Ihnen sofort Bescheid, mein Herr." Dann winkte er Irrgang und flüsterte:
"Feuilleton."
Der junge Mann rannte fort, kehrte zurück und zuckte die Achseln.
"Ich erfahre soeben, daß es die Tür heißen muß. Bitte
schön. Guten Abend." Münzer legte den Hörer auf die Gabel, schüttelte den
Kopf und steckte Malmys Groschen ein.
Hinterher saßen sie in einer kleinen Weinstube, die in der Nähe
des Zeitungsgebäudes gelegen war. Münzer hatte sich von einem Setzer, der
nach Hause ging, das Blatt bringen lassen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung
sei. Er hatte sich über ein paar Druckfehler geärgert, über die Schlagzeile
auf der ersten Seite hatte er sich gefreut. Dann war Strom, der
Theaterkritiker, an den Tisch gekommen. Nun tranken sie fleißig.
Irrgang, der junge Mann, war schon fast hinüber. Strom, der Kritiker,
verglich einige namhafte Regisseure mit Schaufensterdekorateuren, das
Theater der Gegenwart erschien ihm symptomatisch für den Niedergang des
Kapitalismus, und als jemand einwarf, es gebe keine Dramatiker, behauptete
Strom, es gebe welche.
"Ganz nüchtern sind Sie auch nicht mehr", bemerkte Münzer schwerzüngig,
und Strom lachte ohne Anlaß.

