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zehn Jahre sein mochte, einen Schulranzen trug und ärmlich angezogen war.
Das Kind zitterte am ganzen Körper und blickte entsetzt in die bösen,
aufgeregten Gesichter der Erwachsenen ringsum. Der Abteilungschef kam. "Was
ist los?"
"Ich habe das freche Ding erwischt, wie es einen Aschenґbecher stahl",
erklärte eine alte Jungfer. "Hier!" Sie hob eine kleine bunte Schale hoch
und zeigte sie dem Vorgeґsetzten.
"Marsch zum Direktor!" kommandierte der Cutaway.
"Jugend von heute", sagte eine aufgetakelte Gans.
"Marsch zum Direktor!" rief eine der Verkäuferinnen und packte die
Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr.
Fabian schob sich durch die Versammlung. "Lassen Sie auf der Stelle das
Kind los!"
"Erlauben Sie mal", meinte der Abteilungsleiter.
"Was fällt Ihnen ein, sich einzumischen?" fragte jemand. Fabian gab der
Verkäuferin einen Klaps auf die Finger, daß sie das Kind
losließ, dann zog er das kleine Mädchen an seine Seite. "Warum hast du
denn ausgerechnet einen Aschenbecher weggenommen?" fragte er. "Rauchst du
schon Zigarren?"
"Ich hatte kein Geld", sagte das Mädchen. Dann hob es sich auf die
Zehenspitzen. "Mein Papa hat heute Geґburtstag."
"Einfach stehlen, weil man kein Geld hat. Es wird immer schöner",
bemerkte die aufgetakelte Gans. "Schreiben Sie uns einen Kassenzettel aus",
sagte Fabian zu der Verkäuferin. "Wir behalten den Aschenbecher."
"Das Kind verdient aber Strafe", behauptete der Abteiґlungsleiter.
Fabian trat auf den Mann zu. "Wenn Sie sich meinem Vorschlag widersetzen
wollen, schmeiße ich Ihnen den ganzen Porzellanladen kaputt."
Der Cutaway zuckte mit den Schultern, die Verkäuferin schrieb einen
Zettel aus und brachte den Aschenbecher zur Auslieferung. Fabian ging zur
Kasse, zahlte und nahm das Päckchen in Empfang. Dann begleitete er das Kind
bis zum Ausgang. "Hier hast du deinen Aschenbecher", sagte er. "Aber
paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein kleiner
Junge, der kaufte einen großen Kochґtopf, um ihn seiner Mutter am
Heiligen Abend zu schenґken. Als es soweit war, nahm er den Topf in die Hand
und segelte durch die halb offene Tür. Der Christbaum schimґmerte
großartig. "Da, Mutter, da hast du..." sagte er und wollte sagen: "Da
hast du den Topf." Es gab aber einen Krach, der Topf zerbrach an der Tür.
"Da, Mutter, da hast du den Henkel", sagte der Junge nun, denn er hatte nur
noch den Henkel in der Hand."
Das kleine Mädchen sah zu ihm auf, hielt das Paket mit beiden Händen
fest und meinte: "Mein Aschenbecher hat ja gar keinen Henkel." Sie knickste
und lief fort. Dann drehte sie sich noch einmal um, rief: "Danke schön!" und
verschwand.
Fabian trat auf die Straße. Es regnete nicht mehr. Er stellte
sich an die Bordschwelle und sah den Autos zu. Ein Wagen hielt. Eine alte
Dame, mit Paketen behangen, schob sich schwerfällig vom Sitz und wollte
aussteigen. Fabian öffnete den Wagenschlag, half der Dame vom Trittbrett,
zog höflich den Hut und trat zur Seite. "Da!" sagte jemand neben ihm. Es war
die alte Dame. Sie drückte ihm etwas in die Hand, nickte und ging ins
Kaufhaus. Fabian machte die Hand auf. Er hielt einen Groschen. Er hatte
unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er bereits wie ein Bettler aus?
Er steckte die Münze ein, trat trotzig an den Straßenrand und
öffnete einen zweiten Wagen. "Da!" sagte jemand und gab ihm wieder einen
Groschen. "Das wächst sich zu einem Beruf aus", dachte Fabian und hatte eine
Viertelґstunde später fünfundsechzig Pfennig verdient. "Wenn jetzt Labude
vorbeikäme und den literarhistorisch vorgeґbildeten Autoöffner sähe",
überlegte er. Aber der Gedanґke erschreckte ihn nicht. Nur der Mutter hätte
er nicht begegnen mögen und auch Cornelia nicht. "Eine milde Gabe gefällig?"
fragte eine Frau und gab ihm ein größeres Geldstück. Es war Frau Irene
Moll. "Ich habe dich lange Zeit beobachtet, mein Junge", sagte sie und
lächelte schadenfroh. "Wir begegnen einander, wo wir können. Geht's dir so
dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines Mannes ablehntest, und
auch die Schlüssel hättest du behalten können. Ich wartete darauf, dich in
meinem Bett wiederzusehen. Deine Zurückhalґtung macht sinnlich. Hier, hilf
mir die Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon."
Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam.
"Was kann ich für dich tun?" fragte sie nachdenklich. "Stellung
eingebüßt, was? Ich bin nicht nachtragend. Auf Moll ist leider nicht
mehr zu zählen. Er ist zu Schiff nach Frankreich oder sonstwohin. Und jetzt
wohnt die Krimiґnalpolizei bei uns. Moll hat die seinem Notariat übergebenen
Gelder unterschlagen. Seit Jahren schon, nie hätte ich ihm das zugetraut.
Wir haben ihn unterschätzt." "Wovon leben Sie denn nun?" fragte Fabian.
"Ich habe eine Pension eröffnet. Große Wohnungen sind jetzt
billig. Die Möbel hat mir ein alter Bekannter geґschenkt, das heißt,
die Bekanntschaft ist jung, der Beґkannte ist alt. Ihm gehören nur ein paar
Gucklöcher in den Türen."
"Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?" "Junge Männer, mein
Herr. Wohnung und Verpflegung gratis. Außerdem erhalten sie
dreißig Prozent der Einґnahmen."
"Welche Einnahmen?"
"Mein Verein unchristlicher Männer wird von Damen der besten
Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft frequentiert. Die Damen sind nicht
immer schön und schlank, und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein
Mensch. Aber sie haben Geld. Und wieviel ich auch verlange, sie zahlen. Und
wenn sie vorher ihre Herren Ehemänner bestehlen oder ermorden sollten, sie
kommen. Meine Pensionäre verdienen. Der Möbelhändler sieht zu. Die Damen
gehen ihren Passionen nach. Drei junge Leute sind mir schon abgekauft
worden. Sie haben beträchtliche Einkünfte, eigene Wohnung und kleine
Freundinnen nebenher, heimlich, versteht sich. Der eine, ein Ungar, wurde
von der Frau eines Industriellen erworben. Er lebt wie ein Prinz. Wenn er
klug ist, hat er in einem Jahr ein Vermöґgen. Dann kann er die alte
Schießbudenfigur abschaffen."
"Also ein Männerbordell", sagte Fabian.
"So ein Institut hat heute viel mehr Existenzberechtiґgung als ein
Frauenhaus", erklärte Irene Moll. "Außerґdem träumte ich schon als
junges Mädchen davon, Beґsitzerin eines solchen Etablissements zu werden.
Ich bin sehr zufrieden. Ich habe Geld, ich engagiere fast täglich neue
Kräfte für das Unternehmen, und jeder, der sich um eine Pensionärstelle
bewirbt, muß bei mir eine Art Aufnahmeprüfung bestehen. Ich nehme
nicht jeden! Wirkliche Talente sind selten. Naturbegabungen gibt es schon
eher. Ich werde Fortbildungskurse einrichten müssen."
Sie blieb stehen. "Ich bin angelangt." Die Pension lag in einem
großen eleganten Mietshaus. "Ich möchte dir einen Vorschlag machen.
Als Pensionär kommst du nicht in Frage, mein Lieber. Du bist zu wählerisch,
du bist auch schon zu alt für die Branche, meine Kundschaft bevorzugt
Zwanzigjährige. Außerdem leidest du an falschem Stolz. Ich könnte dich
als Sekretär verwenden. Allmählich wird eine geordnete Buchführung
notwendig. Du könntest in meinen Privaträumen arbeiten, wohnen könntest du
auch dort. Wie denkst du darüber?"
"Hier sind die Pakete", sagte Fabian. "Ich möchte meiґnem Brechreiz
nicht zuviel zumuten."
In diesem Augenblick kamen zwei junge Burschen aus dem Haus. Sie waren
schick angezogen, zögerten, als sie Frau Moll erblickten, und nahmen die
Hüte ab.
"Gaston, hast du heute Ausgang?" fragte sie. "Mackie meinte, ich soll
mir mal das Auto ansehen, das ihm Nummer Sieben versprochen hat. In zwanzig
Minuґten bin ich wieder da."
"Gaston, du gehst sofort auf dein Zimmer. Was ist das denn für eine
Wirtschaft? Mackie geht allein. Marsch! Für drei Uhr hat sich Nummer Zwölf
angemeldet. Bis dahin schläfst du, los!"
Der junge Mann ging ins Haus zurück, der andere setzte, nochmals
grüßend, seinen Weg fort.
Frau Moll wandte sich Fabian zu. "Du willst wieder nicht?" Sie nahm ihm
die Pakete ab. "Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit. Die Adresse weißt
du nun. Überlege dir's. Verhungern ist Geschmackssache. Außerdem
tätest du mir einen persönlichen Gefallen. Wirklich. Je mehr du dich
sträubst, um so mehr reizt mich der Gedanke. Es eilt nicht, Zeitvertreib
habe ich mittlerweile genug." Sie ging ins Haus.
"Das grenzt an Zwangsläufigkeit", murmelte Fabian und kehrte um.
Er aß in einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu las er
die Zeitungen, die im Lokal aushingen, und notierte sich Stellenangebote.
Dann kaufte er in einem muffigen Papierladen Schreibmaterial und
verfaßte vier Bewerґbungsschreiben. Als er sie in den Kasten gesteckt
hatte, fand er, es sei Zeit. Und er pilgerte, recht müde, zu der
Zigarettenfabrik.
"Sieht man Sie auch mal wieder?" fragte der Portier.
"Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen", antwortete Fabian.
Der Portier kniff ein Auge zu. "Verlassen Sie sich ganz auf mich."
Es war Fabian peinlich, daß der Mann die Komödie zu durchschauen
schien. Er ging rasch ins Verwaltungsgeґbäude, setzte sich in eine
Fensternische und sah alle fünf Minuten auf die Uhr. Sooft er Schritte
hörte, drückte er sich dicht an den Fensterrahmen. In zehn Minuten war
Büroschluß. Die Angestellten hatten es eilig. Sie bemerkґten ihn
nicht.
Er wollte sein Versteck gerade verlassen, als er wieder Schritte und
Stimmen vernahm, die sich näherten.
"Ich werde morgen in der Direktionssitzung von dem Preisausschreiben
berichten, das Sie da vorbereitet haben, lieber Fischer", sagte die eine
Stimme. "Der Vorschlag ist beachtlich, man wird Sie würdigen lernen."
"Herr Direktor sind sehr gütig", erwiderte die andere Stimme.
"Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Fabian geerbt."
