Vaterstadt, zu seiner Mutter. Er war schon lange nicht mehr in Berlin,
obwohl er noch immer auf dem Anhalter Bahnhof saß. Würde er
wiederkommen? Als sich ein paar Leute an seinem Tisch breitmachten, stand er
auf, durchґschritt die Sperre und setzte sich in den Zug, der auf das Signal
zur Abfahrt wartete.
Nur fort von hier! Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte weiter. Nur
fort!
Fabian saß am Fenster und blickte hinaus. Die Felder und Wiesen
schwangen wie auf einer Drehscheibe. Die Teleґgraphenstangen machten
Kniebeugen. Manchmal standen kleine barfüßige Bauernkinder mitten in
der tanzenden Landschaft und winkten mechanisch. Auf einer Weide graste ein
Pferd. Ein Fohlen hüpfte den Zaun entlang und schwenkte den Kopf. Dann
fuhren sie durch einen düsteren Fichtenwald. Die Stämme waren von grauen
Flechten bewachsen. Die Bäume standen da, als seien sie aussätzig und als
habe man ihnen verboten, den Wald zu verlassen. Ihm war, als suche jemand
seine Augen. Er wandte sich um und blickte ins Abteil. Die Mitreisenden,
gleichgültiґge, gleichgültig dasitzende Leute, waren mit sich beschäfґtigt.
Wer sah ihn an? Da entdeckte er, draußen im Gang, Frau Irene Moll. Sie
rauchte eine Zigarette und lächelte ihm zu. Als er sich nicht rührte, winkte
sie.
Er trat hinaus.
"Es ist skandalös, wie wir beiden einander nachlaufen", sagte sie. "Wo
fährst du hin?"
"Nach Hause."
"Sei höflich", meinte sie. "Frage mich gefälligst, wo ich hin will."
"Wo wollen Sie hin?" Sie lehnte sich an ihn und flüsterte: "Ich türme.
Einer der Schlafburschen hat mein Etablissement verpfiffen. Ich erfuhr es
heute morgen von einem Polizeibeamten, dessen Monatsgehalt ich verdoppelt
habe. Kommst du mit nach Budapest?"
"Nein", sagte er.
"Ich habe hunderttausend Mark bei mir. Wir brauchen nicht nach Budapest
zu fahren. Wollen wir über Prag nach Paris? Wir werden im Claridge wohnen.
Oder wir gehen nach Fontainebleau und mieten eine kleine Villa."
"Nein", sagte er. "Ich fahre nach Hause."
"Komm mit", bat sie. "Ich habe Schmuck bei mir. Wenn wir blank sind,
erpressen wir die alten Schachteln, die sich bei mir beschlummern
ließen. Ich kenne interessante Einzelheiten, Gucklöcher haben ihr
Gutes. Oder willst du lieber nach Italien? Was hältst du von Bellagio?"
"Nein", sagte er, "ich fahre zu meiner Mutter."
"Du verdammter Esel", flüsterte sie ärgerlich. "Soll ich vor dir
niederknien und dir eine Liebeserklärung machen? Was hast du gegen mich? Bin
ich dir zu aufgeklärt? Ist dir eine dumme Gans lieber? Ich habe es endlich
satt, nach der ersten besten Hose zu greifen. Du gefällst mir. Wir begegnen
einander immer wieder. Das kann kein Zufall sein." Sie faßte seine
Hand und streichelte seine Finger. "Ich bitte dich, komm mit."
"Nein", sagte er. "Ich komme nicht mit. Reisen Sie gut." Er wollte
wieder in sein Abteil.
Sie hielt ihn zurück. "Schade, jammerschade. Vielleicht ein andres
Mal." Sie öffnete ihre Handtasche. "Brauchst du Geld?" Sie wollte ihm ein
paar Banknoten m die Hand stecken. Er schloß die Hand zur Faust,
schüttelte den Kopf und ging ins Kupee.
Sie blieb noch eine Weile vor der Tür des Abteils und sah ihn an. Er
blickte durchs Fenster. Man fuhr durch ein Dorf.

Es war gegen sechs Uhr abends, als er ankam. Er trat aus dem Bahnhof
und sah die Dreikönigskirche. Ihm schien, sie musterte ihn von oben
herunter: Warum holt dich heute niemand ab und warum kommst du ohne Koffer?
Er ging den Dammweg entlang und durchschritt den alten Viadukt. Ein endlos
langer Güterzug ratterte drüber hin, die Steinwölbung dröhnte. Das Haus, in
dem früher der Lehrer Schanze gewohnt hatte, war frisch gestrichen. Die
anderen Häuser standen unverändert in ihrer grauen, ihm seit Kindheit
bekannten Front. In dem Eckhaus, das der Hebamme Schröder gehörte, war ein
neues Geschäft eröffnet worden, ein Fleischerґladen, noch standen die
Blumenstöcke im Schaufenґster.
Langsam näherte er sich dem Haus, in dem er geboren war. Wie vertraut
ihm die Straße war. Er kannte die Fassade, er kannte die Höfe, Keller
und Böden, überall war er hier beheimatet. Aber die Menschen, die aus den
Häusern traten, waren ihm fremd. Er blieb stehen. "Seifengeschäft" stand
über dem Laden. Ein Zettel klebte am Fenster. Er las: "Nun auch Feinseifen
herabґgesetzt. Hausmarke Lavendel zwanzig statt zweiundzwanzig Pfennige.
Torpedoseife fünfundzwanzig statt achtundzwanzig Pfennige." Er ging bis zur
Tür.
Seine Mutter stand hinter dem Ladentisch, zwei Frauen standen davor.
Die Mutter bückte sich gerade und stellte ein Paket Waschpulver auf den
Tisch, dann schnitt sie einen Riegel Kernseife mittendurch. Dann nahm sie
einen Bogen Packpapier und einen Holzlöffel, schaufelte Schmierseife aus dem
Faß, wog sie ab und wickelte sie ein. Er spürte den Seifengeruch bis
auf die Straße.
