfrage der Interferenzstruktur. Was schreiben die denn? Ja, genau. Die geben wir als gespeichert vor. Alles klar."
   Alles klar? Mir war ?berhaupt nichts klar.
   Auf dem Bildschirm erschien eine Zeichnung, die grob die K?rperumrisse einer Frau andeutete. Rechts und links davon wurden lange Listen von Schl?sselworten angezeigt, die wohl nur ein Gentechniker verstand.
   Jarmusch warf mir einen triumphierenden Blick zu. "Das ist jetzt der Hauptarbeitsbereich. Die haben das hier echt professionell gemacht; du hast alle M?glichkeiten, die dir nur einfallen. Kein Vergleich zu Programmen wie HORI oder SLAVE… kennst du die?"
   "HORI kenne ich."
   "Wahrscheinlich HORI 2.0, oder?"
   "Keine Ahnung."
   "Wahrscheinlich, das ist das verbreitetste. Das hat zum Beispiel keinen automatischen Fehlerabfang; wenn du nicht aufpa?t, kriegst du die gr??lichsten Mutationen."
   "Tats?chlich?"
   "Du mu?t schon sehr gut Bescheid wissen, nicht nur mit Gentechnik, sondern auch mit den Programmen, weil die Parameter im Handbuch nur ganz unklar beschrieben sind. Und wenn du mit HORI 2.0 eine wirklich gute Doll machen willst, mu?t du die Parameter voll aussch?pfen – und noch Gl?ck haben."
   "Aber es gibt doch eine Standardeinstellung, oder?"
   Jarmusch verzog angewidert das Gesicht. "Einheitskost. Wei?t du, die Zeiten, als du jede Doll m?helos losgeworden bist, selbst wenn sie auf B?ume kletterte statt ins Bett, die sind vorbei. Solche Zombies kannst du h?chstens noch an arme Studenten verh?kern, und dazu sind die Brutkammern echt zu teuer! Die Leute, die f?r eine Doll heute das gro?e Geld hinbl?ttern, die wollen Qualit?t, die haben Anspr?che."
   "Was kriegt man denn f?r eine gute Doll?"
   Jarmusch wiegte den Kopf. "Sagen wir mal, eine Doll pro Jahr, und dein Studium ist finanziert; eine pro Semester, dann springt auch noch ein dicker Urlaub mit raus. Das ist der Standard." Er grinste. "Die meisten Geningenieure, die ich so kenne, verh?kern mindestens jeden Monat eine. Was glaubst du, warum an der Uni fast alle Genbiologen in schicken Klamotten aus flotten Autos steigen und mit teuren Lederk?fferchen am Arm in die Vorlesungen rennen?"
   "Aber im Grunde ist es doch illegal, oder?"
   "Also, legal ist es sicher nicht. Ob’s illegal ist, dar?ber gehen die Meinungen auseinander. F?llt anscheinend unter das Tierschutzgesetz. Und nat?rlich finden es viele Leute total unmoralisch. Aber jeder macht es, und jeder wei?, da? es jeder macht. Die niederen Semester k?nnen es doch kaum erwarten, da? sie ins Gentechnische Praktikum d?rfen. Die haben doch alle schon ihre HORI-Disketten daheim ’rumliegen. Erst mal ist ja auch immer ein Eigenbedarf zu decken, nicht wahr?"
   "F?llt denn eigentlich niemandem auf, was da in den Brutkammern heranw?chst?"
   "Der Trick besteht ja gerade darin, da? zun?chst etwas ganz Legales heranw?chst; etwas, das aussieht wie ein Versuchstier. Du mu?t es nat?rlich managen, das Tier rechtzeitig in ein Versteck zu schaffen – bevor die Pelzhaare ausfallen, ein zweiter Wachstumsschub einsetzt und das Ganze sich so eindeutig verwandelt, da? selbst ein halbblinder Nachtw?chter Stielaugen kriegen w?rde. Dieser Wachstumsschub findet erst au?erhalb der Brutkammer statt. Und heutzutage l??t sich fast auf den Tag genau vorhersagen, wann er beginnt."
   Er widmete sich wieder dem Computer. Mit den Befehlsfolgen, die er eingab, gewann die Frauensilhouette in der Mitte des Bildschirms an Farbe und Konturen.
   "K?rpergr??e… wie gro? soll sie werden? Sagen wir, einsf?nfundsechzig. Die Haare – schwarz oder blond?"
   "Gr?n?"
   "Gr?n geht nicht. Will auch keiner. Sagen wir schwarz. Das Becken ein bi?chen breiter… nein, zu breit… so. Den Busen gr??er; ich mag gro?e Busen – so. Schau, du kannst auch einzelne K?rperregionen vergr??ert darstellen und detailliert festlegen – das Gesicht, die H?nde und so weiter. Das Gesicht ist wichtig. Gro?e Augen soll sie kriegen und lange Wimpern. Der Mund stimmt auch schon fast… na, wie sieht sie aus? Wie aus dem PLAYBOY, oder?"
   Ich dachte zur?ck an meine erste Begegnung mit einer Doll. Ger?chteweise hatte damals jeder schon davon geh?rt, und es hie? auch, da? viele Studenten heimliche solche k?nstlichen Tiere besa?en, gerade in den Studentenwohnheimen. Die Wohnheime liegen ziemlich au?erhalb der Stadt, und man sieht dort fast keine Frauen.
   Es war am Tag meines Einzugs. Ich suchte den Haussprecher, weil ich von ihm eine Unterschrift auf ein Formular brauchte. In der Gemeinschaftsk?che war er nicht, also klopfte ich an die T?r seines Zimmers. Daraufhin raschelte etwas dahinter, und ein Ger?usch war zu h?ren, das ich f?r eine Stimme hielt. Aber nichts geschah. Ich dr?ckte die Klinke und ?ffnete die T?r einen Spalt weit.
   Zu meinem grenzenlosen Erstaunen sah ich eine nackte Frau mit langen Haaren auf einer Decke am Boden sitzen und Obst und Brot aus einer Sch?ssel essen. Als sie mich sah, gab sie einen eigenartigen Laut von sich und streckte eine Hand, in der sie eine angenagte Brotrinde hielt, in meine Richtung. Ich mu? sie v?llig entgeistert angestarrt haben, denn schlie?lich packte sie Decke und Sch?ssel und verkroch sich damit unter den Schreibtisch.
