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Schwingen von seinem дtherischen Element - hierьber fehlt jede Zeugenschaft.
Aber allmдhlich weiЯ schon die von ihrer Tollheit ernьchterte Welt, daЯ von
allen Grausamkeiten und verbrecherischen Ьbergriffen dieses Krieges keine
sinnloser, ьberflьssiger und darum moralisch unentschuldbarer gewesen als
das Zusammenfangen und Einhьrden hinter Stacheldraht von ahnungslosen,
lдngst dem Dienstalter entwachsenen Zivilpersonen, die viele Jahre in dem
fremden Lande als in einer Heimat gewohnt und aus Treuglдubigkeit an das
selbst bei Tungusen und Araukanern geheiligte Gastrecht versдumt hatten,
rechtzeitig zu fliehen - ein Verbrechen an der Zivilisation, gleich sinnlos
begangen in Frankreich, Deutschland und England, auf jeder Scholle unseres
irrwitzig gewordenen Europa. Und vielleicht wдre Jakob Mendel wie hundert
andere Unschuldige in dieser Hьrde dem Wahnsinn verfallen oder an Ruhr, an
Entkrдftung, an seelischer Zerrьttung erbдrmlich zugrunde gegangen, hдtte
nicht knapp rechtzeitig ein Zufall, ein echt цsterreichischer, ihn noch
einmal in seine Welt zurьckgeholt. Es waren nдmlich mehrmals nach seinem
Verschwinden an seine Adresse Briefe von vornehmen Kunden gekommen; der Graf
Schцnberg, der ehemalige Statthalter von Steiermark, fanatischer Sammler
heraldischer Werke, der frьhere Dekan der theologischen Fakultдt Siegenfeld,
der an einem Kommentar des Augustinus arbeitete, der achtzigjдhrige
pensionierte Flottenadmiral Edler von Pisek, der noch immer an seinen
Erinnerungen herumbesserte - sie alle, seine treuen Klienten, hatten
wiederholt an Jakob Mendel ins Cafй Gluck geschrieben, und von diesen
Briefen wurden dem Verschollenen einige in das Konzentrationslager
nachgeschickt. Dort fielen sie dem zufдllig gutgesinnten Hauptmann in die
Hдnde, und der erstaunte, was fьr vornehme Bekanntschaften dieser kleine
halbblinde, schmutzige Jude habe, der, seit man ihm seine Brille zerschlagen
(er hatte kein Geld, sich eine neue zu verschaffen), wie ein Maulwurf, grau,
augenlos und stumm in einer Ecke hockte. Wer solche Freunde besaЯ, muЯte
immerhin etwas Besonderes sein. So erlaubte er Mendel, diese Briefe zu
beantworten und seine Gцnner um Fьrsprache zu bitten. Die blieb nicht aus.
Mit der leidenschaftlichen Solidaritдt aller Sammler kurbelten die Exzellenz
sowie der Dekan ihre Verbindungen krдftig an, und ihre vereinte Bьrgschaft
erreichte, daЯ Buchmendel im Jahre 1917 nach mehr als zweijдhriger
Konfinierung wieder nach Wien zurьckdurfte, freilich unter der Bedingung,
sich tдglich bei der Polizei zu melden. Aber doch, er durfte wieder in die
freie Welt, in seinen alten, kleinen, engen Mansardenraum, er konnte wieder
an seinen geliebten Bьcherauslagen vorbei und vor allem zurьck in sein Cafй
Gluck.
Diese Rьckkehr Mendels aus seiner hцllischen Unterwelt in das Cafй
Gluck konnte mir die brave Frau Sporschil aus eigener Erfahrung schildern.
"Eines Tages - Jessas, Marand Joseph, ich glaub, ich trau meine Augen nicht
- da schiebt sich die Tьr auf, Sie wissen ja, in der gewissen schiefen Art,
nur grad einen Spalt weit, wie er immer hereingekommen ist, und schon
stolpert er ins Cafй, der arme Herr Mendel. Einen zerschundenen
Militдrmantel voller Stopfen hat er angehabt und irgendwas am Kopf, was
vielleicht einmal ein Hut war, ein weggeworfener. Keinen Kragen hat er
angehabt, und wie der Tod hat er ausgeschaut, grau im Gesicht und grau das
Haar und so mager, daЯ es einen derbarmt hat. Aber er kommt herein, grad,
als ob nix gwesen war, er fragt nix, er sagt nix, geht hin zu dem Tisch da
und zieht den Mantel aus, aber nicht wie frьher so fix und leicht, sondern
schwer schnaufen mьssen hat er dabei. Und kein Buch hat er mitghabt wie
sonst -- er setzt sich nur hin und sagt nix, und tut nur hinstarren vor sich
mit ganz leere, ausgelaufene Augen. Erst nach und nach, wie wir ihm dann den
ganzen Pack bracht haben von die Schriften, die was fьr ihn kommen waren aus
Deutschland, da hat er wieder angfangen zu lesen. Aber er war nicht
derselbige mehr."