Dann klinkte er die Ladentür auf. Die Glocke bimmelte. Die alte Frau
sah auf und ließ erschrocken die Hänґde sinken.
Er ging auf sie zu und sagte mit zitternder Stimme: "Mutter, Labude hat
sich erschossen." Und plötzlich liefen ihm die Tränen aus den Augen. Er
öffnete die Tür, die ins Hinterzimmer führte, schloß sie wieder,
setzte sich in den Lehnstuhl vorm Fenster, blickte in den Hof hinaus, legte
langsam den Kopf aufs Fensterbrett und weinte.


ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Besuch in der Kinderkaserne
Kegelschieben im Park
Die Vergangenheit biegt um die Ecke

"Was hat er denn?" fragte der Vater am nächsten Morgen.
"Seine Stellung hat er verloren", sagte die Mutter. "Und sein Freund
hat sich umgebracht, Labude, weißt du, den er seinerzeit in Heidelberg
kennenlernte."
"Ich wußte gar nicht, daß er einen Freund hatte", meinte
der Vater. "Man erfährt ja nichts."
"Du hörst nur nicht zu", sagte die Mutter. Da läutete die Ladenglocke.
Als Frau Fabian wieder ins Zimmer trat, las der Mann die Zeitung.
"Außerdem hat er mit einem jungen Mädchen Pech gehabt", fuhr sie
fort. "Aber darüber spricht er sich nicht näher aus. Sie hat Rechtsanwalt
studiert und geht zum Film."
"Schade um das Geld fürs Studium", erklärte der Mann.
"Ein hübsches Mädchen", sagte Fabians Mutter. "Aber sie lebt mit einem
dicken Kerl zusammen, einem Filmdiґrektor, das reinste Brechmittel."
"Wird er lange hierbleiben?" fragte der Vater.
Die Mutter zuckte die Achseln und goß sich Kaffee ein. "Tausend
Mark hat er mir gegeben. Labude hat ihm das Geld hinterlassen. Ich werde es
aufheben. Der Junge hat einen Knacks wegbekommen, ich kann mir nicht helfen.
Und das hat nichts mit Labude zu tun, und nichts mit der Filmschauspielerin.
Er glaubt nicht an Gott, es muß damit zusammenhängen. Ihm fehlt der
ruhende Punkt."
"Als ich so alt war wie er, war ich schon fast zehn Jahre verheiratet",
sagte der Vater.

Fabian lief die Heerstraße entlang, an der Garnisonskirche und
den Kasernen vorüber. Der runde kiesbestreute Platz vor der Kirche war leer.
Wann war das denn gewesen, daß er hier gestanden hatte, ein Soldat
unter Tausenden, die Hosen lang, den Helm auf dem Kopf, gerüstet zur
feldgrauen Predigt, siebzehnjährig, bereit zu hören, was der deutsche Gott
seinen Armeen mitteilen ließ? Er blieb am Tor der ehemaligen
Fußartilleriekaserne stehen und lehnte sich an die Eisenstäbe.
Antreten zum Dienstverleґsen, Geschützexerzieren, Ausmarsch zum Nachtdienst,
Vortrag über Kriegsanleihe, Löhnungfassen, was war alles auf diesem blöden
Hof geschehen. Hatte er hier nicht gehört, wie die alten Soldaten, ehe sie
zum dritten und vierten Male feldmarschmäßig abgeführt wurden,
miteinґander um ein Kommißbrot wetteten, wer am schnellsten zurück
sein werde? Und waren sie nicht, eine Woche später, in lumpiger Uniform
wieder aufgetaucht, einen Tripper echt Brüsseler Abstammung am Leibe? Fabian
ließ das Gitter los und ging weiter an den alten protzigen Grenadier-
und Infanteriekasernen vorbei. Hier war der Park und die Schule, in der er
jahrelang gesessen und gelebt hatte, ehe er mit Linksdrall, Scherenfernrohr
und Lafettenschwanz bekanntgemacht wurde. Die Straße, die sich zu der
Stadt hinuntersenkte, abends war er sie heimlich entlanggerannt, nach Hause,
zur Mutter, auf wenige Minuten. Ob Schule, Kadettenanstalt, Lazarett oder
Kirche, an der Peripherie dieser Stadt war jedes Gebäude eine Kaserne
gewesen.
Noch immer lag das große, graue Gebäude mit den schiefergedeckten
spitzen Ecktürmen da, als sei es bis unters Dach mit Kindersorgen angefüllt.
Die Fenster der Direktionswohnung waren noch immer mit weißen
Garґdinen geziert, im Gegensatz zu den vielen schwarzen schmucklosen
Fenstern, hinter denen die Klassenzimmer, die Wohnräume der Schüler, die
Schrankzimmer und die Schlafsäle lagen. Früher hatte er immer geglaubt, das
riesige Haus müsse nach der Seite, auf der die Direktorwohnung lag, tief in
die Erde sinken, so schwerwiegend war ihm die Tatsache erschienen, daß
hier Gardinen an den Fenstern hingen. Er ging durch das Tor und stieg die
Stufen hinauf. Aus den Klassenzimmern drangen dunkle und helle Stimmen. Der
leere Korridor war erfüllt davon. Aus der ersten Etage wehten Chorgesang und
Klavierґspiel. Fabian verschmähte die breite Freitreppe, er kletterґte im
Seitenflügel die schmalen Stufen hinan, zwei kleine Schüler kamen ihm
entgegen.
"Heinrich", rief der eine, "du sollst sofort zum Storch kommen und die
Hefte holen."
"Der wird's wohl erwarten können", sagte Heinrich und ging krampfhaft
langsam durch die schwankende Glastür.