   Jemand erkl?rte mir danach, da? das, was ich gesehen hatte, eine ’Doll’ war, ein gentechnologisch erzeugtes Tier, das das Aussehen einer gutgebauten Frau, aber die Intelligenz und das Seelenleben eines Schimpansen besa?.
   Die Doll, die ich gesehen hatte, geh?rte der Hausgemeinschaft, die sie wiederum einem Gentechnik-Studenten abgekauft hatte, der nur einige Monate im Haus gewohnt hatte. Es wurde sehr gr?ndlich ein Vormerkkalender gef?hrt, in den man sich eintragen konnte, und jeder, der die Doll beanspruchte, mu?te einen kleinen Obolus in die Hauskasse entrichten, der zur einen H?lfte zur Abzahlung der Anschaffungskosten, zur anderen H?lfte der Ern?hrung der Doll diente. Der Haussprecher hatte zu ?berwachen, da? die Doll regelm??ig gewaschen und gef?ttert wurde.
   Ich bekam die Doll an diesem Abend gespendet, sozusagen als Willkommensgru?. Sie war ein sehr zutrauliches Wesen, das willig alles mit sich geschehen lie?, und das sich nachher zusammengerollt an mich kuschelte und einschlief, w?hrend ich noch wach lag und traurig war, ohne da? ich h?tte sagen k?nnen, warum.
   "Fertig", sagte Jarmusch.
   Wir betrachteten das Bild, das nun eine schwarzhaarige Frau von exotischer Sch?nheit zeigte.
   "Jetzt wird das gespeichert und an den HXG weitergegeben, der es in genetischen Code umsetzt. Das dauert eine Weile. Dann geht’s ab damit in den Uterator, dann in die Brutkammer, und in ein paar Wochen ist’s soweit."
   Eine rote Leuchtdiode an der Frontseite des Rechners kommentierte den Speichervorgang mit hektischem, unregelm??igem Blinken, und der gro?e gr?ne Apparat begann h?rbar zu arbeiten.
   Sp?ter, nachdem er den Computer abgeschaltet und das d?nne Glasr?hrchen, das die synthetisch erzeugte Zygote enthielt, in den Uterator praktiziert hatte, meinte er: "Wei?t du, das Gute an den Dolls ist, da? sie einen unabh?ngiger machen. Es ist wirklich erstaunlich, wie sich das Verh?ltnis zu Frauen ?ndert, wenn man keine unbefriedigten Begierden mehr mit sich herumschleppen mu?. Das ist wie ein gebrochenes Monopol, findest du nicht? Man ist nicht mehr auf richtige Frauen angewiesen. Sie interessieren mich kaum noch. Eine Frau mu? schon etwas Besonderes bieten, um f?r mich noch interessant zu sein."
   "Hast du eine eigene Doll?" fragte ich.
   "Ja, klar, zur Zeit sogar zwei. Die eine ist ein Rasseweib, ein richtiges Meisterwerk. Auch vom Verhalten, vom Temperament her echt gelungen. Ich hab’ auch schon einen Interessenten f?r sie. Ich probier’ alle meine neuen Dolls aus, wei?t du?"
   Er starrte eine Weile gedankenverloren aus dem Fenster, ?ber das Lichtermeer der Stadt.
   "Die andere ist schon ziemlich alt; f?nf Jahre. Meine erste, aus dem Praktikum. Ist mir damals eigentlich ziemlich mi?lungen, aber ich hab mich eben an sie gew?hnt. Sie wird’s wohl nicht mehr lange machen, ist dauernd krank, baut ab. Viel ?lter werden Dolls ja nicht, auch heute noch nicht…"
   Ein schmerzlicher Unterton hatte sich in den Klang seiner Stimme geschlichen. Er griff nach der Diskettenschachtel, energisch, als wollte er einen Gedanken oder ein Gef?hl absch?tteln.
   © 1991

Garten Eden

   Die Party nach der offiziellen Hochzeitsfeier war verschwenderisch ausgestattet, und die vielen Leute! Tonak kannte die wenigsten. Das sollten alles seine Verwandten sein? Kaum zu glauben.
   »Tonak!« Eine tiefe M?nnerstimme. Tonak drehte sich um, den Teller in der Hand, den er am Buffettisch zu f?llen im Begriff war.
   Die gewaltige Gestalt Onkel Perets. »Tonak, mein Junge – du bist gro? geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe!«
   Typisches Verwandtengeschw?tz, dachte Tonak. Dasselbe hatte er heute schon mindestens f?nf Mal zu h?ren bekommen, und ihm war immer noch keine geeignete Antwort darauf eingefallen. So sagte er nur: »Hallo, Onkel Peret.«
   »Na, wie gef?llt es dir bei uns im Amazonas? Du bist das erste Mal hier, nicht wahr?«
   »Ja, stimmt.« Tonak sah sich um. Es stimmte, und es stimmte auch wieder nicht. Sein Blick ging ?ber die Terasse, den weitl?ufigen Park dahinter, die anderen Wohneinheiten, die sich sanft in die Landschaft schmiegten. »Allerdings habe ich mir das Amazonasgebiet immer ganz anders vorgestellt. Anders als bei uns zuhause zumindest.«
   Onkel Peret lachte. »Ja, ja, dein Vater hat mir schon von deiner Leidenschaft f?r die alten Abenteuerb?cher erz?hlt. Aber diese Zeiten sind wirklich sehr, sehr lange her. Heute gibt es keine Wilden und keinen Dschungel mehr, und die gef?hrlichen Krankheiten sind l?ngst ausgerottet. Auch hier hat die Kultur gesiegt, letzten Endes.«
   »Ja, sieht so aus.« Sie waren alle so begeistert davon, alle, die er kannte.
   »Kennst du eigentlich schon deine Cousine Gham’bia?« Er bedeutete einem schlaksigen M?dchen, herzukommen. »Gham’bia, ich m?chte dir deinen Cousin Tonak aus Europa vorstellen. Er ist mit seinen Eltern erst heute angekommen, gerade noch rechtzeitig zum Fest.«
   Sie musterte ihn mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich verriet, was sie von dieser Art, ein Gespr?ch anzubahnen, hielt. »Hallo, Tonak.« Sie gab ihm betont artig die Hand.