Fabian ließ sich inzwischen, nicht ganz freiwillig, von Malmy
über kurzfristige Anleihen aufklären. "Erstens werden Reich und Wirtschaft
in wachsendem Maße überfremdet", behauptete der Redakteur. "Zweitens
genügt ein Riß, und die ganze Bude fällt ein. Wenn das Geld mal in
großen Posten abgerufen wird, sacken wir alle ab, die Banken, die
Städte, die Konzerne, das Reich."
"Aber im Blatt schreiben Sie nichts davon", sagte Irrgang.
"Ich helfe, das Verkehrte konsequent zu tun. Alles, was gigantische
Formen annimmt, kann imponieren, auch die Dummheit." Malmy musterte den
jungen Mann. "Gehen Sie mal rasch hinaus, bei Ihnen ist ein kleines Unwetter
im Anzug." Irrgang legte den Kopf auf den Tisch. "Werden Sie
Sportredakteur", riet Malmy. "Dieses Ressort stellt an Ihr zartes Gemüt
nicht so große Anforderungen." Der Volontär stand auf, schwankte
durchs Gastzimmer der Hintertür zu und verschwand.
Münzer saß auf dem Sofa und weinte plötzlich. "Ich bin ein
Schwein", murmelte er.
"Eine ausgesprochen russische Atmosphäre", stellte Strom fest.
"Alkohol, Selbstquälerei, Tränen bei erwachsenen Männern." Er war ergriffen
und streichelte dem Politiker die Glatze.
"Ich bin ein Schwein", murmelte der andere. Er blieb dabei.
Malmy lächelte Fabian zu. "Der Staat unterstützt den unrentablen
Großbesitz. Der Staat unterstützt die Schwerindustrie. Sie liefert
ihre Produkte zu Verlustpreisen ins Ausland, aber sie verkauft sie innerhalb
unserer Grenzen über dem Niveau des Weltmarktes. Die Rohmaterialien sind zu
teuer; der Fabrikant drückt die Löhne; der Staat beschleunigt den Schwund
der Massenkaufkraft durch Steuern, die er den Besitzenden nicht aufzubürden
wagt; das Kapital flieht ohnedies milliardenweise über die Grenzen. Ist das
etwa nicht konsequent? Hat der Wahnsinn etwa keine Methode? Da läuft doch
jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammen!"
"Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer und fing mit vorgeschobener
Unterlippe die Tränen auf.
"Sie überschätzen sich, Verehrter", sagte der Handelsredakteur. Münzer
zog, während er weiter weinte, ein gekränktes Gesicht. Er war entschieden
beleidigt, daß man ihn darin hindern wollte, das zu sein, wofür er
sich, wenn auch nur im betrunkenen Zustand, hielt.
Malmy fuhr mit Vergnügen fort, die Situation zu klären. "Die Technik
multipliziert die Produktion. Die Technik dezimiert das Arbeitsheer. Die
Kaufkraft der Massen hat die galoppierende Schwindsucht. In Amerika
verbrennt man Getreide und Kaffee, weil sie sonst zu billig würden. In
Frankreich jammern die Weinbauern, daß die Ernte zu gut gerät. Stellen
Sie sich das vor. Die Menschen sind verzweifelt, weil der Boden zu viel
trägt! Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu fressen! Wenn in so eine
Welt kein Blitz fährt, dann können sich die historischen
Witterungsverhältnisse begraben lassen." Malmy stand auf, wankte ein wenig
und schlug ans Glas. Die Umsitzenden sahen ihn an.
"Meine Herrschaften", rief er, "ich will eine Rede halten. Wer dagegen
ist, stehe auf."
Münzer erhob sich mühsam.
"Der stehe auf", rief Malmy, "und verlasse das Lokal."
Münzer setzte sich wieder, Strom lachte.
Nun begann Malmy seine Rede: "Wenn das, woran unser geschätzter Erdball
heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie habe
die Paralyse. Und sicher ist Ihnen allen bekannt, daß dieser
äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur
heilbar ist, bei der es um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem
Globus? Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses
Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten
und Tee trinken, denkt man, und so schreitet die öffentliche
Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist."
"Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Vergleiche!" rief
Strom. "Ich bin nicht fest auf dem Magen."
"Lassen wir die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy. "Wir werden
nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitgenossen besonders
niederträchtig sind, und nicht daran, daß einige von diesen und jenen
mit einigen von denen identisch sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an
der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen,
daß es sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern.
"Wozu sind die anderen da?", denkt jeder und wiegt sich im Schaukelstuhl.
Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin Geld, wo wenig
ist. Die Schieberei und das Zinszahlen nehmen kein Ende, und die Besserung
nimmt keinen Anfang."
"Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer, hob sein Glas und hielt es vor
den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.
"Der Blutkreislauf ist vergiftet", rief Malmy. "Und wir begnügen uns
damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der sich Entzündungen zeigen,
ein Pflaster zu kleben. Kann man eine Blutvergiftung so heilen? Man kann es
nicht. Der Patient geht eines Tages, über und über mit Pflastern
bepflastert, kaputt!"
Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn und
sah den Redner bittend an.
"Lassen Sie die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy.
"Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin ein
Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne eine vorherige
Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!"
"Es ist der Geist, der sich den Körper baut", behauptete Münzer und
warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut auf. Er bekam jetzt das heulende
Elend in ganz großem Maßstab. Und Malmy mußte, um den
Kollegen zu übertönen, noch lauter sprechen. "Sie werden einwenden, es gebe
ja zwei große Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts
oder links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem sie dem
Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Allerdings wird die
Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und das
heißt, die Therapie zu weit treiben."
Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgültig genug und suchte
das Weite.
Am Ecktisch stand mühsam ein dicker Mann auf, versuchte dem Redner den
Kopf zuzuwenden, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er m die
verkehrte Richtung: "Mediziner hätten Sie werden sollen." Dann plumpste er
wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die helle Wut, und er
brüllte: "Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!"
Münzer nickte und flüsterte: "Montecuccoli war auch ein Schwein." Dann
weinte er wieder weiter. Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen.
"Einfach lächerlich", knurrte er. "Geistige Erneuerung, Trägheit des
Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund. Das wäre ja
gelacht, wäre das ja!"
Münzer schnarchte jetzt auf erlaubte Weise, er schlief. Eine Frau, die
ihm gegenübersaß und die genau so dick war wie er, fragte: "Aber wo
kriegen wir denn das Geld her, Arthur?"
"Hab ich dich gefragt?" schrie er, schon wieder aufgebracht. Dann
beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vorbeiging, am
Rockschoß fest und sagte: "Noch ein Sülzkotelett, und Essig und Öl."
Malmy zeigte zu dem Dicken hinüber und meinte: "Habe ich recht? Wegen
solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten? Ich denke nicht daran. Es wird
weitergelogen. Es ist richtig, das Falsche zu tun."
Münzer hatte sich's bequem gemacht, lag auf dem Sofa und schnarchte
schon, obwohl er noch gar nicht schlief.
"Und Ihr Auto habe ich doch", grunzte er und drehte die Pupillen zu
Malmy hinüber.
Kurz darauf kamen Strom und Irrgang zurück. Sie kamen Arm in Arm daher
und sahen aus, als hätten sie die Gelbsucht. "Ich vertrage keinen Alkohol",
erläuterte Irrgang entschuldigend. Die zwei nahmen Platz.
"Ein Kriegsprodukt", sagte Strom. "Eine bedauernswerte Generation."
Dieser Theaterkritiker konnte die selbstverständlichsten und unstreitigsten
Dinge äußern, sobald er es war, der sie behauptete, wirkten sie
unglaubwürdig und reizten zum Widerspruch. Hätte er, in seinem Pathos von
der Stange, erklärt, zweimal zwei sei vier, Fabian hätte plötzlich an der
Richtigkeit der Rechnung gezweifelt. Er wandte sich von dem Mann ab und
betrachtete Malmy. Der saß steil auf dem Stuhl und war mit dem Blick
sonstwo, dann gab er sich, weil er sich beobachtet fühlte, einen Ruck, sah
Fabian an und sagte: "Man sollte sich mehr zusammennehmen. Schnaps
zerfrißt den Maulkorb."
Fabian erhob sich und gab den Journalisten die Hand, zuletzt dem
Handelsredakteur.
"Aber vielleicht haben Sie recht", meinte Malmy und lächelte traurig.
"Ich bin nicht mehr ganz nüchtern", sagte Fabian, als er vor der Tür
stand, zur Nacht. Er schätzte jenes frühe Stadium der Trunkenheit, das einen
glauben machen will, man spüre die Umdrehungen der Erde. Die Bäume und
Häuser stehen noch ruhig an ihrem Platz, die Laternen treten noch nicht als
Zwillinge auf, aber die Erde dreht sich, endlich fühlt man es einmal! Doch
heute mißfiel ihm auch das. Er ging neben seinem Schwips her und tat,
als kennten sie einander nicht. Was war das für eine komische Kugel, ob sie
sich nun drehte oder nicht! Er mußte an eine Zeichnung von Daumier
denken, die "Der Fortschritt" hieß. Daumier hatte auf dem Blatt
Schnecken dargestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der
menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im Kreise! Und das war
das Schlimmste.