"Der Storch", dachte Fabian, "es hat sich nichts geänґdert." Dieselben
Lehrer waren noch da, die Spitznamen waren geblieben. Nur die Schüler
wechselten. Ein Jahrґgang nach dem ändern wurde erzogen und gebildet. Früh
läutete der Hausmeister. Die Jagd begann: Schlafsaal, Waschsaal,
Schrankzimmer, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch, holten die
Butterdosen aus dem Eisґschrank und die emaillierten Kaffeekannen aus dem
Aufґzug. Die Jagd ging weiter: Wohnzimmer, Staubwischen, Klassenzimmer,
Unterricht, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch fürs Mittagessen. Die
Jagd ging weiter: Freizeit, Gartendienst, Fußballspiel, Wohnzimmer,
Schularbeiten, Klassenzimmer, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch
fürs Abendbrot. Die Jagd ging weiter: Wohnzimmer, Schularbeiten, Waschsaal,
Schlafsaal. Die Primaner durften zwei Stunden länger aufbleiben und rauchten
im Park Zigaretten. Es hatte sich nichts geändert, nur die Jahrgänge
wechselten.
Fabian stand in der dritten Etage und öffnete die Tür zur Aula.
Morgenandacht, Abendandacht, Orgelspiel, Kaiґsers Geburtstag, Sedanfeier,
Schlacht bei Tannenberg, Fahnen im Turm, Osterzensuren, Entlassung der
Einbeґrufenen, Eröffnung der Kriegsteilnehmerkurse, immer wieder Orgelspiel
und Festreden voller Frömmigkeit und Würde. Einigkeit und Recht und Freiheit
hatte sich in der Atmosphäre dieses Raumes festgebissen. Ob es noch so wie
früher war, daß man, kam ein Lehrer vorüber, strammstehen mußte?
Mittwochs gab es zwei und sonnґabends drei Stunden Ausgang. Ob man immer
noch, wenn der Ausgang entzogen worden war, vom Inspektor angehalten wurde,
Zeitungen mit Hilfe einer Schere in Abortpapiere zu verwandeln? War es denn
nicht auch manchmal schön gewesen? Hatte er immer nur die Lüge gespürt, die
hier umging, und die böse heimliche Gewalt, die aus ganzen
Kindergenerationen gehorsame Staatsbeґamte und bornierte Bürger machte? Es
war manchmal schön gewesen, aber nur trotzdem. Er verließ die Aula und
stieg die düstere Wendeltreppe zu den Wasch- und Schlafsälen hinauf. In
langer Front standen die eisernen Bettstellen. An den Wänden hingen die
Nachthemden militärisch ausgerichtet. Ordnung mußte sein. Nachts waren
die Primaner aus dem Park herausgekommen und hatten sich zu erschrockenen
Quintanern und Quartanern ins Bett gelegt. Die Kleinen hatten geґschwiegen.
Ordnung mußte sein. Er trat ans Fenster. Unten im Flußtal
schimmerte die Stadt mit ihren alten Türmen und Terrassen.
Wie oft war er, wenn die anderen schliefen, hierher geschlichen, hatte
hinabgeblickt und das Haus gesucht, in dem die Mutter krank lag. Wie oft
hatte er den Kopf gegen die Scheiben gepreßt und das Weinen
unterdrückt. Es hatte ihm nichts geschadet, das Gefängnis nicht und das
unterdrückte Heulen nicht, das war richtig. Damals hatte man ihn nicht
kleingekriegt. Ein paar hatten sich erschosґsen. Es waren nicht viele
gewesen. Im Krieg hatten schon mehr daran glauben müssen. Später waren noch
etliche gestorben. Heute war die Hälfte der Klasse tot. Er stieg die Treppen
hinunter, verließ das Gebäude und ging in den Park. Mit Reisigbesen
und Schaufeln und spitzen Stöcken waren sie hinter einem Handwagen
hergetrabt, hatten welkes Laub zusammengekehrt und Papier, das herumlag,
aufgespießt. Der Park war groß, er senkte sich zu einem kleinen
Bach hinab.
Fabian lief auf den alten, vertrauten Pfaden, setzte sich auf eine
Bank, blickte in die Wipfel der Bäume, ging weiter und wehrte sich
vergeblich dagegen, daß ihn das, was er sah, zurückverwandelte. Die
Säle und Zimmer und Bäuґme und Beete, die ihn umgaben, waren keine
Wirklichkeit, sondern Erinnerungen. Hier hatte er seine Kindheit
zurückgelassen, und nun fand er sie wieder. Sie sank von den Zweigen und
Wänden und Türmen auf ihn herab und bemächtigte sich seiner. Er schritt
immer tiefer hinein in den melancholischen Zauber. Er kam zur Kegelbahn, die
Kegel standen schußfertig. Fabian sah sich um, er war allein, da nahm
er eine große Kugel aus dem Kasten, holte aus, lief vor und ließ
die Kugel über die Bahn rollen. Sie machte ein paar kleine Sprünge. Die Bahn
war immer noch uneben. Sechs Kegel fielen klappernd um.
"Was soll denn das?" fragte jemand ärgerlich. "Fremde haben hier nichts
zu suchen!" Es war der Direktor. Er hatte sich kaum verändert. Sem
assyrischer Bart war nur noch grauer geworden.
"Entschuldigen Sie", sagte Fabian, zog den Hut und wollte sich
entfernen.
"Einen Augenblick", rief der Direktor. Fabian drehte sich um. "Sind Sie
nicht ein ehemaliger Schüler von uns?" fragte der Mann. Dann streckte er die
Hand aus. "Natürґlich, Jakob Fabian! Herzlich willkommen! Das ist nett.
Haben Sie Sehnsucht nach Ihrer alten Schule gehabt?" Sie begrüßten
sich.
"Eine böse Zeit", sagte der Direktor. "Eine gottlose Zeit. Die
Gerechten müssen viel leiden."
"Wer sind die Gerechten?" fragte Fabian. "Geben Sie mir ihre Adresse."