"Erbmasse ist ein Besitz wie jeder andere, Herr Fischer!" Der Ton des
Direktors war unfreundlich. "Ist Ihnen mein Vorschlag unangenehm? Wäre Ihnen
eine Gehaltszulage so zuwider? Nun also! Außerdem bedarf das Projekt
einiger Verbesserungen. Ich werde gleich, unter Zugrunґdelegung Ihres
Materials, ein Expose in die Maschine diktieren. Glauben Sie mir, es wird
Effekt machen, unser Preisausschreiben. Sie können jetzt nach Hause gehen.
Sie haben es gut."
"Meister muß sich immer plagen. Von Schiller", bemerkte Fischer.
Fabian trat aus der Nische. Fischer sprang erґschrocken einen Schritt
zurück. Direktor Breitkopf finґgerte im Kragen. "Ich bin weniger überrascht
als Sie", sagte Fabian und ging zur Treppe.
"Da kommt er ja schon", meinte der Portier, der sich mit Fabians Mutter
unterhielt. Sie hatte den Koffer abgestellt, die Reisetasche, die Handtasche
und den Schirm auf den Koffer gelegt und nickte dem Sohn zu. "Hübsch
fleißig gewesen?" fragte sie. Der Portier lächelte gutmütig und
spazierte in seinen Verschlag.
Fabian gab der Mutter die Hand. "Wir haben noch eine halbe Stunde
Zeit", sagte er und nahm das Gepäck auf. Als sie einen Eckplatz im Zug
belegt hatten (im mittelsten Wagen, denn Frau Fabian hielt es für
angebracht, die üblen Folgen eines etwaigen Eisenbahnunglücks von vornherein
zu reduzieren), bummelten sie vor dem Kupee auf und ab.
"Nicht so weit weg." Sie hielt den Sohn am Ärmel. "Wie leicht wird ein
Koffer gestohlen. Kaum dreht man sich um, fort ist er." Schließlich
wurde Fabian mißtrauischer als die Mutter und spähte unentwegt durchs
Fenster zum Gepäcknetz.
"Nun kann's wieder abgehen", sagte sie. "Der Henkel vom Mantel ist
angenäht. Im Zimmer sieht's wieder menschlich aus. Frau Hohlfeld ist
beleidigt. Darauf kann man aber keine Rücksicht nehmen."
Fabian lief zu einem der fahrbaren Büfetts und brachte eine
Schinkensemmel, eine Packung Keks und zwei Apfelsinen.
"Junge, bist du leichtsinnig", sagte sie. Er lachte, kletterte ins
Abteil, schob ihr heimlich einen Zwanzigmarkschein in die Handtasche und
kletterte wieder auf den Bahnsteig.
"Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause kommen?" fragte sie. "Ich
koche alle deine Lieblingsgerichte, jeden Tag ein anderes, und wir gehen zu
Tante Martha in den Garten. Im Geschäft ist ja so wenig los."
"Ich komme, sobald ich kann", versicherte er.
Als sie aus dem Kupeefenster blickte, meinte sie: "Bleib recht gesund,
Jakob. Und wenn's hier nicht vorwärts gehen will, pack dein Bündel und komm
heim."
Er nickte. Sie sahen einander an und lächelten, wie man auf Bahnsteigen
zu lachen pflegt, ähnlich wie beim Fotoґgrafen, nur daß weit und breit
kein Fotograf zu sehen ist. "Laß dir's gutgehen", flüsterte er. "Es
war schön, daß du da warst."
Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn.
Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. "Wenig mit Liebe, Deine
Mutter", war daraufgeґschrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu
lesen. "Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem
Pergamentpapier mehrere Tage."
Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im
Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigґmarkschein finden, den er
ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen war das Ergebnis
gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber
gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft
anders als die arithmetische.
Am selben Abend bat ihn Cornelia um hundert Mark. Im Korridor des
Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins
Gebäude der Konґkurrenz gekommen. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der
Typ, den er schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht
sich. Sie solle ihn morgen im Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der
Regisseur wäґren auch da. Vielleicht probiere man's mal mit ihr.
"Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen Hut
besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein Geld mehr. Aber ich
kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denke dir, wenn ich jetzt
Filmschauspielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?"
"Doch", sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmarkґschein.
"Hoffentlich bringt dir das Glück." "Mir?" fragte sie.
"Uns", korrigierte er ihr zu Gefallen.
VIERZEHNTES KAPITEL
Der Weg ohne Tür
Fräulein Selows Zunge
Die Treppe mit den Taschendieben
In dieser Nacht träumte Fabian. Wahrscheinlich träumte er häufiger, als
er glaubte. Aber in dieser Nacht weckte ihn Cornelia, und so entsann er sich
des Traumes. Wer hätte ihn, vor Tagen noch, aus seinen Träumen wecken
sollen? Wer hätte ihn mitten in der Nacht ängstlich rütteln sollen, bevor er
neben Cornelia schlief? Er hatte mit vielen Frauen und Mädchen geschlafen,
das war richtig, aber neben ihnen?
Er lief im Traum durch eine endlose Straße. Die Häuser waren
unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder
Fenster noch Türen. Und der Himґmel war weit entfernt und fremdartig wie
über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er
sah, die Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie zu Ende
gehen.
"Es hat keinen Zweck", sagte da eine Stimme. Er blickte sich um. Der
alte Erfinder stand hinter ihm, in der verschossenen Pelerine, mit dem
schlechtgerollten Schirm und dem ergrauten steifen Hut.
"Guten Tag, lieber Professor", rief Fabian. "Ich dachte, Sie wären im
Irrenhaus."
"Hier ist es ja", sagte der Alte und schlug mit der Schirmkrücke gegen
eines der Gebäude. Es hallte bleґchern, dann ging ein Tor auf, wo keines
war.
"Meine neueste Erfindung", sagte der Alte. "Gestatten Sie, lieber
Neffe, daß ich vorausgehe, ich bin hier zu Hause." Fabian folgte. In
der Portierloge hockte Direktor Breitkopf, hielt sich den Bauch und stöhnte:
"Ich kriege ein Kind. Die Sekretärin hat sich wieder mal nicht vorgeґsehen."
Dann schlug er sich dreimal auf die Glatze, und das klang laut wie ein Gong.
Der Professor steckte dem Direktor den schlechtgerollten Schirm tief in
den Schlund und spannte den Schirm auf. Breitkopfs Gesicht zerplatzte wie
ein Ballon.
"Verbindlichen Dank", sagte Fabian.
"Nicht der Rede wert", erwiderte der Erfinder. "Haben Sie meine
Maschine schon gesehen?" Er nahm Fabian an der Hand und führte ihn durch
einen Gang, in dem bläuliches Neonlicht brannte, ins Freie.
Eine Maschine, groß wie der Kölner Dom, türmte sich vor ihnen
auf. Halbnackte Arbeiter standen davor, mit Schauґfeln bewaffnet, und
schippten Hunderttausende von kleiґnen Kindern in einen riesigen Kessel, in
dem ein rotes Feuer brannte.
"Kommen Sie an das andere Ende", sagte der Erfinder. Sie fuhren auf
laufenden Bändern durch den grauen Hof.
"Hier", sagte der alte Mann und zeigte in die Luft.
Fabian blickte empor. Gewaltige, glühende Bessemerbirґnen senkten sich
nieder, kippten automatisch um und schüttelten ihren Inhalt auf einen
horizontalen Spiegel. Der Inhalt war lebendig. Männer und Frauen fielen auf
das glitzernde Glas, stellten sich gerade und starrten wie gebannt auf ihr
handgreifliches und doch unerreichbares Abbild. Manche winkten in die Tiefe
hinunter, als kennґten sie sich. Einer zog eine Pistole aus der Tasche und
schoß. Er traf, obwohl er, gestrichen Korn, seinem Bild ins Herz
gezielt hatte, seine wirkliche große Zehe und verzog das Gesicht. Ein
anderer drehte sich im Kreise. Offensichtlich wollte er seinem Abbild die
Kehrseite zuwenden, der Versuch mißlang.
"Hunderttausend am Tag", erläuterte der Erfinder. "Daґbei habe ich die
Arbeitszeit verkürzt und die Fünftagewoґche eingeführt."
"Lauter Verrückte?" fragte Fabian.
"Das ist eine Frage der Terminologie", antwortete der Professor. "Einen
Moment, die Kupplung versagt." Er trat an die Maschine heran und stocherte
mit seinem Schirm in einer Öffnung. Plötzlich verschwand der Schirm, dann
verschwand die Pelerine, sie zog den alten Mann hinter sich her. Er war
fort. Seine Maschine hatte ihn verschluckt.
Fabian fuhr auf dem laufenden Band zurück, quer durch den grauen Hof.
"Es ist ein Unglück passiert!" schrie er einem der halbnackten Arbeiter zu.
Da purzelte ein Kind aus dem Kessel. Es trug eine Hornbrille und hielt einen
schlechtgerollten Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die
Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück. Fabian fuhr von
neuem den Hof entlang und wartete unter den schwankenden Besseґmerbirnen,
daß sein alter Freund, erneut verwandelt, wiederkäme.
Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selbst, ein zweiter Fabian,
aber mit Pelerine, Schirm und Hut, aus einem der gewaltigen Kippkästen,
stellte sich zu den anderen Figuren und starrte, gleich ihnen, auf die
Spiegelґbilder. An seinen Sohlen, mit dem Kopf nach unten, hing sein Abbild,
ein dritter Fabian, im Spiegel und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins
Gesicht. Dieser zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Maschine und
sagte: "Mechanische Seelenwanderung, Patent Kollrepp." Dann schritt er auf
den wirklichen Fabian zu, der im Hof stand, ging mitten in ihn hinein und
war nicht mehr da.
"Wie angegossen", gestand Fabian, nahm dem Maschiґnenmenschen, der ihn
unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog die Pelerine zurecht und war wieder
das einzige Exemplar seiner selbst.
Er blickte zu dem glänzenden Spiegel hinüber. Die Menґschen versanken
plötzlich darin wie in einem durchsichtiґgen Sumpf. Sie rissen die Münder
auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber es war nichts zu hören. Sie sanken
völlig unter die Spiegelfläche. Ihre Abbilder flohen, wie Fische, mit dem
Kopf voran, wurden immer kleiner und verschwanden ganz. Nun standen die
wirklichen Menґschen unten, und es war, als seien sie in Bernstein gefangen.
Fabian trat ganz nahe. Das war kein Spiegelbild mehr, was er sah. Über den
untergegangenen Wesen lag bloß eine Glasplatte, und die Leute lebten
weiter. Fabian kniete nieder und blickte hinab.
Fette, nackte Frauen, mit Sorgenfalten quer überm Leib, saßen an
Tischen und tranken Tee. Sie trugen durchbroґchene Strümpfe und im Genick
geflochtene Hütchen. Armbänder und Ohrgehänge blitzten. Eines der alten
Weiber hatte sich einen goldenen Ring durch die Nase gezogen. An anderen
Tischen saßen dicke Männer, halbґnackt, behaart wie Gorillas, mit
Zylindern, manche in lila Unterhosen, alle mit großen Zigarren
zwischen den dicken Lippen. Die Männer und Frauen schauten gierig auf einen
Vorhang. Er wurde zur Seite gezogen, und junge geschminkte Burschen in
enganliegenden Trikots stolzierґten wie gezierte Mannequins über einen
erhöhten Laufґsteg. Den Jünglingen folgten, auch in Trikots, junge Mädchen,
sie lächelten affektiert und brachten alles, was an ihnen rund war,
angestrengt zur Geltung. Fabian erkannte einige, die Kulp, die Bildhauerin,
die Selow, auch Paula aus Haupts Festsälen war dabei.