VIERTES KAPITEL

Eine Zigarette, groß wie der Kölner Dom
Frau Hohlfeld ist neugierig
Ein möblierter Herr liest Descartes

Am nächsten Morgen kam Fabian müde ins Büro. Außerdem hatte er
einen Kater. Fischer, der Kollege, begann die Arbeit damit, daß er
zunächst frühstückte.
"Wo nehmen Sie bloß den permanenten Hunger her?" fragte Fabian.
"Sie verdienen weniger als ich. Sie sind verheiratet. Sie haben ein
Sparkonto. Und dabei essen Sie derart viel, daß ich davon mit satt
werde."
Fischer kaute hinter. "Das hegt bei uns in der Familie", erklärte er.
"Wir Fischers sind dafür berühmt."
"Man sollte Ihrer Familie ein Denkmal bauen", sagte Fabian ergriffen.
Fischer rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. "Bevor ich's vergesse,
Kunze hat eine Inseratensene gezeichnet, zu der wir gereimte Zweizeiler
liefern sollen. Das liegt Ihnen sicher."
"Ihr Zutrauen ehrt mich", sagte Fabian, "aber ich habe noch mit den
Schlagzeilen für die fotomontierten Plakate zu tun. Dichten Sie inzwischen
ruhig drauflos. Denn was nützt Ihnen und Ihrer werten Familie das
Frühstücken, wenn sich's nicht reimt?" Er sah durchs Fenster, zur
Zigarettenfabrik hinüber, und gähnte. Der Himmel war grau wie der Asphalt
auf den Radrennbahnen. Fischer ging auf und ab, gab Falten lebhaften
Unwillens zum besten und fing Reimwörter.
Fabian rollte ein Plakat auf, befestigte es mit Reißzwecken an
der Wand, stellte sich in die entlegenste Zimmerecke und starrte das Plakat
an, das mit einer Fotografie des Kölner Domes und einer vom Plakathersteller
daneben errichteten, dem Dom an Größe nichts nachgebenden Zigarette
bedeckt war. Er notierte: "Nichts geht über ... So groß ist ...
Turmhoch über allen ... Völlig unerreichbar." Er tat seine Pflicht, obwohl
er nicht einsah, wozu.
Fischer fand keinen Reim und keine Ruhe. Er fing eine Unterhaltung an.
"Bertuch erzählt, es stünden wieder Kündigungen bevor."
"Schon möglich", sagte Fabian.
"Was fangen Sie an", fragte der andere, "wenn man Sie hier vor die Tür
setzt?"
"Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht,
gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu machen? Wenn ich hier fliege,
suche ich mir einen neuen Beruf. Auf einen mehr oder weniger kommt es mir
nicht mehr an."
"Erzählen Sie mal was von sich", bat Fischer. "Während der Inflation
hab ich für eine Aktiengesellschaft Börsenpapiere verwaltet. Ich mußte
jeden Tag zweimal den Effektivwert der Papiere ausrechnen, damit die Leute
wußten, wie groß ihr Kapital war."
"Und dann?"
"Dann hab ich mir für etwas Valuta einen Grünwarenladen gekauft."
"Warum gerade einen Grünwarenladen?"
"Weil wir Hunger hatten! Überm Schaufenster stand: Doktor Fabians
Feinkosthandlung. Frühmorgens, wenn es noch dunkel war, zogen wir mit einem
wackeligen Handwagen in die Markthalle."
Fischer stand auf. "Wie? Doktor sind Sie auch?"
"Ich machte die Prüfung in dem gleichen Jahr, in dem ich beim Messeamt
als Adressenschreiber angestellt war."
"Wie hieß denn Ihre Dissertation?"
"Sie hieß "Hat Heinrich von Kleist gestottert?" Erst wollte ich
an Hand von Stiluntersuchungen nachweisen, daß Hans Sachs
Plattfüße gehabt hat. Aber die Vorarbeiten dauerten zu lange. Genug,
dichten Sie lieber!" Er schwieg und ging vor dem Plakat auf und ab. Fischer
schielte neugierig zu ihm hin. Doch er wagte nicht, das Gespräch zu
erneuern. Seufzend drehte er. sich im Stuhl herum und musterte seine
Reimnotizen. Er beschloß, Brauchen auf Rauchen zu reimen, glättete das
Schreibpapier, das vor ihm lag, und kniff, der Inspiration vertrauend, die
Augen zu. Aber da klingelte das Telefon. Er hob ab und sagte: "Ja, ist hier.
Einen Augenblick, Doktor Fabian kommt sofort."
Und zu Fabian meinte er: "Ihr Freund Labude." Fabian nahm den Hörer.
"Tag, Labude, was gibt's?"
"Seit wann betiteln dich die Zigarettenfritzen?" fragte der Freund.
"Ich habe aus der Schule geplaudert."
"Geschieht dir recht. Kannst du heute zu mir kommen?"
"Ich komme."
"In Wohnung Nummer zwei. Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen, Labude." Er hängte ab. Fischer hielt ihn am Ärmel
fest.
"Dieser Herr Labude ist doch Ihr Freund. Warum nennen Sie ihn
eigentlich nie beim Vornamen?"
"Er hat keinen", meinte Fabian. "Die Eltern haben seinerzeit vergessen,
ihm einen zu geben."
"Er hat überhaupt keinen Vornamen?"
"Nein, denken Sie an! Er will sich seit Jahren nachträglich einen
beschaffen. Aber die Polizei erlaubt es nicht."
"Sie veralbern mich ja", rief Fischer gekränkt.
Fabian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und sagte: "Sie merken
alles." Dann widmete er sich von neuem dem Kölner Dom, schrieb ein paar
Schlagzeilen auf und brachte sie zu Direktor Breitkopf.