"Sie sind immer noch der alte", meinte der Direktor. "Sie waren immer
einer der besten Schüler und einer der frechsten. Und wie weit haben Sie es
damit gebracht?"
"Der Staat ist im Begriff, mir eine kleine Pension zu bewilligen",
sagte Fabian.
"Arbeitslos?" fragte der Direktor streng. "Ich hatte mehr von Ihnen
erwartet."
Fabian lachte. "Die Gerechten müssen viel leiden", erґklärte er.
"Hätten Sie nur damals Ihr Staatsexamen gemacht", sagte der Direktor.
"Dann stünden Sie jetzt nicht ohne Beruf da."
"Ich stünde in jedem Fall ohne Beruf da", entgegnete Fabian erregt.
"Auch wenn ich ihn ausübte. Ich kann Ihnen verraten, daß die
Menschheit mit Ausnahme der Pastoren und Pädagogen nicht mehr weiß, wo
ihr der Kopf steht. Der Kompaß ist kaputt, aber hier, in diesem Haus,
merkt das niemand. Ihr fahrt nach wie vor in eurem Lift rauf und runter, von
der Sexta bis zur Prima, wozu braucht ihr einen Kompaß?"
Der Direktor schob die Hände unter die Flügel seines Gehrocks und
sagte: "Ich bin entsetzt. Es gäbe keine Aufgabe für Sie. Gehen Sie hin und
bilden Sie Ihren Charakter, junger Mensch! Wozu haben wir Geschichte
getrieben? Wozu haben wir die Klassiker gelesen? Runden Sie Ihre
Persönlichkeit ab!"
Fabian betrachtete den wohlgenährten, selbstgefälligen Herrn und
lächelte. Dann sagte er: "Sie mit Ihrer abgerunґdeten Persönlichkeit!" und
ging.

Auf der Straße traf er Eva Kendler. Sie kam mit zwei Kindern
daher und war ziemlich dick geworden. Er wunderte sich, daß er sie
überhaupt erkannte. "Jakob!" rief sie und wurde rot. "Du hast dich gar nicht
verändert. Sagt dem Onkel guten Tag!" Die Kinder gaben ihm die Hand und
machten Knickse. Es waren zwei Mädchen. Sie sahen ihrer Mutter ähnlicher als
sie sich selber.
"Wir sind uns mindestens zehn Jahre nicht begegnet", sagte er. "Wie
geht's dir? Wann hast du geheiratet?"
"Mein Mann ist Oberarzt im Carolahaus", erzählte sie. "Da kann man
keine großen Sprünge machen. Zu einer eigenen Praxis reicht es nicht.
Vielleicht geht er mit Professor Wandsbeck nach Japan. Wenn es sich lohnt,
fahre ich mit den Kindern nach." Er nickte und betrachteґte die beiden
kleinen Mädchen.
"Damals war es schöner", sagte sie leise. "Weißt du noch, wie
meine Eltern verreist waren? Siebzehn Jahre war ich alt. Wie die Zeit
vergeht." Sie seufzte und strich den kleinen Mädchen die Matrosenkragen
glatt. "Ehe man recht dazu kommt, sein eigenes Leben zu haben, trägt man
schon wieder Verantwortung für seiґne Kinder. Dieses Jahr fahren wir nicht
einmal an die See."
"Das ist natürlich schrecklich", meinte er.
"Ja", sagte sie, "da wollen wir mal gehen. Auf Wiederseґhen, Jakob."
"Auf Wiedersehen."
"Gebt dem Onkel die Hand!"
Die kleinen Mädchen machten Knickse, drängten sich an die Mutter und
zogen mit ihr davon. Fabian blieb noch eine Weile stehen. Die Vergangenheit
bog um die Ecke, mit zwei Kindern an der Hand, fremd geworden, kaum
wiederzuerkennen. "Du hast dich gar nicht verändert", hatte die
Vergangenheit zu ihm gesagt.

"Wie war's?" fragte die Mutter. Sie standen, nach dem Mittagessen, im
Laden und packten eine Kiste mit Bleichpulver aus.
"Ich war oben bei den Kasernen. In der Schule war ich auch. Und dann
habe ich die Eva getroffen. Zwei kleine Kinder hat sie. Der Mann ist Arzt."
Die Mutter zählte die Pakete, die sie ins Regal geräumt hatte. "Die
Eva? Das war einmal ein hübsches Mädchen. Wie war das gleich? Du kamst doch
damals zwei Tage nicht nach Hause."
"Ihre Eltern waren verreist, und ich mußte einen mehrtäґgigen
Aufklärungskursus abhalten. Es war ihr erster, und ich löste meine Aufgabe
sehr gewissenhaft und mit wahrґhaft sittlichem Ernst."
"Ich war damals in Sorge", sagte die Mutter. "Aber ich schickte dir
doch eine Depesche!" "Depeschen sind etwas Unheimliches", erklärte sie.
"Über eine halbe Stunde saß ich davor und traute mich nicht, sie zu
öffnen." Er reichte die Pakete, die Mutter schichtete auf. "Wäre es nicht
besser, wenn du hier eine Stellung suchtest?" fragte sie. "Gefällt es dir
gar nicht mehr bei uns? Du könntest in die Wohnstube ziehen. Hier sind auch
die Mädchen netter und nicht so verrückt. Vielleicht findest du doch eine
Frau."
"Ich weiß noch nicht, was ich mache", sagte er. "Es kann sein,
daß ich hierbleibe. Ich will arbeiten. Ich will mich betätigen. Ich
will endlich ein Ziel vor Augen haben. Und wenn ich keines finde, erfinde
ich eines. So geht es nicht weiter."
"Zu meiner Zeit gab es das nicht", behauptete sie. "Da war
Geldverdienen ein Ziel und Heiraten und Kinderґkriegen."
