wenn der Organist den Choral intonierte oder wenn der Hauslehrer auf die
Empore kam." Fabian blickte auf die Pelerine des Nachbarn und spürte, wie
dieses Kleidungsstück die Vergangenheit alarmierte. Er sah den blassen,
dicken Direktor vor sich, wie der jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor
er sich setzte und das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der
Hand an die Hose faßte, um sich zu vergewissern, ob der sündige
Erdenrest noch anwesend sei. Und er sah sich selber abends durchs Tor der
Anstalt schleichen, durch die dämmerigen Straßen, an den Kasernen
vorbei, über den Exerzierplatz rennen, die Treppe eines Mietshauses
hinґaufjagen und auf eine Klingel drücken. Er hörte die zitternde Stimme
seiner Mutter hinter der Tür: "Wer ist denn draußen?" Und er hörte
sich, außer Atem, rufen: "Ich bin's, Mama! Ich wollte bloß mal
nachsehen, ob's dir heute besser geht."
Der alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten Schirmes so
lange über den Sand, bis die Rechnung weggewischt war. "Vielleicht verstehen
Sie mich, da Sie von Maschinen nichts verstehen", sagte er. "Ich bin ein
sogenannter Erfinder, Ehrenmitglied von fünf wissenґschaftlichen Akademien.
Die Technik verdankt mir erґhebliche Fortschritte. Ich habe der
Textilindustrie dazu verholfen, pro Tag fünfmal soviel Tuch herzustellen als
früher. An meinen Maschinen haben viele Leute Geld verdient, sogar ich." Der
alte Herr hustete und zupfte sich nervös am Spitzbart. "Ich erfand
friedliche Maschiґnen und merkte nicht, daß es Kanonen waren. Das
konstante Kapital wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Betriebe nahm
zu, aber, mein Herr, die Zahl der beschäftigten Arbeiter nahm ab. Meine
Maschinen waren Kanonen, sie setzten ganze Armeen von Arbeitern außer
Gefecht. Sie zertrümmerten den Existenzanspruch von Hunderttausenden. Als
ich in Manchester war, sah ich, wie die Polizei auf Ausgesperrte losritt.
Man schlug mit Säbeln auf ihre Köpfe. Ein kleines Mädchen wurde von einem
Pferd niedergetrampelt. Und ich war daran schuld." Der alte Herr schob den
steifen Hut aus der Stirn und hustete. "Als ich zurückkam, stellte mich
meine Familie unter Kuratel. Es paßte ihnen nicht, daß ich Geld
wegzuschenken begann und daß ich erklärte, ich wolle mit Maschinen
nichts mehr zu schaffen haben. Und dann ging ich fort. Sie haben zu leben,
sie wohnen in meinem Haus am Starnberger See, ich bin seit einem halben Jahr
verґschollen. Vorige Woche las ich in der Zeitung, daß meine Tochter
ein Kind geboren hat. So bin ich nun Großvater geworden und laufe wie
ein Strolch durch Berlin."
"Alter schützt vor Klugheit nicht", sagte Fabian. "Leider sind nicht
alle Erfinder so sentimental."
"Ich dachte daran, nach Rußland zu fahren und mich zur Verfügung
zu stellen. Aber ohne Paß darf man nicht hinüber. Und wenn man meinen
Namen erfährt, hält man mich erst recht zurück. In meiner Brusttasche sind
Skizzen und Berechnungen für eine Webstuhlanlage, die alle bisherigen
Textilmaschinen in den Schatten stellt. Millionenwerte stecken in meiner
geflickten Tasche. Aber lieber will ich verhungern." Der alte Herr schlug
sich stolz an die Brust und hustete wieder. "Heute abend übernachte ich
Yorckstraße 93. Kurz bevor das Tor geschlossen wird, betrete ich das
Haus. Wenn der Portier fragt, wohin ich will, sage ich, ich besuche
Grünbergs. Die Leute wohnen in der vierten Etage. Der Mann ist
Oberpostschaffner. Ich steige hinauf. Ich gehe an der Wohnung der Familie
Grünberg vorbei und klettere zum Dachboden. Dort setze ich mich auf die
Treppe. Vielґleicht ist die Bodentür offen. Manchmal liegt gar eine alte
Matratze in irgendeiner Ecke. Morgen früh verschwinde ich dann wieder."