Die alten Frauen und Männer preßten die Operngläser an die Augen,
sprangen auf, stolperten über Stühle und Tische, drängten dem Laufsteg zu,
schlugen einander, um vorwärts zu kommen, und wieherten wie geile Pferde.
Die dicken mit Schmuck beladenen Weiber rissen junge Burґschen vorn Steg,
warfen sie heulend auf die Erde, knieten flehend nieder, spreizten die
fetten Beine, zerrten sich Brillanten von den Armen und Fingern und aus den
Ohrlappen und hielten sie bettelnd den verhurt lächelnden Gestalten
entgegen. Die alten Männer griffen mit ihren Affenarmen nach den Mädchen,
auch nach Jünglingen, und umarmten, blaurot vor Aufregung, wen sie
faßten. Unterhosen, Krampfadern, Sockenhalter, zerrissene farґbige
Trikots, fette und faltige Gliedmaßen, verzerrte Visagen, grinsende
Pomadenmünder, braune schlanke Arme, im Krampf zuckende Füße füllten
den Boden aus. Es war, als läge ein lebendiger Perserteppich auf der Erde.
"Deine Cornelia ist auch dabei", sagte Frau Irene Moll. Sie saß neben
ihm, und sie naschte aus einer großen Bonbontüte kleine junge Männer.
Sie riß ihnen zuerst die Kleider ab. Das sah aus, als ob sie in Papier
gewickelte Napolitains schälte. Fabian suchte Cornelia. Sie stand, während
sich alle anderen wild verknäuelt am Boden wälzten, allein auf dem Laufsteg
und wehrte sich gegen einen dicken brutalen Mann, der ihr mit der einen Hand
den Mund aufsperrte und mit der anderen seine brennende Zigarre, mit der
Glut voran, in den Mund stoßen wollte. "Sträuben nützt bei dem
nichts", meinte die Moll und kramte in ihrer Tüte. "Das ist Makart, ein
Filmfabrikant, Geld wie Heu. Seine Frau hat sich vergiftet." Cornelia wankte
und stürzte neben Makart in den Tumult.
"Spring ihr doch nach", sagte die Moll. "Aber du hast Angst, das Glas
zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du hältst die Welt für eine
Schaufensterauslaґge." Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber jetzt sah
Fabian den Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke Bein war eine
Prothese. Er stand auf einem Himmelbett und fuhr wie ein Wellenreiter über
das Gezappel der Menschen. Er schwang seinen Krückstock und schlug der Kulp,
die sich an dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände, bis das
Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
Wilhelmy befestigte eine Schnur am Stock, band einen Geldschein ans
Ende der Schnur und warf diese Angel aus. Die Menschen unter ihm sprangen
wie Fische in die Luft, schnappten nach der Banknote, fielen ermattet zurück
und schnellten wieder hoch. Da! Eine Frau hielt den Schein im Mund. Es war
die Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken hatte ihre Zunge durchbohrt.
Wilhelmy zog die Schnur ein, die Selow näherte sich, verzerrten Geґsichts,
dem Bett. Aber hinter ihr tauchte die Bildhauerin auf, umschlang die
Freundin mit beiden Armen und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt weit
aus dem Mund. Wilhelmy und die Bildhauerin suchten das Mädchen an sich zu
ziehen, jeder auf seine Seite. Die Zunge wurde immer länger, lang wie ein
rotes Gummiband, und sie war zum Reißen gespannt. Wilhelmy rang nach
Luft und lachte.
"Wunderbar", rief Irene Moll. "Das grenzt an Tauziehen. Wir leben im
Zeitalter des Sports." Sie zerknüllte die leere Tüte und sagte: "Jetzt
freß ich dich." Sie riß ihm die Pelerine herunter. Ihre Finger
griffen wie Scheren ineinґander und zerschnitten Fabians Anzug. Er schlug
ihr mit der Schirmkrücke auf den Kopf. Sie taumelte und ließ ihn los.
"Ich liebe dich doch", flüsterte sie und weinte. Ihre Tränen drangen wie
kleine Seifenblasen aus ihren Augenґwinkeln, wurden immer größer und
stiegen schillernd in die Luft.
Fabian erhob sich und ging weiter.
Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzählige Treppenstufen
führten von dem einen Ende des Saales hinauf zum anderen Ende. Auf jeder
Stufe standen Leute. Sie blickten interessiert nach oben und griffen
einander in die Taschen. Jeder bestahl jeden. Jeder wühlte heimlich in den
Taschen des Vordermannes, und während er das tat, wurde er vom Hintermann
beraubt. Es war ganz ruhig im Saal. Trotzdem war alles in Bewegung. Man
stahl emsig, und man ließ sich bestehlen. Auf der untersten Stufe
stand ein kleines zehnjähriges Mädchen und zog dem Vorderґmann einen bunten
Aschenbecher aus dem Mantel. Plötzґlich war Labude auf der obersten Stufe.
Er hob die Hände, blickte die Treppe hinunter und rief: "Freunde!
Mitbürґger! Die Anständigkeit muß siegen!"
"Aber natürlich!" brüllten die anderen im Chor und kramten einander in
den Taschen.
"Wer für mich ist, hebe die Hand!" schrie Labude. Die anderen hoben die
Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderen stahl er weiter. Nur das kleine
Mädchen auf der untersten Stufe hob beide Hände.
"Ich danke euch", sagte Labude, und seine Stimme klang gerührt. "Das
Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergeßt diese Stunde nicht!"
"Du bist ein Narr!" rief Cornelia, stand neben Labude und zog einen
großen hübschen Mann hinter sich her.
"Meine besten Freunde sind meine größten Feinde", sagte Labude
traurig. "Mir ist es gleich. Die Vernunft wird siegen, auch wenn ich
untergehe."
Da fielen Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fenґster und Dächer.
Und überall standen finstere Gestalten mit Revolvern und Maschinengewehren.
Die Menschen auf der Treppe warfen sich lang hin, aber sie stahlen
weiter. Die Schüsse knatterten. Die Menschen starben, die Hände in fremden
Taschen. Die Treppe lag voller Leichen.
"Um die ist es nicht schade", sagte Fabian zu dem Freund. "Nun komm!"
Aber Labude blieb in dem Kuґgelregen stehen. "Um mich auch nicht mehr",
flüsterte er, drehte sich nach den Fenstern und Dächern um und drohte ihnen.
Aus den Dachluken und aus den Giebeln fielen Schüsse in die Tiefe. Aus den
Fenstern hingen Verwundete. Auf einer Giebelkante rangen zwei athletiґsche
Männer. Sie würgten und bissen einander, bis der eine taumelte und beide
abstürzten. Man hörte den Aufґschlag der hohlen Schädel. Flugzeuge
schwirrten unter der Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die
Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus den Fenstern.
"Warum machen das die Leute?" Das kleine Mädchen aus dem Kaufhaus
faßte Fabians Hand.
"Sie wollen neue Häuser bauen", erwiderte er. Dann nahm er das Kind auf
den Arm und stieg, über die Toten kletternd, die Stufen hinunter. Auf halbem
Weg begegneґte er einem kleinen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen
Block und rechnete mit den Lippen. "Was machen Sie da?" fragte Fabian.
"Ich verkaufe die Restbestände", war die Antwort. "Pro Leiche
dreißig Pfennig, für wenig getragene Charaktere fünf Pfennig extra.
Sind Sie verhandlungsberechtigt?"
"Gehen Sie zum Teufel", schrie Fabian.
"Später", sagte der kleine Mann und rechnete weiter. Am Fuß der
Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin.
"Nun geh nach Hause", meinte er. Das Kind lief davon. Es hüpfte auf
einem Bein und sang.
Er stieg wieder die Stufen empor. "Ich verdiene keinen Pfennig",
murmelte der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam. Fabian beeilte sich.
Oben brachen die Häuser zusammen. Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen.
Glühende Balken neigten sich und sanken um, als tauchґten sie in Watte. Noch
immer ertönten vereinzelt Schüsse. Menschen mit Gasmasken krochen durch die
Trümmer. Sooft sich zwei begegneten, hoben sie Gewehre, zielten und
schössen. Fabian sah sich um. Wo war Labude?
"Labude!" schrie er. "Labude!"
"Fabian!" rief eine Stimme. "Fabian!"
"Fabian!" rief Cornelia und rüttelte ihn. Er erwachte. "Warum rufst du
Labude?" Sie strich ihm über die Stirn.
"Ich habe geträumt", sagte er. "Labude ist in Frankfurt."
"Soll ich Licht machen?" fragte sie.
"Nein, schlaf rasch wieder ein, Cornelia, du mußt morgen hübsch
aussehen. Gute Nacht."
"Gute Nacht", sagte sie.
Und dann lagen beide noch lange wach. Jeder wußte es vom anderen,
aber sie schwiegen.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Ein junger Mann, wie er sein soll
Vom Sinn der Bahnhöfe
Cornelia schreibt einen Brief
Am nächsten Morgen saß er, als Cornelia ins Büro ging, am offenen
Fenster. Sie hatte eine Mappe unterm Arm und schritt eifrig aus. Sie hatte
Arbeit. Sie verdiente Geld. Er saß am Fenster und ließ sich von
der Sonne kitzeln. Sie schien warm, als sei die Welt in bester Ordnung,
nichts brachte sie aus der Fassung.
Cornelia war schon weit. Er durfte sie nicht zurückrufen. Wenn er es
getan und wenn er, aus dem Fenster gebeugt, gesagt hätte: "Komm wieder
herauf, ich will nicht, daß du arbeitest, ich will nicht, daß du
zu Makart gehst!", hätte sie geantwortet: "Was fällt dir ein? Gib mir Geld
oder halte mich nicht auf."
Er konnte sich nicht anders helfen, er streckte der Sonne die Zunge
heraus.
"Was machen Sie denn da?" fragte Frau Hohlfeld. Sie war unbemerkt
eingetreten.
Fabian sagte abweisend: "Ich fange Fliegen. Sie sind heuer groß
und knusprig."
"Gehen Sie nicht ins Geschäft?"
"Ich bin in den Ruhestand getreten. Vom nächsten Ersten ab erscheine
ich im Defizit des Finanzministeriums, als unvorhergesehene Mehrausgabe." Er
schloß das Fenster und setzte sich aufs Sofa.
"Stellungslos?" fragte sie.
Er nickte und holte Geld aus der Tasche. "Hier sind die achtzig Mark
für den nächsten Monat."
Sie nahm rasch das Geld und meinte: "Das war nicht so eilig, Herr
Fabian."
"Doch." Er legte die letzten Scheine und Münzen überґsichtlich auf den
Tisch und zählte, was ihm blieb. "Wenn ich mein Kapital auf die Bank bringe,
krieg ich drei Mark Zinsen im Jahr", sagte er. "Das lohnt sich kaum."
Die Wirtin wurde gesprächig. "In der Zeitung schlug gestern ein
Ingenieur vor, man solle den Spiegel des Mittelmeeres um zweihundert Meter
senken, dann käґmen große Ländereien ans Licht, wie vor der Eiszeit,
und man könne sie besiedeln und Millionen von Menschen darauf ernähren.
Außerdem sei, mit Hilfe kurzer Dämґme, eine durchgehende
Eisenbahnverbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!"