"Sie können sich mal ein kleines, hübsches Preisausschreiben
ausdenken", meinte der Direktor. "Ihr Prospekt für Detailhändler hat uns
ganz gut gefallen."
Fabian verbeugte sich leicht.
"Wir brauchen etwas Neues", fuhr der Direktor fort. "Ein
Preisausschreiben oder etwas Ähnliches. Es darf aber nichts kosten,
verstehen Sie? Der Aufsichtsrat hat schon neulich geäußert, er müsse
den Reklame-Etat möglicherweise um die Hälfte reduzieren. Was das für Sie
bedeuten würde, können Sie sich denken. Ja? Also, junger Freund, an die
Arbeit! Bringen Sie mir bald was Neues. Ich wiederhole aber: So billig wie
möglich, 'n Morgen."
Fabian ging.
Als er sein Zimmer - achtzig Mark monatlich, Morgenkaffee Inbegriffen,
Licht extra - am Spätnachmittag betrat, fand er einen Brief von seiner
Mutter auf dem Tisch. Baden konnte er nicht. Das warme Wasser war kalt. Er
wusch sich nur, wechselte die Wäsche, zog den grauen Anzug an, nahm den
Brief seiner Mutter und setzte sich ans Fenster. Der Straßenlärm
trommelte wie ein Regenguß an die Scheiben. In der dritten Etage übte
jemand Klavier. Nebenan schrie der alte eingebildete Oberrechnungsrat seine
Frau an. Fabian öffnete das Kuvert und las: "Mein lieber, guter Junge!
Gleich zu Anfang und um Dich zu beruhigen, der Doktor hat gesagt, es
ist nichts Schlimmes. Es wird wohl was mit den Drüsen sein. Und kommt bei
älteren Leuten öfter vor. Mach Dir also meinetwegen keine Sorgen. Ich war
erst sehr nervös. Aber nun wird es schon wieder werden mit dem alten
Lehmann. Gestern war ich ein bißchen im Palais-Garten. Die Schwäne
haben Junge. Im Parkcafé verlangen sie siebzig Pfennig für die Tasse Kaffee,
so eine Frechheit. Gott sei Dank, daß die Wäsche vorbei ist. Frau Hase
sagte im letzten Augenblick ab. Einen Bluterguß hat sie, glaub ich.
Aber es ist mir gut bekommen. Morgen früh bringe ich den Karton zur Post.
Hebe ihn gut auf und schnür ihn fester zu als das letzte Mal. Wie leicht
kann unterwegs was wegkommen. Die Mieze sitzt mir auf dem Schoß, sie
hat eben ein Stück Gurgel gefressen, und nun stößt sie mich mit dem
Kopf und will mich nicht schreiben lassen. Wenn Du mir wieder, wie
vergangene Woche, Geld m den Brief steckst, reiße ich Dir die Ohren
ab. Wir reichen schon, und Du brauchst Dein Geld selber. Macht es Dir denn
wirklich Spaß, für Zigaretten Reklame zu machen? Die Drucksachen, die
Du schicktest, haben mir gut gefallen. Frau Thomas meinte, es ist doch ein
Jammer, daß Du solches Zeug schreibst. Aber ich sagte, das ist nicht
seine Schuld. Wer heute nicht verhungern will, und wer will das schon, der
kann nicht warten, bis ihm der richtige Beruf durch den Schornstein fällt.
Und dann habe ich noch gesagt, es ist ja nur ein Übergang. Der Vater hat
halbwegs zu tun. Es scheint aber was mit der Wirbelsäule zu sein. Er geht
ganz krumm. Tante Martha brachte gestern ein Dutzend Eier aus dem Garten.
Die Hühner legen fleißig. Das ist eine gute Schwester. Wenn sie nur
nicht so viel Ärger mit dem Mann hätte.
Mein lieber Junge, wenn Du doch bald mal wieder nach Hause kommen
könntest. Ostern warst Du da. Wie die Zeit vergeht. Da hat man nun ein Kind
und hat eigentlich keins. Die paar Tage im Jahr, wo wir uns sehen. Am
liebsten setzte ich mich gleich auf die Eisenbahn und käme hinüber. Früher
war das schön. Fast jeden Abend vor dem Schlafengehen sehe ich mir die
Bilder und die Ansichtskarten an. Weißt Du noch, wenn wir den Rucksack
nahmen und loszogen? Einmal kamen wir mit einem ganzen Pfennig zurück. Da
muß ich gleich lachen, während ich dran denke.
Na, auf Wiedersehen, mein gutes Kind. Vor Weihnachten wird es wohl
nicht werden. Gehst Du immer noch so spät schlafen? Grüß Labude. Und
er soll auf Dich aufpassen. Was machen die Mädchen? Sieh Dich vor. Der Vater
läßt grüßen. Viele Grüße und Küsse von Deiner Mutter."
Fabian steckte den Brief ein und blickte auf die Straße hinunter.
Warum saß er hier in diesem fremden gottverlassenen Zimmer, bei der
Witwe Hohlfeld, die das Verґmieten früher nicht nötig gehabt hatte? Warum
saß er nicht zu Hause, bei seiner Mutter? Was hatte er hier in dieser
Stadt, in diesem verrückt gewordenen Steinbaukasten, zu suchen? Blumigen
Unsinn schreiben, damit die Menschheit noch mehr Zigaretten rauchte als
bisher? Den Untergang Europas konnte er auch dort abwarten, wo er geboren
worden war. Das hatte er davon, daß er sich einbildete, der Globus
drehe sich nur, solange er ihm zuschaue. Dieses lächerliche Bedürfnis,
anwesend zu sein! Andere hatten einen Beruf, kamen vorwärts, heirateten,
ließen ihre Frauen Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema.
Und er mußte, noch dazu freiwillig, hinterm Zaun stehen, zusehen und
ratenweise verzweifeln. Europa hatte große Pause. Die Lehrer waren