"Woher kennen Sie Grünbergs?"
"Aus dem Adreßbuch", antwortete der Erfinder. "Ich muß doch
einen Hausbewohner nennen können, falls sich der Portier nach meinen
Absichten erkundigt. Am nächґsten Morgen kommt der Schwindel häufig heraus.
Aber die jahrtausendealte Aufforderung, vor einem grauen Haupt aufzustehen
und die Alten zu ehren, hat Früchte getragen, bis zu den Portiers hinab.
Außerdem wechsle ich täglich meine Adresse. Im Winter erteilte ich an
einer Privatschule Physikunterricht. Es wurde leider ein Aufґklärungskurs
gegen die Wunder der Technik daraus. Das gefiel weder den Schülern noch dem
Direktor. Ich zog es vor, mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen.
Jetzt brauche ich die Postämter nicht mehr. Es ist warm. Jetzt sitze ich
stundenlang auf den Bahnhöfen und schaue den Menschen zu, die fortreisen,
ankommen und zurückґbleiben. Das ist alles sehr unterhaltend. Ich sitze da
und bin froh, daß ich lebe."
Fabian notierte seine Adresse und gab sie dem alten Mann. "Heben Sie
sich den Zettel gut auf. Und wenn Sie mal ein Portier vorzeitig von der
Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie können auf meinem Sofa schlafen." Der
alte Herr las den Zettel und fragte: "Was wird Ihre Wirtin dazu sagen?"
Fabian zuckte die Achseln.
"Wegen meines Hustens brauchen Sie sich nicht zu ängstiґgen", meinte
der Alte. "Wenn ich nachts in den dunklen Treppenhäusern sitze, huste ich
überhaupt nicht. Ich nehme mich dann zusammen, um die Hausbewohner nicht zu
erschrecken. Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen, ich
war später ein reicher Mann, ich bin jetzt wieder ein armer Teufel, es
spielt keine Rolle. Wie's kommt, wird's gefressen. Ob mich die Sonne auf
meiner Terrasse in Leoni bescheint oder hier auf dem Kreuzberg, das ist mir
so egal wie der Sonne." Der alte Herr hustete und streckte die Beine weit
von sich. Fabian stand auf und sagte, er müsse weiter.
"Was sind Sie eigentlich von Beruf?" fragte der Erfinder. "Arbeitslos",
erwiderte Fabian und schritt einer Allee zu, die in die Straßen
Berlins zurückführte.
Als er am Abend, taumelig von dem vielstündigen Marsch, die Wohnung
betrat, wollte er sofort zu Cornelia und ihr sein Malheur berichten. Schon
die bloße Vorstelґlung von der kommenden Szene rührte ihn tief.
Vielleicht hatte er auch Hunger.
Frau Hohlfeld, die Wirtin, vereitelte sein Vorhaben. Sie stand im
Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war ihre Art, Labude
sei da. Labude saß in Fabians Zimmer und hatte offensichtlich
Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu entschuldigen, weil er gestern nacht
ohne Gruß den Tisch und das Lokal verlassen habe. Faktisch wollte er
etwas ganz anderes. Er wollte wissen, wie Fabian über die Sache mit der
Selow dachte.
Labude war ein moralischer Mensch, und es war immer schon sein Ehrgeiz
gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne Fehler gleich ins reine zu
schreiben. Er hatte als Kind niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für
Moral war eine Konsequenz der Ordnungsliebe. Die Hamburger Enttäuschung
hatte sein privates Ordnungsґsystem und in der Folge seine Moral lädiert.
Der seelische Stundenplan war gefährdet. Dem Charakter fehlte das Geländer.
Nun kam er, der die Ziele liebte und brauchte, zu Fabian, dem Fachmann der
Planlosigkeit. Er hoffte, von ihm zu lernen, wie man Unruhe erfahren und
trotzґdem ruhig bleiben kann.
"Du siehst schlecht aus", sagte Fabian.
