abgelegte Angst befullt. Ihr war, als herrsche da ein kalter Zug in ihrem
Rucken, als habe jemand eine Ture aufgestoßen, die in einen
riesengroßen kalten Keller fuhrt. Und sie legte ihr Kuchenmesser weg,
zog die Arme an die Brust und wandte sich um.
Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte,
ihr seine Hunde um den Hals zu legen. Sie versuchte keinen Schrei, ruhrte
sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an.
Ihr feines sommersprossenubersprenkeltes Gesicht, den roten Mund, die
großen funkelnd grunen Augen sah er nicht, denn er hielt seine Augen
fest geschlossen, wuhrend er sie wurgte, und hatte nur die eine Sorge, von
ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren.
Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die
Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie
uberschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er sturzte sein Gesicht auf ihre
Haut und fuhr mit weitgebluhten Nustern von ihrem Bauch zurBrust, zum Hals,
in ihr Gesicht und durch die Haare und zuruck zum Bauch, hinab an ihr
Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom
Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im
Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge.
Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr
hocken, um sich zu versammeln, denn er war ubervoll von ihr. Er wollte
nichts von ihrem Duft verschutten. Erst musste er die innern Schotten dicht
verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese
Zeit kamen die ersten Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue de Seine
herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits
Augustins hinuber, die parallel zur Rue de Seine zum Fluss fuhrte. Wenig
sputer entdeckte man die Tote. Geschrei erhob sich. Fackeln wurden
angezundet. Die Wache kam. Grenouille war lungst am anderen Ufer.
In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine
Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gluck sei, hatte er in seinem Leben
bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zustunde von
dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Gluck und konnte vor
lauter Gluckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als wurde er zum zweiten Mal
geboren, nein, nic ht zum zweiten, zum ersten Mal, denn bisher hatte er
bloß animalisch existiert in huchst nebuluser Kenntnis seiner selbst.
Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich
sei: numlich nichts anderes als ein Genie; und dass sein Leben Sinn und
Zweck und Ziel und huhere Bestimmung habe: numlich keine geringere, als die
Welt der Dufte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle
Mittel besitze: numlich seine exquisite Nase, sein phunomenales Geduchtnis
und, als Wichtigstes von allem, den prugenden Duft dieses Mudchens aus der
Rue des Marais, in welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen
großen Duft, was ein Parfum ausmachte: Zartheit, Kraft, Dauer,
Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Schunheit. Er hatte den Kompass
fur sein kunftiges Leben gefunden. Und wie alle genialen Scheusale, denen
durch ein uußeres Ereignis ein gerades Geleis ins Spiralenchaos ihrer
Seelen gelegt wird, wich Grenouille von dem, was er als Richtung seines
Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht mehr ab. Jetzt wurde ihm klar,
weshalb er so zuh und verbissen am Leben hing: Er musste ein Schupfer von
Duften sein. Und nicht nur irgendeiner. Sondern der grußte Parfumeur
aller Zeiten.
Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum,
das riesige Trummerfeld seiner Erinnerung. Er prufte die Millionen und
Abermillionen von Duftbauklutzen und brachte sie in eine systematische
Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes
zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches zu Ambrosischem. Im Verlauf der
nuchsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der Dufte immer
reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald
schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgebuude aufzurichten:
Huuser, Mauern, Stufen, Turme, Keller, Zimmer, geheime Gemucher... eine
tuglich sich erweiternde, tuglich sich verschunende und perfekter gefugte
innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen. Dass am Anfang dieser
Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn uberhaupt bewusst,
vollkommen gleichgultig. An das Bild des Mudchens aus der Rue des Marais, an
ihr Gesicht, an ihren Kurper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er
hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip
ihres Dufts.

    9


Zu jener Zeit gab es in Paris ein gutes Dutzend Parfumeure. Sechs von
ihnen lebten am rechten Ufer, sechs am linken Ufer, und einer akkurat
dazwischen, numlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer mit der
Ile de la Citu verband. Diese Brucke war zu beiden Seiten so dicht mit
vierstuckigen Huusern bebaut, dass man beim uberschreiten den Fluss an
keiner Stelle zu Gesicht bekam, sondern sich auf einer ganz normalen, fest
fundierten und obendrein noch uußerst eleganten Straße wuhnte.