   Tonak war die Situation unbehaglich. »Hallo, Gham’bia.«
   »Tja, ich glaube, ich mu? jetzt weiter, meinen Pflichten als Gastgeber nachkommen«, meinte Onkel Peret, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. »Unterhaltet euch sch?n, ihr zwei. Wir sehen uns sp?ter, Tonak, ihr seid ja noch ein paar Tage hier.«
   Er bedachte sie mit einem L?cheln, das wohl harmlos wirken sollte, aber nur sehr k?nstlich aussah, und verschwand rasch zwischen den anderen G?sten.
   Die Sonne war dabei unterzugehen, und D?mmerung senkte sich ?ber die Landschaft. Ein sanfter Wind strich durch die B?ume, fremdartiges Zirpen ert?nte von irgendwoher. Auf den Tischen brannten Kerzen in gl?sernen Schalen, und Fackeln beleuchteten das Buffet und die Wege.
   »Tut mir leid, Tonak, da? ich gerade so pampig war«, sagte Gham’bia. »Es hat nichts mit dir zu tun. Ich hasse es nur, wie er mich dauernd umherkommandiert – tu dies, tu das! Oh Gott! Und dauernd versucht er, mich zu verkuppeln. Als ob ich wer wei? wie h??lich w?re und trickreich an den Mann gebracht werden m??te.«
   »Also h??lich bist du nicht«, entfuhr es Tonak, der fast rot wurde, als ihm die K?hnheit seines spontanen Ausrufs zu Bewu?tsein kam. »Entschuldige.«
   »Wieso denn, ist doch ein nettes Kompliment«, kicherte das M?dchen belustigt und schlug dann vor: »Magst du ein bi?chen mit mir durch den Park spazieren?«
   »Ja, gern. Ich mu? nur meinen Teller irgendwo hinstellen.«
   Als sie die Treppen hinuntergingen, die in den Park f?hrten, betrachtete er sie verstohlen von der Seite. Sie hatte langes schwarzes Haar und ziemlich dunkle, samtene Haut. Vielleicht sechzehn, sch?tzte er. Sie wirkte irgendwie praktisch und lebenserfahren.
   »Was ist das f?r ein Mann, den deine Schwester geheiratet hat?« fragte er, mehr aus dem Wunsch heraus, als gewandter Gespr?chspartner zu erscheinen als aus wirklichem Interesse.
   »Bjoot?« Sie gluckste. »Diese blasse Type? Dieser zum Erbrechen langweilige Kleiderst?nder? Dieser Inhaber der einzigen vakuumgef?llten Hirnschale auf diesem Planeten? Er arbeitet in irgendeiner Verteilungsbeh?rde, und wahrscheinlich rechnet er sich jetzt Karrierechancen aus, weil seine Schwiegermutter im Rat der Regierung sitzt.«
   »Du kannst ihn wohl nicht leiden?«
   »Ach, merkt man das? Nein, ich kann ihn nicht ausstehen. Der Junge, mit dem Alaina die ganzen Jahre vorher zusammen war, der war wirklich nett. Den h?tte sie nehmen sollen. Aber mit dem gab es genetische Probleme; die beiden h?tten keine Genehmigung f?r Kinder bekommen.«
   »Deswegen h?tte sie ihn aber doch heiraten k?nnen.«
   »Zuf?llig ist Alaina verr?ckt danach, Kinder zu kriegen. Und Bjoot mu?, so bl?d er auch aussieht, der Tr?ger geradezu phantastischer Gene sein. Mit ihm hat sie die Konzession f?r zwei Kinder gekriegt.« Gham’bia seufzte. »Jedenfalls hoffe ich, da? sie ihn wenigstens aus diesem Grund geheiratet hat und nicht, weil sie an galoppierender Geschmacksverirrung erkrankt ist.« Sie sah ihn keck von der Seite an. »Und du bist also der Tonak, der die ganzen alten B?cher liest.«
   »Jeder scheint hier ?ber mich Bescheid zu wissen«, wunderte sich Tonak. Er wu?te nicht so recht, ob er sich geschmeichelt oder unwohl f?hlen sollte.
   »Ich glaube, meine Mutter und deine Mutter telephonieren ziemlich viel miteinander. Und am E?tisch verk?ndet sie dann immer die neuesten Nachrichten aus Europa«, erkl?rte Gham’bia. »Das mit den B?chern finde ich echt interessant. Woher bekommst du die denn? Ich w??te gar nicht, wo ich hier B?cher auftreiben sollte. Wenn mich etwas interessiert, frage ich es aus der Datenbank ab; das ist doch viel praktischer.«
   »Bei uns im Wohnbereichszentrum gibt es eine Bibliothek; dorthin gehe ich immer zum Lesen«, erz?hlte Tonak.