"Ich habe die Nacht kein Auge zugemacht", gestand der Freund. "Diese
Selow ist schwermütig und ordinär, beides in einem Atem. Sie kann
stundenlang auf dem Diwan sitzen und Schweinereien vor sich hinmurmeln, als
bete sie eine Litanei. Es ist nicht zum Anhören. Alkohol trinkt sie in
solchen Mengen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann
fällt ihr wieder ein, daß sie mit einem Mann allein in der Wohnung
ist, und man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei empfindet sie
bestimmt nicht wie eine normale Frau. Für lesbisch halte ich sie aber auch
nicht. Ich glaube, obwohl das komisch klingt, sie ist homosexuell." Fabian
ließ den Freund reden.
Und weil er sich über nichts wunderte, wurde der andere ruhig. "Morgen
fahre ich auf zwei Tage nach Frankfurt", erzählte Labude noch, bevor er sich
verabschiedete. "Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine Initiativgruppe
einrichten. Inzwischen mag das Mädchen in der Wohnung Nummer Zwei bleiben.
Ihr ist's in den letzten Monaten verdammt dreckig gegangen. Sie soll sich
mal ausschlafen. Auf Wiedersehen, Jakob." Dann ging er.
Fabian betrat Cornelias Zimmer. Was würde sie zu der Kündigung sagen?
Aber Ruth Reiter, die Bildhauerin, saß da, sah elend aus, war gar
nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und resümierte, was sie der Battenberg
ausґführlich schon berichtet hatte. Die kleine Kulp war in die Charité
gebracht worden. Sie hatte innere Verletzungen davongetragen, und Wilhelmy,
der Todeskandidat mit dem Holzbein, lag seit gestern nacht im Atelier,
kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit dem Sterben.
Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und Bestecke aus ihrem Koffer
geholt, etwas zum Essen besorgt und den Tisch hübsch garniert. Sogar eine
weiße Decke und ein Blumenstrauß waren vorrätig. Die Reiter
sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe sie es vergesse: ob denn niemand wisse, wo
der junge Labude wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war.
Sie hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und durch Fabian
Labudes Wohnung zu erfahren, da ihr das Personal der Grunewaldvilla keine
Auskunft hatte geben können. "Ich weiß, wo er wohnt", meinte Fabian.
"Außerdem hat er bis vor wenigen Minuґten nebenan in meinem Zimmer
gesessen. Die Adresse darf ich nicht sagen."
"Er war hier?" rief die Bildhauerin. "Auf Wiedersehen!" Sie rannte
davon.
"Ihr fehlt die Selow", sagte Cornelia.
"Ihr fehlt die schlechte Behandlung", sagte Fabian.
"Mir nicht." Sie küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er
ihre Vorbereitungen zum Abendessen bewundere.
"Gefällt dir das?" fragte sie.
"Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir immer,
wenn es etwas zum Bewundern gibt. Hast du etwa ein neues Kleid an? Kenne ich
diese Ohrringe schon? Trugst du auch gestern den Scheitel in der Mitte? Was
mir gefällt, merke ich nicht. Du mußt mich mit der Nase darauf
stoßen."
"Du hast nichts als Fehler", rief sie. "Jeden einzelnen deiner Fehler
könnte ich hassen, alle miteinander habe ich lieb." Während des Essens
erzählte sie, daß sie morgen ihren Posten antreten solle. Sie war
heute einer Reihe von Kollegen, Dramaturgen, Produktionsleitern und
Direkґtoren vorgestellt worden und beschrieb das merkwürdige, weitläufige
Haus, in dem bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz
in die andere stürzten und der Entwicklung des Tonfilms das Leben sauer
machten. Fabian verschob die Mitteilung auf später. Als sie mit dem Essen
fertig waren, stellte sie einen Teller mit zwei belegten Broten beiseite und
sagte lächelnd: "Die eiserne Ration."
"Du bist rot geworden", rief er.
Sie nickte. "Manchmal merkst du also doch, wenn es etwas zum Bewundern
gibt."