"Vielleicht gewöhne ich mich daran", meinte er. "Wie sagst du immer?"
Sie hielt im Packen inne und sagte mit Nachdruck: "Der Mensch ist ein
Gewohnheitstier."


DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Pilsner Bier und Patriotismus
Türkisches Biedermeier
Fabian wird gratis behandelt

Gegen Abend ging Fabian in die Altstadt hinüber. Von der Brücke aus sah
er die weltberühmten Gebäude wieder, die er, seit er denken konnte, kannte:
das ehemalige Schloß, die ehemalige königliche Oper, die ehemalige
Hofkirche, alles war hier wunderbar und ehemalig. Der Mond rollte ganz
langsam von der Spitze des Schloßґturms, als gleite er auf einem
Draht. Die Terrasse, die sich am Flußufer erstreckte, war mit alten
Bäumen und ehrwürdigen Museen bewachsen. Diese Stadt, ihr Leben und ihre
Kultur befanden sich im Ruhestand. Das Panorama glich einem teuren
Begräbnis. Auf dem Altmarkt traf er Wenzkat. "Nächsten Freitag ist
Klassenzusammenkunft im Ratskeller", erzählte Wenzkat. "Bist du dann noch
hier?"
"Ich hoffe", sagte Fabian. "Wenn es irgend geht, erscheine ich." Er
wollte rasch weiter, aber der andere lud ihn ein. Seine Frau sei seit
vierzehn Tagen im Bad. Sie gingen
zu Gaßmeier und tranken Pilsner.
Nach dem dritten Glas wurde Wenzkat politisch. "So geht das nicht
weiter", schimpfte er. "Ich bin im Stahlhelm. Das Abzeichen trage ich nicht.
Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis, öffentlich nicht festlegen. Doch das
ändert nichts an der Sache. Es gilt einen Verzweiflungskampf."
"Zum Kampf kommt es gar nicht erst, wenn ihr anfangt", sagte Fabian.
"Es kommt gleich zur Verzweiflung."
"Vielleicht hast du recht", rief Wenzkat und schlug auf die
Tischplatte. "Dann gehen wir eben unter, kreuznochmal!"
"Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist", wandte Fabian
ein. "Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den
Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten
Truthähnen habt und euch gern herumhaut?"
"So war es immer in der Weltgeschichte", sagte Wenzkat entschieden und
trank sein Glas leer. "Und so sieht sie auch aus von vorn bis hinten, die
Weltgeschichte!" rief Fabian. "Man schämt sich, dergleiґchen zu lesen, und
man sollte sich schämen, den Kindern dergleichen einzutrichtern. Warum
muß es immer so gemacht werden, wie es früher gemacht wurde? Wenn das
konsequent geschehen wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen."
"Du bist kein Patriot", behauptete Wenzkat. "Und du bist ein
Hornochse", rief Fabian. "Das ist noch viel bedauerlicher."
Dann tranken sie noch ein Bier und wechselten vorsichtsґhalber das
Thema.
"Ich habe einen glänzenden Einfall", meinte Wenzkat. "Wir gehen ein
bißchen ins Bordell."
"Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetzґlich verboten."
"Freilich", sagte Wenzkat. "Verboten sind sie, aber es gibt noch
welche. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du wirst dich
amüsieren."
"Ich denke gar nicht daran", erklärte Fabian.
"Wir trinken eine Flasche Sekt mit den Mädchen. Das übrige ist
fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, damit ich meiner Frau
keinen Kummer mache."
Das Haus lag in einer kleinen schmalen Gasse. Fabian erinnerte sich,
als sie davorstanden, daß hier die Offiziere der Garnison ihre Orgien
gefeiert hatten. Das war zwanґzig Jahre her. Das Haus sah unverändert aus.
Wenn alles gutging, wohnten noch dieselben Mädchen drin. Wenzґkat läutete.
Im Haus näherten sich Schritte. Ein Auge blickte starr durchs Guckloch. Die
Tür ging auf. Wenzґkat sah sich besorgt um. Die Gasse war leer. Sie traten
ein.
Sie gingen an einer alten Frau vorbei, die einen Gruß murmelte,
und stiegen eine schmale hölzerne Treppe hinauf. Die Haushälterin erschien
und sagte: "Guten Tag, Gustav, läßt du dich auch wieder mal bei uns
blicken?"
"Flasche Sekt!" rief Wenzkat. "Ist die Lilly noch bei euch?"
"Nein, aber die Lotte. Ihr Hintern ist breit genug für dich. Nehmt
Platz!"
Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war sechseckig und in türkischem
Biedermeier eingerichtet. Die Lampe gab rotes Licht. Die Wände waren
getäfelt und mit ornamentalen Intarsien und nackten Frauen geschmückt, und
zu beiden Seiten zogen sich niedrige Polster hin. Die zwei setzten sich.
"Anscheinend schlechter Geschäftsgang", sagte Fabian.
"Kein Mensch hat Geld", erklärte Wenzkat. "Außerdem hat sich die
Branche überlebt."
Dann traten drei junge Frauen ins Zimmer und begrüßten den
Stammgast. Fabian saß in einer Ecke und betrachtete die Szene. Die
Haushälterin brachte einen Kübel, goß Sekt ein, rief "Prost!", und man
trank.
"Lotte", sagte Wenzkat, "zieht euch aus!"
Lotte war eine dicke Person mit lustigen Augen. "Gut", erklärte sie und
ging mit den anderen aus dem Zimmer. Eine Minute später kamen sie nackt
zurück und setzten sich zwischen die Gäste.
Wenzkat sprang auf und schlug mit der flachen Hand auf Lottes
Hinterteil. Sie kreischte, küßte ihn und drängte ihn, Beschwörungen
murmelnd, aus dem Zimmer. Sie verschwanden.
Nun saß Fabian mit der Haushälterin und zwei nackten Frauen am
Tisch, trank Sekt und unterhielt sich. "Ist hier immer so wenig los?" fragte
er.