Nein, er war nicht derselbe, nicht das Miraculum mundi mehr, die
magische Registratur aller Bьcher: alle, die ihn damals sahen, haben mir
wehmьtig das gleiche berichtet. Irgend etwas schien rettungslos zerstцrt in
seinem sonst stillen, nur wie schlafend lesenden Blick; etwas war
zertrьmmert: der grauenhafte Blutkomet muЯte in seinem rasenden Lauf
schmetternd hineingeschlagen haben auch in den abseitigen, friedlichen, in
diesen alkyonischen Stern seiner Bьcherwelt. Seine Augen, jahrzehntelang
gewцhnt an die zarten, lautlosen, insektenfьЯigen Lettern der Schrift, sie
muЯten Furchtbares gesehen haben in jener stacheldrahtumspannten
Menschenhьrde, denn die Lider schatteten schwer ьber den einst so flinken
und ironisch funkelnden Pupillen, schlдfrig und rotrandig dдmmerten die
vordem so lebhaften Blicke unter der reparierten, mit dьnnem Bindfaden
mьhsam zusammengebundenen Brille. Und furchtbarer noch: in dem
phantastischen Kunstbau seines Gedдchtnisses muЯte irgendein Pfeiler
eingestьrzt und das ganze Gefьge in Unordnung geraten sein; denn so zart ist
ja unser Gehirn, dies aus subtilster Substanz gestaltete Schaltwerk, dies
feinmechanische Prдzisionsinstrument unseres Wissens zusammengestimmt, daЯ
ein gestautes Aderchen, ein erschьtterter Nerv, eine ermьdete Zelle, daЯ ein
solches verschobenes Molekьl schon zureicht, um die herrlich umfassendste,
die sphдrische Harmonie eines Geistes zum Verstummen zu bringen. Und in
Mendels Gedдchtnis, dieser einzigen Klaviatur des Wissens, stockten bei
seiner Rьckkunft die Tasten. Wenn ab und zu jemand um Auskunft kam, starrte
er ihn erschцpft an und verstand nicht mehr genau, er verhцrte sich und
vergaЯ, was man ihm sagte - Mendel war nicht mehr Mendel, wie die Welt nicht
mehr die Welt war. Nicht mehr wiegte ihn vцllige Versunkenheit beim Lesen
auf und nieder, sondern meist saЯ er starr, die Brille nur mechanisch gegen
das Buch gewandt, ohne daЯ man wuЯte, ob er las oder nur vor sich hin
dдmmerte. Mehrmals fiel ihm, so crzдhltedieSporschil, der Kopf schwer nieder
auf das Buch, und er schlief ein am hellichten Tag, manchmal starrte er
wieder stundenlang in das fremde stinkende Licht der Azetylenlampe, die man
ihm in jener Zeit der Kohlennot auf den Tisch gestellt. Nein, Mendel war
nicht mehr Mendel, nicht mehr ein Wunder der Welt, sondern ein mьd atmender,
nutzloser Pack Bart und Kleider, sinnlos auf dem einst pythischen Sessel
hingelastet, nicht mehr der Ruhm des Cafй Gluck, sondern eine Schande, ein
Schmierfleck, ьbelriechend, widrig anzusehen, ein unbequemer, unnцtiger
Schmarotzer.
So empfand ihn auch der neue Besitzer, namens Florian Gurtner aus Retz,
der, an Mehl- und Butterschiebungen im Hungerjahr 1919 reich geworden, dem
biedern Standhartner fьr achtzigtausend rasch zerblдtterte Papierkronen das
Cafй Gluck abgeschwatzt hatte. Er griff mit seinen festen Bauernhдnden
scharf zu, krempelte das altehrwьrdige Kaffeehaus hastig auf nobel um,
kaufte fьr schlechte Zettel rechtzeitig neue Fauteuils, installierte ein
Marmorportal und verhandelte bereits wegen des Nachbarlokals, um eine
Musikdiele anzubauen. Bei dieser hastigen Verschцnerung stцrte ihn natьrlich
sehr dieser galizische Schmarotzer, der tagsьber von frьh bis nachts allein
einen Tisch besetzt hielt und dabei im ganzen nur zwei Schalen Kaffee trank
und fьnf Brote verzehrte. Zwar hatte Standhartner ihm seinen alten Gast
besonders ans Herz gelegt und zu erklдren versucht, was fьr ein bedeutender
und wichtiger Mann dieser Jakob Mendel sei, er hatte ihn sozusagen bei der
Ьbergabe mit dem Inventar als ein auf dem Unternehmen lastendes Servitut
mitьbergeben. Aber Florian Gurtner hatte sich mit den neuen Mцbeln und der
blanken Aluminiumzahlkasse auch das massive Gewissen der Verdienerzeit
zugelegt und wartete nur auf einen Vorwand, um .diesen letzten lдstigen Rest
vorstдdtischer Schдbigkeit aus seinem vornehm gewordenen Lokal
hinauszukehren. Ein guter AnlaЯ schien sich bald einzustellen; denn es ging
Jakob Mendel schlecht. Seine letzten gesparten Banknoten waren zerpulvert in
der Papiermьhle der Inflation, seine Kunden hatten sich verlaufen. Und
wieder als kleiner Buchtrцdler Treppen zu steigen, Bьcher hausierend
zusammenzuraffen, dazu fehlte dem Mьdgewordenen die Kraft. Es ging ihm
elend, man merkte das an hundert kleinen Zeichen. Selten lieЯ er sich mehr
vom Gasthaus etwas herьberholen, und auch das kleinste Entgelt fьr Kaffee
und Brot blieb er immer lдnger schuldig, einmal sogar drei Wochen lang.