Er schlug einen kleinen Spaziergang vor. Sie zog sich an. Er überlegte
inzwischen, wie er ihr die Kündigung beiґbringen wollte. Aber der
Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem Haus standen, hustete jemand
hinter ihnen, und ein fremder Mann wünschte guten Abend. Es war der Erfinder
mit der Pelerine. "Die Beschreibung, die Sie mir von Ihrem Sofa gegeben
haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen und Dachböden
verdorґben", erzählte er. "Ich habe um die Yorckstraße einen Bogen
gemacht und bin hierhergekommen. Eigentlich mache ich mir Vorwürfe,
daß ich Sie behellige, denn schließlich sind Sie selber
arbeitslos."
"Arbeitslos bist du?" fragte Cornelia. "Ist das wahr?" Der alte Herr
entschuldigte sich umständlich, er habe gedacht, die junge Dame wisse
Bescheid.
"Heute morgen hat man mir gekündigt." Fabian ließ Cornelias Arm
los. "Zum Abschied bekam ich zweihundertsiebzig Mark in die Hand gedrückt.
Wenn ich meine Miete vorausbezahlt habe, bleiben uns noch hundertneunzig
Mark. Gestern hätte ich darüber gelacht." Als sie den alten Herrn aufs Sofa
gepackt und ihm die Stehlampe danebengestellt hatten, denn er wollte an
seiner geheimen Maschine herumrechnen, wünschten sie ihm gute Nacht und
gingen in Cornelias Zimmer. Fabian kam noch einmal zurück und brachte dem
Gast ein paar belegte Brote.
"Ich verspreche, nicht zu husten", flüsterte der Alte.
"Hier darf gehustet werden. Ihr Zimmernachbar geht noch ganz anderen
Vergnügungen nach, ohne daß die Wirtin, eine gewisse Frau Hohlfeld,
die es früher nicht nötig gehabt hat, deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie
wir's morgen früh machen, weiß ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre
Möbel reizend, und daß ein Fremder die ganze Nacht auf ihrem Sofa
biwakiert, würde sie ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich wecke Sie
morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passendes einfallen."
"Gute Nacht, junger Freund", bemerkte der Alte und holte seine
kostbaren Papiere aus der Tasche. "Empfehlen Sie mich dem Fräulein Braut."
Cornelia schien so glücklich, daß Fabian sich wunderte. Eine
Stunde später fraß sie bereits die eiserne Ration auf. "Ach, ist das
Leben schön!" sagte sie. "Wie denkst du über die Treue?"
"Kau erst fertig, bevor du so große Worte aussprichst!" Er
saß neben ihr, hielt seine Knie umschlungen und blickte auf das
ausgestreckte Mädchen nieder. "Ich glaube, ich warte nur auf die Gelegenheit
zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich wäre dafür verdorben."
"Das ist ja eine Liebeserklärung", sagte sie leise. "Wenn du jetzt
heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!" sagte er.
Sie kugelte aus dem Bett, zog ihren kleinen rosafarbenen Schlüpfer an
und stellte sich vor Fabian hin. Sie lächelte unter Tränen. "Ich heule",
murmelte sie. "Nun halte auch du dein Versprechen." Dann bückte sie sich. Er
zog sie aufs Bett. Sie sagte: "Mein Lieber, mein Lieber! Mach dir keine
Sorgen."


ZWÖLFTES KAPITEL

Der Erfinder im Schrank
Nicht arbeiten ist eine Schande
Die Mutter gibt ein Gastspiel

Als er am nächsten Morgen den Erfinder wecken wollte, war der schon
aufgestanden, gewaschen und angezogen, saß am Tisch und rechnete.
"Haben Sie gut geschlafen?"
Der alte Mann war vorzüglicher Laune und schüttelte ihm die Hand. "Das
geborene Schlafsofa", sagte er und streichelte die braune Sofalehne, als
handle sich's um einen Pferderücken. "Muß ich jetzt verschwinden?"