   »Und dort gibt es so alte B?cher? Dreihundert Jahre alt?«
   »Ja. Manche sind sogar ?ber vierhundert Jahre alt. Man darf sie nur in einem speziellen Lesesaal lesen, weil sie unerh?rt wertvoll sind.«
   »Ist ja witzig. Ich mu? mich glatt mal erkundigen, ob es sowas bei uns nicht auch gibt.«
   »Bestimmt.«
   »Und was f?r B?cher liest du da? Abenteuerromane, sagt meine Mutter, aber ich kann mir darunter nichts vorstellen.«
   Tonak holte tief Luft. »Das sind spannende Erz?hlungen aus den Zeiten, als die verschiedenen Gegenden der Erde entdeckt und erstmals bereist wurden. Marco Polo… Jack London… Robinson Crusoe… Karl May… ?ber die Konquistadoren, die Wikinger, die Ritter, die Gro?wildj?ger…«
   »Merkw?rdig. Und das gef?llt dir?«
   »Ja, es ist einfach aufregend. Ich versuche immer, mir vorzustellen, was das f?r Zeiten gewesen sein m?ssen, als jemand zu einem anderen Erdteil aufbrechen konnte, ?ber den er so gut wie nichts wu?te. Manche zogen los und fanden sagenhafte Sch?tze, oder unbekannte V?lker, oder sie entdeckten Tiere, die bis dahin unbekannt gewesen waren…«
   »Das mu? ziemlich gef?hrlich gewesen sein, oder?«
   »Ja nat?rlich, das ist ja das Abenteuerliche daran: da? sie sich in Gefahr begaben und sie doch bew?ltigten, mit ihrer eigenen Kraft und Klugheit. Heutzutage ist das ?berhaupt nicht mehr m?glich. Heute sieht es ?berall auf der Welt gleich aus, die ganze Erde ist eine Art Parklandschaft geworden, sauber, gepflegt und ungef?hrlich. Das ganze Leben l?uft in seinen geregelten Bahnen.«
   »Ich glaube, du bist ein ganz sch?ner Tr?umer, Cousin«, meinte Gham’bia. »Das war doch klar: wenn deine Abenteurer st?ndig ausziehen und die Welt erforschen, dann mu? logischerweise der Tag kommen, an dem alles vollst?ndig erforscht ist. Und so ist das eben heute. Vielleicht gibt es heute keine solchen Gefahren mehr, aber daf?r mu? niemand mehr hungern oder Angst um sein Leben haben.«
   Tonak nickte betr?bt. »Ja, sicher. Das wei? ich alles auch. Aber ist das denn das ganze Leben? Da? man zu essen hat und eine Wohnung, eine Arbeit, eine Familie… und weiter nichts?«
   »Das ist doch schon eine ganze Menge«, meinte Gham’bia. »Was willst du denn au?erdem noch?«
   »Ich wei? nicht«, gab Tonak zu. »Ich habe nur irgendwie das Gef?hl, da? das nicht genug ist.«
   Gham’bia sch?ttelte den Kopf in einer Art, die etwas M?tterliches an sich hatte, trotz ihrer Jugend. »Ich glaube, du bist gerade in einer Umbruchsphase. Die Schule geht zu Ende, und du wei?t noch nicht so recht, was kommt. Wenn du dich erst auf deinem Platz eingelebt hast, wirst du anders ?ber das alles denken.«
   Eine Umbruchsphase? Tonak seufzte innerlich. Wenn das eine Phase war, dann dauerte sie schon verflixt lange. Sein ganzes Leben lang.
   Wahrscheinlich stimmte irgendwas mit ihm nicht.
   »Liest du eigentlich nur solche alten Abenteuerromane?« fragte Gham’bia. »Sonst nichts? Das ist vielleicht ein bi?chen einseitige Kost.«
   Tonak dachte nach. Plagte ihn diese Sehnsucht, weil er so viele dieser B?cher las, oder las er so viele dieser B?cher, weil ihn diese Sehnsucht plagte – woher auch immer sie kommen mochte?
   »Ich lese ziemlich viel, das stimmt«, gab er zu. »Und meistens Abenteuerromane. Manchmal auch Zukunftsromane.«
   »Zukunftsromane?« wunderte sich Gham’bia. »Was ist denn das?«
   »Das sind Erz?hlungen, wie sich die Leute fr?her ihre Zukunft vorstellten – also unsere Zeit heute. Fast alle waren davon ?berzeugt, da? wir ?ber eine weitentwickelte Raumfahrt verf?gen w?rden. Ich habe viele Romane gelesen, die beschreiben, wie Menschen der Zukunft mit Raumschiffen in die Tiefen des Weltraums vorsto?en, ferne Planeten erkunden und fremden Lebewesen begegnen.«
   »So ein Unsinn. Was h?tten wir denn davon?«
   »Mu? man denn immer etwas davon haben?« Tonak zeigte hinauf zum Nachthimmel, dessen funkelnde Sterne ihn auszulachen schienen. »Irgendwo dort drau?en ist der Mars, mit seinen endlosen, roten Staubw?sten. Der Saturn, mit seinen grandiosen Ringen. Und unerme?lich viele weitere Wunder, von denen wir nicht einmal wissen. Wozu das alles, wenn niemals jemand dort oben stehen und das alles sehen soll?«
   »Raumfahrt w?rde die Atmosph?re verschmutzen, und irgendwelche Raketen, die durchs All fliegen, kann man nicht mehr recyclen«, erkl?rte Gham’bia. »Meine Mutter hat mir das genau erkl?rt; sie sitzt schlie?lich auch im Forschungskontrollausschu? der Vereinten Nationen. Wir k?nnen uns keine Raumfahrt leisten, nur weil jemand die Ringe des Saturn sehen will.«
   »Aber wozu sind wir denn geschaffen, wenn nicht, um alles anzuschauen, was es gibt?«
   »Wir sind nicht geschaffen, wir sind entstanden. Und zuf?llig sind auch die Ringe des Saturn entstanden. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Und wenn jemand den Saturn anschauen will, soll er ein Teleskop benutzen.«
   Tonak wu?te nicht, was er darauf sagen sollte. Alles, was er gelernt und erfahren hatte, best?tigte ihm, da? Gham’bia recht hatte.
   Sie hatten den Rundgang ?ber den Parkweg gerade vollendet. »Komm«, forderte Gham’bia ihn auf, »setzt dich ein wenig zu uns an den Tisch.«
   An dem Tisch herrschte eine ausgelassene Stimmung. Den L?wenanteil der Unterhaltung bestritt eine hochgewachsene blonde Frau mit dem Erz?hlen von Anekdoten. Das mu?te Tante Vataia sein. Tonak wu?te, da? sie seit einiger Zeit der Regierung von S?dbrasilien angeh?rte und in allerlei wichtigen Gremien mitwirkte.
   »…Die Bolivianer waren harte Burschen, wirklich hart. Da war harter Widerstand. Aber dann hatte jemand aus unserer Delegation die geniale Idee, die Berechnungen f?r die Umweltvertr?glichkeit des Sonnenkraftwerks auf dem Illampu nachzupr?fen, und siehe da – Fehler ?ber Fehler! Das war der entscheidende Durchbruch. Der nahm den Falken buchst?blich die Waffen aus der Hand.«
   »Bolivien!« warf eine untersetzte ?ltere Frau ein. »Ich wei? noch, wie entsetzt ich auf meiner ersten Reise dorthin war. Die klotzen ihre H?user einfach in die Landschaft, und manchmal ihre Fabriken gleich daneben. Schrecklich. Wirklich tiefstes zwanzigstes Jahrhundert, m?chte man meinen.«
   Eine kleine Weckuhr, die Tante Vataia an einer silbernen Kette um den Hals trug, gab einen melodischen Ton von sich. Sie sah auf das Zifferblatt, dann erhob sie sich und klatschte in die H?nde. »Liebe G?ste, darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten? Die Wetterkontrolle hat f?r zehn vor elf Regen angek?ndigt. Wir verlegen die Feier deswegen jetzt nach drinnen. Bitte seid so gut und helft alle, die Sachen hineinzutragen!«
   Ein gro?es und lautstarkes Tischer?cken, St?hleschleifen und Sch?sseltragen brach los. Unter Gekicher und Geschnatter wurden T?ren ge?ffnet, Vorh?nge aufgezogen, Tischdecken zusammengefaltet und Anrichteplatten leergescharrt. Tonak ?berlie? die klirrenden Getr?nkekisten den anderen und half den Frauen, die Kerzen von den Tischen einzusammeln und nach drinnen zu bringen.