Schon damals wollte ihn der Oberkellner auf die StraЯe setzen. Da erbarmte
sich die brave Frau Sporschil, die Toilettenfrau, und bьrgte fьr ihn.
Aber im nдchsten Monat ereignete sich dann das Unglьck. Bereits
mehrmals hatte der neue Oberkellner bemerkt, daЯ es bei der Abrechnung nie
recht mit dem Gebдck stimmen wollte. Immer mehr Brote erwiesen sich als
fehlend, als angesagt und bezahlt waren. Sein Verdacht lenkte sich
selbstverstдndlich gleich auf Mendel; denn mehrmals war schon der alte
wacklige Dienstmann gekommen, um sich zu beschweren, Mendel sei ihm seit
einem halben Jahre die Bezahlung schuldig, und er kцnne keinen Heller
herauskriegen. So paЯte der Oberkellner jetzt besonders auf, und schon zwei
Tage spдter gelang es ihm, hinter dem Ofenschirm versteckt, Jakob Mendel zu
ertappen, wie er heimlich von seinem Tische aufstand, in das andere vordere
Zimmer hinьberging, rasch aus einem Brotkorb zwei Semmeln nahm und sie
gierig in sich hineinstopfte. Bei der Abrechnung behauptete er, keine
gegessen zu haben. Nun war das Verschwinden geklдrt. Der Kellner meldete
sofort den Vorfall Herrn Gurtner, und dieser, froh des langgesuchten
Vorwands, brьllte Mendel vor allen Leuten an, beschuldigte ihn des
Diebstahls und tat sogar noch dick, daЯ er nicht sofort die Polizei rufe.
Aber er befahl ihm, sogleich und fьr immer sich zum Teufel zu scheren. Jakob
Mendel zitterte nur, sagte nichts, stolperte auf von seinem Sitz und ging.
"Ein Jammer war's", schilderte die Frau Sporschil diesen seinen
Abschied. "Nie werd ich's vergessen, wie er aufgestanden ist, die Brille
hinaufgeschoben in die Stirn, weiЯ wie ein Handtuch. Nicht Zeit hat er sich
genommen, den Mantel anzuziehen, obwohl's Januar war, Sie wissen ja, damals
im kalten Jahr. Und sein Buch hat er liegen lassen auf dem Tisch in seinem
Schreck, ich hab's erst spдter bemerkt und wollt's ihm noch nachtragen. Aber
da war er schon hinabgestolpert zur Tьr. Und weiter auf die StraЯen hatt ich
mich nicht traut; denn an die Tьr hat sich der Herr Gurtner hingstellt und
ihm nachgschrien, daЯ die Leut stehenblieben und zusammengelaufen sind. Ja,
eine Schand war's, gschдmt hab ich mich bis in die unterste Seel! So was hat
nicht passieren kцnnen bei dem alten Herrn Standhartner, daЯ man einen
ausjagt nur wegen ein paar Semmeln, bei dem hдtt er umsonst essen kцnnen
noch sein Leben lang. Aber die Leute von heut, die haben ja kein Herz. Einen
wegzutreiben, der ьber dreiЯig Jahre wo gsessen ist Tag fьr Tag - wirklich,
eine Schand war's, und ich mцcht's nicht zu verantworten haben vor dem
lieben Gott - ich nicht."
Ganz aufgeregt war sie geworden, die gute Frau, und mit der
leidenschaftlichen Geschwдtzigkeit des Alters wiederholte sie immer wieder
das von der Schand und vom Herrn Standhartner, der zu so was nicht imstande
gewesen wдre. So muЯte ich sie schlieЯlich fragen, was denn aus unserm
Mendel geworden sei und ob sie ihn wiedergesehen. Da rappelte sie sich
zusammen und wurde noch erregter. "Jeden Tag, wenn ich vorьbergegangen hin
an seinem Tisch, jedesmal, das kцnnen S' mir glauben, hat's mir einen StoЯ
geben. Immer hab ich denken mьssen, wo mag er jetzt sein, der arme Herr
Mendel, und wenn ich gwuЯt hдtt, wo er wohnt, ich war hin, ihm was Warmes
bringen; denn wo hдtt er denn das Geld hernehmen sollen zum heizen und zum
Essen? Und Verwandte hat er auf der Welt, soviel ich weiЯ, niemanden gehabt.
Aber schlieЯlich, wie ich immer und immer nix gehцrt hab, da hab ich mir
schon denkt, es muЯ vorbei mit ihm sein, und ich wьrd ihn nimmer sehen. Und
schon hab ich ьberlegt, ob ich nicht sollt eine Messe fьr ihn lesen lassen;
denn ein guter Mensch war er, und man hat sich doch gekannt, mehr als
fьnfundzwanzig Jahr.