In der Tat galt der Pont au Change fur eine der feinsten Geschuftsadressen
der Stadt. Hier befanden sich die renommiertesten Luden, hier saßen
die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Peruckenmacher und Taschner, die
Verfertiger feinster Dessous und Strumpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelhundler,
Epaulettensticker, Goldknupfegießer und Bankiers. Und hier lag auch
das Geschufts- und Wohnhaus des Parfumeurs und Handschuhmachers Giuseppe
Baldini. uber sein Schaufenster spannte sich ein pruchtiger grunlackierter
Baldachin, daneben hing Baldinis Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon,
aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der Ture lag ein
roter Teppich, der ebenfalls Baldinis Wappen trug, als goldene Stickerei.
uffnete man die Ture, dann erklang ein persisches Glockenspiel, und zwei
silberne Reiher begannen, aus ihren Schnubeln Veilchenwasser in eine
vergoldete Schale zu speien, die ihrerseits die Flakonform von Baldinis
Wappen besaß.
Hinter dem Kontor aus hellem Buchsbaum aber stand Baldini selbst, alt
und starr wie eine Suule, in silberbepuderter Perucke und blauem
goldbetresstem Rock. Eine Wolke von Frangipaniwasser, mit dem er sich
allmorgendlich bespruhte, umgab ihn geradezu sichtbar und ruckte seine
Person in nebelhafte Ferne. In seiner Unbeweglichkeit sah er aus wie sein
eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien
- beides geschah nicht allzu oft -, wurde plutzlich Leben in ihn kommen,
wurde seine Gestalt in sich zusammensinken, klein und wuselig werden und
unter vielen Bucklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen, so schnell,
dass die Frangipaniwasserwolke kaum zu folgen vermuchte, und den Kunden
bitten, Platz zu nehmen zur Vorfuhrung erlesenster Dufte und Kosmetika.
Baldini hatte deren Tausende. Sein Angebot reichte von Essences
absolues, Blutenulen, Tinkturen, Auszugen, Sekreten, Balsamen, Harzen und
sonstigen Drogen in trockener, flussiger oder wachsartiger Form, uber
diverse Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes, Sachets, Bandolinen,
Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen und Schunheitspflusterchen bis hin
zu Badewussern, Lotionen, Riechsalzen, Toilettenessigen und einer Unzahl
echter Parfums. Doch Baldini begnugte sich nicht mit diesen Produkten der
klassischen Schunheitspflege. Sein Ehrgeiz bestand darin, in seinem Laden
alles zu versammeln, was irgendwie duftete oder in irgendeiner Weise dem
Duft diente. Und so fanden sich neben Ruucherpastillen, Ruucherkerzen und
Ruucherbundern auch sumtliche Gewurze vom Anissamen bis zur Zimtrinde,
Sirups, Likure und Obstwusser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige,
Kaffees, Tees, getrocknete und kandierte Fruchte, Feigen, Bonbons,
Schokoladen, Maronen, ja sogar eingelegte Kapern, Gurken und Zwiebeln und
marinierter Thunfisch. Und dann wieder duftender Siegellack, parfumiertes
Briefpapier, nach Rosenul riechende Liebestinte, Schreibmappen aus
spanischem Leder, Federhalter aus weißem Sandelholz, Kustchen und
Truhen aus Zedernholz, Potpourris und Schalen fur Blutenblutter,
Weihrauchbehulter aus Messing, Flakons und Tiegelchen aus Kristall mit
geschliffenen Stupseln aus Bernstein, riechende Handschuhe, Taschentucher,
mit Muskatblute gefullte Nuhnadelkissen und moschusbedampfte Tapeten, die
ein Zimmer lunger als einhundert Jahre mit Duft erfullen konnten.