"Neulich, zum Sängerfest, waren wir gut besucht", sagte die Blondine
und spielte nachdenklich mit ihren Brustґwarzen. "Da hatte ich an einem Tag
achtzehn Männer. Aber sonst ist es zum Sterben langweilig." "Wie im
Kloster", meinte die kleine Dunkle verloren und schob sich näher.
"Noch eine Flasche?" fragte die Haushälterin.
"Ich glaube nicht", sagte er. "Ich habe nur ein paar Mark eingesteckt."
"Ach Quatsch!" rief die Blondine. "Gustav hat Geld genug.
Außerdem hat er hier Kredit." Die Haushälterin entfernte sich, um die
zweite Flasche zu holen.
"Kommst du zu mir rauf?" fragte die Blondine.
"Ich bemerkte schon ganz richtig, daß ich kein Geld habe", sagte
er und war froh, daß er nicht zu lügen brauchte.
"Es ist zum Verzweifeln", rief die Blondine. "Bin ich dazu in den Puff
gegangen, daß ich wieder zuwachse? Komm, bring das Geld in den
nächsten Tagen vorbei!" Er lehnte ab.
Wenig später kam Wenzkat wieder aus dem Zimmer und placierte sich neben
die Blondine. "Jetzt brauchst du dich auch nicht zu mir zu setzen", sagte
sie beleidigt. Nun erschien auch Lotte. Sie hielt mit beiden Händen ihre
Sitzfläche. "So ein Schwein!" jammerte sie. "Immer diese Prügelei! Jetzt
kann ich wieder drei Tage nicht sitzen."
"Da hast du noch zehn Mark", sagte Wenzkat. Sie steckte das Geld in den
Halbschuh, und er schlug ihr, während sie sich bückte, wieder hintendrauf.
Sie machte böse Augen und wollte auf ihn losgehen.
"Setz dich hin!" befahl er. Dann legte er den Arm um die Hüfte der
Blondine und fragte: "Na, wollen wir?"
Sie betrachtete ihn prüfend und sagte: "Aber geprügelt wird bei mir
nicht. Ich bin für die richtige Machart."
Er nickte. Sie erhob sich und ging, die Anatomie schwenkend, voran.
"Ich sollte auf dich Obacht geben", meinte Fabian.
"Ach, Mensch", sagte der andere, "wer Sorgen hat, hat auch Likör." Dann
folgte er der Frau.
Die Haushälterin brachte die zweite Flasche und schenkte ein. Lotte
schimpfte auf Wenzkat und zeigte die Striemen. Die kleine Dunkelhaarige
zupfte Fabian an der Jacke und flüsterte: "Komm mal mit in mein Zimmer." Er
sah sie an, ihre Augen waren groß und ernst auf ihn gerichtet. "Ich
will dir was zeigen", erklärte sie ruhig, und dann gingen sie zusammen
hinaus. Das Zimmer der kleinen nackten Person war genauso türkisch und
geschmacklos eingerichґtet wie der Salon, aus dem sie kamen. Das Bett war
über und über geblümt und mit Spitzen besät. Die Bilder an der Wand waren
sehr lächerlich. Ein elektrischer Ofen erґwärmte die Luft. Das Fenster war
offen. Drei blühende Blumenstöcke standen davor.
Die Frau schloß das Fenster, trat zu Fabian, umarmte ihn und
streichelte sein Gesicht.
"Was wolltest du mir denn zeigen?" fragte er. Sie zeigte nichts. Sie
sagte nichts. Sie sah ihn an. Er klopfte ihr freundlich auf den Rücken. "Ich
habe doch aber kein Geld", sagte er. Sie schüttelte den Kopf, knöpfte ihm
die Weste auf, legte sich aufs Bett und betrachtete ihn abwartend, ohne sich
zu rühren.
Er zuckte die Achseln, zog den Anzug aus und legte sich zu ihr. Sie
umfing ihn aufatmend. Sie gab sich ganz behutsam hin und ihre Augen hingen
ernst an seinem Gesicht. Er wurde verlegen, als habe er eine Jungfer zur
Leichtfertigkeit überredet. Sie blieb stumm. Nur etwas später öffnete sich
ihr Mund, und sie stöhnte, doch auch das tat sie voller Zurückhaltung.
Hinterher brachte sie Wasser, träufelte aus zwei Flaschen Chemikalien
in die Schüssel und hielt dienstfertig ein Handtuch bereit.
Wenzkat saß zwischen Lotte und der Blondine, nickte Fabian zu und
war müde. Sie tranken die Flasche leer und verabschiedeten sich. Fabian
drückte der kleinen Dunkelґhaarigen zwei Zweimarkstücke in die Hand. "Ich
habe nicht mehr bei mir", sagte er leise. Sie sah ihn ernst an. Dann gingen
alle miteinander zur Treppe. Wenzkat wurde wieder laut, er war beschwipst.
Plötzlich spürte Fabian eine Hand in seiner Tasche. Als er auf der
Straße stand, griff er in die Tasche und fand seine zwei
Zweimarkstücke wieder.
"Hältst du das für möglich?" fragte er den anderen. "Ich habe der
Kleinen ein paar Mark gegeben, und nun hat sie mir das Geld wieder
zugesteckt."
Wenzkat gähnte laut und sagte: "Wo die Liebe hinfällt. Sie hat es
wahrscheinlich nötig gehabt. Übrigens, Jakob, wenn du zur
Klassenzusammenkunft kommen solltest, daß du nichts erzählst! Und
vergiß nicht, Freitag abend im Ratskeller." Dann ging er.
Fabian machte noch einen Spaziergang. Die Straßen waґren kaum
besucht. Die Straßenbahnen fuhren leer in die Depots. Auf der Brücke
blieb er stehen und sah in den Fluß hinunter. Die Bogenlampen
spiegelten sich zitternd und waren wie eine Serie kleiner ms Wasser
gefallener Monde. Der Fluß war breit. Es mußte im Gebirge
geregґnet haben. Auf den Hügeln, welche die Stadt umgaben, brannten viele
zwinkernde Lichter.