Aber einmal in der Frьh, um halb acht Uhr im Februar, ich putz grad das
Messing an die Fensterstangen, auf einmal (ich mein, mich trifft der
Schlag), auf einmal tut sich die Tьr auf, und herein kommt der Mendel. Sie
wissen ja: immer ist er so schief und verwirrt hereingschoben, aber diesmal
war's noch irgendwie anders. Ich merk gleich, den reiЯt's hin und her, ganz
glanzige Augen hat er gehabt und, mein Gott, wie er ausgschaut hat, nur Bein
und Bart! Sofort kommt's mir entrisch vor, wie ich ihn so seh: ich denk mir
gleich, der weiЯ von nichts, der geht am hellichten Tag umeinand als ein
Schlafeter, der hat alles vergessen, das von die Semmeln und das vom Herrn
Gurtner und wie schandbar sie ihn hinausgschmissen haben, der weiЯ nichts
von sich selber. Gott sei Dank! der Herr Gurtner war noch nicht da, und der
Oberkellner hat grad seinen Kaffee trunken. Da spring ich rasch hin, damit
ich ihm klarmach, er solle nicht dableiben, sich nicht noch einmal
hinauswerfen lassen von dem rohen Kerl" (und dabei sah sie sich scheu um und
korrigierte rasch) "ich mein, vom Herrn Gurtner. Also, Herr Mendel', ruf ich
ihn an. Er starrt auf. Und da, in dem Augenblick, mein Gott, schrecklich war
das, in dem Augenblick muЯ er sich an alles erinnert haben; denn er fahrt
sofort zusammen und fangt an zu zittern, aber nicht bloЯ mit die Finger
zittert er, nein, als ein Ganzer hat er gescheppert, daЯ man's bis an die
Schultern kennt hat, und schon stolpert er wieder rasch auf die Tьr zu. Dort
ist er dann zusammgfallen. Wir haben gleich um die Rettungsgesellschaft
telephoniert, und die hat ihn weggefьhrt, fiebrig, wie er war. Am Abend ist
er gestorben, Lungenentzьndung, hochgradige, hat der Doktor gesagt, und
auch, daЯ er schon damals nicht mehr recht gewuЯt hat von sich, wie er noch
einmal zu uns kommen ist. Es hat ihn halt nur so hergetrieben, als einen
Schlafeten. Mein Gott, wenn man sechsunddreiЯig Jahr einmal so gesessen ist
jeden Tag, dann ist eben so ein Tisch einem sein Zuhaus."
Wir sprachen noch lange von ihm, die beiden letzten, die diesen
sonderbaren Menschen gekannt, ich, dem er als jungem Mann trotz seiner
mikrobenhaft winzigen Existenz die erste Ahnung eines vollkommen
umschlossenen Lebens im Geiste gegeben sie, die arme, abgeschundene
Toilettenfrau, die nie ein Buch gelesen, die diesem Kameraden ihrer untern
armen Weit nur verbunden war, weil sie ihm durch fьnfundzwanzig Jahre den
Mantel gebьrstet und die Knцpfe angenдht hatte. Und doch, wir verstanden
einander wunderbar gut an seinem alten, verlassenen Tisch in der
Gemeinschaft des vereint heraufbeschworenen Schattens; denn Erinnerung
verbindet immer, und zwiefach jede Erinnerung in Liebe Plцtzlich, mitten im
Schwatzen, besann sie sich: "Jessas, wie ich vergessig bin das - Buch hab
ich ja noch, das was er damals am Tisch liegen lassen hat. Wo hдtt ich's ihm
denn hintragen sollen? Und nachher, wie sich niemand gemeldt hat, nachher
hab ich gmeint, ich dьrft's mir behalten als Andenken. Nicht wahr, da ist
doch nix Unrechts dabei?" Hastig brachte sie's heran aus ihrem rьckwдrtigen
Verschlag. Und ich hatte Mьhe, ein kleines Lдcheln zu unterdrьcken; denn
gerade dem Erschьtternden mengt das immer spielfreudige und manchmal
ironische Schicksal das Komische gerne boshaft zu. Es war der zweite Band
von Hayns Bibliotheca Germanorum crotica et curiosa, das jedem Buchsamrnler
wohlbekannte Kompendium galanter Literatur. Gerade dies skabrцse Verzeichnis
- habent sua fata libelli - war als letztes Vermдchtnis des hingegangenen
Magiers zurьckgefallen in diese abgemьrbten, rot aufgesprungenen,
unwissenden Hдnde, die wohl nie ein anderes als das Gebetbuch gehalten. Ich
hatte Mьhe, meine Lippen festzuklemmen gegen das unwillkьrlich von innen
aufdrдngende Lдcheln, und dies kleine Zцgern verwirrte die brave Frau. Ob's
am Ende was Kostbares wдr, oder ob ich meinte, daЯ sie es behalten dьrft?
Ich schьttelte ihr herzlich die Hand. "Behalten Sie's nur ruhig, unser
alter Freund Mendel hдtte nur Freude, daЯ wenigstens einer von den vielen
Tausenden, die ihm ein Buch danken, sich noch seiner erinnert." Und dann
ging ich und schдmte mich vor dieser braven alten Frau, die in einfдltiger
und doch menschlichster Art diesem Toten treu geblieben. Denn sie, die
Unbelehrte, sie hatte wenigstens ein Buch bewahrt, um seiner besser zu
gedenken, ich aber, ich hatte jahrelang Buchmendel vergessen, gerade ich,
der ich doch wissen sollte, daЯ man Bьcher nur schafft, um ьber den eigenen
Atem hinaus sich Menschen zu verbinden und sich so zu verteidigen gegen den
unerbittlichen Widerpart alles Lebens: Vergдnglichkeit und Vergessensein.
