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(Стефан Цвейг. Букинист. На немецком языке).
OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru
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Wieder einmal in Wien und heimkehrend von einem Besuch in den дuЯeren
Bezirken, geriet ich unvermutet in einen RegenguЯ, der mit nasser Peitsche
die Menschen hurtig in Haustore und Unterstдnde jagte, und auch ich selbst
suchte schleunig nach einem schьtzenden Obdach. Glьcklicherweise wartet nun
in Wien an jeder Ecke ein Kaffeehaus - so flьchtete ich in das gerade
gegenьberliegende, mit schon tropfendem Hut und arg durchnдЯten Schultern.
Es erwies sich von innen als Vorstadtcafй hergebrachter, fast schematischer
Art, ohne die neumodischen Attrappen der Deutschland nachgeahmten
innerstдdtischen Musikdielen, altwienerisch bьrgerlich und vollgefьllt mit
kleinen Leuten, die mehr Zeitungen konsumierten als Gebдck. Jetzt um die
Abendstunde war zwar die ohnehin schon stickige Luft mit blauen
Rauchkringeln dick marmoriert, dennoch wirkte dies Kaffeehaus sauber mit
seinen sichtlich neuen Samtsofas und seiner aluminiumhellen Zahlkasse: in
der Eile hatte ich mir gar nicht die Mьhe genommen, seinen Namen auЯen
abzulesen, wozu auch? Und nun saЯ ich warm und blickte ungeduldig durch die
blauьberflossenen Scheiben, wann es dem lдstigen Regen belieben wьrde, sich
ein paar Kilometer weiter zu verziehen.
Unbeschдftigt saЯ ich also da und begann schon jener trдgen Passivitдt
zu verfallen, die narkotisch jedem wirklichen Wiener Kaffeehaus unsichtbar
entstrцmt. Aus diesem leeren Gefьhl blickte ich mir einzeln die Leute an,
denen das kьnstliche Licht dieses Rauchraums ein ungesundes Grau um die
Augen schattete, schaute dem Frдulein an der Kasse zu, wie sie mechanisch
Zucker und Lцffel fьr jede Kaffeetasse dem Kellner austeilte, las halbwach
und unbewuЯt die hцchst gleichgьltigen Plakate an den Wдnden, und diese Art
Verdumpfung tat beinahe wohl. Aber plцtzlich ward ich auf merkwьrdige Weise
aus meiner Halbschlдferei gerissen, eine innere Bewegung begann unbestimmt
unruhig in mir, so wie ein kleiner Zahnschmerz beginnt, von dem man noch
nicht weiЯ, ob er von links, von rechts, vom untern oder obern Kiefer seinen
Ausgang nimmt; nur ein dumpfes Spannen fьhlte ich, eine geistige Unruhe.
Denn plцtzlich - ich hдtte es nicht sagen kцnnen, wodurch - wurde mir
bewuЯt, hier muЯte ich schon einmal vor Jahren gewesen und durch irgendeine
Erinnerung diesen Wдnden, diesen Stьhlen, diesen Tischen, diesem fremden,
rauchigen Raum verbunden sein.
Aber je mehr ich den Willen vortrieb, diese Erinnerung zu fassen, desto
boshafter und glitschiger wich sie zurьck - wie eine Qualle ungewiЯ
leuchtend auf dem untersten Grunde des BewuЯtseins und doch nicht zu
greifen, nicht zu packen. Vergeblich klammerte ich den Blick an jeden
Gegenstand der Einrichtung; gewiЯ, manches kannte ich nicht, wie die Kasse
zum Beispiel mit ihrem klirrenden Zahlungsautomaten und nicht diesen braunen
Wandbelag aus falschem Palisanderholz, alles das muЯte erst spдter
aufmontiert worden sein. Aber doch, aber doch, hier war ich einmal gewesen
vor zwanzig Jahren und lдnger, hier haftete, im Unsichtbaren versteckt wie
der Nagel im Holz, etwas von meinem eigenen, lдngst ьberwachsenen Ich.
Gewaltsam streckte und stieЯ ich alle meine Sinne vor in den Raum und
gleichzeitig in mich hinein - und doch, verdammt! Ich konnte sie nicht
erreichen, diese verschollene, in mir selbst ertrunkene Erinnerung.
Ich дrgerte mich, wie man sich immer дrgert, wenn irgendein Versagen
einen die Unzulдnglichkeit und Unvollkommenheit der geistigen Krдfte gewahr
werden lдЯt. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, diese Erinnerung doch noch
zu erreichen. Nur einen winzigen Haken, das wuЯte ich, muЯte ich in die Hand
kriegen, denn mein Gedдchtnis ist sonderbar geartet, gut und schlecht
zugleich, einerseits trotzig und eigenwillig, aber dann wieder
unbeschreiblich getreu. Es schluckt das Wichtigste sowohl an Geschehnissen
als auch an Gesichtern, an Gelesenem wie an Erlebtem oft vцllig hinab in
seine Dunkelheiten und gibt nichts aus dieser Unterwelt ohne Zwang, bloЯ auf
den Anruf des Willens heraus. Aber nur den flьchtigsten Halt muЯ ich fassen,
eine Ansichtskarte, ein paar Schriftzьge auf einem Briefkuvert, ein
verrдuchertes Zeitungsblatt, und sofort zuckt das Vergessene wie an der
Angel der Fisch aus der dunkel strцmenden Flдche vцllig leibhaft und
sinnlich wieder hervor. Jede Einzelheit weiЯ ich dann eines Menschen, seinen
Mund und im Mund wieder die Zahnlьcke links bei seinem Lachen, und den
brьchigen Tonfall dieses Lachens und wie dabei der Schnurrbart ins Zucken
kommt und wie ein anderes, neues Antlitz heraustaucht aus diesem Lachen -
alles das sehe ich dann sofort in vцlliger Vision und weiЯ auf Jahre zurьck
jedes Wort, das dieser Mensch mir jemals erzдhlte. Immer aber bedarf ich, um
Vergangenes sinnlich zu sehen und zu fьhlen, eines sinnlichen Anreizes,
eines winzigen Helfers aus der Wirklichkeit. So schloЯ ich die Augen, um
angestrengter nachdenken zu kцnnen, um jenen geheimnisvollen Angelhaken zu
formen und zu fassen. Aber nichts! Abermals nichts! Verschьttet und
vergessen! Und ich erbitterte mich derart ьber den schlechten, eigenwilligen
Gedдchtnisapparat zwischen meinen Schlдfen, daЯ ich mit den Fдusten mir die
Stirne hдtte schlagen kцnnen, so wie man einen verdorbenen Automaten
anrьttelt, der widerrechtlich das Geforderte zurьckbehдlt. Nein, ich konnte
nicht lдnger ruhig sitzen bleiben, so erregte mich dieses innere Versagen,
und ich stand vor lauter Arger auf, mir Luft zu machen. Aber sonderbar -
kaum daЯ ich die ersten Schritte durch das Lokal getan, da begann es schon,
flirrend und funkelnd, dieses erste phosphoreszierende Dдmmern in mir.
Rechts von der Zahlkasse, erinnerte ich mich, muЯte es hinьbergehen in einen
fensterlosen und nur von kьnstlichem Licht erhellten Raum. Und tatsдchlich:
es stimmte. Da war es, anders tapeziert als damals, aber doch genau in den
Proportionen, dies in seinen Konturen verschwimmende rechteckige
Hinterzimmer, das Spielzimmer. Instinktiv sah ich mich um nach den einzelnen
Gegenstдnden, mit schon freudig vibrierenden Nerven (gleich wьrde ich alles
wissen, fьhlte ich). Zwei Billarde lungerten als grьne lautlose
Schlammteiche darin, in den Ecken hockten Spieltische, an deren einem zwei
Hofrдte oder Professoren Schach spielten. Und in der Ecke, knapp beim
eisernen Ofen, dort, wo man zur Telefonzelle ging, stand ein kleiner
viereckiger Tisch. Und da blitzte es mich plцtzlich durch und durch. Ich
wuЯte sofort, sofort, mit einem einzigen heiЯen, beglьckt erschьtterten
Ruck: mein Gott, das war ja Mendels Platz, Jakob Mendels, Buchmendels, und
ich war nach zwanzig Jahren wieder in sein Hauptquartier, in das Cafй Gluck
in der oberen AlserstraЯe, geraten. Jakob Mendel, wie hatte ich ihn
vergessen kцnnen, so unbegreiflich lange, diesen sonderbarsten Menschen und
sagenhaften Mann, dieses abseitige Weltwunder, berьhmt an der Universitдt
und in einem engen, ehrfьrchtigen Kreis - wie ihn aus der Erinnerung
verlieren, ihn, den Magier und Makler der Bьcher, der hier tдglich unentwegt
saЯ von morgens bis abends, ein Wahrzeichen des Wissens, Ruhm und Ehre des
Cafй Gluck!
Und nur diese eine Sekunde lang muЯte ich den Blick nach innen wenden
hinter die Lider, und aufstieg schon aus dem bildnerisch erhellten Blut
seine unverkennbare, plastische Gestalt. Ich sah ihn sofort leibhaftig, wie
er dort immer saЯ an dem viereckigen Tischchen mit der grauschmutzigen
Marmorplatte, der allzeit mit Bьchern und Schriften ьberhдuften. Wie er dort
unentwegt und unerschьtterlich saЯ, den bebrillten Blick hypnotisch starr
auf ein Buch geheftet, wie er dort saЯ und im Lesen summend und brummend
seinen Kцrper und die schlecht polierte, fleckige Glatze vor- und
zurьckschaukelte, eine Gewohnheit, mitgebracht aus dem Cheder, der jьdischen
Kleinkinderschule des Ostens. Hier an diesem Tisch und nur an ihm las er
seine Kataloge und Bьcher, so wie man ihn das Lesen in der Talmudschule
gelehrt, leise singend und sich schwingend, eine schwarze, schaukelnde
Wiege. Denn wie ein Kind in Schlaf fдllt und der Welt entsinkt durch dieses
rhythmisch hypnotische Auf und Nieder, so geht nach der Meinung jener
Frommen auch der Geist leichter ein in die Gnade .der Versenkung dank diesem
Sichwiegen und Sichschwingen des mьЯigen Leibes. Und tatsдchlich, dieser
Jakob Mendel sah und hцrte nichts von allem um sich her. Neben ihm lдrmten
und krakeelten die Billardspieler, liefen die Markцre, rasselte das Telefon;
man scheuerte den Boden, man heizte den Ofen, er merkte nichts davon. Einmal
war eine glьhende Kohle aus dem Ofen gefallen, schon brenzelte und qualmte
zwei Schritt von ihm das Parkett, da erst, am infernalischen Gestank,
bemerkte ein Gast die Gefahr und stьrzt zu, hastig das Qualmen zu lцschen:
er selbst aber, Jakob Mendel, nur zwei Zoll weit und schon angebeizt vom
Rauch, er hatte nichts wahrgenommen. Denn er las, wie andere beten, wie
Spieler spielen und Trunkene betдubt ins Leere starren, er las mit einer so
rьhrenden Versunkenheit, daЯ alles Lesen von andern Menschen mir seither
immer profan erschien. In diesem kleinen galizischen Bьchertrцdler Jakob
Mendel hatte ich zum erstenmal als junger Mensch das groЯe Geheimnis der
restlosen Konzentration gesehen, das den Kьnstler macht wie den Gelehrten,
den wahrhaft Weisen wie den vollkommen Irrwitzigen, dieses tragische Glьck
und Unglьck vollkommener Besessenheit.
Hingefьhrt zu ihm hatte mich ein дlterer Kollege von der Universitдt.
Ich forschte damals dem selbst heute noch nur wenig erkannten paracelsischen
Arzt und Magnetiseur Mesmer nach, allerdings mit wenig Glьck; denn die
einschlдgigen Werke erwiesen sich als unzulдnglich, und der Bibliothekar,
den ich argloser Neuling um Auskunft gebeten, murrte mich unfreundlich an,
Literaturnachweise seien meine Sache, nicht die seine. Damals nannte mir nun
jener Kollege zum erstenmal seinen Namen. "Ich geh mit dir zu Mendel",
versprach er mir, "der weiЯ alles und verschafft alles, der holt dir das
entlegenste Buch aus dem vergessensten deutschen Antiquariat heran. Der
tьchtigste Mann in Wien und ьberdies noch ein Original, ein vorweltlicher
Bьcher-Saurier aussterbender Rasse."
So gingen wir zu zweit ins Cafй Gluck, und siehe, da saЯ er,
Buchmendel, bebrillt, bartumschludert, schwarz angetan, und wiegte sich
lesend wie ein dunkler Busch im Wind. Wir traten heran, er merkte es nicht.