Frau Hohlfeld war noch jetzt von dem Vorschlag des Ingenieurs
eingenommen und sprach voller Feuer.
Fabian pochte auf die Armlehne des Sofas, daß der Staub tanzte.
"Na also!" rief er. "Auf, ans Mittelmeer! Laßt uns seinen Spiegel
senken! Kommen Sie mit, Frau Hohlґfeld?"
"Gern. Ich war seit meiner Hochzeitsreise nicht mehr dort. Eine
herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Paris liegt übrigens nicht
am Mittelmeer." Sie gab dem Gespräch eine Wendung: "Da war das Fräulein
Doktor wohl sehr traurig?"
"Schade, daß sie schon fort ist, sonst hätten wir sie fragen
können."
"Ein bezauberndes Mädchen, und so vornehm, ich finde, sie ähnelt der
Königin von Rumänien, als sie noch jung war."
"Erraten." Fabian erhob sich und brachte die Wirtin zur Tür. "Es soll
eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht weitersagen."
Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und
wartete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein
Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu ihm gesagt
hatte: "Wenn Sie mich mal brauchen, melden Sie sich." Fabian blätterte
gedankenlos in einer der Zeitschriften, die den Tisch des Warteraums
zierten, und entsann sich des Gesprächs. Zacharias hatte damals der
Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachsґtum der christlichen Kirche
nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert
zugestimmt; er hatte auch Wells' Forderung verfochten, daß es an der
Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife
und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst
von Idealen zu stellen. Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des
Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These; die Eigґnung des
Propagandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers zum
Propagandisten stünden außerґdem in Frage; Vernunft könne man nur
einer beschränkґten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon
vernünftig. Zacharias und er hatten sich förmlich gestritґten, bis sie
fanden, der Meinungsstreit trage allzu akadeґmischen Charakter, denn beide
möglichen Resultate - der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen
Aufklärung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe keiner Geld.
Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge. Papphülsen fielen
klappernd aus Metallröhren. Das Telefon des Aufsichtsbeamten klingelte
fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer
ins andere. Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger
Mitarbeiter, die Treppe hinunter.
"Herr Zacharias läßt bitten."
Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias gab Fabian temperamentvoll
die Hand. Es war die hervorstechendste Eigenschaft dieses jungen Mannes,
alles, was er tat, außerordentlich lebhaft zu besorgen. Er kam aus der
Begeisterung nicht heraus. Ob er sich nun die Zähne putzte oder ob er
debattierte, ob er Geld ausgab oder ob er seinen Vorgesetzten Vorschläge
machte, stets riß er sich ein Bein aus. Wer in seine Nähe kam, wurde
von dieser Humorlosigkeit infiziert. Plötzlich wurde ein Gespräch über das
Binden von Krawatten zum aufregendsten Theґma der Gegenwart. Und die
Vorgesetzten merkten, wenn sie mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie
ungeheuґer wichtig ihr Beruf, ihr Verlag und ihr Posten eigentlich waren.
Die Karriere des Mannes war nicht aufzuhalten. Daß er selbst
Wesentliches leistete, war unwahrscheinґlich. Er diente dem Betrieb als
Katalysator, den Menschen seiner Umgebung als Stimulans. Er wurde
unentbehrlich und hatte jetzt schon, mit achtundzwanzig Jahren, ein
Monatsgehalt von zweitausendfünfhundert Mark. Fabian erzählte, was es zu
erzählen gab.
"Frei ist nichts", sagte Zacharias, "und ich wäre Ihnen so gern
gefällig. Außerdem bin ich überzeugt, daß wir beide glänzend
miteinander auskämen. Was machen wir bloß?" Er preßte die Hände
an die Schläfen wie ein Wahrsager dicht vor der Erleuchtung. "Was halten Sie
von Folgenґdem: Wenn ich Sie bei mir anstelle, als privaten Mitarbeiґter,
den ich aus eigener Tasche bezahle? Ich könnte eine Kraft wie Sie gut
gebrauchen. Man erwartet hier im Hause pro Tag ein Dutzend Anregungen von
mir. Bin ich ein Automat? Was kann ich dafür, daß den anderen noch
weniger einfällt? Wenn das so weitergeht, läuft sich mein Gehirn einen Wolf.
Ich habe seit kurzem ein kleines nettes Auto, Steyr, Sechszylinder,
Spezialkarosserie. Wir könnґten jeden Tag ein paar Stunden ins Grüne fahren
und Eier legen. Ich chauffiere gern, es beruhigt die Nerven. Dreiґhundert
Mark würde ich für Sie lockermachen. Und sobald hier ein Posten frei wird,
hätten sie ihn. Na?" Ehe Fabian antworten konnte, fuhr der andere fort:
"Nein, es geht nicht. Man würde sagen, Zacharias hält sich einen
weißen Neger. Ich bin vor keinem dieser Kerle sicher. Sie stehen alle
mit der Axt hinter der Tür, um mir eins über den Kürbis zu hauen. Was machen
wir bloß? Fällt Ihnen nichts ein?"
Fabian sagte: "Ich könnte mich auf den Potsdamer Platz stellen, mit
einem großen Schild vorm Bauch, auf dem etwa stünde: "Dieser junge
Mann macht augenblicklich nichts, aber probieren Sie's, und Sie werden
sehen, er macht alles." Ich könnte den Text auch auf einen großen
Luftballon malen."
"Wenn Sie den Vorschlag ernst meinten, wäre er gut!" rief Zacharias.
"Aber er ist nichts wert, weil Sie nicht daran glauben. Sie nehmen nur die
wirklich ernsten Dinge ernst, und vielleicht nicht einmal die. Es ist ein
Jammer. Mit Ihrer Begabung wäre ich heute leitender Direktor." Zaґcharias
wandte bei Leuten, die ihm überlegen waren, einen höchst raffinierten Trick
an: er gab diese Überlegenґheit zu, er bestand geradezu auf ihr.
"Was nützt es mir, daß ich begabter bin?" fragte Fabian betrübt.
Diese rhetorische Anfrage hatte Zacharias nicht erwartet. Wenn er selber
offen war, genügte das. Statt dessen kam einer des Wegs, bat um Rat und
wurde obendrein vorlaut.
"Es ist schade, daß Sie mir die Bemerkung übelnehmen", sagte
Fabian. "Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin auf meine Talente nicht
eingebildet, sie reichen glatt zum Verhungern. Und so schlecht, daß
ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir erst in vierzehn Tagen."
Zacharias stand auf und begleitete den Besucher betont bis zur Treppe.
"Rufen Sie mich morgen mal an, gegen zwölf Uhr, nein, da habe ich eine
Konferenz, sagen wir nach zwei. Vielleicht fällt mir inzwischen was ein.
Servus."
Fabian hätte gern Labude angerufen, doch der war in Frankfurt. Er hätte
ihm beileibe nichts von seinen Sorgen erzählt. Sorgen hatte Labude selber.
Die bekannte Stimme wollte er hören, weiter nichts. Zwischen Freunden
konnґten Gespräche übers Wetter Wunder wirken. Die Mutter war wieder fort.
Der ulkige alte Erfinder war, samt Pelerine, auf dem Weg ins Irrenhaus.
Cornelia kaufte sich einen neuen Hut, um ein paar Filmleuten zu gefallen.
Fabian war allein. Warum konnte man nicht, bis auf Widerruf, vor sich selber
davonlaufen? Obwohl er ziellos durch die City wanderte, stand er wenig
später vor dem Haus, in dem Cornelia angestellt war. Er setzte, ärgerlich
über sich, den Weg fort und ertappte sich dabei, daß er in jedes
Hutgeschäft schielte. Saß sie jetzt noch im Büro? Probierte sie
bereits Hüte und Jumper?
Am Anhalter Bahnhof kaufte er eine Zeitung. Der Mann, der im Kiosk
saß, sah gemütlich aus. "Könnten Sie jemanden brauchen, der Ihnen
hilft?" fragte Fabian.
"Nächstens lerne ich Strümpfe stricken", sagte der Mann, "vor einem
Jahr hatte ich doppelten Umsatz, und auch der war nicht üppig. Die Leute
lesen die Zeitungen neuerdings nur noch beim Friseur oder im Café. Bäcker
hätte man werden sollen. Das Brot kriegen die Leute beim Friseur noch nicht
umsonst."
"Neulich hat jemand vorgeschlagen, das Brot von Staats wegen ins Haus
zu liefern, genau wie das Leitungswasґser", erzählte Fabian. "Passen Sie
auf, eines Tages schützt nicht mal das Brotbacken vorm Verhungern."
"Wollen Sie eine Stulle haben?" fragte der Mann im Kiosk.
"Eine Woche reicht's schon noch", sagte Fabian, bedankte sich und ging
zum Bahnhof hinüber. Er studierte den Fahrplan. Sollte er, vom letzten Geld,
ein Billett kaufen und zur Mutter kutschieren? Aber vielleicht wußte
Zacharias morgen einen Ausweg? Als er aus dem Bahnhof trat und wieder diese
Straßenfluchten und Häuserblocks vor sich sah, dieses hoffnungslose,
unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindlig. Er lehnte sich neben ein paar
Gepäckträgern an die Wand und schloß die Augen. Doch nun quälte ihn
der Lärm. Ihm war, als führen die Straßenґbahnen und Autobusse mitten
durch seinen Magen. Er kehrte wieder um, stieg die Treppe zum Wartesaal
hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte Bank. Eine halbe Stunde später
war ihm wohler. Er ging zur Straßenbahnґhaltestelle, fuhr nach Hause,
warf sich aufs Sofa und schlief sofort ein.
Abends erwachte er. Die Vorsaaltür schlug laut zu. Kam Cornelia? Nein,
jemand lief rasch die Treppe hinunter. Er ging ins andere Zimmer hinüber und
erschrak.
Der Schrank stand offen. Er war leer. Die Koffer fehlten. Fabian machte
Licht, obwohl es erst dämmerte. Auf dem Tisch, von der Vase beschwert, in
der Blumen aufs Wegwerfen warteten, lag ein Brief. Er nickte, nahm den Brief
und ging in sein Zimmer zurück.
"Lieber Fabian", schrieb Cornelia, "ist es nicht besser, ich gehe zu
früh als zu spät? Eben stand ich neben Dir am Sofa. Du schliefst, und Du
schläfst auch jetzt, während ich Dir schreibe. Ich bliebe gern, aber stell
Dir vor, ich bliebe! Ein paar Wochen noch, und Du wärst recht unglücklich.
Dich bedrückt nicht das Gewicht der Not, sondern der Gedanke, daß Not
so wichtig werden kann. Solange Du allein warst, konnte Dir nichts
geschehen, was auch geschah. Es wird wieder werden, wie es war. Bist Du sehr
traurig?
Sie wollen mich im nächsten Film herausstellen. Morgen unterschreibe
ich den Kontrakt. Makart hat mir zwei Zimmer gemietet. Es ist nicht zu
umgehen. Er sprach darüber, als handle es sich um einen Zentner Briketts.
Fünfzig Jahre ist er alt, und er sieht aus wie ein zu gut angezogener
Ringkämpfer im Ruhestand. Mir ist, als hätte ich mich an die Anatomie
verkauft. Wenn ich noch einmal in Dein Zimmer käme und Dich weckte? Ich
lasse Dich schlafen. Ich werde nicht zugrunde gehen. Ich werde mir
einbilden, der Arzt untersucht mich. Er mag sich mit mir beschäftigen, es
muß sein. Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig
macht. Und wir wollen doch heraus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich
Das Kind zitterte am ganzen Körper und blickte entsetzt in die bösen,
aufgeregten Gesichter der Erwachsenen ringsum. Der Abteilungschef kam. "Was
ist los?"