Während er hier stand, lag Labude aufgebahrt in einer Grunewaldvilla,
und Cornelia lag bei Herrn Makart im Himmelbett. Sehr weit weg lagen sie
beide. Fabian stand unter einem anderen Himmel. Hier hatte Deutschland kein
Fieber. Hier hatte es Untertemperatur.


VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Herr Knorr bat Hühneraugen
Die "Tagespost" sucht tüchtige Leute
Lernt schwimmen!

Tags darauf war er beim Bäcker und rief von dort aus im Büro von
Wenzkat an. Der hatte wenig Zeit. Er mußte aufs Gericht. Fabian
fragte, ob er keinen wüßte, der einen Direktionsposten zu vergeben
hätte.
"Geh doch mal zu Holzapfel", meinte Wenzkat. "Der ist in der
"Tagespost"."
"Was treibt er denn dort?"
"Erstens ist er Sportredakteur, zweitens schreibt er Muґsikkritiken.
Vielleicht weiß er etwas. Und erinnere ihn an Freitag abend. Auf
Wiedersehen."
Fabian ging nach Hause und erzählte, er wolle mal in die Altstadt zu
Holzapfel, der sei bei der "Tagespost" Redakteur. Vielleicht könne ihm der
behilflich sein. Die Mutter stand im Laden und wartete auf Kunden. "Das wäre
sehr schön, mein Junge", sagte sie. "Geh mit Gott!"
Auf der Straßenbahn karambolierte er, infolge einer Kurve, mit
einem baumlangen Herrn. Sie sahen einanґder mißgelaunt an. "Wir kennen
uns doch", meinte der Herr und streckte die Hand hin. Es war ein gewisser
Knorr, ehemaliger Oberleutnant der Reserve. Ihm hatte die Ausbildung jener
Einjährigen-Kompanie obgelegen, der Fabian angehört hatte. Er hatte die
Siebzehnjährigen geschunden und schinden lassen, als bezöge er von Tod und
Teufel Tantiemen.
"Stecken Sie rasch Ihre Hand wieder weg", sagte Fabian, "oder ich spuck
Ihnen drauf."
Herr Knorr, Spediteur von Beruf, befolgte den ernstgeґmeinten Rat und
lachte betreten. Denn sie waren nicht allein auf der Plattform. "Was hab ich
Ihnen denn getan?" fragte er, obwohl er das wußte.
"Wenn Sie nicht so groß wären, würde ich Ihnen jetzt eine
herunterhauen", sagte Fabian. "Da ich aber nicht bis zu Ihrer geschätzten
Wange hinaufreiche, muß ich mich anders behelfen." Und damit trat er
Herrn Knorr derartig auf die Hühneraugen, daß der die Lippen
zusammenpreßґte und ganz blaß wurde. Die Umstehenden lachten,
Fabian stieg ab und lief den Rest des Wegs.

Holzapfel, der Klassenkamerad von einst, wirkte außerordentlich
erwachsen, trank Flaschenbier und versah ein paar Bürstenabzüge mit
Hieroglyphen. "Setz dich, Jaґkob", sagte er. "Ich muß die Vorschau
fürs Rennen korrigieren und einen Sammelbericht über Klavierkonґzerte. Lange
nicht gesehen. Wo hast du gesteckt? Berlin, wie? Ich führe gern mal wieder
hinüber. Man kommt nicht dazu. Dauernd viel zu tun und dauernd Bier.
Schwielen im Gehirn, Schwielen am Gesäß, die Kinder werden immer
älter, die Freundinnen werden immer jünger, wenn das mal keine
Lungenentzündung gibt." Während er so vor sich hinfaselte, korrigierte und
trank er ruhig weiter. "Koppel hat sich scheiden lassen, er kam dahinter,
daß ihn seine Frau mit zwei anderen betrog. Er war ja immer schon ein
guter Mechaniker. Bretschneider hat die Apotheke verkauft und sich eine
Klitsche angeґschafft. Er züchtet rote Grütze und Salzkartoffeln. Jedem für
sein Geld, was ihm schmeckt. So, die Klavierkonzerte können warten." Er
klingelte nach dem Boten und schickґte die Fahne mit der Rennvorschau in die
Setzerei. Dann erzählte Fabian, daß er eine Stellung suche, zuletzt
habe er Propaganda gemacht. Aber ihm sei schon alles gleich, Hauptsache, er
finde hier in der Stadt Arbeit. "Von Musik verstehst du nichts. Vom Boxen
auch nicht", stellte Holzapfel fest. "Vielleicht kann man dich im Feuilleton
brauchen, für die zweite Theaterkritik oder etwas Ähnliches." Er hängte sich
ans Telefon und sprach mit dem Direktor. "Geh mal hin zu dem Kerl", schlug
er vor. "Erzähl ihm was Hübsches. Er ist eingebildet, aber gelehrig."
Fabian bedankte sich, erinnerte den anderen an die
Klasґsenzusammenkunft und ließ sich bei Direktor Hanke melden. "Doktor
Holzapfel ist ein Klassenkamerad von Ihnen?" fragte der Direktor. "Sie haben
Literaturgeґschichte studiert? Augenblicklich ist keine Stellung frei. Doch
das besagt nichts. Sollten Sie tüchtig sein, tüchtige Leute kann ich immer
brauchen. Arbeiten Sie vierzehn Tage auf eigenes Risiko. Ich mache Sie mit
dem Feuilleґtonchef bekannt. Wenn er Ihre Beiträge ablehnt, haben Sie Pech
gehabt. Sonst sind Sie mir als externer Mitarbeiter willkommen." Er wollte
auf die Klingel drücken.