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Aber allmдhlich weiЯ schon die von ihrer Tollheit ernьchterte Welt, daЯ von
allen Grausamkeiten und verbrecherischen Ьbergriffen dieses Krieges keine
sinnloser, ьberflьssiger und darum moralisch unentschuldbarer gewesen als
das Zusammenfangen und Einhьrden hinter Stacheldraht von ahnungslosen,
lдngst dem Dienstalter entwachsenen Zivilpersonen, die viele Jahre in dem
fremden Lande als in einer Heimat gewohnt und aus Treuglдubigkeit an das
selbst bei Tungusen und Araukanern geheiligte Gastrecht versдumt hatten,
rechtzeitig zu fliehen - ein Verbrechen an der Zivilisation, gleich sinnlos
begangen in Frankreich, Deutschland und England, auf jeder Scholle unseres
irrwitzig gewordenen Europa. Und vielleicht wдre Jakob Mendel wie hundert
andere Unschuldige in dieser Hьrde dem Wahnsinn verfallen oder an Ruhr, an
Entkrдftung, an seelischer Zerrьttung erbдrmlich zugrunde gegangen, hдtte
nicht knapp rechtzeitig ein Zufall, ein echt цsterreichischer, ihn noch
einmal in seine Welt zurьckgeholt. Es waren nдmlich mehrmals nach seinem
Verschwinden an seine Adresse Briefe von vornehmen Kunden gekommen; der Graf
Schцnberg, der ehemalige Statthalter von Steiermark, fanatischer Sammler
heraldischer Werke, der frьhere Dekan der theologischen Fakultдt Siegenfeld,
der an einem Kommentar des Augustinus arbeitete, der achtzigjдhrige
pensionierte Flottenadmiral Edler von Pisek, der noch immer an seinen
Erinnerungen herumbesserte - sie alle, seine treuen Klienten, hatten
wiederholt an Jakob Mendel ins Cafй Gluck geschrieben, und von diesen
Briefen wurden dem Verschollenen einige in das Konzentrationslager
nachgeschickt. Dort fielen sie dem zufдllig gutgesinnten Hauptmann in die
Hдnde, und der erstaunte, was fьr vornehme Bekanntschaften dieser kleine
halbblinde, schmutzige Jude habe, der, seit man ihm seine Brille zerschlagen
(er hatte kein Geld, sich eine neue zu verschaffen), wie ein Maulwurf, grau,
augenlos und stumm in einer Ecke hockte. Wer solche Freunde besaЯ, muЯte
immerhin etwas Besonderes sein. So erlaubte er Mendel, diese Briefe zu
beantworten und seine Gцnner um Fьrsprache zu bitten. Die blieb nicht aus.
Mit der leidenschaftlichen Solidaritдt aller Sammler kurbelten die Exzellenz
sowie der Dekan ihre Verbindungen krдftig an, und ihre vereinte Bьrgschaft
erreichte, daЯ Buchmendel im Jahre 1917 nach mehr als zweijдhriger
Konfinierung wieder nach Wien zurьckdurfte, freilich unter der Bedingung,
sich tдglich bei der Polizei zu melden. Aber doch, er durfte wieder in die
freie Welt, in seinen alten, kleinen, engen Mansardenraum, er konnte wieder
an seinen geliebten Bьcherauslagen vorbei und vor allem zurьck in sein Cafй
Gluck.
Diese Rьckkehr Mendels aus seiner hцllischen Unterwelt in das Cafй
Gluck konnte mir die brave Frau Sporschil aus eigener Erfahrung schildern.
"Eines Tages - Jessas, Marand Joseph, ich glaub, ich trau meine Augen nicht
- da schiebt sich die Tьr auf, Sie wissen ja, in der gewissen schiefen Art,
nur grad einen Spalt weit, wie er immer hereingekommen ist, und schon
stolpert er ins Cafй, der arme Herr Mendel. Einen zerschundenen
Militдrmantel voller Stopfen hat er angehabt und irgendwas am Kopf, was
vielleicht einmal ein Hut war, ein weggeworfener. Keinen Kragen hat er
angehabt, und wie der Tod hat er ausgeschaut, grau im Gesicht und grau das
Haar und so mager, daЯ es einen derbarmt hat. Aber er kommt herein, grad,
als ob nix gwesen war, er fragt nix, er sagt nix, geht hin zu dem Tisch da
und zieht den Mantel aus, aber nicht wie frьher so fix und leicht, sondern
schwer schnaufen mьssen hat er dabei. Und kein Buch hat er mitghabt wie
sonst -- er setzt sich nur hin und sagt nix, und tut nur hinstarren vor sich
mit ganz leere, ausgelaufene Augen. Erst nach und nach, wie wir ihm dann den
ganzen Pack bracht haben von die Schriften, die was fьr ihn kommen waren aus
Deutschland, da hat er wieder angfangen zu lesen. Aber er war nicht
derselbige mehr."