   Als er zwei der Kerzen auf eine Vitrine stellte, fiel sein Blick auf einen gerahmten Druck, der dar?ber an der Wand hing. Es war eine kunstvoll gestaltete Landkarte S?dbrasiliens. Sie zeigte die Aufteilung des Landes in Wohnbereiche, Erholungsgebiete, Arbeitsareale und landwirtschaftliche Nutzfl?chen, die Stra?en, Fl?sse und Flugh?fen. Er wollte sich schon wieder abwenden, als sein Blick an einem wei?en Fleck auf dieser Karte h?ngenblieb, auf dem stand: Wildnis.
   Ihm war, als setze sein Herz einen Schlag lang aus. Unm?glich konnte Christopher Kolumbus anders empfunden haben, als damals tats?chlich Land am Horizont auftauchte in einer Richtung, in der alle anderen nur das Ende der Weltenscheibe erwartet hatten.
   Wildnis! Gab es also noch ?berreste des legend?ren Amazonas-Dschungels, ungez?hmt gebliebene Relikte des ungeheuren Urwalds, der diesen Kontinent einmal ?berwuchert haben mu?te?
   Er hob mit bebender Hand eine der beiden Kerzen und sah genauer hin. Kein Zweifel. »Wildnis« stand da, und rings um den wei?gebliebenen Fleck auf der Karte menschlichen Einflusses war eine gestrichelte Linie gezogen: die Grenzbefestigungen markierend, mit denen die Zivilisation sich das Ungez?hmte, Unheimliche vom Leib hielt. Tonak studierte die Namen der Wohngebiete, die Namen der Strassen und Fl?sse. Sein Herz machte einen weiteren Satz – irrte er sich auch nicht? Spielte ihm sein sehnlichster Wunsch auch keinen Streich? Er vergewisserte sich wieder und wieder, aber es schien ihm ganz so, als bef?nden sie sich hier, in diesem Haus, in unmittelbarer N?he dieses wei?en Flecks, in direkter Nachbarschaft zum Urwald.
   Er suchte und fand seine Cousine. »Gham’bia, stimmt das, da? hier ganz in der N?he die Wildnis beginnt?«
   »Der Dschungel?« Sie sah ihn mit gro?en, verst?ndnislosen Augen an. »Ja, der ist auf der anderen Seite des Flusses. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, wir sind hier absolut sicher.«
   »Wie kommt man dort hin?«
   »Wie meinst du das, wie kommt man dort hin?«
   »Wohin mu? ich gehen, wenn ich in den Urwald gehen will?«
   »In den Urwald?«
   »Ja. In den Dschungel. In die Wildnis.«
   V?llige Verst?ndnislosigkeit. »Man kann nicht in den Dschungel gehen. Es gibt keinen Weg dort hin. Und selbst wenn es einen g?be, man braucht eine staatliche Erlaubnis daf?r.«
   »Ist der Dschungel eingez?unt?«
   »Nein, aber es gibt einfach keine Br?cke ?ber den Flu?. Tonak, was soll das? Was stellst du mir f?r komische Fragen?«
   Tonak sah sie an. »Vergi? es. Es hat mich nur interessiert.«
   Sie musterte ihn von oben bis unten aus ihren unergr?ndlichen schwarzen Augen. »Mach bitte keinen Unsinn, Tonak. Du kennst den Dschungel nur aus Erz?hlungen, aus B?chern… Es ist wirklich gef?hrlich dort, wei?t du?«
   »Ja, nat?rlich. Es hat mich nur interessiert.« Er machte, da? er fortkam, ehe er noch mehr preisgab von dem, was in ihm vorging.
   »Es regnet!« rief jemand. Tonak sah beinahe automatisch auf seine Uhr: zehn vor elf. P?nktlich wie immer. Zuerst nur kleine, glitzernde Punkte auf den gro?en Glasscheiben und dunkle Flecken auf der Terasse, dann setzte der Regen ein, weich und gleichm??ig niederpladdernd, wie es am besten war f?r die Pflanzen.
   In dieser Nacht fand Tonak keine Ruhe, und das lag nicht nur an dem engen G?stebett. Der Urwald! Ganz in der N?he! Das letzte St?ck ungez?hmter Natur auf der ganzen Welt, und er war nur einen Fu?marsch davon entfernt. Er konnte nicht schlafen, w?lzte sich wie im Fieber.
   Wann w?rde eine solche Chance einmal wiederkehren in seinem Leben? Das war leicht auszurechnen: nie. Er stand am Ende seiner Ausbildungszeit, Beruf und Familiengr?ndung warteten auf ihn, und dann… nichts weiter. Das war es dann.
   Tonak schlug die Decke zur?ck und setzte sich auf. Es war nackter Wahnsinn, was er vorhatte, das wu?te er. Aber in ihm war ein Verlangen, ein brennendes Sehnen, das st?rker war als er und alle vern?nftigen Argumente. Er zog sich rasch und ger?uschlos an und schl?pfte aus dem Zimmer.
   Das Haus lag dunkel und still. Sp?ter sollte er sich daran erinnern, da? er sich nie vorher und nie mehr danach so sehr lebendig gef?hlt hatte wie in diesem Moment, als er mit verhaltenem Atem und leise wetzenden Schritten durch die dunklen Korridore schlich.
   Er fand eine der Kerzen, die von der Party ?brig geblieben waren, und z?ndete sie an. In der K?che und im Keller fand er einiges von dem, was er suchte. Er verlie? das Haus durch eine der Terassent?ren.
   Die Nacht war k?hler, als er erwartet hatte. Er marschierte entschlossen los, inst?ndig hoffend, da? er sich richtig orientiert hatte. Er stapfte voran, so schnell es ging, und ihm wurde rasch warm.