"Einen Moment, Herr Direktor", sagte Fabian. "Ich danke Ihnen für die
Chance. Noch lieber würde ich als Propagandist arbeiten. Man könnte
beispielsweise eine Beratungsstelle für Inserenten einrichten, der
Kundschaft zugkräftige Texte vorschlagen und eventuell ganze Werbefeldzüge
organisieren. Man könnte die Auflageziffer des Blattes durch geschickte und
systematische Reklame vorteilhaft beeinflussen. Man könnte, in Kompanie mit
Großinserenten, lohnende Preisausschreiben durchfühґren. Man könnte
für die Abonnenten Boxabende und ähnliche Volksfeste veranstalten."
Der Direktor hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: "Unseґre
Großaktionäre sind nicht für die Berliner Methoden."
"Aber die Herren sind dafür, daß die Auflageziffer wächst!"
"Nicht mit Hilfe von Fisimatenten", erklärte der Direkґtor. "Immerhin,
ich werde mit unserem Insertionschef sprechen. In bescheidener Dosierung
sollte man vielleicht doch Maßnahmen ergreifen, denen wir uns auf die
Dauer nicht völlig werden entziehen können. Kommen Sie morґgen um elf
wieder. Ich will sehen, was ich tun kann. Bringen Sie ein paar Arbeiten mit.
Und Zeugnisse, falls Sie solches Gemüse auf Lager haben."
Fabian stand auf und bedankte sich für das erwiesene Interesse.
"Wenn wir Sie engagieren", sagte der Direktor, "erwarten Sie keine
phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heute sehr viel Geld."
"Für die Angestellten?" fragte Fabian neugierig.
"Nein", sagte der Direktor, "für die Aktionäre."

Fabian saß im Café Limberg, trank einen Kognak und machte sich
Gedanken. Es war hirnverbrannt, was er plante. Er wollte, falls man die
Gnade hatte, ihn zu nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein,
sich auszubreiten. Wollte er sich etwa einreden, ihn reize die Propaganda
schlechthin, ganz gleich, welchen Zwecken sie diente? Wollte er sich so
betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zweier Hundertmarkscheine im Monat,
Tag für Tag chloroformieren? Gehörte er zu Münzer und Konsorten?
Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches
Glied der Gesellschaft würde. Ein nützliches Glied dieser Gesellschaft,
dieser G.m.b.H.! Es ging nicht. So marode war er noch nicht. Geldverdienen
war für ihn noch immer nicht die Hauptsache.
Er beschloß, den Eltern zu verschweigen, daß er bei der
"Tagespost" unterkriechen konnte. Er wollte nicht unterґkriechen. Zum
Donnerwetter, er kroch nicht zu Kreuze! Er beschloß, dem Direktor
abzusagen, und kaum hatte er sich dazu entschieden, wurde ihm wohler. Er
konnte die restlichen tausend Mark von Labude nehmen, ins Erzgeґbirge
hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein
halbes Jahr oder länger. Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts
dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die Gipfel und die Spielzeugstädte
von Schülerfahrten her. Er kannte die Wälder, die Bergwiesen, die Seen und
die armen geduckґten Dörfer. Andere Leute fuhren in die Südsee, das
Erzgebirge war billiger. Vielleicht kam er dort oben zu sich. Vielleicht
wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein Mann. Vielleicht fand er auf
den einsamen Waldpfaden ein Ziel, das den Einsatz lohnte. Vielleicht
reichten sogar fünfhundert Mark. Die andere Hälfte konnte er der Mutter
lassen.

Also los, an den Busen der Natur, marschmarsch! Bis Fabian
wiederkehrte, war die Welt einen Schritt vorangeґkommen, oder zwei Schritte
zurück. Wohin sie sich auch drehte, jede andere Lage war richtiger als die
gegenwärtiґge. Jede andere Stiuation war für ihn aussichtsreicher, ob es
Kampf galt oder Arbeit. Er konnte nicht mehr danebenґstehen wie das Kind
beim Dreck. Er konnte noch nicht helfen und zupacken, denn wo sollte er
zupacken, und mit wem sollte er sich verbünden? Er wollte in die Stille zu
Besuch und der Zeit vom Gebirge her zuhören, bis er den Startschuß
vernahm, der ihm galt und denen, die ihm glichen.
Er trat aus dem Café. Aber war das nicht Flucht, was er vorhatte? Fand
sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit und überall ein Tatort?
Worauf wartete er seit Jahren? Vielleicht auf die Erkenntnis, daß er
zum Zuґschauer bestimmt und geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte,
zum Akteur im Welttheater?
Er blieb an Geschäften stehen, er sah Kleider, Hüte und Ringe, und er
sah doch nichts. An einem Korsettgeschäft kam er wieder zu sich. Das Leben
war eine der interessanґtesten Beschäftigungen, trotz alledem. Die
Barockgebäuґde der Schloßstraße standen noch immer. Die Erbauer
und die ersten Mieter waren lange tot. Ein Glück, daß er nicht
umgekehrt war.
Fabian ging über die Brücke.
Plötzlich sah er, daß ein kleiner Junge auf dem steinernen
Brückengeländer balancierte. Fabian beschleunigte seine Schritte. Er rannte.
Da schwankte der Junge, stieß einen gellenden Schrei aus, sank in die
Knie, warf die Arme in die Luft und stürzte vom Geländer in den Fluß.
Ein paar Passanten, die den Schrei gehört hatten, drehten sich um.
Fabian beugte sich über das breite Geländer. Er sah den Kopf des Kindes und
die Hände, die das Wasser schlugen. Da zog er die Jacke aus und sprang, das
Kind zu retten, hinterher. Zwei Straßenbahnen blieben stehen. Die
Fahrgäste kletterten aus dem Wagen und beobachteґten, was geschah. Am Ufer
rannten aufgeregte Leute hin und wider.
Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer.
Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen.



1931