"Ich habe das freche Ding erwischt, wie es einen Aschenґbecher stahl",
erklärte eine alte Jungfer. "Hier!" Sie hob eine kleine bunte Schale hoch
und zeigte sie dem Vorgeґsetzten.
"Marsch zum Direktor!" kommandierte der Cutaway.
"Jugend von heute", sagte eine aufgetakelte Gans.
"Marsch zum Direktor!" rief eine der Verkäuferinnen und packte die
Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr.
Fabian schob sich durch die Versammlung. "Lassen Sie auf der Stelle das
Kind los!"
"Erlauben Sie mal", meinte der Abteilungsleiter.
"Was fällt Ihnen ein, sich einzumischen?" fragte jemand. Fabian gab der
Verkäuferin einen Klaps auf die Finger, daß sie das Kind
losließ, dann zog er das kleine Mädchen an seine Seite. "Warum hast du
denn ausgerechnet einen Aschenbecher weggenommen?" fragte er. "Rauchst du
schon Zigarren?"
"Ich hatte kein Geld", sagte das Mädchen. Dann hob es sich auf die
Zehenspitzen. "Mein Papa hat heute Geґburtstag."
"Einfach stehlen, weil man kein Geld hat. Es wird immer schöner",
bemerkte die aufgetakelte Gans. "Schreiben Sie uns einen Kassenzettel aus",
sagte Fabian zu der Verkäuferin. "Wir behalten den Aschenbecher."
"Das Kind verdient aber Strafe", behauptete der Abteiґlungsleiter.
Fabian trat auf den Mann zu. "Wenn Sie sich meinem Vorschlag widersetzen
wollen, schmeiße ich Ihnen den ganzen Porzellanladen kaputt."
Der Cutaway zuckte mit den Schultern, die Verkäuferin schrieb einen
Zettel aus und brachte den Aschenbecher zur Auslieferung. Fabian ging zur
Kasse, zahlte und nahm das Päckchen in Empfang. Dann begleitete er das Kind
bis zum Ausgang. "Hier hast du deinen Aschenbecher", sagte er. "Aber
paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein kleiner
Junge, der kaufte einen großen Kochґtopf, um ihn seiner Mutter am
Heiligen Abend zu schenґken. Als es soweit war, nahm er den Topf in die Hand
und segelte durch die halb offene Tür. Der Christbaum schimґmerte
großartig. "Da, Mutter, da hast du..." sagte er und wollte sagen: "Da
hast du den Topf." Es gab aber einen Krach, der Topf zerbrach an der Tür.
"Da, Mutter, da hast du den Henkel", sagte der Junge nun, denn er hatte nur
noch den Henkel in der Hand."
Das kleine Mädchen sah zu ihm auf, hielt das Paket mit beiden Händen
fest und meinte: "Mein Aschenbecher hat ja gar keinen Henkel." Sie knickste
und lief fort. Dann drehte sie sich noch einmal um, rief: "Danke schön!" und
verschwand.
Fabian trat auf die Straße. Es regnete nicht mehr. Er stellte
sich an die Bordschwelle und sah den Autos zu. Ein Wagen hielt. Eine alte
Dame, mit Paketen behangen, schob sich schwerfällig vom Sitz und wollte
aussteigen. Fabian öffnete den Wagenschlag, half der Dame vom Trittbrett,
zog höflich den Hut und trat zur Seite. "Da!" sagte jemand neben ihm. Es war
die alte Dame. Sie drückte ihm etwas in die Hand, nickte und ging ins
Kaufhaus. Fabian machte die Hand auf. Er hielt einen Groschen. Er hatte
unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er bereits wie ein Bettler aus?
Er steckte die Münze ein, trat trotzig an den Straßenrand und
öffnete einen zweiten Wagen. "Da!" sagte jemand und gab ihm wieder einen
Groschen. "Das wächst sich zu einem Beruf aus", dachte Fabian und hatte eine
Viertelґstunde später fünfundsechzig Pfennig verdient. "Wenn jetzt Labude
vorbeikäme und den literarhistorisch vorgeґbildeten Autoöffner sähe",
überlegte er. Aber der Gedanґke erschreckte ihn nicht. Nur der Mutter hätte
er nicht begegnen mögen und auch Cornelia nicht. "Eine milde Gabe gefällig?"
fragte eine Frau und gab ihm ein größeres Geldstück. Es war Frau Irene
Moll. "Ich habe dich lange Zeit beobachtet, mein Junge", sagte sie und
lächelte schadenfroh. "Wir begegnen einander, wo wir können. Geht's dir so
dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines Mannes ablehntest, und
auch die Schlüssel hättest du behalten können. Ich wartete darauf, dich in
meinem Bett wiederzusehen. Deine Zurückhalґtung macht sinnlich. Hier, hilf
mir die Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon."
Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam.
"Was kann ich für dich tun?" fragte sie nachdenklich. "Stellung
eingebüßt, was? Ich bin nicht nachtragend. Auf Moll ist leider nicht
mehr zu zählen. Er ist zu Schiff nach Frankreich oder sonstwohin. Und jetzt
wohnt die Krimiґnalpolizei bei uns. Moll hat die seinem Notariat übergebenen
Gelder unterschlagen. Seit Jahren schon, nie hätte ich ihm das zugetraut.
Wir haben ihn unterschätzt." "Wovon leben Sie denn nun?" fragte Fabian.
"Ich habe eine Pension eröffnet. Große Wohnungen sind jetzt
billig. Die Möbel hat mir ein alter Bekannter geґschenkt, das heißt,
die Bekanntschaft ist jung, der Beґkannte ist alt. Ihm gehören nur ein paar
Gucklöcher in den Türen."
"Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?" "Junge Männer, mein
Herr. Wohnung und Verpflegung gratis. Außerdem erhalten sie
dreißig Prozent der Einґnahmen."
"Welche Einnahmen?"
"Mein Verein unchristlicher Männer wird von Damen der besten
Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft frequentiert. Die Damen sind nicht
immer schön und schlank, und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein
Mensch. Aber sie haben Geld. Und wieviel ich auch verlange, sie zahlen. Und
wenn sie vorher ihre Herren Ehemänner bestehlen oder ermorden sollten, sie
kommen. Meine Pensionäre verdienen. Der Möbelhändler sieht zu. Die Damen
gehen ihren Passionen nach. Drei junge Leute sind mir schon abgekauft
worden. Sie haben beträchtliche Einkünfte, eigene Wohnung und kleine
Freundinnen nebenher, heimlich, versteht sich. Der eine, ein Ungar, wurde
von der Frau eines Industriellen erworben. Er lebt wie ein Prinz. Wenn er
klug ist, hat er in einem Jahr ein Vermöґgen. Dann kann er die alte
Schießbudenfigur abschaffen."
"Also ein Männerbordell", sagte Fabian.
"So ein Institut hat heute viel mehr Existenzberechtiґgung als ein
Frauenhaus", erklärte Irene Moll. "Außerґdem träumte ich schon als
junges Mädchen davon, Beґsitzerin eines solchen Etablissements zu werden.
Ich bin sehr zufrieden. Ich habe Geld, ich engagiere fast täglich neue
Kräfte für das Unternehmen, und jeder, der sich um eine Pensionärstelle
bewirbt, muß bei mir eine Art Aufnahmeprüfung bestehen. Ich nehme
nicht jeden! Wirkliche Talente sind selten. Naturbegabungen gibt es schon
eher. Ich werde Fortbildungskurse einrichten müssen."
Sie blieb stehen. "Ich bin angelangt." Die Pension lag in einem
großen eleganten Mietshaus. "Ich möchte dir einen Vorschlag machen.
Als Pensionär kommst du nicht in Frage, mein Lieber. Du bist zu wählerisch,
du bist auch schon zu alt für die Branche, meine Kundschaft bevorzugt
Zwanzigjährige. Außerdem leidest du an falschem Stolz. Ich könnte dich
als Sekretär verwenden. Allmählich wird eine geordnete Buchführung
notwendig. Du könntest in meinen Privaträumen arbeiten, wohnen könntest du
auch dort. Wie denkst du darüber?"
"Hier sind die Pakete", sagte Fabian. "Ich möchte meiґnem Brechreiz
nicht zuviel zumuten."
In diesem Augenblick kamen zwei junge Burschen aus dem Haus. Sie waren
schick angezogen, zögerten, als sie Frau Moll erblickten, und nahmen die
Hüte ab.
"Gaston, hast du heute Ausgang?" fragte sie. "Mackie meinte, ich soll
mir mal das Auto ansehen, das ihm Nummer Sieben versprochen hat. In zwanzig
Minuґten bin ich wieder da."
"Gaston, du gehst sofort auf dein Zimmer. Was ist das denn für eine
Wirtschaft? Mackie geht allein. Marsch! Für drei Uhr hat sich Nummer Zwölf
angemeldet. Bis dahin schläfst du, los!"
Der junge Mann ging ins Haus zurück, der andere setzte, nochmals
grüßend, seinen Weg fort.
Frau Moll wandte sich Fabian zu. "Du willst wieder nicht?" Sie nahm ihm
die Pakete ab. "Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit. Die Adresse weißt
du nun. Überlege dir's. Verhungern ist Geschmackssache. Außerdem
tätest du mir einen persönlichen Gefallen. Wirklich. Je mehr du dich
sträubst, um so mehr reizt mich der Gedanke. Es eilt nicht, Zeitvertreib
habe ich mittlerweile genug." Sie ging ins Haus.
"Das grenzt an Zwangsläufigkeit", murmelte Fabian und kehrte um.
Er aß in einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu las er
die Zeitungen, die im Lokal aushingen, und notierte sich Stellenangebote.
Dann kaufte er in einem muffigen Papierladen Schreibmaterial und
verfaßte vier Bewerґbungsschreiben. Als er sie in den Kasten gesteckt
hatte, fand er, es sei Zeit. Und er pilgerte, recht müde, zu der
Zigarettenfabrik.
"Sieht man Sie auch mal wieder?" fragte der Portier.
"Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen", antwortete Fabian.
Der Portier kniff ein Auge zu. "Verlassen Sie sich ganz auf mich."
Es war Fabian peinlich, daß der Mann die Komödie zu durchschauen
schien. Er ging rasch ins Verwaltungsgeґbäude, setzte sich in eine
Fensternische und sah alle fünf Minuten auf die Uhr. Sooft er Schritte
hörte, drückte er sich dicht an den Fensterrahmen. In zehn Minuten war
Büroschluß. Die Angestellten hatten es eilig. Sie bemerkґten ihn
nicht.
Er wollte sein Versteck gerade verlassen, als er wieder Schritte und
Stimmen vernahm, die sich näherten.
"Ich werde morgen in der Direktionssitzung von dem Preisausschreiben
berichten, das Sie da vorbereitet haben, lieber Fischer", sagte die eine
Stimme. "Der Vorschlag ist beachtlich, man wird Sie würdigen lernen."
"Herr Direktor sind sehr gütig", erwiderte die andere Stimme.
"Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Fabian geerbt."