   Er erreichte den Flu? nach ungef?hr anderthalb Stunden. Die letzte halbe Stunde hatte er querfeldein gehen m?ssen, weil kein Weg und keine Strasse zum Flu?ufer f?hrte. Schlie?lich kam er bei den B?umen an, die den Flu? s?umten, stolperte die B?schung hinab und stand am Ufer.
   Da flo? er, tr?ge glitzernd, ein breiter Flu?lauf, der die Zivilisation vor dem letzten Dschungel sch?tzte wie ein Burggraben. Tonak hockte sich hin und steckte die Hand ins Wasser. Es war eiskalt.
   Darin besteht das Abenteuer, dachte er. Die Herausforderung anzunehmen. Er begann, sich auszuziehen und seine Kleider in den Plastiksack zu stopfen, in dem er seine hastig zusammengesuchte Ausr?stung mit sich trug.
   Schlie?lich war er nackt. Schlotternd knotete er den Beutel zu, wobei er ein kurzes Seil mit einflocht, dessen anderes Ende er sich um den rechten Oberarm schlang. Er zerrte kr?ftig an dieser Befestigung, aber sie hielt. Um keinen Preis durfte er diesen Sack verlieren.
   Und nun ins Wasser. Er tat zitternd und bebend einen Schritt vor in den Schlamm des Flusses, so da? das Wasser seine Kn?chel umsp?lte. Es war bei?end kalt. Noch nie hatte er derartige K?lte am eigenen Leib gesp?rt. H?tte man ihm das befohlen, was er aus eigenem Entschlu? zu tun im Begriff war, er h?tte sich mit aller Kraft geweigert. Aber nun stieg ein nie gekanntes Gef?hl von Freiheit in ihm auf, einer Freiheit, die auf nichts anderem beruhte als auf seinen eigenen Kr?ften und F?higkeiten, eine Freiheit, die ihm niemand geben mu?te, sondern die immer sein eigen gewesen war und die er nun endlich entdeckt hatte.
   Schritt um Schritt watete er weiter in den Flu? hinein, mit zusammengebissenen Z?hnen und am ganzen Leib fr?stelnd. Der Strom zerrte gewaltig an ihm, als ihm das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte, und als es tiefer und tiefer wurde, mu?te er schlie?lich ganz eintauchen, was ihm nicht ohne einen Schrei gelang, und loslassen, sich forttragen lassen von der Str?mung.
   Er schwamm mit kr?ftigen, gleichm??igen Z?gen. Die K?lte raubte ihm fast den Atem, umschlo? ihn mit erbarmungslosem Griff. Aber er sp?rte eine animalische Wildheit in sich erwachen, eine rohe Entschlossenheit, das andere Ufer zu erreichen, und wenn es das Letzte sein sollte, was er im Leben tun w?rde. Diese Kraft setzte sich der K?lte entgegen und lie? ihn weiter kraftvoll ausholen.
   Und dann langte er auf der anderen Seite an, auf einer flachen Sandbank. Keuchend ri? er den Beutel auf und zerrte das Handtuch hervor, um sich damit trockenzureiben, die Glieder seines K?rpers wieder ins Leben zur?ck zu massieren. Er h?tte jauchzen k?nnen. Er hatte es geschafft. Er hatte es tats?chlich geschafft. Triumphierend blickte er zur?ck auf die Seite, die er hinter sich gelassen hatte, sah vereinzelte Lichpunkte in weiter, weiter Ferne. Dann drehte er sich um, und da war nur Dunkelheit, reine, finstere Nacht, in der kein Licht au?er dem des Mondes existierte. Er hatte es geschafft. Er war ihnen entkommen.
   Er war… drau?en!
   Nachdem er sich wieder angezogen hatte, drang er behutsam in den Wald vor. Fremdartige Ger?che umfingen ihn, s??liche D?fte, ekelerregende Ausd?nstungen, Ger?che von Moder und faulendem Holz. ?ste knackten unter seinen F??en und l?sten zischelnde Ger?usche irgendwo im Dunkel aus, die ihm Schauder ?ber den R?cken jagten. Ab und zu blieb er stehen und lauschte, am ganzen K?rper angespannt. Es war still, bis auf fernes Zirpen und Rascheln. Er konnte den Urwald um sich herum sp?ren wie einen einzigen riesigen Organismus, und er f?hlte sich, als marschiere er geradewegs in den Schlund eines kolossalen Ungeheuers.
   Er begriff, da? es nicht ratsam war, bei v?lliger Dunkelheit durch einen Dschungel zu stolpern, von dem er nichts wu?te. Er kehrte um und suchte sich einen gesch?tzten Platz am Waldrand. Sein K?rper gl?hte noch immer von dem kalten Wasser, und er sp?rte alle Lebenskr?fte in sich beben und pulsieren, aber er sp?rte auch bleierne M?digkeit aufsteigen, die M?digkeit eines anstrengenden Transatlantikfluges, eines langen Tages und einer ereignisreichen Nacht. Er legte sich nieder, zwischen Moos und raschelnden Bl?ttern, und schlief auf der Stelle ein.
   Als er erwachte, war es hell. Er brauchte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, was geschehen war. W?re er an diesem Morgen in seinem Bett erwacht, er h?tte das Erlebte bereitwillig als phantastischen Traum akzeptiert. Aber dies war die Wirklichkeit. Mit einem Schlag war er hellwach.
   Die Sonne stand schon recht hoch am Himmel und brannte kraftvoll auf ihn herab. Er sah sich blinzelnd um. Bei Tag wirkte alles weit weniger bedrohlich, fast schon gew?hnlich. Da war der Flu?, den er durchschwommen hatte. Und wenn er sich umdrehte, der Wald mit seiner sinnverwirrenden Vielfalt verschiedener Pflanzen, B?ume, Str?ucher und Bl?ten. Tonak nahm sein B?ndel und stand auf. Der Dschungel wartete auf ihn. Mit dem gro?en, scharfen Messer, das er aus Tante Vataias K?che entwendet hatte, arbeitete er sich durch das Unterholz vorw?rts. Jetzt war der Wald wach. Um ihn herum, unsichtbar im Dickicht, spektakelte und krakeelte es ohrenbet?ubend, war unentwegt von irgendwoher ein Schnattern und Gackern, Zischen und Rascheln, Zwitschern und Gurren zu h?ren. Das grelle Sonnenlicht brach funkelnd durch das Dach der hohen B?ume und zauberte Schatten und Reflexe in unz?hlbaren Farben auf die Bl?tter, Bl?ten und Zweige ringsherum.