Nein, er war nicht derselbe, nicht das Miraculum mundi mehr, die
magische Registratur aller Bьcher: alle, die ihn damals sahen, haben mir
wehmьtig das gleiche berichtet. Irgend etwas schien rettungslos zerstцrt in
seinem sonst stillen, nur wie schlafend lesenden Blick; etwas war
zertrьmmert: der grauenhafte Blutkomet muЯte in seinem rasenden Lauf
schmetternd hineingeschlagen haben auch in den abseitigen, friedlichen, in
diesen alkyonischen Stern seiner Bьcherwelt. Seine Augen, jahrzehntelang
gewцhnt an die zarten, lautlosen, insektenfьЯigen Lettern der Schrift, sie
muЯten Furchtbares gesehen haben in jener stacheldrahtumspannten
Menschenhьrde, denn die Lider schatteten schwer ьber den einst so flinken
und ironisch funkelnden Pupillen, schlдfrig und rotrandig dдmmerten die
vordem so lebhaften Blicke unter der reparierten, mit dьnnem Bindfaden
mьhsam zusammengebundenen Brille. Und furchtbarer noch: in dem
phantastischen Kunstbau seines Gedдchtnisses muЯte irgendein Pfeiler
eingestьrzt und das ganze Gefьge in Unordnung geraten sein; denn so zart ist
ja unser Gehirn, dies aus subtilster Substanz gestaltete Schaltwerk, dies
feinmechanische Prдzisionsinstrument unseres Wissens zusammengestimmt, daЯ
ein gestautes Aderchen, ein erschьtterter Nerv, eine ermьdete Zelle, daЯ ein
solches verschobenes Molekьl schon zureicht, um die herrlich umfassendste,
die sphдrische Harmonie eines Geistes zum Verstummen zu bringen. Und in
Mendels Gedдchtnis, dieser einzigen Klaviatur des Wissens, stockten bei
seiner Rьckkunft die Tasten. Wenn ab und zu jemand um Auskunft kam, starrte
er ihn erschцpft an und verstand nicht mehr genau, er verhцrte sich und
vergaЯ, was man ihm sagte - Mendel war nicht mehr Mendel, wie die Welt nicht
mehr die Welt war. Nicht mehr wiegte ihn vцllige Versunkenheit beim Lesen
auf und nieder, sondern meist saЯ er starr, die Brille nur mechanisch gegen
das Buch gewandt, ohne daЯ man wuЯte, ob er las oder nur vor sich hin
dдmmerte. Mehrmals fiel ihm, so crzдhltedieSporschil, der Kopf schwer nieder
auf das Buch, und er schlief ein am hellichten Tag, manchmal starrte er
wieder stundenlang in das fremde stinkende Licht der Azetylenlampe, die man
ihm in jener Zeit der Kohlennot auf den Tisch gestellt. Nein, Mendel war
nicht mehr Mendel, nicht mehr ein Wunder der Welt, sondern ein mьd atmender,
nutzloser Pack Bart und Kleider, sinnlos auf dem einst pythischen Sessel
hingelastet, nicht mehr der Ruhm des Cafй Gluck, sondern eine Schande, ein
Schmierfleck, ьbelriechend, widrig anzusehen, ein unbequemer, unnцtiger
Schmarotzer.
So empfand ihn auch der neue Besitzer, namens Florian Gurtner aus Retz,
der, an Mehl- und Butterschiebungen im Hungerjahr 1919 reich geworden, dem
biedern Standhartner fьr achtzigtausend rasch zerblдtterte Papierkronen das
Cafй Gluck abgeschwatzt hatte. Er griff mit seinen festen Bauernhдnden
scharf zu, krempelte das altehrwьrdige Kaffeehaus hastig auf nobel um,
kaufte fьr schlechte Zettel rechtzeitig neue Fauteuils, installierte ein
Marmorportal und verhandelte bereits wegen des Nachbarlokals, um eine
Musikdiele anzubauen. Bei dieser hastigen Verschцnerung stцrte ihn natьrlich
sehr dieser galizische Schmarotzer, der tagsьber von frьh bis nachts allein
einen Tisch besetzt hielt und dabei im ganzen nur zwei Schalen Kaffee trank
und fьnf Brote verzehrte. Zwar hatte Standhartner ihm seinen alten Gast
besonders ans Herz gelegt und zu erklдren versucht, was fьr ein bedeutender
und wichtiger Mann dieser Jakob Mendel sei, er hatte ihn sozusagen bei der
Ьbergabe mit dem Inventar als ein auf dem Unternehmen lastendes Servitut
mitьbergeben. Aber Florian Gurtner hatte sich mit den neuen Mцbeln und der
blanken Aluminiumzahlkasse auch das massive Gewissen der Verdienerzeit
zugelegt und wartete nur auf einen Vorwand, um .diesen letzten lдstigen Rest
vorstдdtischer Schдbigkeit aus seinem vornehm gewordenen Lokal
hinauszukehren. Ein guter AnlaЯ schien sich bald einzustellen; denn es ging
Jakob Mendel schlecht. Seine letzten gesparten Banknoten waren zerpulvert in
der Papiermьhle der Inflation, seine Kunden hatten sich verlaufen. Und
wieder als kleiner Buchtrцdler Treppen zu steigen, Bьcher hausierend
zusammenzuraffen, dazu fehlte dem Mьdgewordenen die Kraft. Es ging ihm
elend, man merkte das an hundert kleinen Zeichen. Selten lieЯ er sich mehr
vom Gasthaus etwas herьberholen, und auch das kleinste Entgelt fьr Kaffee
und Brot blieb er immer lдnger schuldig, einmal sogar drei Wochen lang.