"Erbmasse ist ein Besitz wie jeder andere, Herr Fischer!" Der Ton des
Direktors war unfreundlich. "Ist Ihnen mein Vorschlag unangenehm? Wäre Ihnen
eine Gehaltszulage so zuwider? Nun also! Außerdem bedarf das Projekt
einiger Verbesserungen. Ich werde gleich, unter Zugrunґdelegung Ihres
Materials, ein Expose in die Maschine diktieren. Glauben Sie mir, es wird
Effekt machen, unser Preisausschreiben. Sie können jetzt nach Hause gehen.
Sie haben es gut."
"Meister muß sich immer plagen. Von Schiller", bemerkte Fischer.
Fabian trat aus der Nische. Fischer sprang erґschrocken einen Schritt
zurück. Direktor Breitkopf finґgerte im Kragen. "Ich bin weniger überrascht
als Sie", sagte Fabian und ging zur Treppe.
"Da kommt er ja schon", meinte der Portier, der sich mit Fabians Mutter
unterhielt. Sie hatte den Koffer abgestellt, die Reisetasche, die Handtasche
und den Schirm auf den Koffer gelegt und nickte dem Sohn zu. "Hübsch
fleißig gewesen?" fragte sie. Der Portier lächelte gutmütig und
spazierte in seinen Verschlag.
Fabian gab der Mutter die Hand. "Wir haben noch eine halbe Stunde
Zeit", sagte er und nahm das Gepäck auf. Als sie einen Eckplatz im Zug
belegt hatten (im mittelsten Wagen, denn Frau Fabian hielt es für
angebracht, die üblen Folgen eines etwaigen Eisenbahnunglücks von vornherein
zu reduzieren), bummelten sie vor dem Kupee auf und ab.
"Nicht so weit weg." Sie hielt den Sohn am Ärmel. "Wie leicht wird ein
Koffer gestohlen. Kaum dreht man sich um, fort ist er." Schließlich
wurde Fabian mißtrauischer als die Mutter und spähte unentwegt durchs
Fenster zum Gepäcknetz.
"Nun kann's wieder abgehen", sagte sie. "Der Henkel vom Mantel ist
angenäht. Im Zimmer sieht's wieder menschlich aus. Frau Hohlfeld ist
beleidigt. Darauf kann man aber keine Rücksicht nehmen."
Fabian lief zu einem der fahrbaren Büfetts und brachte eine
Schinkensemmel, eine Packung Keks und zwei Apfelsinen.
"Junge, bist du leichtsinnig", sagte sie. Er lachte, kletterte ins
Abteil, schob ihr heimlich einen Zwanzigmarkschein in die Handtasche und
kletterte wieder auf den Bahnsteig.
"Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause kommen?" fragte sie. "Ich
koche alle deine Lieblingsgerichte, jeden Tag ein anderes, und wir gehen zu
Tante Martha in den Garten. Im Geschäft ist ja so wenig los."
"Ich komme, sobald ich kann", versicherte er.
Als sie aus dem Kupeefenster blickte, meinte sie: "Bleib recht gesund,
Jakob. Und wenn's hier nicht vorwärts gehen will, pack dein Bündel und komm
heim."
Er nickte. Sie sahen einander an und lächelten, wie man auf Bahnsteigen
zu lachen pflegt, ähnlich wie beim Fotoґgrafen, nur daß weit und breit
kein Fotograf zu sehen ist. "Laß dir's gutgehen", flüsterte er. "Es
war schön, daß du da warst."
Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn.
Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. "Wenig mit Liebe, Deine
Mutter", war daraufgeґschrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu
lesen. "Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem
Pergamentpapier mehrere Tage."
Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im
Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigґmarkschein finden, den er
ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen war das Ergebnis
gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber
gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft
anders als die arithmetische.
Am selben Abend bat ihn Cornelia um hundert Mark. Im Korridor des
Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins
Gebäude der Konґkurrenz gekommen. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der
Typ, den er schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht
sich. Sie solle ihn morgen im Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der
Regisseur wäґren auch da. Vielleicht probiere man's mal mit ihr.
"Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen Hut
besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein Geld mehr. Aber ich
kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denke dir, wenn ich jetzt
Filmschauspielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?"
"Doch", sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmarkґschein.
"Hoffentlich bringt dir das Glück." "Mir?" fragte sie.
"Uns", korrigierte er ihr zu Gefallen.
VIERZEHNTES KAPITEL
Der Weg ohne Tür
Fräulein Selows Zunge
Die Treppe mit den Taschendieben
In dieser Nacht träumte Fabian. Wahrscheinlich träumte er häufiger, als
er glaubte. Aber in dieser Nacht weckte ihn Cornelia, und so entsann er sich
des Traumes. Wer hätte ihn, vor Tagen noch, aus seinen Träumen wecken
sollen? Wer hätte ihn mitten in der Nacht ängstlich rütteln sollen, bevor er
neben Cornelia schlief? Er hatte mit vielen Frauen und Mädchen geschlafen,
das war richtig, aber neben ihnen?
Er lief im Traum durch eine endlose Straße. Die Häuser waren
unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder
Fenster noch Türen. Und der Himґmel war weit entfernt und fremdartig wie
über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er
sah, die Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie zu Ende
gehen.
"Es hat keinen Zweck", sagte da eine Stimme. Er blickte sich um. Der
alte Erfinder stand hinter ihm, in der verschossenen Pelerine, mit dem
schlechtgerollten Schirm und dem ergrauten steifen Hut.
"Guten Tag, lieber Professor", rief Fabian. "Ich dachte, Sie wären im
Irrenhaus."
"Hier ist es ja", sagte der Alte und schlug mit der Schirmkrücke gegen
eines der Gebäude. Es hallte bleґchern, dann ging ein Tor auf, wo keines
war.
"Meine neueste Erfindung", sagte der Alte. "Gestatten Sie, lieber
Neffe, daß ich vorausgehe, ich bin hier zu Hause." Fabian folgte. In
der Portierloge hockte Direktor Breitkopf, hielt sich den Bauch und stöhnte:
"Ich kriege ein Kind. Die Sekretärin hat sich wieder mal nicht vorgeґsehen."
Dann schlug er sich dreimal auf die Glatze, und das klang laut wie ein Gong.
Der Professor steckte dem Direktor den schlechtgerollten Schirm tief in
den Schlund und spannte den Schirm auf. Breitkopfs Gesicht zerplatzte wie
ein Ballon.
"Verbindlichen Dank", sagte Fabian.
"Nicht der Rede wert", erwiderte der Erfinder. "Haben Sie meine
Maschine schon gesehen?" Er nahm Fabian an der Hand und führte ihn durch
einen Gang, in dem bläuliches Neonlicht brannte, ins Freie.
Eine Maschine, groß wie der Kölner Dom, türmte sich vor ihnen
auf. Halbnackte Arbeiter standen davor, mit Schauґfeln bewaffnet, und
schippten Hunderttausende von kleiґnen Kindern in einen riesigen Kessel, in
dem ein rotes Feuer brannte.
"Kommen Sie an das andere Ende", sagte der Erfinder. Sie fuhren auf
laufenden Bändern durch den grauen Hof.
"Hier", sagte der alte Mann und zeigte in die Luft.
Fabian blickte empor. Gewaltige, glühende Bessemerbirґnen senkten sich
nieder, kippten automatisch um und schüttelten ihren Inhalt auf einen
horizontalen Spiegel. Der Inhalt war lebendig. Männer und Frauen fielen auf
das glitzernde Glas, stellten sich gerade und starrten wie gebannt auf ihr
handgreifliches und doch unerreichbares Abbild. Manche winkten in die Tiefe
hinunter, als kennґten sie sich. Einer zog eine Pistole aus der Tasche und
schoß. Er traf, obwohl er, gestrichen Korn, seinem Bild ins Herz
gezielt hatte, seine wirkliche große Zehe und verzog das Gesicht. Ein
anderer drehte sich im Kreise. Offensichtlich wollte er seinem Abbild die
Kehrseite zuwenden, der Versuch mißlang.
"Hunderttausend am Tag", erläuterte der Erfinder. "Daґbei habe ich die
Arbeitszeit verkürzt und die Fünftagewoґche eingeführt."
"Lauter Verrückte?" fragte Fabian.
"Das ist eine Frage der Terminologie", antwortete der Professor. "Einen
Moment, die Kupplung versagt." Er trat an die Maschine heran und stocherte
mit seinem Schirm in einer Öffnung. Plötzlich verschwand der Schirm, dann
verschwand die Pelerine, sie zog den alten Mann hinter sich her. Er war
fort. Seine Maschine hatte ihn verschluckt.
Fabian fuhr auf dem laufenden Band zurück, quer durch den grauen Hof.
"Es ist ein Unglück passiert!" schrie er einem der halbnackten Arbeiter zu.
Da purzelte ein Kind aus dem Kessel. Es trug eine Hornbrille und hielt einen
schlechtgerollten Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die
Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück. Fabian fuhr von
neuem den Hof entlang und wartete unter den schwankenden Besseґmerbirnen,
daß sein alter Freund, erneut verwandelt, wiederkäme.
Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selbst, ein zweiter Fabian,
aber mit Pelerine, Schirm und Hut, aus einem der gewaltigen Kippkästen,
stellte sich zu den anderen Figuren und starrte, gleich ihnen, auf die
Spiegelґbilder. An seinen Sohlen, mit dem Kopf nach unten, hing sein Abbild,
ein dritter Fabian, im Spiegel und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins
Gesicht. Dieser zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Maschine und
sagte: "Mechanische Seelenwanderung, Patent Kollrepp." Dann schritt er auf
den wirklichen Fabian zu, der im Hof stand, ging mitten in ihn hinein und
war nicht mehr da.
"Wie angegossen", gestand Fabian, nahm dem Maschiґnenmenschen, der ihn
unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog die Pelerine zurecht und war wieder
das einzige Exemplar seiner selbst.
Er blickte zu dem glänzenden Spiegel hinüber. Die Menґschen versanken
plötzlich darin wie in einem durchsichtiґgen Sumpf. Sie rissen die Münder
auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber es war nichts zu hören. Sie sanken
völlig unter die Spiegelfläche. Ihre Abbilder flohen, wie Fische, mit dem
Kopf voran, wurden immer kleiner und verschwanden ganz. Nun standen die
wirklichen Menґschen unten, und es war, als seien sie in Bernstein gefangen.
Fabian trat ganz nahe. Das war kein Spiegelbild mehr, was er sah. Über den
untergegangenen Wesen lag bloß eine Glasplatte, und die Leute lebten
weiter. Fabian kniete nieder und blickte hinab.
Fette, nackte Frauen, mit Sorgenfalten quer überm Leib, saßen an
Tischen und tranken Tee. Sie trugen durchbroґchene Strümpfe und im Genick
geflochtene Hütchen. Armbänder und Ohrgehänge blitzten. Eines der alten
Weiber hatte sich einen goldenen Ring durch die Nase gezogen. An anderen
Tischen saßen dicke Männer, halbґnackt, behaart wie Gorillas, mit
Zylindern, manche in lila Unterhosen, alle mit großen Zigarren
zwischen den dicken Lippen. Die Männer und Frauen schauten gierig auf einen
Vorhang. Er wurde zur Seite gezogen, und junge geschminkte Burschen in
enganliegenden Trikots stolzierґten wie gezierte Mannequins über einen
erhöhten Laufґsteg. Den Jünglingen folgten, auch in Trikots, junge Mädchen,
sie lächelten affektiert und brachten alles, was an ihnen rund war,
angestrengt zur Geltung. Fabian erkannte einige, die Kulp, die Bildhauerin,
die Selow, auch Paula aus Haupts Festsälen war dabei.