   Tonak versp?rte Hunger, und das in nicht geringem Ma?. Er konnte sich kaum erinnern, jemals derart hungrig gewesen zu sein. Sein Blick fiel auf einige Beeren. Sie mochten e?bar sein oder das pure Gift, er wu?te es nicht. Mi?trauisch pfl?ckte er einige der Beeren und roch daran, zerquetschte eine zwischen den Fingern und schnupperte wieder. Sie roch nicht gut, faulig und stechend. Er warf die restlichen Beeren weg und setzte seinen Weg fort.
   Er w?rde nicht umhin kommen, ein Tier zu t?ten, um es zu essen. Vorsichtshalber hatte er die Schu?waffe mitgenommen, die er im Keller in einer Schublade gefunden hatte und von der er vermutete, da? sie Onkel Peret geh?rte. Es w?rde eine Weile dauern, bis er sich eine eigene Waffe, einen Bogen etwa, gebaut hatte und gelernt, damit umzugehen. Vordringlich mu?te er eine Stelle finden, an der er ein st?ndiges Nachtlager errichten konnte und an der ihm frisches Wasser zur Verf?gung stand.
   Diese ?berlegungen machten ihn beinahe trunken vor Ekstase. Nie h?tte er zu hoffen gewagt, einmal tats?chlich Abenteuer zu erleben vergleichbar jenen, von denen er all die Jahre in dem unterirdischen, muffigen Lesesaal unter dem wachsamen Auge des Bibliothekars gelesen hatte. Und nun war es geschehen. Er war hier. Dies war die Erf?llung seines Lebens. Was immer jetzt noch kommen mochte, dies konnte ihm keiner mehr nehmen.
   Und dann war da pl?tzlich das Tier. Eine gro?e Raubkatze, die unvermittelt zwischen den B?umen stand wie hingezaubert und ihn aus gl?henden Augen musterte.
   Tonaks Herz schien mit einem Mal gro? und pochend seinen gesamten Brustkorb auszuf?llen. Blitzartig wurde ihm klar, da? diese Situation gemeint gewesen war, wenn in den alten B?chern vom ’Gesetz der Wildnis’ die Rede gewesen war. Einer w?rde jetzt das Fr?hst?ck des anderen werden – es war nur noch nicht klar, wer.
   Die Katze starrte ihn unverwandt und, wie es schien, unschl?ssig an, w?hrend sie langsam und unh?rbar n?herkam. Offenbar konnte sie ihren Gegen?ber noch weniger einordnen als dies umgekehrt der Fall war. Tonak griff mit einer langsamen, hoffentlich unauff?lligen Bewegung nach dem Revolver in seiner Tasche. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, die Waffe zu entsichern, dann hob er den Lauf und feuerte.
   Das Tier zuckte zusammen und wich fauchend zur?ck. Tonak feuerte erneut, und die Bestie jaulte auf. Es war nicht so leicht, zu t?ten, wie Tonak sich das vorgestellt hatte. Er hielt den Atem an und zielte zwischen die Augen, und gerade als die Katze zum Sprung ansetzen wollte, scho? er ein drittes Mal. Das Tier fiel um wie von einer Axt gef?llt.
   Mit einem nie zuvor erlebten Gef?hl der Befriedigung blickte er auf das tote Tier herab. Sein Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals.
   In den Protokoll der Polizei, das er sp?ter unterschreiben mu?te und aufgrunddessen er angeklagt wurde wegen »unbefugten Eindringens in ein Naturreservat, unerlaubten und artfremden T?tens eines gesch?tzten Tieres und vors?tzlicher Besch?digung staatlichen Eigentums«, erfuhr er, da? sich dieser Kampf im Planquadrat 234/9 zugetragen hatte. Davon wu?te er in diesem Augenblick nichts. Er setzte das Messer an, um seiner Beute den Bauch aufzuschlitzen, sie zu zerlegen in e?bare Teile. Mitten im Schnitt blieb die Klinge an etwas Metallischem h?ngen, und als er nachsah, fand er eine kleine implantierte Plakette mit der Aufschrift:
   »Staatl. Wildnisverwaltung, Inventar-Nr. 32/00072/14200278«.
   © 1994

Die Haarteppichkn?pfer

   (Aus dieser Kurzgeschichte erstand der gleichnamige preisgekr?nte Roman.)
   Knoten um Knoten, tagein, tagaus, ein Leben lang, immer die gleichen Handbewegungen, immer die gleichen Knoten in das feine Haar schlingend, so fein und winzig, da? die Finger zittrig wurden mit der Zeit und die Augen schwach von der Anstrengung des Sehens – und die Fortschritte waren kaum zu merken; wenn er gut vorankam, entstand in einem Tag ein neues St?ck seines Teppichs, das vielleicht so gro? war wie sein Fingernagel. So hockte er an dem knarrenden Kn?pfrahmen, an dem schon sein Vater gesessen war und vor ihm dessen Vater, in der gleichen gebeugten Haltung, die alte, halbblinde Vergr??erungslinse vor den Augen, die Arme auf das abgewetzte Brustbrett gest?tzt und nur mit den Fingerspitzen die Knotennadel f?hrend. So kn?pfte er Knoten um Knoten in der seit Generationen ?berlieferten Weise, bis er in einen Trancezustand geriet, in dem ihm wohl war; sein R?cken h?rte auf zu schmerzen, und er sp?rte das Alter nicht mehr, das ihm in den Knochen sa?. Er lauschte auf die vielf?ltigen Ger?usche des Hauses, das der Gro?vater seines Urgro?vaters erbaut hatte – den Wind, der ewig gleich ?ber das Dach strich und sich in offenen Fenstern fing, das Klappern von Geschirr und die Gespr?che seiner Frauen und T?chter unten in der K?che. Jedes Ger?usch war ihm vertraut. Er h?rte die Stimme der Weisen Frau heraus, die seit einigen Tagen im Haus lebte, weil Garliad, seine Nebenfrau, ihre Niederkunft erwartete. Er h?rte die halbstumme T?rglocke scheppern, dann ging die Haust?r, und Aufregung kam in das Gemurmel der Gespr?che. Das war wahrscheinlich die H?ndlerin, die heute kommen sollte mit Lebensmitteln, Stoffen und anderen Dingen.