"Ich will Ihnen einen Vorschlag machen", meinte Faґbian. "Während ich
bade, bringt die Wirtin das Frühґstück ins Zimmer, und da darf sie Ihnen
nicht begegnen, sonst gibt's Krach. Wenn sie wieder draußen ist, sind
Sie mir wieder willkommen. Dann können Sie ruhig noch ein paar Stunden
hierbleiben. Ich werde Sie allerdings allein lassen, weil ich mich um Arbeit
kümmern muß." "Das macht nichts", erklärte der Alte. "Ich werde in den
Büchern blättern, wenn Sie erlauben. Wohin gehe ich aber, während Sie
baden?"
"Ich dachte, in den Schrank", sagte Fabian. "Der Schrank als
Wohnstätte, das war bis heute ein Privileg der Ehebruchslustspiele. Brechen
wir mit der Tradition, verehrter Gastfreund! Ist Ihnen mein Vorschlag
angeґnehm?"
Der Erfinder öffnete den Schrank, blickte skeptisch hinґein und fragte:
"Pflegen Sie sehr lange zu baden?" Fabian beruhigte ihn, schob den zweiten
Anzug, den er besaß, beiseite und hieß den Gast einsteigen. Der
alte Herr nahm seine Pelerine um, setzte den Hut auf, klemmte den Schirm
unter den Arm und kroch in den Schrank, der in allen Fugen krachte. "Und
wenn sie mich hier findet?"
"Dann ziehe ich am Ersten aus."
Der Erfinder stützte sich auf den Schirm, nickte und sagte: "Nun
scheren Sie sich in die Wanne!" Fabian schloß den Schrank zu, nahm
vorsichtshalber den Schlüssel an sich und rief im Korridor: "Frau Hohlfeld,
das Frühstück!" Als er das Badezimmer betrat, saß schon Cornelia, über
und über eingeseift, in der Wanne und lachte. "Du mußt mir den Rücken
abreiben", flüsterte sie. "Ich habe so entsetzlich kurze Ärmchen."
"Die Reinlichkeit wird mir zum Vergnügen", bemerkte Fabian und seifte
ihr den Rücken. Später vergalt sie ihm Gleiches mit Gleichem. Zum
Schluß saßen sich beide im Wasser gegenüber und spielten hohen
Seegang.
"Schrecklich", sagte er, "in meinem Schrank steht inzwiґschen der König
der Erfinder und wartet auf seine Befreiґung. Ich muß mich beeilen."
Sie kletterten aus der Wanґne und frottierten einander, bis die Haut
brannte. Dann trennten sie sich.
"Auf Wiedersehen am Abend", flüsterte sie.
Er küßte sie. Er verabschiedete sich von ihren Augen, von ihrem
Mund und Hals, von jedem Körperteil einґzeln. Dann lief er in sein Zimmer.
Das Frühstück war eingetroffen. Er sperrte den Schrank auf. Der alte Herr
stieg mit steifen Beinen heraus und hustete lange, um das Versäumte
nachzuholen.
"Nun der zweite Teil der Komödie", sagte Fabian, ging in den Korridor,
öffnete die Flurtür, schlug sie wieder zu und rief: "Großartig, Onkel,
daß du mich mal besuchst. Tritt bitte näher!" Er komplimentierte die
imaginäre Person ins Zimmer und nickte dem verwunderten Erfinґder zu. "So,
nun sind Sie offiziell eingetroffen. Nehmen Sie Platz. Hier ist eine zweite
Tasse."
"Und Ihr Onkel bin ich außerdem."
"Verwandtschaftliche Beziehungen wirken auf Wirtinnen immer
schmerzstillend", erläuterte Fabian. "Aber der Kaffee ist gut. Darf ich mir
ein Brötchen nehmen?" Der alte Herr begann den Schrank zu vergesґsen. "Wenn
ich nicht unter Kuratel stünde, machte ich Sie zu meinem Universalerben,
geehrter Herr Neffe", sagte er und aß mit großer Andacht.
"Ihr hypothetischer Antrag ehrt mich", entgegnete Faґbian. Sie
stießen auf Drängen des neuen Onkels mit den Kaffeetassen an und
riefen: "Prost!"