Die alten Frauen und Männer preßten die Operngläser an die Augen,
sprangen auf, stolperten über Stühle und Tische, drängten dem Laufsteg zu,
schlugen einander, um vorwärts zu kommen, und wieherten wie geile Pferde.
Die dicken mit Schmuck beladenen Weiber rissen junge Burґschen vorn Steg,
warfen sie heulend auf die Erde, knieten flehend nieder, spreizten die
fetten Beine, zerrten sich Brillanten von den Armen und Fingern und aus den
Ohrlappen und hielten sie bettelnd den verhurt lächelnden Gestalten
entgegen. Die alten Männer griffen mit ihren Affenarmen nach den Mädchen,
auch nach Jünglingen, und umarmten, blaurot vor Aufregung, wen sie
faßten. Unterhosen, Krampfadern, Sockenhalter, zerrissene farґbige
Trikots, fette und faltige Gliedmaßen, verzerrte Visagen, grinsende
Pomadenmünder, braune schlanke Arme, im Krampf zuckende Füße füllten
den Boden aus. Es war, als läge ein lebendiger Perserteppich auf der Erde.
"Deine Cornelia ist auch dabei", sagte Frau Irene Moll. Sie saß neben
ihm, und sie naschte aus einer großen Bonbontüte kleine junge Männer.
Sie riß ihnen zuerst die Kleider ab. Das sah aus, als ob sie in Papier
gewickelte Napolitains schälte. Fabian suchte Cornelia. Sie stand, während
sich alle anderen wild verknäuelt am Boden wälzten, allein auf dem Laufsteg
und wehrte sich gegen einen dicken brutalen Mann, der ihr mit der einen Hand
den Mund aufsperrte und mit der anderen seine brennende Zigarre, mit der
Glut voran, in den Mund stoßen wollte. "Sträuben nützt bei dem
nichts", meinte die Moll und kramte in ihrer Tüte. "Das ist Makart, ein
Filmfabrikant, Geld wie Heu. Seine Frau hat sich vergiftet." Cornelia wankte
und stürzte neben Makart in den Tumult.
"Spring ihr doch nach", sagte die Moll. "Aber du hast Angst, das Glas
zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du hältst die Welt für eine
Schaufensterauslaґge." Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber jetzt sah
Fabian den Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke Bein war eine
Prothese. Er stand auf einem Himmelbett und fuhr wie ein Wellenreiter über
das Gezappel der Menschen. Er schwang seinen Krückstock und schlug der Kulp,
die sich an dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände, bis das
Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
Wilhelmy befestigte eine Schnur am Stock, band einen Geldschein ans
Ende der Schnur und warf diese Angel aus. Die Menschen unter ihm sprangen
wie Fische in die Luft, schnappten nach der Banknote, fielen ermattet zurück
und schnellten wieder hoch. Da! Eine Frau hielt den Schein im Mund. Es war
die Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken hatte ihre Zunge durchbohrt.
Wilhelmy zog die Schnur ein, die Selow näherte sich, verzerrten Geґsichts,
dem Bett. Aber hinter ihr tauchte die Bildhauerin auf, umschlang die
Freundin mit beiden Armen und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt weit
aus dem Mund. Wilhelmy und die Bildhauerin suchten das Mädchen an sich zu
ziehen, jeder auf seine Seite. Die Zunge wurde immer länger, lang wie ein
rotes Gummiband, und sie war zum Reißen gespannt. Wilhelmy rang nach
Luft und lachte.
"Wunderbar", rief Irene Moll. "Das grenzt an Tauziehen. Wir leben im
Zeitalter des Sports." Sie zerknüllte die leere Tüte und sagte: "Jetzt
freß ich dich." Sie riß ihm die Pelerine herunter. Ihre Finger
griffen wie Scheren ineinґander und zerschnitten Fabians Anzug. Er schlug
ihr mit der Schirmkrücke auf den Kopf. Sie taumelte und ließ ihn los.
"Ich liebe dich doch", flüsterte sie und weinte. Ihre Tränen drangen wie
kleine Seifenblasen aus ihren Augenґwinkeln, wurden immer größer und
stiegen schillernd in die Luft.
Fabian erhob sich und ging weiter.
Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzählige Treppenstufen
führten von dem einen Ende des Saales hinauf zum anderen Ende. Auf jeder
Stufe standen Leute. Sie blickten interessiert nach oben und griffen
einander in die Taschen. Jeder bestahl jeden. Jeder wühlte heimlich in den
Taschen des Vordermannes, und während er das tat, wurde er vom Hintermann
beraubt. Es war ganz ruhig im Saal. Trotzdem war alles in Bewegung. Man
stahl emsig, und man ließ sich bestehlen. Auf der untersten Stufe
stand ein kleines zehnjähriges Mädchen und zog dem Vorderґmann einen bunten
Aschenbecher aus dem Mantel. Plötzґlich war Labude auf der obersten Stufe.
Er hob die Hände, blickte die Treppe hinunter und rief: "Freunde!
Mitbürґger! Die Anständigkeit muß siegen!"
"Aber natürlich!" brüllten die anderen im Chor und kramten einander in
den Taschen.
"Wer für mich ist, hebe die Hand!" schrie Labude. Die anderen hoben die
Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderen stahl er weiter. Nur das kleine
Mädchen auf der untersten Stufe hob beide Hände.
"Ich danke euch", sagte Labude, und seine Stimme klang gerührt. "Das
Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergeßt diese Stunde nicht!"
"Du bist ein Narr!" rief Cornelia, stand neben Labude und zog einen
großen hübschen Mann hinter sich her.
"Meine besten Freunde sind meine größten Feinde", sagte Labude
traurig. "Mir ist es gleich. Die Vernunft wird siegen, auch wenn ich
untergehe."
Da fielen Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fenґster und Dächer.
Und überall standen finstere Gestalten mit Revolvern und Maschinengewehren.
Die Menschen auf der Treppe warfen sich lang hin, aber sie stahlen
weiter. Die Schüsse knatterten. Die Menschen starben, die Hände in fremden
Taschen. Die Treppe lag voller Leichen.
"Um die ist es nicht schade", sagte Fabian zu dem Freund. "Nun komm!"
Aber Labude blieb in dem Kuґgelregen stehen. "Um mich auch nicht mehr",
flüsterte er, drehte sich nach den Fenstern und Dächern um und drohte ihnen.
Aus den Dachluken und aus den Giebeln fielen Schüsse in die Tiefe. Aus den
Fenstern hingen Verwundete. Auf einer Giebelkante rangen zwei athletiґsche
Männer. Sie würgten und bissen einander, bis der eine taumelte und beide
abstürzten. Man hörte den Aufґschlag der hohlen Schädel. Flugzeuge
schwirrten unter der Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die
Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus den Fenstern.
"Warum machen das die Leute?" Das kleine Mädchen aus dem Kaufhaus
faßte Fabians Hand.
"Sie wollen neue Häuser bauen", erwiderte er. Dann nahm er das Kind auf
den Arm und stieg, über die Toten kletternd, die Stufen hinunter. Auf halbem
Weg begegneґte er einem kleinen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen
Block und rechnete mit den Lippen. "Was machen Sie da?" fragte Fabian.
"Ich verkaufe die Restbestände", war die Antwort. "Pro Leiche
dreißig Pfennig, für wenig getragene Charaktere fünf Pfennig extra.
Sind Sie verhandlungsberechtigt?"
"Gehen Sie zum Teufel", schrie Fabian.
"Später", sagte der kleine Mann und rechnete weiter. Am Fuß der
Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin.
"Nun geh nach Hause", meinte er. Das Kind lief davon. Es hüpfte auf
einem Bein und sang.
Er stieg wieder die Stufen empor. "Ich verdiene keinen Pfennig",
murmelte der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam. Fabian beeilte sich.
Oben brachen die Häuser zusammen. Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen.
Glühende Balken neigten sich und sanken um, als tauchґten sie in Watte. Noch
immer ertönten vereinzelt Schüsse. Menschen mit Gasmasken krochen durch die
Trümmer. Sooft sich zwei begegneten, hoben sie Gewehre, zielten und
schössen. Fabian sah sich um. Wo war Labude?
"Labude!" schrie er. "Labude!"
"Fabian!" rief eine Stimme. "Fabian!"
"Fabian!" rief Cornelia und rüttelte ihn. Er erwachte. "Warum rufst du
Labude?" Sie strich ihm über die Stirn.
"Ich habe geträumt", sagte er. "Labude ist in Frankfurt."
"Soll ich Licht machen?" fragte sie.
"Nein, schlaf rasch wieder ein, Cornelia, du mußt morgen hübsch
aussehen. Gute Nacht."
"Gute Nacht", sagte sie.
Und dann lagen beide noch lange wach. Jeder wußte es vom anderen,
aber sie schwiegen.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Ein junger Mann, wie er sein soll
Vom Sinn der Bahnhöfe
Cornelia schreibt einen Brief
Am nächsten Morgen saß er, als Cornelia ins Büro ging, am offenen
Fenster. Sie hatte eine Mappe unterm Arm und schritt eifrig aus. Sie hatte
Arbeit. Sie verdiente Geld. Er saß am Fenster und ließ sich von
der Sonne kitzeln. Sie schien warm, als sei die Welt in bester Ordnung,
nichts brachte sie aus der Fassung.
Cornelia war schon weit. Er durfte sie nicht zurückrufen. Wenn er es
getan und wenn er, aus dem Fenster gebeugt, gesagt hätte: "Komm wieder
herauf, ich will nicht, daß du arbeitest, ich will nicht, daß du
zu Makart gehst!", hätte sie geantwortet: "Was fällt dir ein? Gib mir Geld
oder halte mich nicht auf."
Er konnte sich nicht anders helfen, er streckte der Sonne die Zunge
heraus.
"Was machen Sie denn da?" fragte Frau Hohlfeld. Sie war unbemerkt
eingetreten.
Fabian sagte abweisend: "Ich fange Fliegen. Sie sind heuer groß
und knusprig."
"Gehen Sie nicht ins Geschäft?"
"Ich bin in den Ruhestand getreten. Vom nächsten Ersten ab erscheine
ich im Defizit des Finanzministeriums, als unvorhergesehene Mehrausgabe." Er
schloß das Fenster und setzte sich aufs Sofa.
"Stellungslos?" fragte sie.
Er nickte und holte Geld aus der Tasche. "Hier sind die achtzig Mark
für den nächsten Monat."
Sie nahm rasch das Geld und meinte: "Das war nicht so eilig, Herr
Fabian."
"Doch." Er legte die letzten Scheine und Münzen überґsichtlich auf den
Tisch und zählte, was ihm blieb. "Wenn ich mein Kapital auf die Bank bringe,
krieg ich drei Mark Zinsen im Jahr", sagte er. "Das lohnt sich kaum."
Die Wirtin wurde gesprächig. "In der Zeitung schlug gestern ein
Ingenieur vor, man solle den Spiegel des Mittelmeeres um zweihundert Meter
senken, dann käґmen große Ländereien ans Licht, wie vor der Eiszeit,
und man könne sie besiedeln und Millionen von Menschen darauf ernähren.
Außerdem sei, mit Hilfe kurzer Dämґme, eine durchgehende
Eisenbahnverbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!"
Frau Hohlfeld war noch jetzt von dem Vorschlag des Ingenieurs
eingenommen und sprach voller Feuer.