Naturlich hatten all diese Waren nicht im pompusen, zur Straße
(oder zur Brucke) hin gelegenen Laden Platz, und so mussten, in Ermanglung
eines Kellers, nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste
und zweite Stock sowie fast sumtliche zum Fluss hin gelegenen Ruume des
Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon war, dass im Hause Baldini
ein unbeschreibliches Chaos von Duften herrschte. So erlesen die Qualitut
der einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualitut -,
so unertruglich war ihr geruchlicher Zusammenklang, gleich einem
tausendkupfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie
fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren gegen dieses
Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja sumtlich schwerhurig sind,
und auch seine Frau, die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen
ein weiteres Vordringen der Lagerruume verteidigte, nahm die vielen Geruche
kaum noch als sturend wahr. Anders der Kunde, der zum ersten Mal Baldinis
Laden betrat. Ihm schlug das herrschende Duftgemisch wie eine Faust ins
Gesicht, machte ihn, je nach Konstitution, exaltiert oder benommen,
verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart, dass er oft nicht mehr wusste,
weshalb er uberhaupt gekommen war. Laufburschen vergaßen ihre
Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen
halb hysterischen, halb klaustrophobischen Anfall, sank in Ohnmacht und
konnte nur noch mit schurfstem Riechsalz aus Nelkenul, Ammoniak und
Kampfersprit wiederhergestellt werden.
Unter diesen Umstunden war es eigentlich nicht verwunderlich, dass das
persische Glockenspiel von Giuseppe Baldinis Ladenture immer seltener
erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien.

    10


"Chenier!" rief Baldini hinter dem Kontor hervor, wo er seit Stunden
suulenstarr gestanden und die Ture angestarrt hatte, "ziehen Sie Ihre
Perucke an!" Und zwischen Olivenulfussern und hungenden Schinken aus Bayonne
erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas junger als dieser, aber auch schon
ein alter Mann, und kam nach vorn in die feinere Abteilung des Ladens. Er
zog seine Perucke aus der Rocktasche und stulpte sie sich uber. "Sie gehen
aus, Herr Baldini?"
"Nein", sagte Baldini, "ich werde mich fur einige Stunden in mein
Arbeitszimmer zuruckziehen und wunsche, absolut nicht gesturt zu werden."
"Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum."
baldini So ist es. Zur Beduftung einer spanischen Haut fur den Grafen
Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt etwas wie... wie
... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und
stammt angeblich von diesem... diesem Stumper aus der Rue Saint-Andre des
Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier.
baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der Stumper.
>Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es?
chenier Jaja. Dochdoch. Man riecht es jetzt uberall. An jeder
Straßenecke riecht man es. Aber wenn Sie mich fragen - nichts
Besonderes! Es kann sich bestimmt in keiner Weise messen mit dem, welches
Sie komponieren werden, Herr Baldini.
baldini Naturlich nicht.
chenier Es riecht uußerst gewuhnlich, dieses >Amor und
Psyche<.
baldini Vulgur?
chenier Durchaus vulgur, wie alles von Pelissier. Ich glaube, es ist
Limettenul darin.
baldini Wirklich? Was noch?
chenier Orangenblutenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur.
Aber ich kann es nicht sicher sagen.
baldini Es ist mir auch vullig gleichgultig.
chenier Naturlich.
baldini Es ist mir schnurzegal, was der Stumper Pelissier in sein
Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen!
chenier Da haben Sie Recht, Monsieur.
baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen,
erarbeite ich meine Parfums.
chenier Ich weiß, Monsieur.
baldini Gebure sie allein aus mir!
chenier Ich weiß.
baldini Und ich gedenke, fur den Grafen Verhamont etwas zu kreieren,
was wirklich Furore macht.
chenier Davon bin ich uberzeugt, Herr Baldini.
baldini Sie ubernehmen den Laden. Ich brauche Ruhe. Halten Sie mir
alles vom Leibe, Chenier...
Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es
seinem Alter zukam, gebeugt, ja fast wie geprugelt, davon und stieg langsam
die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm
den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der
Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur Ture. Er wusste,
was in den nuchsten Stunden passieren wurde: numlich gar nichts im Laden,
und oben im Arbeitszimmer Baldinis die ubliche Katastrophe. Baldini wurde
seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtrunkten Rock ausziehen, sich an den
Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung wurde
nicht kommen. Er wurde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von
Probefluschchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese
Mischung wurde missraten. Er wurde fluchen, das Fenster aufreißen und
sie in den Fluss hinunterwerfen. Er wurde etwas anderes probieren, auch das
wurde missraten, er wurde nun schreien und toben und in dem schon betuubend
riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er wurde gegen sieben Uhr
abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen:
"Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht geburen,
ich kann die spanische Haut fur den Grafen nicht liefern, ich bin verloren,
ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen Sie mir zu
sterben!" Und Chenier wurde vorschlagen, dass man zu Pelissier schickte um
eine Flasche >Amor und Psyche<, und Baldini wurde zustimmen unter der
Bedingung, dass kein Mensch von dieser Schande erfuhre, Chenier wurde
schwuren, und nachts wurden sie heimlich das Leder fur den Grafen Verhamont
mit dem fremden Parfum beduften. So wurde es sein und nicht anders, und
Chenier wunschte nur, er hutte das ganze Theater schon hinter sich. Baldini
war kein großer Parfumeur mehr. Ja, fruher, in seiner Jugend, vor
dreißig, vierzig Jahren, da hatte er >Rose des Sudens< erfunden
und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große Dufte, denen
er sein Vermugen verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte
die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn
er uberhaupt noch einmal einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es
vollkommen demodiertes, unverkuufliches Zeug, das sie ein Jahr sputer
zehnfach verdunnten und als Springbrunnenwasserzusatz verhukerten. Schade um
ihn, dachte Chenier und uberprufte den Sitz seiner Perucke im Spiegel,
schade um den alten Baldini; schade um sein schunes Geschuft, denn er wird's
herunterbringen; und schade um mich, denn bis er's heruntergebracht haben
wird, bin ich zu alt, um es zu ubernehmen...

    11


Zwar hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur
aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers sturte ihn schon lungst
nicht mehr beim Riechen, er trug ihn ja schon seit Jahrzehnten mit sich
herum und nahm ihn uberhaupt nicht mehr wahr. Er hatte auch die Ture des
Arbeitszimmers zugeschlossen und sich Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich
nicht an den Schreibtisch, um zu grubeln und auf eine Eingebung zu warten,
denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben wurde;
er hatte numlich noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und verbraucht, das
stimmte, und auch kein großer Parfumeur mehr; aber er wusste, dass er
im Leben noch nie einer gewesen war. >Rose des Sudens< hatte er von
seinem Vater geerbt und das Rezept fur >Baldinis galantes Bouquet<
einem durchreisenden Genueser Gewurzhundler abgekauft. Die ubrigen seiner
Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war
kein Erfinder. Er war ein sorgfultiger Verfertiger von bewuhrten Geruchen,
wie ein Koch war er, der mit Routine und guten Rezepten eine große
Kuche macht und doch noch nie ein eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen
Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei
fuhrte er nur auf, weil das zum stundischen Berufsbild eines Maitre
Parfumeur et Gantier gehurte. Ein Parfumeur, das war ein halber Alchimist,
der Wunder schuf, so wollten es die Leute - gut so! Dass seine Kunst ein
Handwerk war wie jedes andere auch, das wusste nur er selbst, und das war
sein Stolz. Er wollte gar kein Erfinder sein. Erfindung war ihm sehr
suspekt, denn sie bedeutete immer den Bruch einer Regel. Er dachte auch gar
nicht daran, fur den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er wurde
sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier uberreden lassen, >Amor
und Psyche< von Pelissier zu besorgen. Er hatte es schon. Da stand es,
auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, in einem kleinen Glasflakon mit
geschliffenem Stupsel. Schon vor ein paar Tagen hatte er es gekauft.
Naturlich nicht persunlich. Er konnte doch nicht persunlich zu Pelissier
gehen und ein Parfum kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann, und dieser
wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war geboten. Denn Baldini wollte
das Parfum nicht einfach zum Beduften der spanischen Haut verwenden, dazu
hutte die geringe Menge auch gar nicht ausgereicht. Er hatte etwas
Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren.
Das war ubrigens nicht verboten. Es war nur außerordentlich
unfein. Das Parfum eines Konkurrenten heimlich nachzumachen und unter
eigenem Namen zu verkaufen, war schrecklich unfein. Aber noch unfeiner war
es, sich dabei ertappen zu lassen, und darum durfte Chenier nichts davon
wissen, denn Chenier war geschwutzig.
Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah,
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