Schon damals wollte ihn der Oberkellner auf die StraЯe setzen. Da erbarmte
sich die brave Frau Sporschil, die Toilettenfrau, und bьrgte fьr ihn.
Aber im nдchsten Monat ereignete sich dann das Unglьck. Bereits
mehrmals hatte der neue Oberkellner bemerkt, daЯ es bei der Abrechnung nie
recht mit dem Gebдck stimmen wollte. Immer mehr Brote erwiesen sich als
fehlend, als angesagt und bezahlt waren. Sein Verdacht lenkte sich
selbstverstдndlich gleich auf Mendel; denn mehrmals war schon der alte
wacklige Dienstmann gekommen, um sich zu beschweren, Mendel sei ihm seit
einem halben Jahre die Bezahlung schuldig, und er kцnne keinen Heller
herauskriegen. So paЯte der Oberkellner jetzt besonders auf, und schon zwei
Tage spдter gelang es ihm, hinter dem Ofenschirm versteckt, Jakob Mendel zu
ertappen, wie er heimlich von seinem Tische aufstand, in das andere vordere
Zimmer hinьberging, rasch aus einem Brotkorb zwei Semmeln nahm und sie
gierig in sich hineinstopfte. Bei der Abrechnung behauptete er, keine
gegessen zu haben. Nun war das Verschwinden geklдrt. Der Kellner meldete
sofort den Vorfall Herrn Gurtner, und dieser, froh des langgesuchten
Vorwands, brьllte Mendel vor allen Leuten an, beschuldigte ihn des
Diebstahls und tat sogar noch dick, daЯ er nicht sofort die Polizei rufe.
Aber er befahl ihm, sogleich und fьr immer sich zum Teufel zu scheren. Jakob
Mendel zitterte nur, sagte nichts, stolperte auf von seinem Sitz und ging.
"Ein Jammer war's", schilderte die Frau Sporschil diesen seinen
Abschied. "Nie werd ich's vergessen, wie er aufgestanden ist, die Brille
hinaufgeschoben in die Stirn, weiЯ wie ein Handtuch. Nicht Zeit hat er sich
genommen, den Mantel anzuziehen, obwohl's Januar war, Sie wissen ja, damals
im kalten Jahr. Und sein Buch hat er liegen lassen auf dem Tisch in seinem
Schreck, ich hab's erst spдter bemerkt und wollt's ihm noch nachtragen. Aber
da war er schon hinabgestolpert zur Tьr. Und weiter auf die StraЯen hatt ich
mich nicht traut; denn an die Tьr hat sich der Herr Gurtner hingstellt und
ihm nachgschrien, daЯ die Leut stehenblieben und zusammengelaufen sind. Ja,
eine Schand war's, gschдmt hab ich mich bis in die unterste Seel! So was hat
nicht passieren kцnnen bei dem alten Herrn Standhartner, daЯ man einen
ausjagt nur wegen ein paar Semmeln, bei dem hдtt er umsonst essen kцnnen
noch sein Leben lang. Aber die Leute von heut, die haben ja kein Herz. Einen
wegzutreiben, der ьber dreiЯig Jahre wo gsessen ist Tag fьr Tag - wirklich,
eine Schand war's, und ich mцcht's nicht zu verantworten haben vor dem
lieben Gott - ich nicht."
Ganz aufgeregt war sie geworden, die gute Frau, und mit der
leidenschaftlichen Geschwдtzigkeit des Alters wiederholte sie immer wieder
das von der Schand und vom Herrn Standhartner, der zu so was nicht imstande
gewesen wдre. So muЯte ich sie schlieЯlich fragen, was denn aus unserm
Mendel geworden sei und ob sie ihn wiedergesehen. Da rappelte sie sich
zusammen und wurde noch erregter. "Jeden Tag, wenn ich vorьbergegangen hin
an seinem Tisch, jedesmal, das kцnnen S' mir glauben, hat's mir einen StoЯ
geben. Immer hab ich denken mьssen, wo mag er jetzt sein, der arme Herr
Mendel, und wenn ich gwuЯt hдtt, wo er wohnt, ich war hin, ihm was Warmes
bringen; denn wo hдtt er denn das Geld hernehmen sollen zum heizen und zum
Essen? Und Verwandte hat er auf der Welt, soviel ich weiЯ, niemanden gehabt.
Aber schlieЯlich, wie ich immer und immer nix gehцrt hab, da hab ich mir
schon denkt, es muЯ vorbei mit ihm sein, und ich wьrd ihn nimmer sehen. Und
schon hab ich ьberlegt, ob ich nicht sollt eine Messe fьr ihn lesen lassen;
denn ein guter Mensch war er, und man hat sich doch gekannt, mehr als
fьnfundzwanzig Jahr.
Aber einmal in der Frьh, um halb acht Uhr im Februar, ich putz grad das
Messing an die Fensterstangen, auf einmal (ich mein, mich trifft der
Schlag), auf einmal tut sich die Tьr auf, und herein kommt der Mendel. Sie
wissen ja: immer ist er so schief und verwirrt hereingschoben, aber diesmal
war's noch irgendwie anders. Ich merk gleich, den reiЯt's hin und her, ganz
glanzige Augen hat er gehabt und, mein Gott, wie er ausgschaut hat, nur Bein
und Bart! Sofort kommt's mir entrisch vor, wie ich ihn so seh: ich denk mir
gleich, der weiЯ von nichts, der geht am hellichten Tag umeinand als ein
Schlafeter, der hat alles vergessen, das von die Semmeln und das vom Herrn
Gurtner und wie schandbar sie ihn hinausgschmissen haben, der weiЯ nichts
von sich selber. Gott sei Dank! der Herr Gurtner war noch nicht da, und der
Oberkellner hat grad seinen Kaffee trunken. Da spring ich rasch hin, damit
ich ihm klarmach, er solle nicht dableiben, sich nicht noch einmal
hinauswerfen lassen von dem rohen Kerl" (und dabei sah sie sich scheu um und
korrigierte rasch) "ich mein, vom Herrn Gurtner. Also, Herr Mendel', ruf ich
ihn an. Er starrt auf. Und da, in dem Augenblick, mein Gott, schrecklich war
das, in dem Augenblick muЯ er sich an alles erinnert haben; denn er fahrt
sofort zusammen und fangt an zu zittern, aber nicht bloЯ mit die Finger
zittert er, nein, als ein Ganzer hat er gescheppert, daЯ man's bis an die
Schultern kennt hat, und schon stolpert er wieder rasch auf die Tьr zu. Dort
ist er dann zusammgfallen. Wir haben gleich um die Rettungsgesellschaft
telephoniert, und die hat ihn weggefьhrt, fiebrig, wie er war. Am Abend ist
er gestorben, Lungenentzьndung, hochgradige, hat der Doktor gesagt, und
auch, daЯ er schon damals nicht mehr recht gewuЯt hat von sich, wie er noch
einmal zu uns kommen ist. Es hat ihn halt nur so hergetrieben, als einen
Schlafeten. Mein Gott, wenn man sechsunddreiЯig Jahr einmal so gesessen ist
jeden Tag, dann ist eben so ein Tisch einem sein Zuhaus."
Wir sprachen noch lange von ihm, die beiden letzten, die diesen
sonderbaren Menschen gekannt, ich, dem er als jungem Mann trotz seiner
mikrobenhaft winzigen Existenz die erste Ahnung eines vollkommen
umschlossenen Lebens im Geiste gegeben sie, die arme, abgeschundene
Toilettenfrau, die nie ein Buch gelesen, die diesem Kameraden ihrer untern
armen Weit nur verbunden war, weil sie ihm durch fьnfundzwanzig Jahre den
Mantel gebьrstet und die Knцpfe angenдht hatte. Und doch, wir verstanden
einander wunderbar gut an seinem alten, verlassenen Tisch in der
Gemeinschaft des vereint heraufbeschworenen Schattens; denn Erinnerung
verbindet immer, und zwiefach jede Erinnerung in Liebe Plцtzlich, mitten im
Schwatzen, besann sie sich: "Jessas, wie ich vergessig bin das - Buch hab
ich ja noch, das was er damals am Tisch liegen lassen hat. Wo hдtt ich's ihm
denn hintragen sollen? Und nachher, wie sich niemand gemeldt hat, nachher
hab ich gmeint, ich dьrft's mir behalten als Andenken. Nicht wahr, da ist
doch nix Unrechts dabei?" Hastig brachte sie's heran aus ihrem rьckwдrtigen
Verschlag. Und ich hatte Mьhe, ein kleines Lдcheln zu unterdrьcken; denn
gerade dem Erschьtternden mengt das immer spielfreudige und manchmal
ironische Schicksal das Komische gerne boshaft zu. Es war der zweite Band
von Hayns Bibliotheca Germanorum crotica et curiosa, das jedem Buchsamrnler
wohlbekannte Kompendium galanter Literatur. Gerade dies skabrцse Verzeichnis
- habent sua fata libelli - war als letztes Vermдchtnis des hingegangenen
Magiers zurьckgefallen in diese abgemьrbten, rot aufgesprungenen,
unwissenden Hдnde, die wohl nie ein anderes als das Gebetbuch gehalten. Ich
hatte Mьhe, meine Lippen festzuklemmen gegen das unwillkьrlich von innen
aufdrдngende Lдcheln, und dies kleine Zцgern verwirrte die brave Frau. Ob's
am Ende was Kostbares wдr, oder ob ich meinte, daЯ sie es behalten dьrft?
Ich schьttelte ihr herzlich die Hand. "Behalten Sie's nur ruhig, unser
alter Freund Mendel hдtte nur Freude, daЯ wenigstens einer von den vielen
Tausenden, die ihm ein Buch danken, sich noch seiner erinnert." Und dann
ging ich und schдmte mich vor dieser braven alten Frau, die in einfдltiger
und doch menschlichster Art diesem Toten treu geblieben. Denn sie, die
Unbelehrte, sie hatte wenigstens ein Buch bewahrt, um seiner besser zu
gedenken, ich aber, ich hatte jahrelang Buchmendel vergessen, gerade ich,
der ich doch wissen sollte, daЯ man Bьcher nur schafft, um ьber den eigenen
Atem hinaus sich Menschen zu verbinden und sich so zu verteidigen gegen den
unerbittlichen Widerpart alles Lebens: Vergдnglichkeit und Vergessensein.
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