Er saЯ nur und las und wiegte den Oberkцrper pagodenhaft hin und zurьck ьber
den Tisch, und hinter ihm pendelte am Haken sein brьchiger schwarzer
Paletot, gleichfalls breit angestopft mit Zeitschriften und Zettelwerk. Um
uns anzukьndigen, hustete mein Freund krдftig. Aber Mendel, die dicke Brille
hart ans Buch gedrьckt, merkte noch nichts. Endlich klopfte mein Freund auf
die Tischplatte, genau so laut und krдftig, wie man an eine Tьre pocht - da
starrte Mendel endlich auf, schob die ungefьge stahlgerдnderte Brille
mechanisch rasch die Stirn empor, und unter den weggestrдubten aschgrauen
Brauen stachen uns zwei merkwьrdige Augen entgegen, kleine, schwarze, wache
Augen, flink, spitz und flippend wie eine Schlangenzunge. Mein Freund
prдsentierte mich, und ich erlдuterte mein Anliegen, wobei ich zuerst -
diese List hatte mein Freund ausdrьcklich anempfohlen mich scheinzornig ьber
den Bibliothekar beklagte, der mir keine Auskunft hatte geben wollen. Mendel
lehnte sich zurьck und spuckte sorgfдltig aus. Dann lachte er nur kurz mit
stark цstlichem Jargon: "Nicht gewollt hat er? Nein - nicht gekonnt hat er!
Ein Parch is er, ein geschlagener Esel mit graue Haar. Ich kenn ihn, Gott
sei's geklagt, zu gutem schon zwanzig Jahr, aber gelernt hat er seitdem noch
immer nix. Gehalt einstecken, dos is das einzige, was die kцnnen!
Ziegelsteine sollten sie lieber schupfen, diese Herrn Doktors, statt bei die
Bьcher sitzen."
Mit dieser krдftigen Herzentladung war das Eis gebrochen, und eine
gutmьtige Handbewegung lud mich zum erstenmal an den viereckigen, mit
Notizen ьberschmierten Marmortisch, diesen mir noch unbekannten Altar
bibliophiler Offenbarungen. Ich erklдrte rasch meine Wьnsche: die
zeitgenцssischen Werke ьber Magnetismus sowie alle spдteren Bьcher und
Polemiken fьr und gegen Mesmer; sobald ich fertig war, kniff Mendel eine
Sekunde das linke Auge zusammen, genau wie ein Schьtze vor dem SchuЯ. Aber
wahrhaftig, nur eine Sekunde dauerte diese Geste konzentrierter
Aufmerksamkeit, dann zдhlte er sofort, wie aus einem unsichtbaren Katalog
lesend, zwei oder drei Dutzend Bьcher flieЯend auf, jedes mit Verlagsort,
Jahreszahl und ungefдhrem Preis. Ich war verblьfft. Obwohl vorbereitet, dies
hatte ich nicht erwartet. Aber meine Verdutztheit schien ihm wohlzutun; denn
sofort spielte er auf der Klaviatur seines Gedдchtnisses die wunderbarsten
bibliothekarischen Paraphrasen meines Themas weiter. Ob ich auch ьber die
Somnambulisten etwas wissen wolle und ьber die ersten Versuche mit Hypnose
und ьber GaЯner, die Teufelsbeschwцrungen und die Christian Science und die
Blavatsky? Wieder prasselten die Namen, die Titel, die Beschreibungen; jetzt
erst begriff ich, an ein wie einzigartiges Wunder von Gedдchtnis ich bei
Jakob Mendel geraten war, tatsдchlich an ein Lexikon, an einen
Universalkatalog auf zwei Beinen. Ganz benommen starrte ich dieses
bibliographische Phдnomen an, eingespult in die unansehnliche, sogar etwas
schmierige Hьlle eines galizischen kleinen Buchtrцdlers, der, nachdem er mir
etwa achtzig Namen heruntergerasselt, scheinbar achtlos, aber innerlich
wohlgefдllig ьber seinen ausgespielten Trumpf, sich die Brille mit einem
vormals vielleicht weiЯ gewesenen Taschentuch putzte. Um mein Staunen ein
wenig zu bemдnteln, fragte ich zaghaft, welche von diesen Bьchern er mir
allenfalls besorgen kцnne. "Nu, man wird ja sehen, was sich machen lдЯt",
brummte er. "Kommen Sie nur morgen wieder her, der Mendel wird Ihnen
inzwischen schon eppes auftreiben, und was sich nicht findet, werd sich
anderswo finden. Wenn einer Sechel hat, hat er auch Glьck." Ich dankte
hцflich und stolperte aus lauter Hцflichkeit sofort in eine dicke Dummheit
hinein, indem ich vorschlug, ihm meine gewьnschten Buchtitel auf einen
Zettel zu notieren. Im gleichen Augenblick spьrte ich schon einen warnenden
EllbogenstoЯ meines Freundes. Aber zu spдt! Schon hatte mir Mendel einen
Blick zugeworfen - welch einen Blick! -, einen gleichzeitig triumphierenden
und beleidigten, einen hцhnischen und ьberlegenen, einen geradezu
kцniglichen Blick, den shakespearischen Blick Macbeths, wenn Macduff dem
unbesiegbaren Helden zumutet, sich kampflos zu ergeben. Dann lachte er
abermals kurz, der groЯe Adamsapfel an seiner Kehle kollerte merkwьrdig hin
und her, anscheinend hatte er ein grobes Wort mьhsam verschluckt. Und er
wдre im Recht gewesen mit jeder erdenklichen Grobheit, der gute, brave
Buchmendel; denn nur ein Fremder, ein Ahnungsloser (ein "Amhorez", wie er
sagte) konnte eine derart beleidigende Zumutung stellen, ihm, Jakob Mendel,
einen Buchtitel aufzunotieren wie einem Buchhandlungslehrling oder
Bibliotheksdiener, als ob dieses unvergleichliche, dieses diamantene
Buchgehirn solch grober Hilfsmittel jemals bedurft hдtte. Erst spдter
begriff ich, wie sehr ich sein abseitiges Genie mit diesem hцflichen Angebot
gekrдnkt haben muЯte; denn dieser kleine, zerdrьckte, ganz in seinen Bart
eingewickelte und ьberdies bucklige galizische Jude Jakob Mendel war ein
Titan des Gedдchtnisses. Hinter dieser kalkigen, schmutzigen, von grauem
Moos ьberwucherten Stirn stand in der unsichtbaren Geisterschrift jeder Name
und Titel wie mit StahlguЯ eingestanzt, der je auf einem Titelblatt eines
Buches gedruckt war. Er wuЯte von jedem Werk, dem gestern erschienenen wie
von einem zweihundert Jahre alten, auf den ersten Hieb genau den
Erscheinungsort, den Verfasser, den Preis, neu und antiquarisch, und
erinnerte sich bei jedem Buch mit fehlloser Vision zugleich an Einband und
Illustrationen und Faksimilebeigaben, er sah jedes Werk, ob er es selbst in
den Hдnden gehabt oder nur von fern in einer Auslage oder Bibliothek einmal
erspдht hatte, mit der gleichen optischen Deutlichkeit wie der schaffende
Kьnstler sein inneres und der andern Welt noch unsichtbares Gebilde. Er
erinnerte sich, wenn etwa ein Buch im Katalog eines Regensburger
Antiquariats um sechs Mark angeboten wurde, sofort, daЯ ebendasselbe in
einem anderen Exemplar vor zwei Jahren in einer Wiener Auktion um vier
Kronen zu haben gewesen war, und zugleich auch des Erstehers; nein: Jakob
Mendel vergaЯ nie einen Titel, eine Zahl, er kannte jede Pflanze, jedes
Infusorium, jeden Stern in dem ewig schwingenden und stдndig umgerьttelten
Kosmos des Bьcherweltalls. Er wuЯte in jedem Fach mehr als die Fachleute, er
beherrschte die Bibliotheken besser als die Bibliothekare, er kannte die
Lager der meisten Firmen auswendig besser als ihre Besitzer, trotz ihren
Zetteln und Kartotheken, indes ihm nichts zu Gebote stand als Magie des
Erinnerns, als dies unvergleichliche, dies nur an hundert einzelnen
Beispielen wahrhaft zu explizierende Gedдchtnis. Freilich, dieses Gedдchtnis
hatte nur so dдmonisch unfehlbar sich schulen und gestalten kцnnen durch das
ewige Geheimnis jeder Vollendung: durch Konzentration. AuЯerhalb der Bьcher
wuЯte dieser merkwьrdige Mensch nichts von der Welt; denn alle Phдnomene des
Daseins begannen fьr ihn erst wirklich zu werden, wenn sie in Lettern sich
umgossen, wenn sie in einem Buche sich gesammelt und gleichsam sterilisiert
hatten. Aber auch diese Bьcher selbst las er nicht auf ihren Sinn, auf ihren
geistigen und erzдhlerischen Gehalt: nur ihr Name, ihr Preis, ihre
Erscheinungsform, ihr erstes Titelblatt zog seine Leidenschaft an.
Unproduktiv und unschцpferisch im letzten, bloЯ ein hunderttausendstelliges
Verzeichnis von Titeln und Namen, in die weiche Gehirnrinde eines
Sдugetieres eingestempelt statt wie sonst in einen Buchkatalog geschrieben,
war dies spezifisch antiquarische Gedдchtnis Jakob Mendels jedoch in seiner
einmaligen Vollendung als Phдnomen nicht geringer als jenes Napoleons fьr
Physiognomien, Mezzofantis fьr Sprachen, eines Lasker fьr Schachanfдnge,
eines Busoni fьr Musik. Eingesetzt in ein Seminar, an eine цffentliche
Stelle, hдtte das Gehirn Tausende, Hunderttausende von Studenten und
Gelehrte belehrt und erstaunt, fruchtbar fьr die Wissenschaften, ein
unvergleichlicher Gewinn fьr jene цffentlichen Schatzkammern, die wir
Bibliotheken nennen. Aber diese obere Welt war ihm, dem kleinen,
ungebildeten galizischen Buchtrцdler, der nicht viel mehr als seine
Talmudschule bewдltigt, fьr ewig verschlossen; so vermochten diese
phantastischen Fдhigkeiten sich nur als Geheimwissenschaft auszuwirken an
jenem Marmortische des Cafй Gluck. Doch wenn einmal der groЯe Psychologe
kommt (dies Werk fehlt noch immer unserer geistigen Welt), der so beharrlich
und geduldig, wie Buffon die Abarten der Tiere ordnete und klassierte,
seinerseits alle Spielarten, Spezies und Urformen der magischen Macht, die
wir Gedдchtnis nennen, vereinzelt schildert und in ihren Varianten darlegt,
dann mьЯte er Jakob Mendels gedenken, dieses Genies der Preise und Titel,
dieses namenlosen Meisters der antiquarischen Wissenschaft.
Dem Berufe nach und fьr die Unwissenden galt Jakob Mendel freilich nur
als kleiner Buchschacherer. Allsonntags erschienen in der "Neuen Freien
Presse" und im "Neuen Wiener Tagblatt" dieselben stereotypen Anzeigen:
"Kaufe alte Bьcher, zahle beste Preise, komme sofort, Mendel, obere
AlserstraЯe", und dann eine Telefonnummer, die in Wirklichkeit jene des Cafй
Gluck war. Er stцberte Lager durch, schleppte mit einem alten kaiserbдrtigen
Dienstmann allwцchentlich neue Beute in sein Hauptquartier und von dort
wieder weg, denn fьr einen ordnungsmдЯigen Buchhandel fehlte ihm die
Konzession. So blieb es beim kleinen Schacher, bei einer wenig eintrдglichen
Tдtigkeit. Studenten verkauften ihm ihre Lehrbьcher, durch seine Hдnde
wanderten sie vom дlteren Jahrgang zum jeweils jьngeren, auЯerdem vermittele
und besorgte er jedes gesuchte Werk mit geringem Zuschlag. Bei ihm war guter
Rat billig. Aber das Geld hatte keinen Raum innerhalb seiner Welt; denn nie
hatte man ihn anders gesehen als im gleichen abgeschabten Rock, frьh,
nachmittags und abends seine Milch verzehrend und zwei Brote, mittags eine
Kleinigkeit essend, die man ihm vorn Gasthaus herьberholte. Er rauchte
nicht, er spielte nicht, ja man darf sagen, er lebte nicht, nur die beiden
Augen lebten hinter der Brille und fьtterten jenes rдtselhafte Wesen Gehirn
unablдssig mit Worten, Titeln und Namen. Und die weiche, fruchtbare Masse
sog diese Fьlle gierig in sich ein wie eine Wiese die tausend und aber
tausend Tropfen eines Regens. Die Menschen interessierten ihn nicht, und von
allen menschlichen Leidenschaften kannte er vielleicht nur die eine,
freilich allermenschlichste, der Eitelkeit. Wenn jemand zu ihm um eine
Auskunft kam, an hundert andern Stellen schon mьde gesucht, und er konnte
auf den ersten Hieb ihm Bescheid geben, dies allein wirkte auf ihn als
Genugtuung, als Lust, und vielleicht noch dies, daЯ in Wien und auswдrts ein
paar Dutzend Menschen lebten, die seine Kenntnisse ehrten und brauchten. In
jedem dieser ungefьgen Millionenkonglomerate, die wir GroЯstadt nennen, sind
immer an wenigen Punkten einige kleine Facetten eingesprengt, die ein und
dasselbe Weltall auf kleinwinziger Flдche spiegeln, unsichtbar fьr die
meisten, kostbar bloЯ dem Kenner, dem Bruder in der Leidenschaft. Und diese
Kenner der Bьcher kannten alle Jakob Mendel. So wie man, wenn man ьber ein
Musikblatt Rat holen wollte, zu Eusebius Mandyczewski in die Gesellschaft
der Musikfreunde ging, der dort mit grauem Kдppchen freundlich inmitten
seiner Akten und Noten saЯ und mit dem ersten aufschauenden Blick die
schwierigsten Probleme lдchelnd lцste, so wie heute noch jeder, der ьber
Altwiener Theater und Kultur AufschluЯ braucht, unfehlbar sich an den
allwissenden Vater Glossy wendet, so pilgerten mit der gleichen vertrauenden
Selbstverstдndlichkeit die paar strengglдubigen Wiener Bibliophilen, sobald
es eine besonders harte NuЯ zu knacken gab, ins Cafй Gluck zu Jakob Mendel.
Bei einer solchen Konsultation Mendel zuzusehen bereitete mir jungem
neugierigem Menschen eine Wollust besonderer Art. Wдhrend er sonst, wenn man
ihm ein minderes Buch vorlegte, den Deckel verдchtlich zuklappte und nur
murrte: "Zwei Kronen", rьckte er vor irgendeiner Raritдt oder einem Unikum
respektvoll zurьck, legte ein Papierblatt unter, und man sah, daЯ er sich
auf einmal seiner schmutzigen, tintigen, schwarznдgeligen Finger schдmte.
Dann begann er zдrtlich-vorsichtig, mit einer ungeheuren Hochachtung das
Rarum anzublдttern, Seite fьr Seite. Niemand konnte ihn in einer solchen
Sekunde stцren, so wenig wie einen wirklich Glдubigen im Gebet, und
tatsдchlich hatte dies Anschauen, Berьhren, Beriechen und Abwдgen, hatte
jede dieser Einzelhandlungen etwas von dem Zeremoniell, von der kultisch
geregelten Aufeinanderfolge eines religiцsen Aktes. Der krumme Rьcken schob
sich hin und her, dabei murrte und knurrte er, kratzte sich im Haar, stieЯ
merkwьrdige vokalische Urlaute aus, ein gedehntes, fast erschrockenes "Ah"
und "Oh" hingerissener Bewunderung und dann wieder ein rapid erschrecktes
"Oi" oder "Oiweh", wenn sich eine Seite als fehlend oder ein Blatt als vom
Holzwurm zerfressen erwies. SchlieЯlich wog er die Schwarte respektvoll auf
der Hand, beschnьffelte und beroch das ungefьgige Quadrat mit
halbgeschlossenen Augen nicht minder ergriffen als ein sentimentalisches
Mдdchen eine Tuberose. Wдhrend dieser etwas umstдndlichen Prozedur muЯte
selbstredend der Besitzer seine Geduld zusammenhalten. Nach beendetem Examen
aber gab Mendel bereitwillig, ja geradezu begeistert, jede Auskunft, an die
sich unfehlbar weitspurige Anekdoten und dramatische Preisberichte von
дhnlichen Exemplaren anschlossen. Er schien heller, jьnger, lebendiger zu
werden in solchen Sekunden, und nur eines konnte ihn maЯlos erbittern: wenn
etwa ein Neuling ihm fьr diese Schдtzung Geld anbieten wollte. Dann wich er
gekrдnkt zurьck wie etwa ein Galeriehofrat, dem ein durchreisender
Amerikaner fьr seine Erklдrung ein Trinkgeld in die Hand drьcken will; denn
ein kostbares Buch in der Hand haben zu dьrfen bedeutete fьr Mendel, was fьr
einen andern die Begegnung mit einer Frau. Diese Augenblicke waren seine
platonischen Liebesnдchte. Nur das Buch, niemals Geld hatte ьber ihn Macht.
Vergebens versuchten darum groЯe Sammler, darunter auch der Grьnder der
Universitдt in Princeton, ihn fьr ihre Bibliothek als Berater und Einkдufer
zu gewinnen - Jakob Mendel lehnte ab; er war nicht anders zu denken als im
Cafй Gluck. Vor dreiunddreiЯig Jahren, mit noch weichem, schwarzflaumigem
Bart und geringelten Stirnlocken, war er, ein kleines schiefes Jьngel, aus
dem Osten nach Wien gekommen, um Rabbinat zu studieren; aber bald hatte er
den harten Eingott Jehovah verlassen, um sich der funkelnden und
tausendfдltigen Vielgцtterei der Bьcher zu ergeben. Damals hatte er zuerst
ins Cafй Gluck gefunden, und allmдhlich wurde es seine Werkstatt, sein
Hauptquartier, sein. Postamt, seine Welt. Wie ein Astronom einsam auf seiner
Sternwarte durch den winzigen Rundspalt des Teleskops allnдchtlich die
Myriaden Sterne betrachtet, ihre geheimnisvollen Gдnge, ihr wandelndes
Durcheinander, ihr Verlцschen und Sichwiederentzьnden, so blickte Jakob
Mendel durch seine Brille von diesem viereckigen Tisch in das andere
Universum der Bьcher, das gleichfalls ewig kreisende und sich umgebдrende,
in diese Welt ьber unserer Welt.
Selbstverstдndlich war er hoch angesehen im Cafй Gluck, dessen Ruhm
sich fьr uns mehr an sein unsichtbares Katheder knьpfte als an die
Patenschaft des hohen Musikers, des Schцpfers der "Alceste" und der
"Iphigenia": Christoph Willibald Gluck. Er gehцrte dort ebenso zum Inventar
wie die alte Kirschholzkasse, wie die beiden arg geflickten Billarde, der
kupferne Kaffeekessel, und sein Tisch wurde gehьtet wie ein Heiligtum. Denn
seine zahlreichen Kundschaften und Auskundschafter wurden von dem Personal
jedesmal freundlich zu irgendeiner Bestellung gedrдngt, so daЯ der grцЯere
Gewinnteil seiner Wissenschaft eigentlich dem Oberkellner Deubler in die
breite, hьftwдrts getragene Ledertasche floЯ. Dafьr genoЯ Buchmendel
vielfache Privilegien. Das Telephon stand ihm frei, man hob ihm seine Briefe
auf und besorgte alle Bestellungen; die alte, brave Toilettenfrau bьrstete
ihm den Mantel, nдhte Knцpfe an und trug ihm jede Woche ein kleines Bьndel
zur Wдsche. Ihm allein durfte aus dem nachbarlichen Gasthaus eine
Mittagsmahlzeit geholt werden, und jeden Morgen kam der Herr Standhartner,
der Besitzer, in persona an seinen Tisch und begrьЯte ihn (freilich meist,
ohne daЯ Jakob Mendel, in seine Bьcher vertieft, diesen GruЯ bemerkte).
Punkt halb acht Uhr morgens trat er ein, und erst wenn man die Lichter
auslцschte, verlieЯ er das Lokal. Zu den andern Gдsten sprach er nie, er las
keine Zeitung, bemerkte keine Verдnderung, und als der Herr Standhartner ihn
einmal hцflich fragte, ob er bei dem elektrischen Licht nicht besser lese
als frьher bei dem fahlen, zuckenden Schein der Auerlampen, starrte er
verwundert zu den Glьhbirnen auf: diese Verдnderung war trotz dem Lдrm und
Gehдmmer einer mehrtдgigen Installation vollkommen an ihm vorbeigegangen.
Nur durch die zwei runden Lцcher der Brille, durch diese beiden blitzenden
und saugenden Linsen filterten sich die Milliarden schwarzer Infusorien der
Lettern in sein Gehirn, alles andere Geschehen strцmte als leerer Lдrm an
ihm vorbei. Eigentlich hatte er mehr als dreiЯig Jahre, also den ganzen
wachen Teil seines Lebens, einzig hier an diesem viereckigen Tisch lesend,
vergleichend, kalkulierend verbracht, in einem unablдssig fortgesetzten, nur
vom Schlaf unterbrochenen Dauertraum.
Deshalb ьberkam mich eine Art Schrecken, als ich den orakelspendenden
Marmortisch Jakob Mendels leer wie eine Grabplatte in diesem Raum dдmmern
sah. Jetzt erst, дlter geworden, verstand ich, wieviel mit jedem solchen
Menschen verschwindet, erstlich weil alles Einmalige von Tag zu Tag
kostbarer wird in unserer rettungslos einfцrmiger werdenden Welt. Und dann:
der junge, unerfahrene Mensch in mir hatte aus einer tiefen Ahnung diesen
Jakob Mendel sehr lieb gehabt. Und doch, ich hatte vergessen kцnnen -
allerdings in den Jahren des Krieges und in einer der seinen дhnlichen
Hingabe an das eigene Werk. Jetzt aber, vor diesem leeren Tische, fьhlte ich
eine Art Scham vor ihm und eine erneuerte Neugier zugleich.
Denn wo war er hin, was war mit ihm geschehen? Ich rief den Kellner und
fragte. Nein, einen Herrn Mendel, bedaure, den kenne er nicht, ein Herr
dieses Namens verkehre nicht im Cafй. Aber vielleicht wisse der Oberkellner
Bescheid. Dieser schob seinen Spitzbauch schwerfдllig heran, zцgerte, dachte
nach, nein, auch ihm sei ein Herr Mendel nicht bekannt. Aber ob ich
vielleicht den Herrn Mandl meine, den Herrn Mandl vom Kurzwarengeschдft in
der Florianigasse? Ein bitterer Geschmack kam mir auf die Lippen, Geschmack
von Vergдnglichkeit: wozu lebt man, wenn der Wind hinter unserm Schuh schon
die letzte Spur von uns wegtrдgt? DreiЯig Jahre, vierzig vielleicht, hatte
ein Mensch in diesen paar Quadratmetern Raum geatmet, gelesen, gedacht,
gesprochen, und bloЯ drei Jahre, vier Jahre muЯten hingehen, ein neuer
Pharao kommen, und man wuЯte nichts mehr von Joseph, man wuЯte im Cafй Gluck
nichts mehr von Jakob Mendel, dem Buchmendel! Beinahe zornig fragte ich den
Oberkellner, ob ich nicht Herrn Standhartner sprechen kцnne, oder ob nicht
sonst wer im Hause sei vom alten Personal? Oh, der Herr Standhartner, o mein
Gott, der habe lдngst das Cafй verkauft, der sei gestorben, und der alte
Oberkellner, der lebe jetzt auf seinem Gьtel bei Krems. Nein, niemand sei
mehr da . . . oder doch! Ja doch - die Frau Sporschil sei noch da, die
Toilettenfrau (vulgo Schokoladefrau). Aber die kцnne sich gewiЯ nicht mehr
an die einzelnen Gдste erinnern. Ich dachte gleich: einen Jakob Mendel
vergiЯt man nicht, und lieЯ sie mir kommen.
Sie kam, die Frau Sporschil, weiЯhaarig, zerrauft, mit ein wenig
wassersьchtigen Schritten aus ihren hintergrьndigen Gemдchern und rieb sich
noch hastig die roten Hдnde mit einem Tuch: offenbar hatte sie gerade ihr
trьbes GelaЯ gefegt oder Fenster geputzt. An ihrer unsicheren Art merkte ich
sofort: ihr war's unbehaglich, so plцtzlich nach vorn unter die groЯen
Glьhbirnen in den noblen Teil des Cafйs gerufen zu werden. So sah sie mich
zunдchst miЯtrauisch an, mit einem Blick von unten herauf, einem sehr
vorsichtig geduckten Blick. Was konnte ich Gutes von ihr wollen? Aber kaum
daЯ ich nach Jakob Mendel fragte, starrte sie mich mit vollen, geradezu
strцmenden Augen an, die Schultern fuhren ihr ruckhaft auf. "Mein Gott, der
arme Herr Mendel, daЯ an den noch jemand denkt! Ja, der arme Herr Mendel" -
fast weinte sie, so gerьhrt war sie, wie alte Leute es immer werden, wenn
man sie an ihre Jugend, an irgendeine gute vergessene Gemeinsamkeit
erinnert. Ich fragte, ob er noch lebe. "O mein Gott, der arme Herr Mendel,
fьnf oder sechs Jahre, nein, sieben Jahre muЯ der schon tot sein. So a
lieber, guter Mensch, und wenn ich denk, wie lang ich ihn kennt hab, mehr
als fьnfundzwanzig Jahr, er war doch schon da, wie ich eintreten bin. Und
eine Schand war's, wie man ihn hat sterben lassen." Sie wurde immer
aufgeregter, fragte, ob ich ein Verwandter sei. Es hдtte sich ja nie jemand
um ihn gekьmmert, nie jemand nach ihm erkundigt - und ob ich denn nicht
wisse, was mit ihm passiert sei?
Nein, ich wьЯte nichts, versicherte ich; sie solle mir erzдhlen, alles
erzдhlen. Die gute Person tat scheu und geniert und wischte immer wieder an
ihren nassen Hдnden. Ich begriff: ihr war es peinlich, als Toilettenfrau mit
ihrer schmutzigen Schьrze und ihren zerstrubbelten weiЯen Haaren hier mitten
im Kaffeehausraum zu stehen, auЯerdem blickte sie immer дngstlich nach
rechts und links, ob nicht einer der Kellner zuhцre. So schlug ich ihr vor,
wir wollten hinein in das Spielzimmer, an Mendels alten Platz: dort solle
sie mir alles belichten. Gerьhrt nickte sie mir zu, dankbar, daЯ ich sie
verstand, und King voraus, die alte, schon ein wenig schwankende Frau, und
ich hinter ihr. Die beiden Kellner staunten uns nach, sie spьrten da einen
Zusammenhang, und auch einige Gдste verwunderten sich ьber uns ungleiches
Paar. Und drьben an seinem Tisch erzдhlte sie mir (manche Einzelheit
ergдnzte mir spдter anderer Bericht) von Jakob Mendels, von Buchmendels
Untergang.
Ja also, er sei, so erzдhlte sie, auch nachher noch, als der Krieg
schon begonnen, immer noch gekommen, Tag um Tag um halb acht Uhr frьh, und
genau so sei er gesessen und habe er den ganzen Tag studiert wie immer, ja,
sie hдtten alle das Gefьhl gehabt und oft darьber geredet, ihm sei's gar
nicht zum BewuЯtsein gekommen, daЯ Krieg sei. Ich wisse doch, in eine
Zeitung habe er nie geschaut und nie mit wem andern gesprochen; aber auch
wenn die Ausrufer ihren Mordslдrm mit den Extrablдttern machten und alle
andern zusammenliefen, nie sei er da aufgestanden oder hдtte zugehцrt. Er
habe auch gar nicht gemerkt, daЯ der Franz fehle, der Kellner (der bei
Gorlice gefallen sei), und nicht gewuЯt, daЯ sie den Sohn vom Herrn
Standhartner bei Przemysl gefangen hatten, und nie kein Wort habe er gesagt,
wie das Brot immer miserabler geworden ist und man ihm statt der Milch das
elende Feigenkaffeegschlader hat geben mьssen. Nur einmal habe er sich
gewundert, daЯ jetzt so wenig Studenten kдmen, das war alles. - "Mein Gott,
der arme Mensch, den hat doch nichts gefreut und gekьmmert als seine
Bьcher."
Aber dann eines Tags, da sei das Unglьck geschehen. Um elf Uhr
vormittags, am hellichten Tag, sei ein Wachmann gekommen mit einem
Geheimpolizisten, der hдtte die Rosette gezeigt im Knopfloch und gefragt, ob
hier ein Jakob Mendel verkehre. Dann wдren sie gleich an den Tisch gegangen
zum Mendel, und der hдtte ahnungslos noch geglaubt, sie wollten Bьcher
verkaufen oder ihn was fragen. Aber gleich hдtten sie ihn aufgefordert,
mitzukommen, und ihn weggefьhrt. Eine rechte Schande sei es fьr das
Kaffeehaus gewesen, alle Leute hдtten sich herumgestellt um den armen Herrn
Mendel, wie er dagestanden ist zwischen den beiden, die Brille unterm Haar,
und hin und her geschaut hat von einem zum andern und nicht recht gewuЯt,
was sie eigentlich von ihm wollten. Sie aber habe stante pede dem Gendarmen
gesagt, das mьsse ein Irrtum sein, ein Mann wie Herr Mendel kцnne keiner
Fliege was tun; aber da habe der Geheimpolizist sie gleich angeschrien, sie
solle sich nicht in Amtshandlungen einmischen. Und dann hдtten sie ihn
weggefьhrt, und er sei lange nicht mehr gekommen, zwei Jahre lang. Noch
heute wisse sie nicht recht, was die damals von ihm gewollt hдtten. "Aber
ich leist ein Jurament", sagte sie erregt, die alte Frau, "der Herr Mendel
kann nichts Unrechtes getan haben. Die haben sich geirrt, da leg ich meine
Hand ins Feuer. Es war ein Verbrechen an dem armen, unschuldigen Menschen,
ein Verbrechen!"
Und sie hatte recht, die gute, rьhrende Frau Sporschil. Unser Freund
Jakob Mendel hatte wahrhaftig nichts Unrechtes begangen, sondern nur (erst
spдter erfuhr ich alle Einzelheiten) eine rasende, eine rьhrende, eine
selbst in jenen irrwitzigen Zeiten ganz unwahrscheinliche Dummheit,
erklдrbar bloЯ aus der vollkommenen Versunkenheit, aus der Mondfernheit
seiner einmaligen Erscheinung. Folgendes hatte sich ereignet: auf dem
militдrischen Zensuramt, das verpflichtet war, jede Korrespondenz mit dem
Ausland zu ьberwachen, war eines Tages eine Postkarte abgefangen worden,
geschrieben und unterschrieben von einem gewissen Jakob Mendel,
ordnungsgemдЯ nach dem Ausland frankiert, aber - unglaublicher Fall - in das
feindliche Ausland gerichtet, eine Postkarte an Jean Labourdaire,
Buchhдndler, Paris, Quai de Grenelle, adressiert, in der ein gewisser Jakob
Mendel sich beschwerte, die letzten acht Nummern des monatlichen "Bulletin
bibliographique de la France" trotz vorausbezahltem Jahresabonnement nicht
erhalten zu haben. Der eingestellte untere Zensurbeamte, ein
Gymnasialprofessor, in Privatneigung Romanist, dem man einen blauen
Landsturmrock umgestьlpt hatte, staunte, als ihm dieses Schriftstьck in die
Hдnde kam. Ein dummer SpaЯ, dachte er. Unter den zweitausend Briefen, die er
allwцchentlich auf dubiose Mitteilungen und spionageverdдchtige Wendungen
durchstцberte und durchleuchtete, war ihm ein so absurdes Faktum noch nie
unter die Finger gekommen, daЯ jemand aus Цsterreich einen Brief nach
Frankreich ganz sorglos adressierte, also ganz gemьtlich eine Karte in das
kriegfьhrende Ausland so einfach in den Postkasten warf, als ob diese
Grenzen seit 1914 nicht umnдht wдren mit Stacheldraht und an jedem von Gott
geschaffenen Tage Frankreich, Deutschland, Цsterreich und RuЯland ihre
mдnnliche Einwohnerzahl gegenseitig um ein paar tausend Menschen kьrzten.
Zunдchst legte er deshalb die Postkarte als Kuriosum in seine
Schreibtischlade, ohne von dieser Absurditдt weitere Meldung zu erstatten.
Aber nach einigen Wochen kam abermals eine Karte desselben Jakob Mendel an
einen Bookseller John Aldridge, London, Holborn Square, ob er ihm nicht die
letzten Nummern des "Antiquarian" besorgen kцnnte, und abermals war sie
unterfertigt von ebendemselben merkwьrdigen Individuum, Jakob Mendel, das
mit rьhrender Naivitдt seine volle Adresse beischrieb. Nun wurde es dem in
die Uniform eingenдhten Gymnasialprofessor doch ein wenig eng unter dem
Rock. Steckte am Ende irgendein rдtselhafter chiffrierter Sinn hinter diesem
vertцlpelten SpaЯ? Jedenfalls, er stand auf, klappte die Hacken zusammen und
legte dem Major die beiden Karten auf den Tisch. Der zog beide Schultern
hoch: sonderbarer Fall! Zunдchst avisierte er die Polizei, sie solle
ausforschen, ob es diesen Jakob Mendel tatsдchlich gдbe, und eine Stunde
spдter war Jakob Mendel bereits dingfest gemacht und wurde, noch ganz
taumelig von der Ьberraschung, vor den Major gefьhrt. Der legte ihm die
mysteriцsen Postkarten vor, ob er sich als Absender erkenne. Erregt durch
den strengen Ton und vor allem, weil man ihn bei der Lektьre eines wichtigen
Katalogs aufgestцbert hatte, polterte Mendel beinahe grob, natьrlich habe er
diese Karten geschrieben. Man habe wohl noch das Recht, ein Abonnement fьr
sein gezahltes Geld zu reklamieren. Der Major drehte sich im Sessel schief
hinьber zu dem Leutnant am Nebentisch. Die beiden blinzelten sich
einverstдndlich an: ein gebrannter Narr! Dann ьberlegte der Major, ob er den
Einfaltspinsel nur scharf anbrummen und wegjagen sollte oder den Fall ernst
aufziehen. In solchen unschlьssigen Verlegenheiten entschlieЯt man sich bei
jedem Amt fast immer, zunдchst ein Protokoll aufzunehmen. Ein Protokoll ist
immer gut. Nьtzt es nichts, so schadet es nichts, und nur ein sinnloser
Papierbogen mehr unter Millionen ist vollgeschrieben.
In diesem Falle aber schadete es leider einem armen, ahnungslosen
Menschen, denn schon bei der dritten Frage kam etwas sehr Verhдngnisvolles
zutage. Man forderte zuerst seinen Namen: Jakob, recte Jainkeff Mendel.
Beruf: Hausierer (er besaЯ nдmlich keine Buchhдndlerlizenz, nur einen
Hausierschein). Die dritte Frage wurde zur Katastrophe: der Geburtsort.
Jakob Mendel nannte einen kleinen Ort bei Petrikau. Der Major zog die Brauen
hoch. Petrikau, lag das nicht in Russisch-Polen, nahe der Grenze?
Verdдchtig! Sehr verdдchtig! So inquirierte er nun strenger, wann er die
цsterreichische Staatsbьrgerschaft erworben habe. Mendels Brille starrte ihn
dunkel und verwundert an: er verstand nicht recht. Zum Teufel, ob und wo er
seine Papiere habe, seine Dokumente? Er habe keine andern als den
Hausierschein. Der Major schob die Stirnfalten immer hцher. Also wie es mit
seiner Staatsbьrgerschaft stehe, solle er endlich einmal erklдren. Was sein
Vater gewesen sei, ob Цsterreicher oder Russe? Seelenruhig erwiderte Jakob
Mendel: natьrlich Russe. Und er selbst? Ach, er hдtte sich schon vor
dreiunddreiЯig Jahren ьber die russische Grenze geschmuggelt, seither lebe
er in Wien. Der Major wurde immer unruhiger. Wann er hier das
цsterreichische Staatsbьrgerrecht erworben habe? Wozu? fragte Mendel. Er
habe sich um solche Sachen nie gekьmmert. So sei er also noch russischer
Staatsbьrger? Und Mendel, den diese цde Fragerei innerlich lдngst
langweilte, antwortete gleichgьltig: "Eigentlich ja."
Der Major warf sich so brьsk erschrocken zurьck, daЯ der Sessel
knackte. Das gab es also! In Wien, in der Hauptstadt Цsterreichs, ging
mitten im Kriege, Ende 1915, nach Tarnow und der groЯen Offensive, ein Russe
unbehelligt spazieren, schrieb Briefe nach Frankreich und England, und die
Polizei kьmmerte sich um nichts. Und da wundern sich die Dummkцpfe in den
Zeitungen, daЯ Conrad von Hцtzendorf nicht gleich nach Warschau
vorwдrtsgekommen ist, da staunen sie im Generalstab, wenn jede
Truppenbewegung durch Spione nach RuЯland weitergemeldet wird. Auch der
Leutnant war aufgestanden und stellte sich an den Tisch: das Gesprдch
schaltete sich scharf um zum Verhцr. Warum er sich nicht sofort gemeldet
habe als Auslдnder? Mendel, noch immer arglos, antwortete in seinem
singenden jьdischen Jargon: "Wozu hдtt ich mich melden sollen auf einmal?"
In dieser umgedrehten Frage erblickte der Major eine Herausforderung und
fragte drohend, ob er nicht die Ankьndigungen gelesen habe? Nein! Ob er etwa
auch keine Zeitungen lese? Nein!
Die beiden starrten den vor Unsicherheit schon leicht schwitzenden
Jakob Mendel an, als sei der Mond mitten in ihr Bьrozimmer gefallen. Dann
rasselte das Telefon, knackten die Schreibmaschinen, liefen die Ordonnanzen,
und Jakob Mendel wurde dem Garnisonsgefдngnis ьberantwortet, um mit dem
nдchsten Schub in ein Konzentrationslager abgefьhrt zu werden. Als man ihm
bedeutete, den beiden Soldaten zu folgen, starrte er ungewiЯ. Er verstand
nicht, was man von ihm wollte, aber eigentlich hatte er keinerlei Sorge. Was
konnte der Mann mit dem goldenen Kragen und der groben Stimme schlieЯlich
Bцses mit ihm vorhaben? In seiner obern Welt der Bьcher gab es keinen Krieg,
kein Nichtverstehen, sondern nur das ewige Wissen und Nochmehrwissenwollen
von Zahlen und Worten, von Titeln und Namen. So trollte er gutmьtig zwischen
den beiden Soldaten die Treppe hinunter. Erst als man ihm auf der Polizei
alle Bьcher aus den Manteltaschen nahm und die Brieftasche abforderte, in
der er hundert wichtige Zettel und Kundenadressen stecken hatte, da erst
begann er wьtend um sich zu schlagen. Man muЯte ihn bдndigen. Aber dabei
klirrte leider seine Brille zu Boden, und dies sein magisches Teleskop in
die geistige Welt brach in mehrere Stьcke. Zwei Tage spдter expedierte man
ihn im dьnnen Sommerrock in ein Konzentrationslager russischer
Zivilgefangener bei Komorn.
Was Jakob Mendel in diesen zwei Jahren Konzentrationslager an
seelischer Schrecknis erfahren, ohne Bьcher, seine geliebten Bьcher, ohne
Geld, inmitten der gleichgьltigen, groben, meist analphabetischen Gefдhrten
dieses riesigen Menschenkotters, was er dort leidend erlebte, von seiner
obern und einzigen Bьcherwelt abgetrennt wie ein Adler mit zerschnittenen
(Стефан Цвейг. Букинист. На немецком языке).
OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru
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Wieder einmal in Wien und heimkehrend von einem Besuch in den дuЯeren
Bezirken, geriet ich unvermutet in einen RegenguЯ, der mit nasser Peitsche
die Menschen hurtig in Haustore und Unterstдnde jagte, und auch ich selbst
suchte schleunig nach einem schьtzenden Obdach. Glьcklicherweise wartet nun
in Wien an jeder Ecke ein Kaffeehaus - so flьchtete ich in das gerade
gegenьberliegende, mit schon tropfendem Hut und arg durchnдЯten Schultern.
Es erwies sich von innen als Vorstadtcafй hergebrachter, fast schematischer
Art, ohne die neumodischen Attrappen der Deutschland nachgeahmten
innerstдdtischen Musikdielen, altwienerisch bьrgerlich und vollgefьllt mit
kleinen Leuten, die mehr Zeitungen konsumierten als Gebдck. Jetzt um die
Abendstunde war zwar die ohnehin schon stickige Luft mit blauen
Rauchkringeln dick marmoriert, dennoch wirkte dies Kaffeehaus sauber mit
seinen sichtlich neuen Samtsofas und seiner aluminiumhellen Zahlkasse: in
der Eile hatte ich mir gar nicht die Mьhe genommen, seinen Namen auЯen
abzulesen, wozu auch? Und nun saЯ ich warm und blickte ungeduldig durch die
blauьberflossenen Scheiben, wann es dem lдstigen Regen belieben wьrde, sich
ein paar Kilometer weiter zu verziehen.
Unbeschдftigt saЯ ich also da und begann schon jener trдgen Passivitдt
zu verfallen, die narkotisch jedem wirklichen Wiener Kaffeehaus unsichtbar
entstrцmt. Aus diesem leeren Gefьhl blickte ich mir einzeln die Leute an,
denen das kьnstliche Licht dieses Rauchraums ein ungesundes Grau um die
Augen schattete, schaute dem Frдulein an der Kasse zu, wie sie mechanisch
Zucker und Lцffel fьr jede Kaffeetasse dem Kellner austeilte, las halbwach
und unbewuЯt die hцchst gleichgьltigen Plakate an den Wдnden, und diese Art
Verdumpfung tat beinahe wohl. Aber plцtzlich ward ich auf merkwьrdige Weise
aus meiner Halbschlдferei gerissen, eine innere Bewegung begann unbestimmt
unruhig in mir, so wie ein kleiner Zahnschmerz beginnt, von dem man noch
nicht weiЯ, ob er von links, von rechts, vom untern oder obern Kiefer seinen
Ausgang nimmt; nur ein dumpfes Spannen fьhlte ich, eine geistige Unruhe.
Denn plцtzlich - ich hдtte es nicht sagen kцnnen, wodurch - wurde mir
bewuЯt, hier muЯte ich schon einmal vor Jahren gewesen und durch irgendeine
Erinnerung diesen Wдnden, diesen Stьhlen, diesen Tischen, diesem fremden,
rauchigen Raum verbunden sein.
Aber je mehr ich den Willen vortrieb, diese Erinnerung zu fassen, desto
boshafter und glitschiger wich sie zurьck - wie eine Qualle ungewiЯ
leuchtend auf dem untersten Grunde des BewuЯtseins und doch nicht zu
greifen, nicht zu packen. Vergeblich klammerte ich den Blick an jeden
Gegenstand der Einrichtung; gewiЯ, manches kannte ich nicht, wie die Kasse
zum Beispiel mit ihrem klirrenden Zahlungsautomaten und nicht diesen braunen
Wandbelag aus falschem Palisanderholz, alles das muЯte erst spдter
aufmontiert worden sein. Aber doch, aber doch, hier war ich einmal gewesen
vor zwanzig Jahren und lдnger, hier haftete, im Unsichtbaren versteckt wie
der Nagel im Holz, etwas von meinem eigenen, lдngst ьberwachsenen Ich.
Gewaltsam streckte und stieЯ ich alle meine Sinne vor in den Raum und
gleichzeitig in mich hinein - und doch, verdammt! Ich konnte sie nicht
erreichen, diese verschollene, in mir selbst ertrunkene Erinnerung.
Ich дrgerte mich, wie man sich immer дrgert, wenn irgendein Versagen
einen die Unzulдnglichkeit und Unvollkommenheit der geistigen Krдfte gewahr
werden lдЯt. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, diese Erinnerung doch noch
zu erreichen. Nur einen winzigen Haken, das wuЯte ich, muЯte ich in die Hand
kriegen, denn mein Gedдchtnis ist sonderbar geartet, gut und schlecht
zugleich, einerseits trotzig und eigenwillig, aber dann wieder
unbeschreiblich getreu. Es schluckt das Wichtigste sowohl an Geschehnissen
als auch an Gesichtern, an Gelesenem wie an Erlebtem oft vцllig hinab in
seine Dunkelheiten und gibt nichts aus dieser Unterwelt ohne Zwang, bloЯ auf
den Anruf des Willens heraus. Aber nur den flьchtigsten Halt muЯ ich fassen,
eine Ansichtskarte, ein paar Schriftzьge auf einem Briefkuvert, ein
verrдuchertes Zeitungsblatt, und sofort zuckt das Vergessene wie an der
Angel der Fisch aus der dunkel strцmenden Flдche vцllig leibhaft und
sinnlich wieder hervor. Jede Einzelheit weiЯ ich dann eines Menschen, seinen
Mund und im Mund wieder die Zahnlьcke links bei seinem Lachen, und den
brьchigen Tonfall dieses Lachens und wie dabei der Schnurrbart ins Zucken
kommt und wie ein anderes, neues Antlitz heraustaucht aus diesem Lachen -
alles das sehe ich dann sofort in vцlliger Vision und weiЯ auf Jahre zurьck
jedes Wort, das dieser Mensch mir jemals erzдhlte. Immer aber bedarf ich, um
Vergangenes sinnlich zu sehen und zu fьhlen, eines sinnlichen Anreizes,
eines winzigen Helfers aus der Wirklichkeit. So schloЯ ich die Augen, um
angestrengter nachdenken zu kцnnen, um jenen geheimnisvollen Angelhaken zu
formen und zu fassen. Aber nichts! Abermals nichts! Verschьttet und
vergessen! Und ich erbitterte mich derart ьber den schlechten, eigenwilligen
Gedдchtnisapparat zwischen meinen Schlдfen, daЯ ich mit den Fдusten mir die
Stirne hдtte schlagen kцnnen, so wie man einen verdorbenen Automaten
anrьttelt, der widerrechtlich das Geforderte zurьckbehдlt. Nein, ich konnte
nicht lдnger ruhig sitzen bleiben, so erregte mich dieses innere Versagen,
und ich stand vor lauter Arger auf, mir Luft zu machen. Aber sonderbar -
kaum daЯ ich die ersten Schritte durch das Lokal getan, da begann es schon,
flirrend und funkelnd, dieses erste phosphoreszierende Dдmmern in mir.
Rechts von der Zahlkasse, erinnerte ich mich, muЯte es hinьbergehen in einen
fensterlosen und nur von kьnstlichem Licht erhellten Raum. Und tatsдchlich:
es stimmte. Da war es, anders tapeziert als damals, aber doch genau in den
Proportionen, dies in seinen Konturen verschwimmende rechteckige
Hinterzimmer, das Spielzimmer. Instinktiv sah ich mich um nach den einzelnen
Gegenstдnden, mit schon freudig vibrierenden Nerven (gleich wьrde ich alles
wissen, fьhlte ich). Zwei Billarde lungerten als grьne lautlose
Schlammteiche darin, in den Ecken hockten Spieltische, an deren einem zwei
Hofrдte oder Professoren Schach spielten. Und in der Ecke, knapp beim
eisernen Ofen, dort, wo man zur Telefonzelle ging, stand ein kleiner
viereckiger Tisch. Und da blitzte es mich plцtzlich durch und durch. Ich
wuЯte sofort, sofort, mit einem einzigen heiЯen, beglьckt erschьtterten
Ruck: mein Gott, das war ja Mendels Platz, Jakob Mendels, Buchmendels, und
ich war nach zwanzig Jahren wieder in sein Hauptquartier, in das Cafй Gluck
in der oberen AlserstraЯe, geraten. Jakob Mendel, wie hatte ich ihn
vergessen kцnnen, so unbegreiflich lange, diesen sonderbarsten Menschen und
sagenhaften Mann, dieses abseitige Weltwunder, berьhmt an der Universitдt
und in einem engen, ehrfьrchtigen Kreis - wie ihn aus der Erinnerung
verlieren, ihn, den Magier und Makler der Bьcher, der hier tдglich unentwegt
saЯ von morgens bis abends, ein Wahrzeichen des Wissens, Ruhm und Ehre des
Cafй Gluck!
Und nur diese eine Sekunde lang muЯte ich den Blick nach innen wenden
hinter die Lider, und aufstieg schon aus dem bildnerisch erhellten Blut
seine unverkennbare, plastische Gestalt. Ich sah ihn sofort leibhaftig, wie
er dort immer saЯ an dem viereckigen Tischchen mit der grauschmutzigen
Marmorplatte, der allzeit mit Bьchern und Schriften ьberhдuften. Wie er dort
unentwegt und unerschьtterlich saЯ, den bebrillten Blick hypnotisch starr
auf ein Buch geheftet, wie er dort saЯ und im Lesen summend und brummend
seinen Kцrper und die schlecht polierte, fleckige Glatze vor- und
zurьckschaukelte, eine Gewohnheit, mitgebracht aus dem Cheder, der jьdischen
Kleinkinderschule des Ostens. Hier an diesem Tisch und nur an ihm las er
seine Kataloge und Bьcher, so wie man ihn das Lesen in der Talmudschule
gelehrt, leise singend und sich schwingend, eine schwarze, schaukelnde
Wiege. Denn wie ein Kind in Schlaf fдllt und der Welt entsinkt durch dieses
rhythmisch hypnotische Auf und Nieder, so geht nach der Meinung jener
Frommen auch der Geist leichter ein in die Gnade .der Versenkung dank diesem
Sichwiegen und Sichschwingen des mьЯigen Leibes. Und tatsдchlich, dieser
Jakob Mendel sah und hцrte nichts von allem um sich her. Neben ihm lдrmten
und krakeelten die Billardspieler, liefen die Markцre, rasselte das Telefon;
man scheuerte den Boden, man heizte den Ofen, er merkte nichts davon. Einmal
war eine glьhende Kohle aus dem Ofen gefallen, schon brenzelte und qualmte
zwei Schritt von ihm das Parkett, da erst, am infernalischen Gestank,
bemerkte ein Gast die Gefahr und stьrzt zu, hastig das Qualmen zu lцschen:
er selbst aber, Jakob Mendel, nur zwei Zoll weit und schon angebeizt vom
Rauch, er hatte nichts wahrgenommen. Denn er las, wie andere beten, wie
Spieler spielen und Trunkene betдubt ins Leere starren, er las mit einer so
rьhrenden Versunkenheit, daЯ alles Lesen von andern Menschen mir seither
immer profan erschien. In diesem kleinen galizischen Bьchertrцdler Jakob
Mendel hatte ich zum erstenmal als junger Mensch das groЯe Geheimnis der
restlosen Konzentration gesehen, das den Kьnstler macht wie den Gelehrten,
den wahrhaft Weisen wie den vollkommen Irrwitzigen, dieses tragische Glьck
und Unglьck vollkommener Besessenheit.
Hingefьhrt zu ihm hatte mich ein дlterer Kollege von der Universitдt.
Ich forschte damals dem selbst heute noch nur wenig erkannten paracelsischen
Arzt und Magnetiseur Mesmer nach, allerdings mit wenig Glьck; denn die
einschlдgigen Werke erwiesen sich als unzulдnglich, und der Bibliothekar,
den ich argloser Neuling um Auskunft gebeten, murrte mich unfreundlich an,
Literaturnachweise seien meine Sache, nicht die seine. Damals nannte mir nun
jener Kollege zum erstenmal seinen Namen. "Ich geh mit dir zu Mendel",
versprach er mir, "der weiЯ alles und verschafft alles, der holt dir das
entlegenste Buch aus dem vergessensten deutschen Antiquariat heran. Der
tьchtigste Mann in Wien und ьberdies noch ein Original, ein vorweltlicher
Bьcher-Saurier aussterbender Rasse."
So gingen wir zu zweit ins Cafй Gluck, und siehe, da saЯ er,
Buchmendel, bebrillt, bartumschludert, schwarz angetan, und wiegte sich
lesend wie ein dunkler Busch im Wind. Wir traten heran, er merkte es nicht.
Er saЯ nur und las und wiegte den Oberkцrper pagodenhaft hin und zurьck ьber
den Tisch, und hinter ihm pendelte am Haken sein brьchiger schwarzer
Paletot, gleichfalls breit angestopft mit Zeitschriften und Zettelwerk. Um
uns anzukьndigen, hustete mein Freund krдftig. Aber Mendel, die dicke Brille
hart ans Buch gedrьckt, merkte noch nichts. Endlich klopfte mein Freund auf
die Tischplatte, genau so laut und krдftig, wie man an eine Tьre pocht - da
starrte Mendel endlich auf, schob die ungefьge stahlgerдnderte Brille
mechanisch rasch die Stirn empor, und unter den weggestrдubten aschgrauen
Brauen stachen uns zwei merkwьrdige Augen entgegen, kleine, schwarze, wache
Augen, flink, spitz und flippend wie eine Schlangenzunge. Mein Freund
prдsentierte mich, und ich erlдuterte mein Anliegen, wobei ich zuerst -
diese List hatte mein Freund ausdrьcklich anempfohlen mich scheinzornig ьber
den Bibliothekar beklagte, der mir keine Auskunft hatte geben wollen. Mendel
lehnte sich zurьck und spuckte sorgfдltig aus. Dann lachte er nur kurz mit
stark цstlichem Jargon: "Nicht gewollt hat er? Nein - nicht gekonnt hat er!
Ein Parch is er, ein geschlagener Esel mit graue Haar. Ich kenn ihn, Gott
sei's geklagt, zu gutem schon zwanzig Jahr, aber gelernt hat er seitdem noch
immer nix. Gehalt einstecken, dos is das einzige, was die kцnnen!
Ziegelsteine sollten sie lieber schupfen, diese Herrn Doktors, statt bei die
Bьcher sitzen."
Mit dieser krдftigen Herzentladung war das Eis gebrochen, und eine
gutmьtige Handbewegung lud mich zum erstenmal an den viereckigen, mit
Notizen ьberschmierten Marmortisch, diesen mir noch unbekannten Altar
bibliophiler Offenbarungen. Ich erklдrte rasch meine Wьnsche: die
zeitgenцssischen Werke ьber Magnetismus sowie alle spдteren Bьcher und
Polemiken fьr und gegen Mesmer; sobald ich fertig war, kniff Mendel eine
Sekunde das linke Auge zusammen, genau wie ein Schьtze vor dem SchuЯ. Aber
wahrhaftig, nur eine Sekunde dauerte diese Geste konzentrierter
Aufmerksamkeit, dann zдhlte er sofort, wie aus einem unsichtbaren Katalog
lesend, zwei oder drei Dutzend Bьcher flieЯend auf, jedes mit Verlagsort,
Jahreszahl und ungefдhrem Preis. Ich war verblьfft. Obwohl vorbereitet, dies
hatte ich nicht erwartet. Aber meine Verdutztheit schien ihm wohlzutun; denn
sofort spielte er auf der Klaviatur seines Gedдchtnisses die wunderbarsten
bibliothekarischen Paraphrasen meines Themas weiter. Ob ich auch ьber die
Somnambulisten etwas wissen wolle und ьber die ersten Versuche mit Hypnose
und ьber GaЯner, die Teufelsbeschwцrungen und die Christian Science und die
Blavatsky? Wieder prasselten die Namen, die Titel, die Beschreibungen; jetzt
erst begriff ich, an ein wie einzigartiges Wunder von Gedдchtnis ich bei
Jakob Mendel geraten war, tatsдchlich an ein Lexikon, an einen
Universalkatalog auf zwei Beinen. Ganz benommen starrte ich dieses
bibliographische Phдnomen an, eingespult in die unansehnliche, sogar etwas
schmierige Hьlle eines galizischen kleinen Buchtrцdlers, der, nachdem er mir
etwa achtzig Namen heruntergerasselt, scheinbar achtlos, aber innerlich
wohlgefдllig ьber seinen ausgespielten Trumpf, sich die Brille mit einem
vormals vielleicht weiЯ gewesenen Taschentuch putzte. Um mein Staunen ein
wenig zu bemдnteln, fragte ich zaghaft, welche von diesen Bьchern er mir
allenfalls besorgen kцnne. "Nu, man wird ja sehen, was sich machen lдЯt",
brummte er. "Kommen Sie nur morgen wieder her, der Mendel wird Ihnen
inzwischen schon eppes auftreiben, und was sich nicht findet, werd sich
anderswo finden. Wenn einer Sechel hat, hat er auch Glьck." Ich dankte
hцflich und stolperte aus lauter Hцflichkeit sofort in eine dicke Dummheit
hinein, indem ich vorschlug, ihm meine gewьnschten Buchtitel auf einen
Zettel zu notieren. Im gleichen Augenblick spьrte ich schon einen warnenden
EllbogenstoЯ meines Freundes. Aber zu spдt! Schon hatte mir Mendel einen
Blick zugeworfen - welch einen Blick! -, einen gleichzeitig triumphierenden
und beleidigten, einen hцhnischen und ьberlegenen, einen geradezu
kцniglichen Blick, den shakespearischen Blick Macbeths, wenn Macduff dem
unbesiegbaren Helden zumutet, sich kampflos zu ergeben. Dann lachte er
abermals kurz, der groЯe Adamsapfel an seiner Kehle kollerte merkwьrdig hin
und her, anscheinend hatte er ein grobes Wort mьhsam verschluckt. Und er
wдre im Recht gewesen mit jeder erdenklichen Grobheit, der gute, brave
Buchmendel; denn nur ein Fremder, ein Ahnungsloser (ein "Amhorez", wie er
sagte) konnte eine derart beleidigende Zumutung stellen, ihm, Jakob Mendel,
einen Buchtitel aufzunotieren wie einem Buchhandlungslehrling oder
Bibliotheksdiener, als ob dieses unvergleichliche, dieses diamantene
Buchgehirn solch grober Hilfsmittel jemals bedurft hдtte. Erst spдter
begriff ich, wie sehr ich sein abseitiges Genie mit diesem hцflichen Angebot
gekrдnkt haben muЯte; denn dieser kleine, zerdrьckte, ganz in seinen Bart
eingewickelte und ьberdies bucklige galizische Jude Jakob Mendel war ein
Titan des Gedдchtnisses. Hinter dieser kalkigen, schmutzigen, von grauem
Moos ьberwucherten Stirn stand in der unsichtbaren Geisterschrift jeder Name
und Titel wie mit StahlguЯ eingestanzt, der je auf einem Titelblatt eines
Buches gedruckt war. Er wuЯte von jedem Werk, dem gestern erschienenen wie
von einem zweihundert Jahre alten, auf den ersten Hieb genau den
Erscheinungsort, den Verfasser, den Preis, neu und antiquarisch, und
erinnerte sich bei jedem Buch mit fehlloser Vision zugleich an Einband und
Illustrationen und Faksimilebeigaben, er sah jedes Werk, ob er es selbst in
den Hдnden gehabt oder nur von fern in einer Auslage oder Bibliothek einmal
erspдht hatte, mit der gleichen optischen Deutlichkeit wie der schaffende
Kьnstler sein inneres und der andern Welt noch unsichtbares Gebilde. Er
erinnerte sich, wenn etwa ein Buch im Katalog eines Regensburger
Antiquariats um sechs Mark angeboten wurde, sofort, daЯ ebendasselbe in
einem anderen Exemplar vor zwei Jahren in einer Wiener Auktion um vier
Kronen zu haben gewesen war, und zugleich auch des Erstehers; nein: Jakob
Mendel vergaЯ nie einen Titel, eine Zahl, er kannte jede Pflanze, jedes
Infusorium, jeden Stern in dem ewig schwingenden und stдndig umgerьttelten
Kosmos des Bьcherweltalls. Er wuЯte in jedem Fach mehr als die Fachleute, er
beherrschte die Bibliotheken besser als die Bibliothekare, er kannte die
Lager der meisten Firmen auswendig besser als ihre Besitzer, trotz ihren
Zetteln und Kartotheken, indes ihm nichts zu Gebote stand als Magie des
Erinnerns, als dies unvergleichliche, dies nur an hundert einzelnen
Beispielen wahrhaft zu explizierende Gedдchtnis. Freilich, dieses Gedдchtnis
hatte nur so dдmonisch unfehlbar sich schulen und gestalten kцnnen durch das
ewige Geheimnis jeder Vollendung: durch Konzentration. AuЯerhalb der Bьcher
wuЯte dieser merkwьrdige Mensch nichts von der Welt; denn alle Phдnomene des
Daseins begannen fьr ihn erst wirklich zu werden, wenn sie in Lettern sich
umgossen, wenn sie in einem Buche sich gesammelt und gleichsam sterilisiert
hatten. Aber auch diese Bьcher selbst las er nicht auf ihren Sinn, auf ihren
geistigen und erzдhlerischen Gehalt: nur ihr Name, ihr Preis, ihre
Erscheinungsform, ihr erstes Titelblatt zog seine Leidenschaft an.
Unproduktiv und unschцpferisch im letzten, bloЯ ein hunderttausendstelliges
Verzeichnis von Titeln und Namen, in die weiche Gehirnrinde eines
Sдugetieres eingestempelt statt wie sonst in einen Buchkatalog geschrieben,
war dies spezifisch antiquarische Gedдchtnis Jakob Mendels jedoch in seiner
einmaligen Vollendung als Phдnomen nicht geringer als jenes Napoleons fьr
Physiognomien, Mezzofantis fьr Sprachen, eines Lasker fьr Schachanfдnge,
eines Busoni fьr Musik. Eingesetzt in ein Seminar, an eine цffentliche
Stelle, hдtte das Gehirn Tausende, Hunderttausende von Studenten und
Gelehrte belehrt und erstaunt, fruchtbar fьr die Wissenschaften, ein
unvergleichlicher Gewinn fьr jene цffentlichen Schatzkammern, die wir
Bibliotheken nennen. Aber diese obere Welt war ihm, dem kleinen,
ungebildeten galizischen Buchtrцdler, der nicht viel mehr als seine
Talmudschule bewдltigt, fьr ewig verschlossen; so vermochten diese
phantastischen Fдhigkeiten sich nur als Geheimwissenschaft auszuwirken an
jenem Marmortische des Cafй Gluck. Doch wenn einmal der groЯe Psychologe
kommt (dies Werk fehlt noch immer unserer geistigen Welt), der so beharrlich
und geduldig, wie Buffon die Abarten der Tiere ordnete und klassierte,
seinerseits alle Spielarten, Spezies und Urformen der magischen Macht, die
wir Gedдchtnis nennen, vereinzelt schildert und in ihren Varianten darlegt,
dann mьЯte er Jakob Mendels gedenken, dieses Genies der Preise und Titel,
dieses namenlosen Meisters der antiquarischen Wissenschaft.
Dem Berufe nach und fьr die Unwissenden galt Jakob Mendel freilich nur
als kleiner Buchschacherer. Allsonntags erschienen in der "Neuen Freien
Presse" und im "Neuen Wiener Tagblatt" dieselben stereotypen Anzeigen:
"Kaufe alte Bьcher, zahle beste Preise, komme sofort, Mendel, obere
AlserstraЯe", und dann eine Telefonnummer, die in Wirklichkeit jene des Cafй
Gluck war. Er stцberte Lager durch, schleppte mit einem alten kaiserbдrtigen
Dienstmann allwцchentlich neue Beute in sein Hauptquartier und von dort
wieder weg, denn fьr einen ordnungsmдЯigen Buchhandel fehlte ihm die
Konzession. So blieb es beim kleinen Schacher, bei einer wenig eintrдglichen
Tдtigkeit. Studenten verkauften ihm ihre Lehrbьcher, durch seine Hдnde
wanderten sie vom дlteren Jahrgang zum jeweils jьngeren, auЯerdem vermittele
und besorgte er jedes gesuchte Werk mit geringem Zuschlag. Bei ihm war guter
Rat billig. Aber das Geld hatte keinen Raum innerhalb seiner Welt; denn nie
hatte man ihn anders gesehen als im gleichen abgeschabten Rock, frьh,
nachmittags und abends seine Milch verzehrend und zwei Brote, mittags eine
Kleinigkeit essend, die man ihm vorn Gasthaus herьberholte. Er rauchte
nicht, er spielte nicht, ja man darf sagen, er lebte nicht, nur die beiden
Augen lebten hinter der Brille und fьtterten jenes rдtselhafte Wesen Gehirn
unablдssig mit Worten, Titeln und Namen. Und die weiche, fruchtbare Masse
sog diese Fьlle gierig in sich ein wie eine Wiese die tausend und aber
tausend Tropfen eines Regens. Die Menschen interessierten ihn nicht, und von
allen menschlichen Leidenschaften kannte er vielleicht nur die eine,
freilich allermenschlichste, der Eitelkeit. Wenn jemand zu ihm um eine
Auskunft kam, an hundert andern Stellen schon mьde gesucht, und er konnte
auf den ersten Hieb ihm Bescheid geben, dies allein wirkte auf ihn als
Genugtuung, als Lust, und vielleicht noch dies, daЯ in Wien und auswдrts ein
paar Dutzend Menschen lebten, die seine Kenntnisse ehrten und brauchten. In
jedem dieser ungefьgen Millionenkonglomerate, die wir GroЯstadt nennen, sind
immer an wenigen Punkten einige kleine Facetten eingesprengt, die ein und
dasselbe Weltall auf kleinwinziger Flдche spiegeln, unsichtbar fьr die
meisten, kostbar bloЯ dem Kenner, dem Bruder in der Leidenschaft. Und diese
Kenner der Bьcher kannten alle Jakob Mendel. So wie man, wenn man ьber ein
Musikblatt Rat holen wollte, zu Eusebius Mandyczewski in die Gesellschaft
der Musikfreunde ging, der dort mit grauem Kдppchen freundlich inmitten
seiner Akten und Noten saЯ und mit dem ersten aufschauenden Blick die
schwierigsten Probleme lдchelnd lцste, so wie heute noch jeder, der ьber
Altwiener Theater und Kultur AufschluЯ braucht, unfehlbar sich an den
allwissenden Vater Glossy wendet, so pilgerten mit der gleichen vertrauenden
Selbstverstдndlichkeit die paar strengglдubigen Wiener Bibliophilen, sobald
es eine besonders harte NuЯ zu knacken gab, ins Cafй Gluck zu Jakob Mendel.
Bei einer solchen Konsultation Mendel zuzusehen bereitete mir jungem
neugierigem Menschen eine Wollust besonderer Art. Wдhrend er sonst, wenn man
ihm ein minderes Buch vorlegte, den Deckel verдchtlich zuklappte und nur
murrte: "Zwei Kronen", rьckte er vor irgendeiner Raritдt oder einem Unikum
respektvoll zurьck, legte ein Papierblatt unter, und man sah, daЯ er sich
auf einmal seiner schmutzigen, tintigen, schwarznдgeligen Finger schдmte.
Dann begann er zдrtlich-vorsichtig, mit einer ungeheuren Hochachtung das
Rarum anzublдttern, Seite fьr Seite. Niemand konnte ihn in einer solchen
Sekunde stцren, so wenig wie einen wirklich Glдubigen im Gebet, und
tatsдchlich hatte dies Anschauen, Berьhren, Beriechen und Abwдgen, hatte
jede dieser Einzelhandlungen etwas von dem Zeremoniell, von der kultisch
geregelten Aufeinanderfolge eines religiцsen Aktes. Der krumme Rьcken schob
sich hin und her, dabei murrte und knurrte er, kratzte sich im Haar, stieЯ
merkwьrdige vokalische Urlaute aus, ein gedehntes, fast erschrockenes "Ah"
und "Oh" hingerissener Bewunderung und dann wieder ein rapid erschrecktes
"Oi" oder "Oiweh", wenn sich eine Seite als fehlend oder ein Blatt als vom
Holzwurm zerfressen erwies. SchlieЯlich wog er die Schwarte respektvoll auf
der Hand, beschnьffelte und beroch das ungefьgige Quadrat mit
halbgeschlossenen Augen nicht minder ergriffen als ein sentimentalisches
Mдdchen eine Tuberose. Wдhrend dieser etwas umstдndlichen Prozedur muЯte
selbstredend der Besitzer seine Geduld zusammenhalten. Nach beendetem Examen
aber gab Mendel bereitwillig, ja geradezu begeistert, jede Auskunft, an die
sich unfehlbar weitspurige Anekdoten und dramatische Preisberichte von
дhnlichen Exemplaren anschlossen. Er schien heller, jьnger, lebendiger zu
werden in solchen Sekunden, und nur eines konnte ihn maЯlos erbittern: wenn
etwa ein Neuling ihm fьr diese Schдtzung Geld anbieten wollte. Dann wich er
gekrдnkt zurьck wie etwa ein Galeriehofrat, dem ein durchreisender
Amerikaner fьr seine Erklдrung ein Trinkgeld in die Hand drьcken will; denn
ein kostbares Buch in der Hand haben zu dьrfen bedeutete fьr Mendel, was fьr
einen andern die Begegnung mit einer Frau. Diese Augenblicke waren seine
platonischen Liebesnдchte. Nur das Buch, niemals Geld hatte ьber ihn Macht.
Vergebens versuchten darum groЯe Sammler, darunter auch der Grьnder der
Universitдt in Princeton, ihn fьr ihre Bibliothek als Berater und Einkдufer
zu gewinnen - Jakob Mendel lehnte ab; er war nicht anders zu denken als im
Cafй Gluck. Vor dreiunddreiЯig Jahren, mit noch weichem, schwarzflaumigem
Bart und geringelten Stirnlocken, war er, ein kleines schiefes Jьngel, aus
dem Osten nach Wien gekommen, um Rabbinat zu studieren; aber bald hatte er
den harten Eingott Jehovah verlassen, um sich der funkelnden und
tausendfдltigen Vielgцtterei der Bьcher zu ergeben. Damals hatte er zuerst
ins Cafй Gluck gefunden, und allmдhlich wurde es seine Werkstatt, sein
Hauptquartier, sein. Postamt, seine Welt. Wie ein Astronom einsam auf seiner
Sternwarte durch den winzigen Rundspalt des Teleskops allnдchtlich die
Myriaden Sterne betrachtet, ihre geheimnisvollen Gдnge, ihr wandelndes
Durcheinander, ihr Verlцschen und Sichwiederentzьnden, so blickte Jakob
Mendel durch seine Brille von diesem viereckigen Tisch in das andere
Universum der Bьcher, das gleichfalls ewig kreisende und sich umgebдrende,
in diese Welt ьber unserer Welt.
Selbstverstдndlich war er hoch angesehen im Cafй Gluck, dessen Ruhm
sich fьr uns mehr an sein unsichtbares Katheder knьpfte als an die
Patenschaft des hohen Musikers, des Schцpfers der "Alceste" und der
"Iphigenia": Christoph Willibald Gluck. Er gehцrte dort ebenso zum Inventar
wie die alte Kirschholzkasse, wie die beiden arg geflickten Billarde, der
kupferne Kaffeekessel, und sein Tisch wurde gehьtet wie ein Heiligtum. Denn
seine zahlreichen Kundschaften und Auskundschafter wurden von dem Personal
jedesmal freundlich zu irgendeiner Bestellung gedrдngt, so daЯ der grцЯere
Gewinnteil seiner Wissenschaft eigentlich dem Oberkellner Deubler in die
breite, hьftwдrts getragene Ledertasche floЯ. Dafьr genoЯ Buchmendel
vielfache Privilegien. Das Telephon stand ihm frei, man hob ihm seine Briefe
auf und besorgte alle Bestellungen; die alte, brave Toilettenfrau bьrstete
ihm den Mantel, nдhte Knцpfe an und trug ihm jede Woche ein kleines Bьndel
zur Wдsche. Ihm allein durfte aus dem nachbarlichen Gasthaus eine
Mittagsmahlzeit geholt werden, und jeden Morgen kam der Herr Standhartner,
der Besitzer, in persona an seinen Tisch und begrьЯte ihn (freilich meist,
ohne daЯ Jakob Mendel, in seine Bьcher vertieft, diesen GruЯ bemerkte).
Punkt halb acht Uhr morgens trat er ein, und erst wenn man die Lichter
auslцschte, verlieЯ er das Lokal. Zu den andern Gдsten sprach er nie, er las
keine Zeitung, bemerkte keine Verдnderung, und als der Herr Standhartner ihn
einmal hцflich fragte, ob er bei dem elektrischen Licht nicht besser lese
als frьher bei dem fahlen, zuckenden Schein der Auerlampen, starrte er
verwundert zu den Glьhbirnen auf: diese Verдnderung war trotz dem Lдrm und
Gehдmmer einer mehrtдgigen Installation vollkommen an ihm vorbeigegangen.
Nur durch die zwei runden Lцcher der Brille, durch diese beiden blitzenden
und saugenden Linsen filterten sich die Milliarden schwarzer Infusorien der
Lettern in sein Gehirn, alles andere Geschehen strцmte als leerer Lдrm an
ihm vorbei. Eigentlich hatte er mehr als dreiЯig Jahre, also den ganzen
wachen Teil seines Lebens, einzig hier an diesem viereckigen Tisch lesend,
vergleichend, kalkulierend verbracht, in einem unablдssig fortgesetzten, nur
vom Schlaf unterbrochenen Dauertraum.
Deshalb ьberkam mich eine Art Schrecken, als ich den orakelspendenden
Marmortisch Jakob Mendels leer wie eine Grabplatte in diesem Raum dдmmern
sah. Jetzt erst, дlter geworden, verstand ich, wieviel mit jedem solchen
Menschen verschwindet, erstlich weil alles Einmalige von Tag zu Tag
kostbarer wird in unserer rettungslos einfцrmiger werdenden Welt. Und dann:
der junge, unerfahrene Mensch in mir hatte aus einer tiefen Ahnung diesen
Jakob Mendel sehr lieb gehabt. Und doch, ich hatte vergessen kцnnen -
allerdings in den Jahren des Krieges und in einer der seinen дhnlichen
Hingabe an das eigene Werk. Jetzt aber, vor diesem leeren Tische, fьhlte ich
eine Art Scham vor ihm und eine erneuerte Neugier zugleich.
Denn wo war er hin, was war mit ihm geschehen? Ich rief den Kellner und
fragte. Nein, einen Herrn Mendel, bedaure, den kenne er nicht, ein Herr
dieses Namens verkehre nicht im Cafй. Aber vielleicht wisse der Oberkellner
Bescheid. Dieser schob seinen Spitzbauch schwerfдllig heran, zцgerte, dachte
nach, nein, auch ihm sei ein Herr Mendel nicht bekannt. Aber ob ich
vielleicht den Herrn Mandl meine, den Herrn Mandl vom Kurzwarengeschдft in
der Florianigasse? Ein bitterer Geschmack kam mir auf die Lippen, Geschmack
von Vergдnglichkeit: wozu lebt man, wenn der Wind hinter unserm Schuh schon
die letzte Spur von uns wegtrдgt? DreiЯig Jahre, vierzig vielleicht, hatte
ein Mensch in diesen paar Quadratmetern Raum geatmet, gelesen, gedacht,
gesprochen, und bloЯ drei Jahre, vier Jahre muЯten hingehen, ein neuer
Pharao kommen, und man wuЯte nichts mehr von Joseph, man wuЯte im Cafй Gluck
nichts mehr von Jakob Mendel, dem Buchmendel! Beinahe zornig fragte ich den
Oberkellner, ob ich nicht Herrn Standhartner sprechen kцnne, oder ob nicht
sonst wer im Hause sei vom alten Personal? Oh, der Herr Standhartner, o mein
Gott, der habe lдngst das Cafй verkauft, der sei gestorben, und der alte
Oberkellner, der lebe jetzt auf seinem Gьtel bei Krems. Nein, niemand sei
mehr da . . . oder doch! Ja doch - die Frau Sporschil sei noch da, die
Toilettenfrau (vulgo Schokoladefrau). Aber die kцnne sich gewiЯ nicht mehr
an die einzelnen Gдste erinnern. Ich dachte gleich: einen Jakob Mendel
vergiЯt man nicht, und lieЯ sie mir kommen.
Sie kam, die Frau Sporschil, weiЯhaarig, zerrauft, mit ein wenig
wassersьchtigen Schritten aus ihren hintergrьndigen Gemдchern und rieb sich
noch hastig die roten Hдnde mit einem Tuch: offenbar hatte sie gerade ihr
trьbes GelaЯ gefegt oder Fenster geputzt. An ihrer unsicheren Art merkte ich
sofort: ihr war's unbehaglich, so plцtzlich nach vorn unter die groЯen
Glьhbirnen in den noblen Teil des Cafйs gerufen zu werden. So sah sie mich
zunдchst miЯtrauisch an, mit einem Blick von unten herauf, einem sehr
vorsichtig geduckten Blick. Was konnte ich Gutes von ihr wollen? Aber kaum
daЯ ich nach Jakob Mendel fragte, starrte sie mich mit vollen, geradezu
strцmenden Augen an, die Schultern fuhren ihr ruckhaft auf. "Mein Gott, der
arme Herr Mendel, daЯ an den noch jemand denkt! Ja, der arme Herr Mendel" -
fast weinte sie, so gerьhrt war sie, wie alte Leute es immer werden, wenn
man sie an ihre Jugend, an irgendeine gute vergessene Gemeinsamkeit
erinnert. Ich fragte, ob er noch lebe. "O mein Gott, der arme Herr Mendel,
fьnf oder sechs Jahre, nein, sieben Jahre muЯ der schon tot sein. So a
lieber, guter Mensch, und wenn ich denk, wie lang ich ihn kennt hab, mehr
als fьnfundzwanzig Jahr, er war doch schon da, wie ich eintreten bin. Und
eine Schand war's, wie man ihn hat sterben lassen." Sie wurde immer
aufgeregter, fragte, ob ich ein Verwandter sei. Es hдtte sich ja nie jemand
um ihn gekьmmert, nie jemand nach ihm erkundigt - und ob ich denn nicht
wisse, was mit ihm passiert sei?
Nein, ich wьЯte nichts, versicherte ich; sie solle mir erzдhlen, alles
erzдhlen. Die gute Person tat scheu und geniert und wischte immer wieder an
ihren nassen Hдnden. Ich begriff: ihr war es peinlich, als Toilettenfrau mit
ihrer schmutzigen Schьrze und ihren zerstrubbelten weiЯen Haaren hier mitten
im Kaffeehausraum zu stehen, auЯerdem blickte sie immer дngstlich nach
rechts und links, ob nicht einer der Kellner zuhцre. So schlug ich ihr vor,
wir wollten hinein in das Spielzimmer, an Mendels alten Platz: dort solle
sie mir alles belichten. Gerьhrt nickte sie mir zu, dankbar, daЯ ich sie
verstand, und King voraus, die alte, schon ein wenig schwankende Frau, und
ich hinter ihr. Die beiden Kellner staunten uns nach, sie spьrten da einen
Zusammenhang, und auch einige Gдste verwunderten sich ьber uns ungleiches
Paar. Und drьben an seinem Tisch erzдhlte sie mir (manche Einzelheit
ergдnzte mir spдter anderer Bericht) von Jakob Mendels, von Buchmendels
Untergang.
Ja also, er sei, so erzдhlte sie, auch nachher noch, als der Krieg
schon begonnen, immer noch gekommen, Tag um Tag um halb acht Uhr frьh, und
genau so sei er gesessen und habe er den ganzen Tag studiert wie immer, ja,
sie hдtten alle das Gefьhl gehabt und oft darьber geredet, ihm sei's gar
nicht zum BewuЯtsein gekommen, daЯ Krieg sei. Ich wisse doch, in eine
Zeitung habe er nie geschaut und nie mit wem andern gesprochen; aber auch
wenn die Ausrufer ihren Mordslдrm mit den Extrablдttern machten und alle
andern zusammenliefen, nie sei er da aufgestanden oder hдtte zugehцrt. Er
habe auch gar nicht gemerkt, daЯ der Franz fehle, der Kellner (der bei
Gorlice gefallen sei), und nicht gewuЯt, daЯ sie den Sohn vom Herrn
Standhartner bei Przemysl gefangen hatten, und nie kein Wort habe er gesagt,
wie das Brot immer miserabler geworden ist und man ihm statt der Milch das
elende Feigenkaffeegschlader hat geben mьssen. Nur einmal habe er sich
gewundert, daЯ jetzt so wenig Studenten kдmen, das war alles. - "Mein Gott,
der arme Mensch, den hat doch nichts gefreut und gekьmmert als seine
Bьcher."
Aber dann eines Tags, da sei das Unglьck geschehen. Um elf Uhr
vormittags, am hellichten Tag, sei ein Wachmann gekommen mit einem
Geheimpolizisten, der hдtte die Rosette gezeigt im Knopfloch und gefragt, ob
hier ein Jakob Mendel verkehre. Dann wдren sie gleich an den Tisch gegangen
zum Mendel, und der hдtte ahnungslos noch geglaubt, sie wollten Bьcher
verkaufen oder ihn was fragen. Aber gleich hдtten sie ihn aufgefordert,
mitzukommen, und ihn weggefьhrt. Eine rechte Schande sei es fьr das
Kaffeehaus gewesen, alle Leute hдtten sich herumgestellt um den armen Herrn
Mendel, wie er dagestanden ist zwischen den beiden, die Brille unterm Haar,
und hin und her geschaut hat von einem zum andern und nicht recht gewuЯt,
was sie eigentlich von ihm wollten. Sie aber habe stante pede dem Gendarmen
gesagt, das mьsse ein Irrtum sein, ein Mann wie Herr Mendel kцnne keiner
Fliege was tun; aber da habe der Geheimpolizist sie gleich angeschrien, sie
solle sich nicht in Amtshandlungen einmischen. Und dann hдtten sie ihn
weggefьhrt, und er sei lange nicht mehr gekommen, zwei Jahre lang. Noch
heute wisse sie nicht recht, was die damals von ihm gewollt hдtten. "Aber
ich leist ein Jurament", sagte sie erregt, die alte Frau, "der Herr Mendel
kann nichts Unrechtes getan haben. Die haben sich geirrt, da leg ich meine
Hand ins Feuer. Es war ein Verbrechen an dem armen, unschuldigen Menschen,
ein Verbrechen!"
Und sie hatte recht, die gute, rьhrende Frau Sporschil. Unser Freund
Jakob Mendel hatte wahrhaftig nichts Unrechtes begangen, sondern nur (erst
spдter erfuhr ich alle Einzelheiten) eine rasende, eine rьhrende, eine
selbst in jenen irrwitzigen Zeiten ganz unwahrscheinliche Dummheit,
erklдrbar bloЯ aus der vollkommenen Versunkenheit, aus der Mondfernheit
seiner einmaligen Erscheinung. Folgendes hatte sich ereignet: auf dem
militдrischen Zensuramt, das verpflichtet war, jede Korrespondenz mit dem
Ausland zu ьberwachen, war eines Tages eine Postkarte abgefangen worden,
geschrieben und unterschrieben von einem gewissen Jakob Mendel,
ordnungsgemдЯ nach dem Ausland frankiert, aber - unglaublicher Fall - in das
feindliche Ausland gerichtet, eine Postkarte an Jean Labourdaire,
Buchhдndler, Paris, Quai de Grenelle, adressiert, in der ein gewisser Jakob
Mendel sich beschwerte, die letzten acht Nummern des monatlichen "Bulletin
bibliographique de la France" trotz vorausbezahltem Jahresabonnement nicht
erhalten zu haben. Der eingestellte untere Zensurbeamte, ein
Gymnasialprofessor, in Privatneigung Romanist, dem man einen blauen
Landsturmrock umgestьlpt hatte, staunte, als ihm dieses Schriftstьck in die
Hдnde kam. Ein dummer SpaЯ, dachte er. Unter den zweitausend Briefen, die er
allwцchentlich auf dubiose Mitteilungen und spionageverdдchtige Wendungen
durchstцberte und durchleuchtete, war ihm ein so absurdes Faktum noch nie
unter die Finger gekommen, daЯ jemand aus Цsterreich einen Brief nach
Frankreich ganz sorglos adressierte, also ganz gemьtlich eine Karte in das
kriegfьhrende Ausland so einfach in den Postkasten warf, als ob diese
Grenzen seit 1914 nicht umnдht wдren mit Stacheldraht und an jedem von Gott
geschaffenen Tage Frankreich, Deutschland, Цsterreich und RuЯland ihre
mдnnliche Einwohnerzahl gegenseitig um ein paar tausend Menschen kьrzten.
Zunдchst legte er deshalb die Postkarte als Kuriosum in seine
Schreibtischlade, ohne von dieser Absurditдt weitere Meldung zu erstatten.
Aber nach einigen Wochen kam abermals eine Karte desselben Jakob Mendel an
einen Bookseller John Aldridge, London, Holborn Square, ob er ihm nicht die
letzten Nummern des "Antiquarian" besorgen kцnnte, und abermals war sie
unterfertigt von ebendemselben merkwьrdigen Individuum, Jakob Mendel, das
mit rьhrender Naivitдt seine volle Adresse beischrieb. Nun wurde es dem in
die Uniform eingenдhten Gymnasialprofessor doch ein wenig eng unter dem
Rock. Steckte am Ende irgendein rдtselhafter chiffrierter Sinn hinter diesem
vertцlpelten SpaЯ? Jedenfalls, er stand auf, klappte die Hacken zusammen und
legte dem Major die beiden Karten auf den Tisch. Der zog beide Schultern
hoch: sonderbarer Fall! Zunдchst avisierte er die Polizei, sie solle
ausforschen, ob es diesen Jakob Mendel tatsдchlich gдbe, und eine Stunde
spдter war Jakob Mendel bereits dingfest gemacht und wurde, noch ganz
taumelig von der Ьberraschung, vor den Major gefьhrt. Der legte ihm die
mysteriцsen Postkarten vor, ob er sich als Absender erkenne. Erregt durch
den strengen Ton und vor allem, weil man ihn bei der Lektьre eines wichtigen
Katalogs aufgestцbert hatte, polterte Mendel beinahe grob, natьrlich habe er
diese Karten geschrieben. Man habe wohl noch das Recht, ein Abonnement fьr
sein gezahltes Geld zu reklamieren. Der Major drehte sich im Sessel schief
hinьber zu dem Leutnant am Nebentisch. Die beiden blinzelten sich
einverstдndlich an: ein gebrannter Narr! Dann ьberlegte der Major, ob er den
Einfaltspinsel nur scharf anbrummen und wegjagen sollte oder den Fall ernst
aufziehen. In solchen unschlьssigen Verlegenheiten entschlieЯt man sich bei
jedem Amt fast immer, zunдchst ein Protokoll aufzunehmen. Ein Protokoll ist
immer gut. Nьtzt es nichts, so schadet es nichts, und nur ein sinnloser
Papierbogen mehr unter Millionen ist vollgeschrieben.
In diesem Falle aber schadete es leider einem armen, ahnungslosen
Menschen, denn schon bei der dritten Frage kam etwas sehr Verhдngnisvolles
zutage. Man forderte zuerst seinen Namen: Jakob, recte Jainkeff Mendel.
Beruf: Hausierer (er besaЯ nдmlich keine Buchhдndlerlizenz, nur einen
Hausierschein). Die dritte Frage wurde zur Katastrophe: der Geburtsort.
Jakob Mendel nannte einen kleinen Ort bei Petrikau. Der Major zog die Brauen
hoch. Petrikau, lag das nicht in Russisch-Polen, nahe der Grenze?
Verdдchtig! Sehr verdдchtig! So inquirierte er nun strenger, wann er die
цsterreichische Staatsbьrgerschaft erworben habe. Mendels Brille starrte ihn
dunkel und verwundert an: er verstand nicht recht. Zum Teufel, ob und wo er
seine Papiere habe, seine Dokumente? Er habe keine andern als den
Hausierschein. Der Major schob die Stirnfalten immer hцher. Also wie es mit
seiner Staatsbьrgerschaft stehe, solle er endlich einmal erklдren. Was sein
Vater gewesen sei, ob Цsterreicher oder Russe? Seelenruhig erwiderte Jakob
Mendel: natьrlich Russe. Und er selbst? Ach, er hдtte sich schon vor
dreiunddreiЯig Jahren ьber die russische Grenze geschmuggelt, seither lebe
er in Wien. Der Major wurde immer unruhiger. Wann er hier das
цsterreichische Staatsbьrgerrecht erworben habe? Wozu? fragte Mendel. Er
habe sich um solche Sachen nie gekьmmert. So sei er also noch russischer
Staatsbьrger? Und Mendel, den diese цde Fragerei innerlich lдngst
langweilte, antwortete gleichgьltig: "Eigentlich ja."
Der Major warf sich so brьsk erschrocken zurьck, daЯ der Sessel
knackte. Das gab es also! In Wien, in der Hauptstadt Цsterreichs, ging
mitten im Kriege, Ende 1915, nach Tarnow und der groЯen Offensive, ein Russe
unbehelligt spazieren, schrieb Briefe nach Frankreich und England, und die
Polizei kьmmerte sich um nichts. Und da wundern sich die Dummkцpfe in den
Zeitungen, daЯ Conrad von Hцtzendorf nicht gleich nach Warschau
vorwдrtsgekommen ist, da staunen sie im Generalstab, wenn jede
Truppenbewegung durch Spione nach RuЯland weitergemeldet wird. Auch der
Leutnant war aufgestanden und stellte sich an den Tisch: das Gesprдch
schaltete sich scharf um zum Verhцr. Warum er sich nicht sofort gemeldet
habe als Auslдnder? Mendel, noch immer arglos, antwortete in seinem
singenden jьdischen Jargon: "Wozu hдtt ich mich melden sollen auf einmal?"
In dieser umgedrehten Frage erblickte der Major eine Herausforderung und
fragte drohend, ob er nicht die Ankьndigungen gelesen habe? Nein! Ob er etwa
auch keine Zeitungen lese? Nein!
Die beiden starrten den vor Unsicherheit schon leicht schwitzenden
Jakob Mendel an, als sei der Mond mitten in ihr Bьrozimmer gefallen. Dann
rasselte das Telefon, knackten die Schreibmaschinen, liefen die Ordonnanzen,
und Jakob Mendel wurde dem Garnisonsgefдngnis ьberantwortet, um mit dem
nдchsten Schub in ein Konzentrationslager abgefьhrt zu werden. Als man ihm
bedeutete, den beiden Soldaten zu folgen, starrte er ungewiЯ. Er verstand
nicht, was man von ihm wollte, aber eigentlich hatte er keinerlei Sorge. Was
konnte der Mann mit dem goldenen Kragen und der groben Stimme schlieЯlich
Bцses mit ihm vorhaben? In seiner obern Welt der Bьcher gab es keinen Krieg,
kein Nichtverstehen, sondern nur das ewige Wissen und Nochmehrwissenwollen
von Zahlen und Worten, von Titeln und Namen. So trollte er gutmьtig zwischen
den beiden Soldaten die Treppe hinunter. Erst als man ihm auf der Polizei
alle Bьcher aus den Manteltaschen nahm und die Brieftasche abforderte, in
der er hundert wichtige Zettel und Kundenadressen stecken hatte, da erst
begann er wьtend um sich zu schlagen. Man muЯte ihn bдndigen. Aber dabei
klirrte leider seine Brille zu Boden, und dies sein magisches Teleskop in
die geistige Welt brach in mehrere Stьcke. Zwei Tage spдter expedierte man
ihn im dьnnen Sommerrock in ein Konzentrationslager russischer
Zivilgefangener bei Komorn.
Was Jakob Mendel in diesen zwei Jahren Konzentrationslager an
seelischer Schrecknis erfahren, ohne Bьcher, seine geliebten Bьcher, ohne
Geld, inmitten der gleichgьltigen, groben, meist analphabetischen Gefдhrten
dieses riesigen Menschenkotters, was er dort leidend erlebte, von seiner
obern und einzigen Bьcherwelt abgetrennt wie ein Adler mit zerschnittenen