fort. Der Stundenplan war verschwunden. Der alte Kontinent würde das Ziel
der Klasse nicht erreichen. Das Ziel keiner Klasse!
Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte: "Pardon, ich
dachte, Sie wären noch nicht da." Sie kam näher. "Haben Sie gestern nacht
den Krach gehört, den Herr Tröger veranstaltet hat? Er hatte wieder
Frauenzimmer mit oben. Das Sofa sieht aus! Ich werfe ihn hinaus, wenn das
noch einmal vorkommt. Was soll die neue Untermieterin denken, die im ändern
Zimmer wohnt?"
"Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu helfen."
"Aber, Herr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Absteigequartier!"
"Gnädige Frau, es ist weithin bekannt, daß sich, von einem
gewissen Alter ab, beim Menschen Bedürfnisse regen, die im Widerspruch zur
Moral der Vermieterinnen stehen."
Die Wirtin wurde ungeduldig. "Aber er hatte mindestens zwei
Frauenzimmer bei sich!"
"Herr Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das beste wird sein, Sie
teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine Dame mitbringen. Und wenn
er sich nicht danach richtet, lassen wir ihn von der Sittenpolizei
kastrieren."
"Man geht mit der Zeit", erklärte Frau Hohlfeld nicht ohne Stolz und
rückte noch näher. "Die Sitten haben sich geändert. Man paßt sich an.
Ich verstehe manches. Schließlich, ich bin ja auch noch nicht so alt."
Sie stand knapp hinter ihm. Er sah sie nicht, aber vermutlich wogte ihr
unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag schlimmer. Fand sich denn
wirklich niemand für sie? Nachts stand sie vermutlich, auf bloßen
Füßen, vor dem Zimmer des Stadtreisenden Tröger und nahm, durchs
Schlüsselloch, seinen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal
blickte sie ihn an, als wolle sie ihm die Hosen ausziehen. Früher war diese
Sorte Damen fromm geworden. Er stand auf und sagte: "Schade, daß Sie
keine Kinder haben."
"Ich gehe schon." Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zimmer.
Er sah auf die Uhr. Labude war noch in der Bibliothek. Fabian trat zum
Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln darauf. Darüber, an der Wand,
hing eine Stickerei mit der Inschrift: "Nur ein Viertelstündchen." Er hatte,
als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht.
Manchmal las er noch ein paar Seiten in irgendeinem der Bücher. Geschadet
hatte es fast nie. Er griff zu. Es war Descartes. "Betrachtungen über die
Grundlagen der Philosophie", so hieß das kleine Heft. Sechs Jahre
waren es her, seit er sich damit befaßt hatte. Driesch hatte in der
mündlichen Prüfung dergleichen wissen wollen. Sechs Jahre waren mitunter
eine lange Zeit. Auf der anderen Straßenseite hatte ein Schild
gehangen: "Chaim Pines, Ein- und Verkauf von Fellen". War das alles, was er
von damals wußte? Bevor er vom Examinator aufgerufen wurde, war er,
mit dem Zylinder eines anderen Kandidaten auf dem Kopfe, durch die Korridore
spaziert und hatte den Pedell erschreckt. Vogt, der Kandidat, war dann
durchgefallen und nach Amerika gegangen.
Er setzte sich und schlug das Heft auf. Was hatte Descartes ihm
mitzuteilen? "Schon vor Jahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich von Jugend
auf als wahr hingenommen hatte, und wie zweifelhaft alles sei, was ich
später darauf gründete. Darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben
von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je irgend
etwas Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses schien mir aber eine
ungeheure Aufgabe zu sein, und so wartete ich jenes reife, für
wissenschaftliche Untersuchungen angemessene Alter ab. Darum habe ich so
lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld auf mich lüde, wenn ich die
Zeit, die mir zu handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das
trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich
habe mir eine ruhige Muße verschafft. So ziehe ich mich in die
Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller
meiner Meinungen unternehmen."
Fabian blickte auf die Straße hinunter, sah den Autobussen nach,
die, wie Elefanten auf Rollschuhen, die Kaiserґallee entlang fuhren, und
schloß vorübergehend die Augen. Dann blätterte er und überflog die
Einleitung. Fünfundvierzig Jahre war Descartes alt gewesen, als er seine
Revolution ankündigte. Am Dreißigjährigen Krieg hatte er sich ein
bißchen beteiligt. Ein kleiner Kerl, mit immensem Schädel. "Von allen
Sorgen frei." Revolution in der Einsamkeit. In Holland. Tulpenbeete vorm
Haus. Fabian lachte, legte den Philosophen beiseite und zog den Mantel an.
Im Korridor begegnete er Herrn Tröger, dem Reisenden mit dem starken
Frauenverbrauch. Sie zogen die Hüte.