Fabian pochte auf die Armlehne des Sofas, daß der Staub tanzte.
"Na also!" rief er. "Auf, ans Mittelmeer! Laßt uns seinen Spiegel
senken! Kommen Sie mit, Frau Hohlґfeld?"
"Gern. Ich war seit meiner Hochzeitsreise nicht mehr dort. Eine
herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Paris liegt übrigens nicht
am Mittelmeer." Sie gab dem Gespräch eine Wendung: "Da war das Fräulein
Doktor wohl sehr traurig?"
"Schade, daß sie schon fort ist, sonst hätten wir sie fragen
können."
"Ein bezauberndes Mädchen, und so vornehm, ich finde, sie ähnelt der
Königin von Rumänien, als sie noch jung war."
"Erraten." Fabian erhob sich und brachte die Wirtin zur Tür. "Es soll
eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht weitersagen."
Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und
wartete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein
Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu ihm gesagt
hatte: "Wenn Sie mich mal brauchen, melden Sie sich." Fabian blätterte
gedankenlos in einer der Zeitschriften, die den Tisch des Warteraums
zierten, und entsann sich des Gesprächs. Zacharias hatte damals der
Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachsґtum der christlichen Kirche
nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert
zugestimmt; er hatte auch Wells' Forderung verfochten, daß es an der
Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife
und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst
von Idealen zu stellen. Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des
Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These; die Eigґnung des
Propagandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers zum
Propagandisten stünden außerґdem in Frage; Vernunft könne man nur
einer beschränkґten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon
vernünftig. Zacharias und er hatten sich förmlich gestritґten, bis sie
fanden, der Meinungsstreit trage allzu akadeґmischen Charakter, denn beide
möglichen Resultate - der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen
Aufklärung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe keiner Geld.
Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge. Papphülsen fielen
klappernd aus Metallröhren. Das Telefon des Aufsichtsbeamten klingelte
fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer
ins andere. Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger
Mitarbeiter, die Treppe hinunter.
"Herr Zacharias läßt bitten."
Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias gab Fabian temperamentvoll
die Hand. Es war die hervorstechendste Eigenschaft dieses jungen Mannes,
alles, was er tat, außerordentlich lebhaft zu besorgen. Er kam aus der
Begeisterung nicht heraus. Ob er sich nun die Zähne putzte oder ob er
debattierte, ob er Geld ausgab oder ob er seinen Vorgesetzten Vorschläge
machte, stets riß er sich ein Bein aus. Wer in seine Nähe kam, wurde
von dieser Humorlosigkeit infiziert. Plötzlich wurde ein Gespräch über das
Binden von Krawatten zum aufregendsten Theґma der Gegenwart. Und die
Vorgesetzten merkten, wenn sie mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie
ungeheuґer wichtig ihr Beruf, ihr Verlag und ihr Posten eigentlich waren.
Die Karriere des Mannes war nicht aufzuhalten. Daß er selbst
Wesentliches leistete, war unwahrscheinґlich. Er diente dem Betrieb als
Katalysator, den Menschen seiner Umgebung als Stimulans. Er wurde
unentbehrlich und hatte jetzt schon, mit achtundzwanzig Jahren, ein
Monatsgehalt von zweitausendfünfhundert Mark. Fabian erzählte, was es zu
erzählen gab.
"Frei ist nichts", sagte Zacharias, "und ich wäre Ihnen so gern
gefällig. Außerdem bin ich überzeugt, daß wir beide glänzend
miteinander auskämen. Was machen wir bloß?" Er preßte die Hände
an die Schläfen wie ein Wahrsager dicht vor der Erleuchtung. "Was halten Sie
von Folgenґdem: Wenn ich Sie bei mir anstelle, als privaten Mitarbeiґter,
den ich aus eigener Tasche bezahle? Ich könnte eine Kraft wie Sie gut
gebrauchen. Man erwartet hier im Hause pro Tag ein Dutzend Anregungen von
mir. Bin ich ein Automat? Was kann ich dafür, daß den anderen noch
weniger einfällt? Wenn das so weitergeht, läuft sich mein Gehirn einen Wolf.
Ich habe seit kurzem ein kleines nettes Auto, Steyr, Sechszylinder,
Spezialkarosserie. Wir könnґten jeden Tag ein paar Stunden ins Grüne fahren
und Eier legen. Ich chauffiere gern, es beruhigt die Nerven. Dreiґhundert
Mark würde ich für Sie lockermachen. Und sobald hier ein Posten frei wird,
hätten sie ihn. Na?" Ehe Fabian antworten konnte, fuhr der andere fort:
"Nein, es geht nicht. Man würde sagen, Zacharias hält sich einen
weißen Neger. Ich bin vor keinem dieser Kerle sicher. Sie stehen alle
mit der Axt hinter der Tür, um mir eins über den Kürbis zu hauen. Was machen
wir bloß? Fällt Ihnen nichts ein?"
Fabian sagte: "Ich könnte mich auf den Potsdamer Platz stellen, mit
einem großen Schild vorm Bauch, auf dem etwa stünde: "Dieser junge
Mann macht augenblicklich nichts, aber probieren Sie's, und Sie werden
sehen, er macht alles." Ich könnte den Text auch auf einen großen
Luftballon malen."
"Wenn Sie den Vorschlag ernst meinten, wäre er gut!" rief Zacharias.
"Aber er ist nichts wert, weil Sie nicht daran glauben. Sie nehmen nur die
wirklich ernsten Dinge ernst, und vielleicht nicht einmal die. Es ist ein
Jammer. Mit Ihrer Begabung wäre ich heute leitender Direktor." Zaґcharias
wandte bei Leuten, die ihm überlegen waren, einen höchst raffinierten Trick
an: er gab diese Überlegenґheit zu, er bestand geradezu auf ihr.
"Was nützt es mir, daß ich begabter bin?" fragte Fabian betrübt.
Diese rhetorische Anfrage hatte Zacharias nicht erwartet. Wenn er selber
offen war, genügte das. Statt dessen kam einer des Wegs, bat um Rat und
wurde obendrein vorlaut.
"Es ist schade, daß Sie mir die Bemerkung übelnehmen", sagte
Fabian. "Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin auf meine Talente nicht
eingebildet, sie reichen glatt zum Verhungern. Und so schlecht, daß
ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir erst in vierzehn Tagen."
Zacharias stand auf und begleitete den Besucher betont bis zur Treppe.
"Rufen Sie mich morgen mal an, gegen zwölf Uhr, nein, da habe ich eine
Konferenz, sagen wir nach zwei. Vielleicht fällt mir inzwischen was ein.
Servus."
Fabian hätte gern Labude angerufen, doch der war in Frankfurt. Er hätte
ihm beileibe nichts von seinen Sorgen erzählt. Sorgen hatte Labude selber.
Die bekannte Stimme wollte er hören, weiter nichts. Zwischen Freunden
konnґten Gespräche übers Wetter Wunder wirken. Die Mutter war wieder fort.
Der ulkige alte Erfinder war, samt Pelerine, auf dem Weg ins Irrenhaus.
Cornelia kaufte sich einen neuen Hut, um ein paar Filmleuten zu gefallen.
Fabian war allein. Warum konnte man nicht, bis auf Widerruf, vor sich selber
davonlaufen? Obwohl er ziellos durch die City wanderte, stand er wenig
später vor dem Haus, in dem Cornelia angestellt war. Er setzte, ärgerlich
über sich, den Weg fort und ertappte sich dabei, daß er in jedes
Hutgeschäft schielte. Saß sie jetzt noch im Büro? Probierte sie
bereits Hüte und Jumper?
Am Anhalter Bahnhof kaufte er eine Zeitung. Der Mann, der im Kiosk
saß, sah gemütlich aus. "Könnten Sie jemanden brauchen, der Ihnen
hilft?" fragte Fabian.
"Nächstens lerne ich Strümpfe stricken", sagte der Mann, "vor einem
Jahr hatte ich doppelten Umsatz, und auch der war nicht üppig. Die Leute
lesen die Zeitungen neuerdings nur noch beim Friseur oder im Café. Bäcker
hätte man werden sollen. Das Brot kriegen die Leute beim Friseur noch nicht
umsonst."
"Neulich hat jemand vorgeschlagen, das Brot von Staats wegen ins Haus
zu liefern, genau wie das Leitungswasґser", erzählte Fabian. "Passen Sie
auf, eines Tages schützt nicht mal das Brotbacken vorm Verhungern."
"Wollen Sie eine Stulle haben?" fragte der Mann im Kiosk.
"Eine Woche reicht's schon noch", sagte Fabian, bedankte sich und ging
zum Bahnhof hinüber. Er studierte den Fahrplan. Sollte er, vom letzten Geld,
ein Billett kaufen und zur Mutter kutschieren? Aber vielleicht wußte
Zacharias morgen einen Ausweg? Als er aus dem Bahnhof trat und wieder diese
Straßenfluchten und Häuserblocks vor sich sah, dieses hoffnungslose,
unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindlig. Er lehnte sich neben ein paar
Gepäckträgern an die Wand und schloß die Augen. Doch nun quälte ihn
der Lärm. Ihm war, als führen die Straßenґbahnen und Autobusse mitten
durch seinen Magen. Er kehrte wieder um, stieg die Treppe zum Wartesaal
hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte Bank. Eine halbe Stunde später
war ihm wohler. Er ging zur Straßenbahnґhaltestelle, fuhr nach Hause,
warf sich aufs Sofa und schlief sofort ein.
Abends erwachte er. Die Vorsaaltür schlug laut zu. Kam Cornelia? Nein,
jemand lief rasch die Treppe hinunter. Er ging ins andere Zimmer hinüber und
erschrak.
Der Schrank stand offen. Er war leer. Die Koffer fehlten. Fabian machte
Licht, obwohl es erst dämmerte. Auf dem Tisch, von der Vase beschwert, in
der Blumen aufs Wegwerfen warteten, lag ein Brief. Er nickte, nahm den Brief
und ging in sein Zimmer zurück.
"Lieber Fabian", schrieb Cornelia, "ist es nicht besser, ich gehe zu
früh als zu spät? Eben stand ich neben Dir am Sofa. Du schliefst, und Du
schläfst auch jetzt, während ich Dir schreibe. Ich bliebe gern, aber stell
Dir vor, ich bliebe! Ein paar Wochen noch, und Du wärst recht unglücklich.
Dich bedrückt nicht das Gewicht der Not, sondern der Gedanke, daß Not
so wichtig werden kann. Solange Du allein warst, konnte Dir nichts
geschehen, was auch geschah. Es wird wieder werden, wie es war. Bist Du sehr
traurig?
Sie wollen mich im nächsten Film herausstellen. Morgen unterschreibe
ich den Kontrakt. Makart hat mir zwei Zimmer gemietet. Es ist nicht zu
umgehen. Er sprach darüber, als handle es sich um einen Zentner Briketts.
Fünfzig Jahre ist er alt, und er sieht aus wie ein zu gut angezogener
Ringkämpfer im Ruhestand. Mir ist, als hätte ich mich an die Anatomie
verkauft. Wenn ich noch einmal in Dein Zimmer käme und Dich weckte? Ich
lasse Dich schlafen. Ich werde nicht zugrunde gehen. Ich werde mir
einbilden, der Arzt untersucht mich. Er mag sich mit mir beschäftigen, es
muß sein. Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig
macht. Und wir wollen doch heraus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich