Als er grußer wurde, gaben sie die Mordanschluge auf. Sie hatten
wohl eingesehen, dass er nicht zu vernichten war. Statt dessen gingen sie
ihm aus dem Weg, liefen davon, huteten sich in jedem Fall vor Beruhrung. Sie
hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersuchtig oder futterneidisch auf
ihn. Fur solche Gefuhle hutte es im Hause Gaillard nicht den geringsten
Anlass gegeben. Es sturte sie ganz einfach, dass er da war. Sie konnten ihn
nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.

    5


Dabei besaß er, objektiv gesehen, gar nichts
Angsteinflußendes. Er war, als er heranwuchs, nicht besonders
groß, nicht stark, zwar hußlich, aber nicht so extrem
hußlich, dass man vor ihm hutte erschrecken mussen. Er war nicht
aggressiv, nicht link, nicht hinterhultig, er provozierte nicht. Er hielt
sich lieber abseits. Auch seine Intelligenz schien alles andere als
furchterlich zu sein. Erst mit drei Jahren begann er auf zwei Beinen zu
stehen, sein erstes Wort sprach er mit vier, es war das Wort "Fische", das
in einem Moment plutzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo, als
von ferne ein Fischverkuufer die Rue de Charonne heraufkam und seine Ware
ausschrie. Die nuchsten Wurter, derer er sich entuußerte, waren
"Pelargonie", "Ziegenstall", "Wirsing" und "Jacqueslorreur", letzteres der
Name eines Gurtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der Filles de la Croix,
der bei Madame Gaillard gelegentlich grubere und grubste Arbeiten
verrichtete und sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein
einziges Mal gewaschen hatte. Mit den Zeitwurtern, den Adjektiven und
Fullwurtern hatte er es weniger. Bis auf "ja" und "nein" - die er ubrigens
sehr sput zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptwurter, ja eigentlich
nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich,
und auch nur dann, wenn ihn diese Dinge, Pflanzen, Tiere oder Menschen
unversehens geruchlich uberwultigten.
In der Murzsonne auf einem Stapel Buchenscheite sitzend, die in der
Wurme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort "Holz" aussprach. Er
hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal gehurt.
Er verstand es auch, war er doch im Winter oft hinausgeschickt worden, um
Holz zu holen. Aber der Gegenstand Holz war ihm nie interessant genug
vorgekommen, als dass er sich die Muhe gegeben hutte, seinen Namen
auszusprechen. Das geschah erst an jenem Murztag, als er auf dem Stapel
saß. Der Stapel war wie eine Bank an der Sudseite des Schuppens von
Madame Gaillard unter einem uberhungenden Dach aufgeschichtet. Brenzlig
suß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus der Tiefe des
Stapels herauf, und von der Fichtenwand des Schuppens fiel in der Wurme
bruseliger Harzduft ab. Grenouille saß mit ausgestreckten Beinen auf
dem Stapel, den Rucken gegen die Schuppenwand gelehnt, er hatte die Augen
geschlossen und ruhrte sich nicht. Er sah nichts, er hurte und spurte
nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und sich
unter dem Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank
darin, imprugnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst
Holz, wie eine hulzerne Puppe, wie ein Pinocchio lag er auf dem
Holzstoß, wie tot, bis er, nach langer Zeit, vielleicht nach einer
halben Stunde erst, das Wort "Holz" hervorwurgte. Als sei er angefullt mit
Holz bis uber beide Ohren, als stunde ihm das Holz schon bis zum Hals, als
habe er den Bauch, den Schlund, die Nase ubervoll von Holz, so kotzte er das
Wort heraus. Und das brachte ihn zu sich, errettete ihn, kurz bevor die
uberwultigende Gegenwart des Holzes selbst, sein Duft, ihn zu ersticken
drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von dem Stapel herunter und wankte
wie auf hulzernen Beinen davon. Noch Tage sputer war er von dem intensiven
Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte, wenn die Erinnerung daran zu
kruftig in ihm aufstieg, beschwurend "Holz, Holz" vor sich hin.
So lernte er sprechen. Mit Wurtern, die keinen riechenden Gegenstand
bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und
moralischer Natur, hatte er die grußten Schwierigkeiten. Er konnte sie
nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern
und oft falsch: Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut,
Dankbarkeit usw. - was damit ausgedruckt sein sollte, war und blieb ihm
schleierhaft.
Andrerseits hutte die gungige Sprache schon bald nicht mehr
ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe
in sich versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz, sondern
Holzsorten, Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz,
altes, junges, morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne
Holzscheite, Holzsplitter und Holzbrusel - und roch sie als so deutlich
unterschiedene Gegenstunde, wie andre Leute sie nicht mit Augen hutten
unterscheiden kunnen. uhnlich erging es ihm mit anderen Dingen. Dass jenes
weiße Getrunk, welches Madame Gaillard allmorgendlich ihren Zuglingen
verabreichte, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo es doch nach
Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und schmeckte, je
nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen
hatte, wieviel Rahm man ihm belassen hatte und so fort... dass Rauch, dass
ein von hundert Einzelduften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis sich
wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde wie der Rauch des
Feuers nur eben jenen einen Namen "Rauch" besaß... dass Erde,
Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und von Atemzug zu Atemzug von
anderem Geruch erfullt und damit von andrer Identitut beseelt waren, dennoch
nur mit jenen drei plumpen Wurtern bezeichnet sein sollten - all diese
grotesken Missverhultnisse zwischen dem Reichtum der geruchlich
wahrgenommenen Welt und der Armut der Sprache, ließen den Knaben
Grenouille am Sinn der Sprache uberhaupt zweifeln; und er bequemte sich zu
ihrem Gebrauch nur, wenn es der Umgang mit anderen Menschen unbedingt
erforderlich machte.
Mit sechs Jahren hatte er seine Umgebung olfaktorisch vollstundig
erfasst. Es gab im Hause der Madame Gaillard keinen Gegenstand, in der
nurdlichen Rue de Charonne keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum,
Strauch oder Lattenzaun, keinen noch so kleinen Flecken, den er nicht
geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der jeweiligen Einmaligkeit fest
im Geduchtnis verwahrte. Zehntausend, hunderttausend spezifische
Eigengeruche hatte er gesammelt und hielt sie zu seiner Verfugung, so
deutlich, so beliebig, dass er sich nicht nur ihrer erinnerte, wenn er sie
wieder roch, sondern dass er sie tatsuchlich roch, wenn er sich ihrer wieder
erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie
untereinander neu zu kombinieren verstand und dergestalt in sich Geruche
erschuf, die es in der wirklichen Welt gar nicht gab. Es war, als
besuße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Geruchen, das ihn
befuhigte, eine schier beliebig große Menge neuer Geruchssutze zu
bilden und dies in einem Alter, da andere Kinder mit den ihnen muhsam
eingetrichterten Wurtern die ersten, zur Beschreibung der Welt huchst
unzulunglichen konventionellen Sutze stammelten. Am ehesten war seine
Begabung vielleicht der eines musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das
den Melodien und Harmonien das Alphabet der einzelnen Tune abgelauscht hatte
und nun selbst vollkommen neue Melodien und Harmonien komponierte - mit dem
Unterschied freilich, dass das Alphabet der Geruche ungleich grußer
und differenzierter war als das der Tune, und mit dem Unterschied ferner,
dass sich die schupferische Tutigkeit des Wunderkinds Grenouille allein in
seinem Innern abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur
von ihm selbst.
Nach außen hin wurde er immer verschlossener. Am liebsten
streifte er allein durch den nurdlichen Faubourg Saint-Antoine, durch
Gemusegurten, Weinfelder, uber Wiesen. Manchmal kehrte er abends nicht nach
Hause zuruck, blieb tagelang verschollen. Die fullige Zuchtigung mit dem
Stock ertrug er ohne Schmerzensuußerung. Hausarrest, Essensentzug,
Strafarbeit konnten sein Benehmen nicht undern. Ein eineinhalbjuhriger
sporadischer Besuch der Pfarrschule von Notre Dame de Bon Secours blieb ohne
erkennbare Wirkung. Er lernte ein bisschen buchstabieren und den eignen
Namen schreiben, sonst nichts. Sein Lehrer hielt ihn fur schwachsinnig.
Madame Gaillard hingegen fiel auf, dass er bestimmte Fuhigkeiten und
Eigenheiten besaß, die sehr ungewuhnlich, um nicht zu sagen
ubernaturlich waren: So schien ihm die kindliche Angst vor der Dunkelheit
und der Nacht vullig fremd zu sein. Man konnte ihn jederzeit zu einer
Besorgung in den Keller schicken, wohin sich die anderen Kinder kaum mit
einer Lampe wagten, oder hinaus zum Schuppen zum Holzholen bei
stockfinsterer Nacht. Und nie nahm er ein Licht mit und fand sich doch
zurecht und brachte sofort das Verlangte, ohne einen falschen Griff zu tun,
ohne zu stolpern oder etwas umzustoßen. Noch merkwurdiger freilich
erschien es, dass er, wie Madame Gaillard festgestellt zu haben glaubte,
durch Papier, Stoff, Holz, ja sogar durch festgemauerte Wunde und
geschlossene Turen hindurchzusehen vermochte. Er wusste, wieviel und welche
Zuglinge sich im Schlafraum aufhielten, ohne ihn betreten zu haben. Er
wusste, dass eine Raupe im Blumenkohl steckte, ehe der Kopf zerteilt war.
Und einmal, als sie ihr Geld so gut versteckt hatte, dass sie es selbst
nicht mehr wiederfand (sie underte ihre Verstecke), deutete er, ohne eine
Sekunde zu suchen, auf eine Stelle hinter dem Kaminbalken, und siehe, da war
es! Sogar in die Zukunft konnte er sehen, indem er numlich den Besuch einer
Person lange vor ihrem Eintreffen ankundigte oder das Nahen eines Gewitters
unfehlbar vorauszusagen wusste, ehe noch das kleinste Wulkchen am Himmel
stand. Dass er dies alles freilich nicht sah, nicht mit Augen sah, sondern
mit seiner immer schurfer und pruziser riechenden Nase erwitterte: die Raupe
im Kohl, das Geld hinterm Balken, die Menschen durch Wunde hindurch und uber
eine Entfernung von mehreren Straßenzugen hinweg - darauf wure Madame
Gaillard im Traume nicht gekommen, auch wenn jener Schlag mit dem Feuerhaken
ihren Olfaktorius unbeschudigt gelassen hutte. Sie war davon uberzeugt, der
Knabe musse - Schwachsinn hin oder her - das zweite Gesicht besitzen. Und da
sie wusste, dass Zwiegesichtige Unheil und Tod anziehen, wurde er ihr
unheimlich. Noch unheimlicher, geradezu unertruglich war ihr der Gedanke,
mit jemandem unter einem Dach zu leben, der die Gabe hatte, sorgfultig
verstecktes Geld durch Wunde und Balken hindurch zu sehen, und als sie diese
entsetzliche Fuhigkeit Grenouilles entdeckt hatte, trachtete sie danach, ihn
loszuwerden, und es traf sich gut, dass etwa um die gleiche Zeit -
Grenouille war acht Jahre alt - das Kloster von Saint-Merri seine juhrlichen
Zahlungen ohne Angabe von Grunden einstellte. Madame mahnte nicht nach.
Anstandshalber wartete sie noch eine Woche, und als das fullige Geld dann
immer noch nicht eingetroffen war, nahm sie den Knaben bei der Hand und ging
mit ihm in die Stadt.
In der Rue de la Mortellerie, nahe dem Fluss, kannte sie einen Gerber
namens Grimal, der notorischen Bedarf an jugendlichen Arbeitskruften hatte -
nicht an ordentlichen Lehrlingen oder Gesellen, sondern an billigen Kulis.
Es gab numlich in dem Gewerbe Arbeiten - das Entfleischen verwesender
Tierhuute, das Mischen von giftigen Gerb- und Furbebruhen, das Ausbringen
utzender Lohen -, die so lebensgefuhrlich waren, dass ein
verantwortungsbewusster Meister nach Muglichkeit nicht seine gelernten
Hilfskrufte dafur verschwendete, sondern arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber
oder eben herrenlose Kinder, nach denen im Zweifelsfalle niemand mehr
fragte. Naturlich wusste Madame Gaillard, dass Grenouille in Grimals
Gerberwerkstatt nach menschlichem Ermessen keine uberlebenschance
besaß. Aber sie war nicht die Frau, sich daruber Gedanken zu machen.
Ihre Pflicht hatte sie ja getan. Das Pflegeverhultnis war beendet. Was mit
dem Zugling weiterhin geschah, ging sie nichts an. Wenn er durchkam, so
war's gut, wenn er starb, so war's auch gut - Hauptsache, alles ging
rechtens zu. Und so ließ sie sich von Monsieur Grimal die ubergabe des
Knaben schriftlich bestutigen, quittierte ihrerseits den Erhalt von funfzehn
Franc Provision und machte sich wieder auf nach Hause in die Rue de
Charonne. Sie verspurte nicht den geringsten Anflug eines schlechten
Gewissens. Im Gegenteil glaubte sie, nicht nur rechtens, sondern auch
gerecht gehandelt zu haben, denn der Verbleib eines Kindes, fur das niemand
zahlte, wure ja notwendigerweise zu Lasten der anderen Kinder gegangen oder
sogar zu ihren eigenen Lasten und hutte womuglich die Zukunft der anderen
Kinder gefuhrdet oder sogar ihre eigene Zukunft, das heisst ihren eignen,
abgeschirmten, privaten Tod, der das einzige war, was sie sich im Leben noch
wunschte.
Da wir Madame Gaillard an dieser Stelle der Geschichte verlassen und
ihr auch sputer nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen wir in ein paar
Sutzen das Ende ihrer Tage schildern. Madame, obwohl als Kind schon
innerlich gestorben, wurde zu ihrem Ungluck sehr, sehr alt. Anno 1782, mit
fast siebzig Jahren, gab sie ihr Gewerbe auf, kaufte sich wie vorgehabt in
eine Rente ein, saß in ihrem Huuschen und wartete auf den Tod. Der Tod
aber kam nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt hutte
rechnen kunnen und was es im Lande noch nie gegeben hatte, numlich eine
Revolution, das heisst eine rasante Umwandlung sumtlicher
gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verhultnisse. Zunuchst
hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards persunliches
Schicksal. Dann aber - sie war nun fast achtzig - hieß es mit einem
Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren mussen, sei enteignet und sein Besitz
an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so
aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen fur Madame
Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin punktlich die Rente. Aber
dann kam der Tag, da sie ihr Geld nicht mehr in harter Munze, sondern in
Form von kleinen bedruckten Papierbluttchen erhielt, und das war der Anfang
ihres materiellen Endes.
Nach Verlauf von zwei Jahren reichte die Rente nicht einmal mehr aus,
das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen,
zu lucherlich geringem Preis, denn es gab plutzlich außer ihr Tausende
von anderen Leuten, die ihr Haus ebenfalls verkaufen mussten. Und wieder
bekam sie als Gegenwert nur diese bluden Bluttchen, und wieder waren sie
nach zwei Jahren so gut wie nichts mehr wert, und im Jahre 1797 - sie ging
nun auf die Neunzig zu - hatte sie ihr gesamtes, in muhevoller sukularer
Arbeit zusammengescharrtes Vermugen verloren und hauste in einer winzigen
mublierten Kammer in der Rue des Coquilles. Und nun erst, mit zehn-, mit
zwanzigjuhriger Versputung, kam der Tod herbei und kam in Gestalt einer
langwierigen Geschwulstkrankheit, die Madame an der Kehle packte und ihr
erst den Appetit und dann die Stimme raubte, so dass sie mit keinem Wort
Einspruch erheben konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde. Dort
brachte man sie in den gleichen, von Hunderten todkranker Menschen
bevulkerten Saal, in dem schon ihr Mann gestorben war, steckte sie in ein
Gemeinschaftsbett zu funf anderen alten wildfremden Weibern, kurperdicht
Leib an Leib lagen sie, und ließ sie dort drei Wochen lang in aller
uffentlichkeit sterben. Dann wurde sie in einen Sack genuht, um vier Uhr
fruh nebst funfzig anderen Leichen auf einen Transportkarren geworfen und
unter dem dunnen Gebimmel eines Gluckchens zum neubegrundeten Friedhof von
Clamart, eine Meile vor den Toren der Stadt, gefahren und dort in einem
Massengrab zur letzten Ruhe gebettet, unter einer dicken Schicht von
ungeluschtem Kalk.
Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr
bevorstehenden Schicksal, als sie an jenem Tag des Jahres 1747 nach Hause
ging und den Knaben Grenouille und unsere Geschichte verließ. Sie
hutte womuglich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den
einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens.

    6


Mit dem ersten Blick, den er auf Monsieur Grimal geworfen - nein, mit
dem ersten witternden Atemzug, den er von Grimals Geruchsaura eingesogen
hatte, wusste Grenouille, dass dieser Mann imstande war, ihn bei der
geringsten Unbotmußigkeit zu Tode zu prugeln. Sein Leben galt gerade
noch so viel wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch
aus der Nutzlichkeit, die Grimal ihm beimaß. Und so kuschte
Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den Versuch einer Auflehnung zu
machen. Von einem Tag zum undern verkapselte er wieder die ganze Energie
seines Trotzes und seiner Widerborstigkeit in sich selbst, verwendete sie
allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu
uberdauern: zuh, genugsam, unauffullig, das Licht der Lebenshoffnung auf
kleinster, aber wohlbehuteter Flamme haltend. Er war nun ein Muster an
Fugsamkeit, Anspruchslosigkeit und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm
mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav in einen seitlich
an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Gerutschaften aufbewahrt
wurden und eingesalzne Rohhuute hingen. Hier schlief er auf dem blanken
gestampften Erdboden. Tagsuber arbeitete er, solange es hell war, im Winter
acht, im Sommer vierzehn, funfzehn, sechzehn Stunden: entfleischte die
bestialisch stinkenden Huute, wusserte, enthaarte, kalkte, utzte, walkte
sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben,
stieg hinab in die von beißendem Dunst erfullten Lohgruben,
schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, Huute und Rinden ubereinander,
streute zerquetschte Gallupfel aus, uberdeckte den entsetzlichen
Scheiterhaufen mit Eibenzweigen und Erde. Jahre sputer musste er ihn dann
wieder ausbuddeln und die zu gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus
ihrem Grab holen. Wenn er nicht Huute ein- oder ausgrub, dann schleppte er
Wasser. Monatelang schleppte er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer,
Hunderte von Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser
zum Waschen, zum Weichen, zum Bruhen, zum Furben. Monatelang hatte er keine
trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die
Kleider von Wasser, und seine Haut war kalt, weich und aufgeschwemmt wie
Waschleder.
Nach einem Jahr dieser mehr tierischen als menschlichen Existenz bekam
er den Milzbrand, eine gefurchtete Gerberkrankheit, die ublicherweise
tudlich verluuft. Grimal hatte ihn schon abgeschrieben und sah sich nach
Ersatz um - nicht ohne Bedauern ubrigens, denn einen genugsameren und
leistungsfuhigeren Arbeiter als diesen Grenouille hatte er noch nie gehabt.
Entgegen aller Erwartung jedoch uberstand Grenouille die Krankheit. Ihm
blieben nur die Narben der großen schwarzen Karbunkel hinter den
Ohren, am Hals und an den Wangen, die ihn entstellten und noch
hußlicher machten, als er ohnehin schon war. Ihm blieb ferner -
unschutzbarer Vorteil - eine Resistenz gegen den Milzbrand, so dass er von
nun an sogar mit rissigen und blutigen Hunden die schlechtesten Huute
entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch
unterschied er sich nicht nur von den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch
von seinen eigenen potentiellen Nachfolgern. Und weil er nun nicht mehr so
leicht zu ersetzen war wie ehedem, stieg der Wert seiner Arbeit und damit
der Wert seines Lebens. Plutzlich musste er nicht mehr auf der nackten Erde
schlafen, sondern durfte sich im Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh
daraufgeschuttet und eine eigene Decke. Zum Schlafen sperrte man ihn nicht
mehr ein. Das Essen war auskummlicher. Grimal hielt ihn nicht mehr wie
irgendein Tier, sondern wie ein nutzliches Haustier.
Als er zwulf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und
mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde
lang weggehen und tun, was er wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und
er besaß ein Quantum von Freiheit, das genugte, um weiterzuleben. Die
Zeit des uberwinterns war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er
witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das grußte Geruchsrevier
der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris.

    7


Es war wie im Schlaraffenland. Allein die nahegelegenen Viertel von
Saint-Jacques-de-la-Boucherie und von Saint-Eustache waren ein
Schlaraffenland. In den Gassen seitab der Rue Saint-Denis und der Rue
Saint-Martin lebten die Menschen so dicht beieinander, drungte sich Haus so
eng an Haus, funf, sechs Stockwerke hoch, dass man den Himmel nicht sah und
die Luft unten am Boden wie in feuchten Kanulen stand und vor Geruchen
starrte. Es mischten sich Menschen- und Tiergeruche, Dunst von Essen und
Krankheit, von Wasser und Stein und Asche und Leder, von Seife und
frischgebackenem Brot und von Eiern, die man in Essig kochte, von Nudeln und
blankgescheuertem Messing, von Salbei und Bier und Trunen, von Fett und
nassem und trockenem Stroh. Tausende und Abertausende von Geruchen bildeten
einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten der Gassen anfullte, sich uber
den Duchern nur selten, unten am Boden niemals verfluchtigte. Die Menschen,
die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr; er war ja aus
ihnen entstanden und hatte sie wieder und wieder durchtrunkt, er war ja die
Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine langgetragene
warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut spurt.
Grenouille aber roch alles wie zum ersten Mal. Und er roch nicht nur die
Gesamtheit dieses Duftgemenges, sondern er spaltete es analytisch auf in
seine kleinsten und entferntesten Teile und Teilchen. Seine feine Nase
entwirrte das Knuuel aus Dunst und Gestank zu einzelnen Fuden von
Grundgeruchen, die nicht mehr weiter zerlegbar waren. Es machte ihm
unsugliches Vergnugen, diese Fuden aufzudruseln und aufzuspinnen.
Oft blieb er stehen, an eine Hausmauer gelehnt oder in eine dunkle Ecke
gedrungt, mit geschlossenen Augen, halbgeuffnetem Mund und gebluhten
Nustern, still wie ein Raubfisch in einem großen, dunklen, langsam
fließenden Wasser. Und wenn endlich ein Lufthauch ihm das Ende eines
zarten Duftfadens zuspielte, dann stieß er zu und ließ nicht
mehr los, dann roch er nichts mehr als diesen einen Geruch, hielt ihn fest,
zog ihn in sich hinein und bewahrte ihn in sich fur alle Zeit. Es mochte ein
altbekannter Geruch sein oder eine Variation davon, es konnte aber auch ein
ganz neuer sein, einer, der kaum oder gar keine uhnlichkeit mit allem
besaß, was er bis dahin gerochen, geschweige denn gesehen hatte: der
Geruch von gebugelter Seide etwa; der Geruch eines Tees von Quendel, der
Geruch eines Stucks silberbestickten Brokats, der Geruch eines Korkens aus
einer Flasche mit seltenem Wein, der Geruch eines Schildpattkamms. Hinter
solchen ihm noch unbekannten Geruchen war Grenouille her, sie jagte er mit
der Leidenschaft und Geduld eines Anglers und sammelte sie in sich.
Wenn er sich am dicken Brei der Gassen sattgerochen hatte, ging er in
luftigeres Gelunde, wo die Geruche dunner waren, sich mit Wind vermischten
und entfalteten, fast wie ein Parfum: auf den Platz der Hallen etwa, wo in
den Geruchen abends noch der Tag fortlebte, unsichtbar, aber so deutlich,
als wuselten da noch im Gedrunge die Hundler, als stunden da noch die
vollgepackten Kurbe mit Gemuse und Eiern, die Fusser voll Wein und Essig,
die Sucke mit Gewurzen und Kartoffeln und Mehl, die Kusten mit Nugeln und
Schrauben, die Fleischtische, die Tische voll von Stoffen und Geschirr und
Schuhsohlen und all den hundert undern Dingen, die dort tagsuber verkauft
wurden... das ganze Getriebe war bis in die kleinste Einzelheit prusent in
der Luft, die es hinterlassen hatte. Grenouille sah den ganzen Markt
riechend, wenn man so sagen kann. Und er roch ihn genauer, als mancher ihn
sehen kunnte, denn er nahm ihn im nachhinein wahr und deshalb auf huhere
Weise: als Essenz, als den Geist von etwas Gewesenem, der nicht durch die
ublichen Attribute der Gegenwart gesturt war, alsda sind der Lurm, das
Grelle, das eklige Aneinander der leibhaftigen Menschen.
Oder er ging dorthin, wo man seine Mutter gekupft hatte, zur Place de
Greve, die wie eine große Zunge in den Fluss hineinleckte. Hier lagen,
ans Ufer gezogen oder an Pfosten vertuut, die Schiffe und rochen nach Kohle
und Korn und Heu und feuchten Tauen.
Und von Westen her kam durch diese einzige Schneise, die der Fluss
durch die Stadt schnitt, ein breiter Windstrom und brachte Geruche vom Land
her, von den Wiesen bei Neuilly, von den Wuldern zwischen Saint-Germain und
Versailles, von weit entfernt gelegenen Studten wie Rouen oder Caen und
manchmal sogar vom Meer. Das Meer roch wie ein gebluhtes Segel, in dem sich
Wasser, Salz und eine kalte Sonne fingen. Es roch simpel, das Meer, aber
zugleich roch es groß und einzigartig, so dass Grenouille zugerte,
seinen Geruch aufzuspalten in das Fischige, das Salzige, das Wussrige, das
Tangige, das Frische und so weiter. Er ließ den Geruch des Meeres
lieber beisammen, verwahrte ihn als ganzes im Geduchtnis und genoss ihn
ungeteilt. Der Geruch des Meeres gefiel ihm so gut, dass er sich wunschte,
ihn einmal rein und unvermischt und in solchen Mengen zu bekommen, dass er
sich dran besaufen kunnte. Und sputer, als er aus Erzuhlungen erfuhr, wie
groß das Meer sei und dass man darauf tagelang mit Schiffen fahren
konnte, ohne Land zu sehen, da war ihm nichts lieber als die Vorstellung, er
suße auf so einem Schiff, hoch oben im Korb auf dem vordersten Mast,
und fluge dahin durch den unendlichen Geruch des Meeres, der ja eigentlich
gar kein Geruch war, sondern ein Atem, ein Ausatmen, das Ende aller Geruche,
und luse sich auf vor Vergnugen in diesem Atem. Aber dahin sollte es nie
kommen, denn Grenouille, der an der Place de Greve am Ufer stand und
mehrmals einen kleinen Fetzen Meerwind, den er in die Nase bekommen hatte,
aus- und einatmete, sollte das Meer, das eigentliche Meer, den großen
Ozean, der im Westen lag, in seinem Leben niemals sehen und sich nie mit
diesem Geruch vermischen durfen.
Das Viertel zwischen Saint-Eustache und dem Hotel de Ville hatte er
bald so genau durchrochen, dass er sich darin bei stockfinsterer Nacht
zurechtfand. Und so dehnte er sein Jagdgebiet aus, zunuchst nach Westen hin
zum Faubourg Saint-Honore, dann die Rue Saint-Antoine hinauf bis zur
Bastille, und schließlich sogar auf die andere Seite des Flusses
hinuber in das Sorbonneviertel und in den Faubourg Saint-Germain, wo die
reichen Leute wohnten. Durch die Eisengitter der Toreinfahrten roch es nach
Kutschenleder und nach dem Puder in den Perucken der Pagen, und uber die
hohen Mauern hinweg strich aus den Gurten der Duft des Ginsters und der
Rosen und der frisch geschnittenen Liguster. Hier war es auch, dass
Grenouille zum ersten Mal Parfums im eigentlichen Sinn des Wortes roch:
einfache Lavendel- oder Rosenwusser, mit denen bei festlichen Anlussen die
Springbrunnen der Gurten gespeist wurden, aber auch komplexere, kostbarere
Dufte von Moschustinktur gemischt mit dem ul von Neroli und Tuberose,
Joncquille, Jasmin oder Zimt, die abends wie ein schweres Band hinter den
Equipagen herwehten. Er registrierte diese Dufte, wie er profane Geruche
registrierte, mit Neugier, aber ohne besondere Bewunderung. Zwar merkte er,
dass es die Absicht der Parfums war, berauschend und anziehend zu wirken,
und er erkannte die Gute der einzelnen Essenzen, aus denen sie bestanden.
Aber als ganzes erschienen sie ihm doch eher grob und plump, mehr
zusammengepanscht als komponiert, und er wusste, dass er ganz andere
Wohlgeruche wurde herstellen kunnen, wenn er nur uber die gleichen
Grundstoffe verfugte.
Viele dieser Grundstoffe kannte er schon von den Blumen- und
Gewurzstunden des Marktes her; andere waren ihm neu, und diese filterte er
aus den Duftgemischen heraus und bewahrte sie namenlos im Geduchtnis: Amber,
Zibet, Patschuli, Sandelholz, Bergamotte, Vetiver, Opoponax, Benzoe,
Hopfenblute, Bibergeil...
Wuhlerisch ging er nicht vor. Zwischen dem, was landluufig als guter
oder schlechter Geruch bezeichnet wurde, unterschied er nicht, noch nicht.
Er war gierig. Das Ziel seiner Jagden bestand darin, schlichtweg alles zu
besitzen, was die Welt an Geruchen zu bieten hatte, und die einzige
Bedingung war, dass die Geruche neu seien. Der Duft eines schweißenden
Pferds galt ihm ebensoviel wie der zarte grune Geruch schwellender
Rosenknospen, der stechende Gestank einer Wanze nicht weniger als der Dunst
von gespicktem Kalbsbraten, der aus den Herrschaftskuchen quoll. Alles,
alles fraß er, saugte er in sich hinein. Und auch in der
synthetisierenden Geruchskuche seiner Phantasie, in der er stundig neue
Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein usthetisches Prinzip.
Es waren Bizarrerien, die er schuf und alsbald wieder zersturte wie ein
Kind, das mit Bauklutzen spielt, erfindungsreich und destruktiv, ohne
erkennbares schupferisches Prinzip.

    8


Am 1. September 1753, dem Jahrestag der Thronbesteigung des Kunigs,
ließ die Stadt Paris am Pont Royal ein Feuerwerk abbrennen. Es war
nicht so spektakulur wie das Feuerwerk zur Feier der Verehelichung des
Kunigs oder wie jenes legendure Feuerwerk aus Anlass der Geburt des Dauphin,
aber es war immerhin ein sehr beeindruckendes Feuerwerk. Man hatte goldene
Sonnenruder auf die Masten der Schiffe montiert. Von der Brucke spieen
sogenannte Feuerstiere einen brennenden Sternenregen in den Fluss. Und
wuhrend alluberall unter betuubendem Lurm Petarden platzten und Knallfrusche
uber das Pflaster zuckten, stiegen Raketen in den Himmel und malten
weiße Lilien an das schwarze Firmament. Eine vieltausendkupfige Menge,
welche sowohl auf der Brucke als auch auf den Quais zu beiden Seiten des
Flusses versammelt war, begleitete das Spektakel mit begeisterten Ahs und
Ohs und Bravos und sogar mit Vivats - obwohl der Kunig seinen Thron schon
vor achtunddreißig Jahren bestiegen und den Huhepunkt seiner
Beliebtheit lungst uberschritten hatte. So viel vermag ein Feuerwerk.
Grenouille stand stumm im Schatten des Pavillon de Flore, am rechten
Ufer, dem Pont Royal gegenuber. Er ruhrte keine Hand zum Beifall, er schaute
nicht einmal hin, wenn die Raketen aufstiegen. Er war gekommen, weil er
glaubte, irgend etwas Neues erschnuppern zu kunnen, aber es stellte sich
bald heraus, dass das Feuerwerk geruchlich nichts zu bieten hatte. Was da in
verschwenderischer Vielfalt funkelte und spruhte und krachte und pfiff,
hinterließ ein huchst eintuniges Duftgemisch von Schwefel, ul und
Salpeter.
Er war schon im Begriff, die langweilige Veranstaltung zu verlassen, um
an der Galerie des Louvre entlang heimwurts zu gehen, als ihm der Wind etwas
zutrug, etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Bruselchen, ein Duftatom, nein,
noch weniger: eher die Ahnung eines Dufts als einen tatsuchlichen Duft - und
zugleich doch die sichere Ahnung von etwas Niegerochenem. Er trat wieder
zuruck an die Mauer, schloss die Augen und bluhte die Nustern. Der Duft war
so ausnehmend zart und fein, dass er ihn nicht festhalten konnte, immer
wieder entzog er sich der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom Pulverdampf der
Petarden, blockiert von den Ausdunstungen der Menschenmassen, zerstuckelt
und zerrieben von den tausend andren Geruchen der Stadt. Aber dann,
plutzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang
als herrliche Andeutung zu riechen... und verschwand alsbald. Grenouille
litt Qualen. Zum ersten Mal war es nicht nur sein gieriger Charakter, dem
eine Krunkung widerfuhr, sondern tatsuchlich sein Herz, das litt. Ihm
schwante sonderbar, dieser Duft sei der Schlussel zur Ordnung aller anderen
Dufte, man habe nichts von den Duften verstanden, wenn man diesen einen
nicht verstand, und er Grenouille, hutte sein Leben verpfuscht, wenn es ihm
nicht gelunge, diesen einen zu besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des
schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen.
Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal
herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft uberhaupt kam. Manchmal
dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde,
minutenlang, und jedesmal uberfiel ihn die grußliche Angst, er hutte
ihn auf immer verloren. Endlich rettete er sich in den verzweifelten
Glauben, der Duft komme vom anderen Ufer des Flusses, irgendwoher aus
sudustlicher Richtung.
Er luste sich von der Mauer des Pavillon de Flore, tauchte in die
Menschenmenge ein und bahnte sich seinen Weg uber die Brucke. Alle paar
Schritte blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um uber die
Kupfe der Menschen hinwegzuschnuppern, roch zunuchst nichts vor lauter
Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, sturker
sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen Fuhrte, tauchte unter, wuhlte
sich weiter durch die Menge der Gaffer und der Feuerwerker, die alle
Augenblicke ihre Fackeln an die Lunten der Raketen hielten, verlor im
beißenden Qualm des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß
und rempelte weiter und wuhlte sich fort, erreichte nach endlosen Minuten
das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einmundung der
Rue de Seine...
Hier blieb er stehen, sammelte sich und roch. Er hatte ihn. Er hielt
ihn fest. Wie ein Band kam der Geruch die Rue de Seine herabgezogen,
unverwechselbar deutlich, dennoch weiterhin sehr zart und sehr fein.
Grenouille spurte, wie sein Herz pochte, und er wusste, dass es nicht die
Anstrengung des Laufens war, die es pochen machte, sondern seine erregte
Hilflosigkeit vor der Gegenwart dieses Geruches. Er versuchte, sich an
irgend etwas Vergleichbares zu erinnern und musste alle Vergleiche
verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische; aber nicht die Frische der Limetten
oder Pomeranzen, nicht die Frische von Myrrhe oder Zimtblatt oder
Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht von Mairegen
oder Frostwind oder von Quellwasser..., und er hatte zugleich Wurme; aber
nicht wie Bergamotte, Zypresse oder Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse,
nicht wie Rosenholz und nicht wie Iris... Dieser Geruch war eine Mischung
aus beidem, aus Fluchtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit,
und dazu gering und schwach und dennoch solid und tragend, wie ein Stuck
dunner schillernder Seide... und auch wieder nicht wie Seide, sondern wie
honigsuße Milch, in der sich Biskuit lust - was j a nun beim besten
Willen nicht zusammenging: Milch und Seide! Unbegreiflich dieser Duft,
unbeschreiblich, in keiner Weise einzuordnen, es durfte ihn eigentlich gar
nicht geben. Und doch war er da in herrlichster Selbstverstundlichkeit.
Grenouille folgte ihm, mit bunglich pochendem Herzen, denn er ahnte, dass
nicht er dem Duft folgte, sondern dass der Duft ihn gefangengenommen hatte
und nun unwiderstehlich zu sich zog.
Er ging die Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die
Huuser standen leer und still. Die Leute waren unten am Fluss beim
Feuerwerk. Kein hektischer Menschengeruch sturte, kein beißender
Pulvergestank. Die Straße duftete nach den ublichen Duften von Wasser,
Kot, Ratten und Gemuseabfall. Daruber aber schwebte zart und deutlich das
Band, das Grenouille leitete. Nach wenigen Schritten war das wenige
Nachtlicht des Himmels von den hohen Huusern verschluckt, und Grenouille
ging weiter im Dunkeln. Er brauchte nichts zu sehen. Der Geruch fuhrte ihn
sicher.
Nach funfzig Metern bog er rechts ab in die Rue des Marais, eine
womuglich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite Gasse. Sonderbarerweise
wurde der Duft nicht sehr viel sturker. Er wurde nur reiner, und dadurch,
durch seine immer grußer werdende Reinheit, bekam er eine immer
muchtigere Anziehungskraft. Grenouille ging ohne eigenen Willen. An einer
Stelle zog ihn der Geruch hart nach rechts, scheinbar mitten in die Mauer
eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang tat sich auf, der in den Hinterhof
fuhrte. Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen Gang, durchschritt
den Hinterhof, bog um eine Ecke, gelangte in einen zweiten, kleineren
Hinterhof, und hier nun endlich war Licht: Der Platz umfasste nur wenige
Schritte im Geviert. An der Mauer sprang ein schruges Holzdach vor. Auf
einem Tisch darunter klebte eine Kerze. Ein Mudchen saß an diesem
Tisch und putzte Mirabellen. Sie nahm die Fruchte aus einem Korb zu ihrer
Linken, entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in
einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille
blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war, den er uber
eine halbe Meile hinweg bis ans andere Ufer des Flusses gerochen hatte:
nicht dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war
das Mudchen.
Fur einen Moment war er so verwirrt, dass er tatsuchlich dachte, er
habe in seinem Leben noch nie etwas so Schunes gesehen wie dieses Mudchen.
Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte
naturlich, er habe noch nie so etwas Schunes gerochen. Aber da er doch
Menschengeruche kannte, viele Tausende, Geruche von Munnern, Frauen,
Kindern, wollte er nicht begreifen, dass ein so exquisiter Duft einem
Menschen entstrumen konnte. ublicherweise rochen Menschen nichtssagend oder
miserabel. Kinder rochen fad, Munner urinus, nach scharfem Schweiß und
Kuse, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus
uninteressant, abstoßend rochen die Menschen... Und so geschah es,
dass Grenouille zum ersten Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und
die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die
Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tatsuchlich nur ein
Augenblick, den er benutigte, um sich optisch zu vergewissern und sich
alsdann desto ruckhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinns
hinzugeben. Nun roch er, dass sie ein Mensch war, roch den Schweiß
ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und
roch mit grußtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie
Meerwind, der Talg ihrer Haare so suß wie Nussul, ihr Geschlecht wie
ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblute..., und die
Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert,
so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles,
was er selbst in seinem Innern an Geruchsgebuuden spielerisch erschaffen
hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend Dufte
schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das huhere
Prinzip, nach dessen Vorbild sich die undern ordnen mussten. Er war die
reine Schunheit.
Fur Grenouille stand fest, dass ohne den Besitz des Duftes sein Leben
keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte
zarteste Verustelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe
Erinnerung an ihn genugte nicht. Er wollte wie mit einem Prugestempel das
apotheotische Parfum ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es
haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser
Zauberformel denken, leben, riechen.
Er ging langsam auf das Mudchen zu, immer nuher, trat unter das Vordach
und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie hurte ihn nicht.
Sie hatte rote Haare und trug ein graues Kleid ohne urmel. Ihre Arme
waren sehr weiß und ihre Hunde gelb vom Saft der aufgeschnittenen
Mirabellen. Grenouille stand uber sie gebeugt und sog ihren Duft jetzt
vullig unvermischt ein, so wie er aufstieg von ihrem Nacken, ihren Haaren,
aus dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in sich hineinstrumen
wie einen sanften Wind. Ihm war noch nie so wohl gewesen. Dem Mudchen aber
wurde es kuhl.
Sie sah Grenouille nicht. Aber sie bekam ein banges Gefuhl, ein
sonderbares Frusteln, wie man es bekommt, wenn einen plutzlich eine alte