Labudes zweite Wohnung lag im Zentrum. Wenige wußten davon.
Hierhin zog er sich zurück, wenn ihm der Westen, die noble Verwandtschaft,
die Damen der guten Gesellschaft und das Telefon auf die Nerven gingen. Und
hier hing er seinen wissenschaftlichen und sozialen Neigungen nach.
"Wo hast du denn in der vorigen Woche gesteckt?" fragte Fabian.
"Danke, gut", sagte Labude und trank den Kognak, der vor ihm stand.
"Ich war in Hamburg. Leda läßt grüßen."
"Und wie befindet sich das Fräulein Braut?"
"Davon später."
"Was vom Geheimrat gehört? Hat er deine Arbeit gelesen?"
"Nein. Er hatte keine Zeit, sondern Promotionen, Prüfungen,
Vorlesungen, Seminare und Senatssitzungen. Bis er meine Habilitationsschrift
gelesen hat, habe ich einen kniefreien Vollbart." Labude schenkte sich ein
und trank. "Sei nicht nervös. Die Kerle werden sich wundern, wie du aus
Lessings Gesammelten Werken das Gehirn und die Denkvorgänge des Mannes
rekonstruiert hast, den sie, bis du kamst, als den Logos mit Freilauf
dargestellt und noch nie verstanden haben."
"Ich fürchte, sie werden sich zu sehr wundern. Die geweihte Logik eines
toten Schriftstellers psychologisch auswerten, Denkfehler entdecken und
individuell und als sinnvolle Vorgänge behandeln, den Typus des zwischen
zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst
verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern
werden. Warten wir ab. Lassen wir den ollen Sachsen in Ruhe. Fünf Jahre habe
ich diesen Kerl seziert, auseinandergenommen und zusammengesetzt! Auch eine
Beschäftigung für einen erwachseґnen Menschen, im achtzehnten Jahrhundert
wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!"
Fabian nahm ein Likörglas aus dem Schrank und schenkte sich ein. Labude
blickte vor sich hin. "Heute morgen war ich dabei, wie sie in der
Staatsbibliothek einen Professor festnahmen. Einen Sinologen. Er hat seit
einem Jahr seltene Drucke und Bilder der Bibliothek gestohlen und verkauft.
Er wurde blaß wie eine Wand, als man ihn verhaftete, und setzte sich
erst mal auf die Treppe. Man fütterte ihn mit kaltem Wasser. Dann wurde er
abtransportiert."
"Der Mann hat den Beruf verfehlt", sagte Fabian. "Wozu lernt er erst
Chinesisch, wenn er zum Schluß vom Stehlen lebt? Es steht schlimm.
Jetzt räubern schon die Philologen."
"Trink aus und komm!" rief Labude.
Sie gingen an der Markthalle vorbei, durch tausend scheußliche
Gerüche hindurch, zur Autobushaltestelle.
"Wir fahren zu Haupt", sagte Labude.