   Dann knarzten schwerf?llige Schritte die Treppe zum Kn?pfzimmer empor. Das mu?te eine der Frauen sein, die ihm das Mittagessen brachte. Unten w?rden sie jetzt die H?ndlerin an den Tisch einladen, um den neuesten Klatsch zu erfahren und sich irgendwelchen Tand aufschwatzen zu lassen. Er seufzte, zog den Knoten fest, an dem er gerade war, setzte die Vergr??erungslinse ab und drehte sich um.
   Es war Garliad, die da stand mit ihrem enormen Bauch und einem dampfenden Teller in der Hand und wartete, bis er ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung erlaubte, n?herzutreten.
   "Was f?llt den anderen Frauen ein, dich arbeiten zu lassen in deinem Zustand?" knurrte er. "Willst du meine Tochter auf der Treppe geb?ren?"
   "Ich f?hle mich heute sehr gut, Ostvan", erwiderte Garliad.
   "Wo ist mein Sohn?"
   Sie z?gerte. "Ich wei? es nicht."
   "Dann kann ich es mir schon denken!" schnaubte Ostvan. "In der Stadt! In dieser Schule! B?cher lesen, bis ihm die Augen wehtun, und sich Flausen in den Kopf setzen lassen!"
   "Er hat versucht, die Heizung zu reparieren, und ging dann fort, um irgendein Teil zu besorgen, wie er sagte."
   Ostvan stemmte sich von seinem Schemel hoch und nahm ihr den Teller aus den H?nden. "Ich verfluche den Tag, an dem ich zulie?, da? er in diese Schule in der Stadt geht. Hat Gott es bis dahin nicht gut mit mir gemeint? Hat er mir nicht f?nf T?chter geschenkt und dann erst einen Sohn, so da? ich kein Kind t?ten mu?te? Und haben meine T?chter und Frauen nicht Haare in allen Farben, so da? ich ?berhaupt nicht f?rben mu? und einen Teppich kn?pfen kann, der einst des Kaisers w?rdig sein wird? Warum will es mir nicht gelingen, aus meinem Sohn einen guten Teppichkn?pfer zu machen, damit ich einmal meinen Platz finde neben Gott und ihm helfen darf, am gro?en Teppich des Lebens zu kn?pfen?"
   "Du haderst mit deinem Schicksal, Ostvan."
   "Soll man nicht hadern mit so einem Sohn? Ich wei? schon, warum nicht seine Mutter mir das Essen bringt."
   "Ich soll dich um Geld bitten f?r die H?ndlerin", sagte Garliad.
   "Geld! Immer nur Geld!" Ostvan stellte den Teller auf das Fensterbrett und schlurfte zu einer stahlbeschlagenen Truhe, die geschm?ckt war mit einer Photographie des Teppichs, den sein Vater gekn?pft hatte. Darin lag das Geld, das vom Verkauf des Teppichs noch ?brig war, verpackt in einzelne Schachteln, auf denen Jahreszahlen standen. Er nahm eine M?nze heraus. "Nimm. Aber denk daran, da? das hier noch den Rest unseres Lebens reichen mu?."
   "Ja, Ostvan."
   "Und wenn Abron zur?ckkommt, schickt ihn sofort zu mir."
   "Ja, Ostvan." Sie ging.
   Was war das nur f?r ein Leben, nichts als Sorgen und ?rger! Ostvan zog einen Stuhl ans Fenster und lie? sich darauf nieder, um zu essen. Sein Blick verlor sich in der felsigen, unfruchtbaren Ein?de. Fr?her war er noch ab und zu hinausgezogen, um gewisse Mineralien zu suchen, die f?r die geheimen Rezepturen erforderlich waren. Einige Male war er auch in der Stadt gewesen, um Chemikalien oder Werkzeuge zu kaufen. Aber inzwischen hatte er alles beisammen, was er noch brauchen w?rde f?r seinen Teppich. Er w?rde wohl nicht mehr hinausgehen. Er war auch nicht mehr jung; sein Teppich w?rde bald fertig sein, und dann war es Zeit, ans Sterben zu denken.
   Sp?ter, am Nachmittag, unterbrachen schnelle Schritte auf der Treppe seine Arbeit. Es war Abron.
   "Du wolltest mich sprechen, Vater?"
   "Du warst in der Stadt?"
   "Ich habe Ru?steine gekauft f?r die Heizung."
   "Wir haben noch Ru?steine im Keller, genug f?r Generationen."
   "Das wu?te ich nicht."
   "Du h?ttest mich ja fragen k?nnen. Aber dir ist jeder Vorwand recht, um in die Stadt gehen zu k?nnen."
   Abron kam n?her, unaufgefordert. "Ich wei?, da? es dir nicht gef?llt, da? ich so oft in der Stadt bin und B?cher lese. Aber ich kann nicht anders, Vater, es ist so interessant…diese anderen Welten…es gibt so viel zu lernen – so viele Arten, wie Menschen leben…"
   "Ich will davon nichts h?ren. F?r dich gibt es nur eine Art zu leben. Du hast von mir alles gelernt, was ein Haarteppichkn?pfer wissen mu?, das ist genug. Du kannst alle Knoten kn?pfen, du bist eingeweiht in die Impr?gnierungen und in die F?rbetechniken, und du kennst die ?berlieferten Muster. Wenn du deinen Teppich entworfen hast, wirst du dir eine Frau nehmen, und ihr werdet viele T?chter haben mit verschiedenfarbigen Haaren. Und zur Hochzeit werde ich meinen Teppich vom Kn?pfrahmen schneiden, ums?umen und dir schenken, und du wirst ihn in der Stadt an die kaiserlichen H?ndler verkaufen. So habe ich es mit dem Teppich meines Vaters getan, und so hat er es zuvor mit dem Teppich seines Vaters getan, und dieser davor mit dem Teppich seines Vaters, meines Urgro?vaters; so geht es von Generation zu Generation, seit Tausenden von Jahren. Und so wie ich meine Schuld an dir abbezahle, so wirst du deine Schuld an deinem Sohn abbezahlen, und dieser wiederum an seinem Sohn und so fort. So war es schon immer, und so wird es immer sein."