FÜNFTES KAPITEL

Ein ernstes Gespräch am Tanzparkett
Fräulein Paula ist insgeheim rasiert
Frau Moll wirft mit Gläsern

In Haupts Sälen war, wie an jedem Abend, Strandfest. Punkt zehn Uhr
stiegen, im Gänsemarsch, zwei Dutzend Straßenmädchen von der Empore
herunter. Sie trugen bunte Badetrikots, gerollte Wadenstrümpfe und Schuhe
mit hohen Absätzen. Wer sich derartig auszog, hatte freien Zutritt zum Lokal
und erhielt einen Schnaps gratis. Diese Vergünstigungen waren in Anbetracht
des daniederliegenden Gewerbes nicht zu verachten. Die Mädchen tanzten
anfangs miteinander, damit die Männer etwas zu sehen hatten.
Das von Musik begleitete Rundpanorama weiblicher Fülle erregte die an
der Barriere drängenden Kommis, Buchhalter und Einzelhändler. Der
Tanzmeister schrie, man möge sich auf die Damen stürzen, und das geschah.
Die dicksten und frechsten Frauenzimmer wurden bevorzugt. Die Weinnischen
waren schnell besetzt. Die Barfräuleins hantierten mit dem Lippenstift. Die
Orgie konnte beginnen. Labude und Fabian saßen an der Rampe. Sie
liebten dieses Lokal, weil sie nicht hierher gehörten. Das Nummernschild
ihres Tischtelefons glühte ohne Unterbrechung. Der Apparat surrte. Man
wollte sie sprechen. Labude hob den Hörer aus der Gabel und legte ihn unter
den Tisch. Sie hatten wieder Ruhe. Denn der Lärm, der übrigblieb, die Musik,
das Gelächter und der Gesang waren nicht persönlich gemeint und konnten
ihnen nichts anhaben.
Fabian berichtete von der Nachtredaktion, von der Zigarettenfabrik, von
der verfressenen Familie Fischer und vom Kölner Dom. Labude blickte den
Freund an und sagte: "Du müßtest endlich vorwärtskommen."
"Ich kann doch nichts."
"Du kannst vieles."
"Das ist dasselbe", meinte Fabian. "Ich kann vieles und will nichts.
Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir einmal an, ich
sei der Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren
kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn."
"Doch, man verdient beispielsweise Geld."
"Ich bin kein Kapitalist." "Eben deshalb." Labude lachte ein
bißchen.
"Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: ich habe kein
pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem Geld
anfangen? Um satt zu werden, muß man nicht vorwärtskommen. Ob ich
Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist
überhaupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen Menschen?
Rotkohl en gros oder en detail, wo steckt der Unterschied? Ich bin kein
Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will keine Zinsen, ich will keinen
Mehrwert."
Labude schüttelte den Kopf. "Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es
nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen."
"Was fang ich mit der Macht an?" fragte Fabian. "Ich weiß, du
suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu
sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind Geschwister, aber mit mir sind
sie nicht verwandt."
"Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden." "Wer tut das?
Dieser wendet sie für sich an, jener für seine Familie, der eine für seine
Steuerklasse, der andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der fünfte
für solche, die über zwei Meter groß sind, der sechste, um eine
mathematische Formel an der Menschheit auszuprobieren. Ich pfeif auf Geld
und Macht!" Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber sie war
gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm.
"Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich brächte
dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir ein
Lebensziel einpflanzen!" Labude war ernstlich bekümmert und legte die Hand
auf den Arm des Freundes.
"Ich sehe zu. Ist das nichts?"
"Wem ist damit geholfen?"
"Wem ist zu helfen?" fragte Fabian. "Du willst Macht haben. Du willst,
träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital
kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen,
einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und
ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen!
Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird... Ich weiß ein
Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig
und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre
diesbezügliche Eignung hin anzuschauen."
Labude hob sein Glas und rief: "Viel Vergnügen!" Er trank, setzte ab
und sagte: "Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden
sich die Menschen anpassen."
Fabian trank und schwieg.
Labude fuhr erregt fort: "Das siehst du ein, nicht wahr? Natürlich
siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren
vollkommenen Ziel anstatt einem unvollkommenen zuzustreben, das sich
verwirklichen läßt. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz,
das ist das Schlimme."
"Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Arbeitslosen
begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie
wären ehrgeizig!"
Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war
dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei sie serviert. Die
andere Person war mager, und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme
Beine. "Schenkt uns 'ne Zigarette", sagte die Blonde. Fabian hielt die
Schachtel hin, Labude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen
Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer Pause mit
verrosteter Stimme: "Na ja, so ist das."
"Wer spendiert 'nen Schnaps?" fragte die Dicke.
Sie gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und gewaltige Weintrauben,
alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Sie setzten sich in eine Ecke. Die Wand
war mit der Pfalz bei Caub bemalt. Fabian dachte an Blücher, Labude
bestellte Likör. Die Frauen flüsterten miteinander. Vermutlich verteilten
sie die zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke Blonde
den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und tat wie zu Hause. Die
Magere trank ihr Glas auf einen Zug leer, zupfte Labude an der Nase und
kicherte blöde. "Oben sind Nischen", sagte sie, strich die blauen
Trikothosen von den Schenkeln zurück und zwinkerte. "Woher haben Sie so
rauhe Hände?" fragte Labude. Sie drohte mit dem Finger. "Nicht, was du
denkst", rief sie und verschluckte sich vor Schelmerei.
"Paula hat früher in einer Konservenfabrik gearbeitet", sagte die
Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so lange über die Brüste,
bis die Brustwarzen groß und fest wurden. "Gehen wir dann ins Hotel?"
fragte sie.
"Ich bin überall rasiert", erläuterte die Magere und war nicht
abgeneigt, den Nachweis zu erbringen. Labude hielt sie mühsam von dem
äußersten zurück.
"Man schläft nachher besser", sagte die Blondine zu Fabian und reckte
die fetten Beine.
Lottchen von der Theke füllte die Gläser. Die Frauen tranken, als
hätten sie acht Tage nichts gegessen. Die Musik drang gedämpft herüber. An
der Bar saß ein riesenhafter Kerl und gurgelte mit Kirschwasser. Der
Scheitel reichte ihm bis ins Rückgrat. Hinter der Pfalz bei Caub brannte
eine elektrische Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten.
"Oben sind Nischen", sagte die Magere wieder, und man stieg hinauf.
Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller mit Fleisch und Wurst vor
den Mädchen stand, vergaßen sie alles übrige und kauten drauflos.
Unten im Saal wurde die schönste Figur prämiiert. Die Frauen drehten sich
mit ihren knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und Finger und
lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt.
"Der erste Preis ist eine große Bonbonniere", erklärte die
kauende Paula, "und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim
Geschäftsführer wieder abliefern."
"Ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu dick",
sagte die Blondine. "Dabei sind dicke Beine das beste, was es gibt. Ich war
einmal mit einem russischen Fürsten zusammen, der schreibt mir noch jetzt
Ansichtskarten."
"Quatsch!" knurrte Paula. "Jeder Mann will was anderes. Ich habe einen
Herrn gekannt, einen Ingenieur, der liebte Lungenkranke. Und Viktorias
Freund hat einen Buckel, und sie sagt, sie braucht das zum Leben. Da mach
was dagegen. Ich finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram."
"Gelernt ist gelernt", behauptete die Dicke und angelte das letzte
Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde gerade die schönste Figur
ausgerufen. Die Kapelle spielte einen Tusch. Der Geschäftsführer überreichte
der Siegerin eine große Bonbonniere. Sie dankte ihm beglückt,
verneigte sich vor den klatschenden und johlenden Gästen und zog mit ihrem
Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie's ins Büro zurück.
"Warum arbeiten Sie eigentlich nicht mehr in Ihrer Konservenfabrik?"
fragte Labude, und seine Frage klang recht vorwurfsvoll.
Paula schob den leeren Teller zurück, strich sich über den Magen und
erzählte: "Erstens war es gar nicht meine Fabrik, und zweitens wurde ich
abgebaut. Glücklicherweise wußte ich was über den Direktor. Er hatte
ein vierzehnjähriges Mädchen verführt. Verführt ist übertrieben. Aber er
glaubte den Zimt. Und dann rief ich ihn alle vierzehn Tage an, ich müsse
fünfzig Mark haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag ging
ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab." "Das ist ja Erpressung!"
rief Labude.
"Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals schickte, fand das
auch. Ich mußte einen Wisch unterschreiben, bekam hundert Mark, und
aus war's mit der Lebensrente. Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in
den Mund."
"Es ist furchtbar", sagte Labude zu Fabian, "es ist schrecklich, wie
viele Direktoren das Angestelltenverhältnis mißbrauchen."
Die Dicke rief: "Ach Mensch, was redest du da. Wenn ich ein Mann wäre,
und ein Fabrikdirektor dazu, ich hätte dauernd Angestelltenverhältnisse."
Dann fuhr sie Fabian in die Haare, versetzte ihm einen Kuß, ergriff
seine Hand und legte sie platt auf ihren satten Magen. Labude und Paula
tanzten miteinander. Sie hatte tatsächlich krumme Beine.
In der Nachbarnische sang eine Frau laut mit betrunkener Stimme:

"Die Liebe ist ein Zeitvertreib.
Man nimmt dazu den Unterleib."

Die Dicke sagte: "Die nebenan ist 'ne Marke. Sie gehört gar nicht
hierher, kommt in teuren Pelzmänteln an, aber darunter trägt sie was ganz
Durchsichtiges. Es soll eine reiche Frau aus dem Westen sein, sogar
verheiratet. Sie holt sich junge Kerle in die Nische, bezahlt für sie und
gibt an, daß die Wände rot werden." Fabian erhob sich und blickte über
die halbhohe Zwischenwand hinweg nebenan.
Dort saß in einem grünseidenen Badeanzug eine große
gutgewachsene Frau und war, unter Absingung von Liedern, dabei, einen
Reichswehrsoldaten, der sich verzweifelt wehrte, auszuziehen. "Kerl!" rief
sie. "Mach nicht so einen schlappen Eindruck! Los! Zeig den Ausweis!" Aber
der brave Infanterist stieß sie zurück. Fabian fiel jene bekannte
ägyptische Ministergattin ein, die den armen Josef, den begabten Urenkel
Abrahams, so schamlos belästigt hatte. Da stand die Grüne auf, packte ein
Sektglas und taumelte zur Brüstung.
Es war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene Moll, deren
Schlüssel er im Mantel hatte. Schwankend stand sie an der Balustrade, hob
das spitze Glas hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang auf dem
Parkett. Die Musiker setzten die Instrumente ab. Die Tanzpaare hoben
erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Nische herauf.
Frau Moll streckte die Hand aus und rief: "Männer nennt sich das! Wenn
man sie anpackt, gehen sie aus dem Leim! Meine sehr verehrten Damen, ich
schlage vor, die Bande einzusperren. Meine sehr verehrten Damen, wir
brauchen Männerbordelle! Wer dafür ist, der hebe die Hand!" Sie schlug sich
emphatisch vor die Brust und bekam davon den Schlucken. Im Saal wurde
gelacht. Der Geschäftsführer war schon unterwegs. Irene Moll fing an zu
weinen. Das Schwarz der getuschten Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen
liniierten ihr Gesicht. "Laßt uns singen!" schrie sie schluchzend und
schluckend. "Wir singen das schöne Lied vom Klavierspiel!" Sie breitete
beide Arme aus und brüllte:

"Auch der Mensch ist nur ein Tier,
Immer, und erst recht zu zweit,
Komm und spiel auf mir Klavier!
Komm und spieleee auf mir
Die Schule der Geläufigkeit.
Dazu bin ich ja..."

Der Geschäftsführer hielt ihr den Mund zu, sie mißverstand die
Bewegung und fiel ihm um den Hals. Dabei sah sie den zu ihr hinblickenden
Fabian, riß sich los und schrie: "Dich kenne ich doch!" und wollte zu
ihm. Aber der Reichswehrsoldat, der sich inzwischen erholt hatte, und der
Geschäftsführer packten sie und drückten sie auf einen Stuhl. Im Saal wurde
wieder musiziert und getanzt. Labude hatte während der Szene bezahlt, gab
Paula und der Dicken etwas Geld, faßte Fabian unter und zog ihn fort.
In der Garderobe fragte er: "Sie kennt dich wirklich?" "Ja", sagte
Fabian, "sie heißt Moll, ihr Mann ist Rechtsanwalt und zahlt jede
Summe, wenn man mit ihr schläft. Die Schlüssel dieser komischen Familie habe
ich noch in der Tasche. Hier sind sie."
Labude nahm die Schlüssel weg, rief: "Ich komme gleich wieder!" und
lief in Hut und Mantel zurück.


SECHSTES KAPITEL

Der Zweikampf am Märkischen Museum
Wann findet der nächste Krieg statt?
Ein Arzt versteht sich auf Diagnose

Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: "Hast du
mit dieser Verrückten etwas gehabt?"
"Nein, ich war nur in ihrem Schlafzimmer, und sie zog sich aus.
Plötzlich kam noch ein Mann hinzu, behauptete, mit ihr verehelicht zu sein,
ich solle mich aber nicht stören lassen. Dann deklamierte er einen