"Ich liebe das Leben", gestand der Alte und wurde fast verlegen. "Ich
liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manchmal könnte ich vor Freude
in den Sonnenschein hineinbeißen, oder in die Luft, die in den Parks
weht. Wissen Sie, woran das liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das
heute? Niemand denkt an den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen
wie von einem Eisenbahnґzusammenstoß oder einer anderen
unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen geworden. Ich denke
täglich an ihn, denn täglich kann er winken. Und weil ich an ihn denke,
liebe ich das Leben. Es ist eine herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich
sachverґständig."
"Und die Menschen?"
"Der Globus hat die Krätze", knurrte der Alte.
"Das Leben lieben und zugleich die Menschen verachten, das geht selten
gut aus", sagte Fabian und stand auf. Er verließ den Gast, der noch
immer Kaffee trank, bat Frau Hohlfeld, den Onkel nicht zu stören, und ging
zum Arbeitsamt seines Bezirks.
Nachdem er drei Beamte absolviert hatte, das heißt nach zwei
Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Ort sei und sich an eine westliche
Filiale zu wenden habe, die speziell für Büroangestellte bestimmt war. Er
fuhr mit dem Autobus zum Wittenbergplatz und ging in das angegebene Lokal.
Die Auskunft war falsch gewesen. Er geriet mitten in eine Schar arbeitsloser
Krankenschwestern, Kindergärtnerinґnen und Stenotypistinnen und erregte, als
einziger männґlicher Besucher, die größte Aufmerksamkeit.
Er zog sich zurück, trat auf die Straße und fand, ein paar
Hausnummern weiter, einen Laden, der wie das Geschäft eines Konsumvereins
aussah, jetzt aber eben jene Filiale des Arbeitsamtes darstellte, in der er
sich melden sollte. Hinter dem ehemaligen Ladentisch saß ein Beamter,
davor standen, in langer Kette, erwerbslose Angestellte, legten, einer nach
dem anderen, die Stempelkarte vor und erhielten den erforderlichen
Kontrollvermerk.
Fabian war erstaunt, wie sorgfältig diese Arbeitslosen gekleidet waren,
manche konnten geradezu elegant geґnannt werden, und wer ihnen auf dem
Kurfürstendamm begegnet wäre, hätte sie fraglos für freiwillige
Müßiggänger gehalten. Vermutlich verbanden die Leute den morgendlichen
Gang zur Stempelstelle mit einem Bummel durch die vornehmen
Geschäftsstraßen. Vor den Schauґfenstern stehen zu bleiben, kostete
noch immer nichts, und wer wollte erkennen, ob sie nichts kaufen konnten,
oder ob sie es nur nicht wollten? Sie trugen ihre Feiertagsґanzüge, und sie
taten recht daran, denn wer hatte so viele Feiertage wie sie?
Ernst und auf Haltung erpicht, standen sie in Reih und Glied und
warteten, bis sie ihre Stempelkarte wieder einstecken durften. Dann gingen
sie hinaus, als verließen sie eine zahnärztliche Klinik.
Manchmal schimpfte der Beamte und legte eine Karte beiseite. Ein
Gehilfe trug sie in den Nebenraum. Dort thronte ein Inspektor und zog
unregelmäßige Besucher der Kontrollstelle zur Rechenschaft. Von Zeit
zu Zeit trat eine Art von Portier aus der Tür und rief einen Namen. Fabian
las die Druckschriften, die an den Wänden hingen. Es war verboten, Armbinden
zu tragen. Es war verboten, Umsteigebilletts der Straßenbahn von den
Erstinhabern zu übernehmen und weiter zu benutzen. Es war verboten,
politische Debatten hervorzurufen und sich an ihnen zu beteiligen. Es wurde
mitgeteilt, wo man für dreißig Pfennige ein ausgesprochen nahrhaftes
Mittagessen erhalґten könne. Es wurde mitgeteilt, für welche
Anfangsbuchґstaben sich die Kontrolltage verschoben hatten. Es wurde
mitgeteilt, für welche Berufszweige die Nachweisadressen und die
Auskunftszeiten geändert worden waren. Es wurde mitgeteilt. Es war verboten.
Es war verboten. Es wurde mitgeteilt.
Das Lokal leerte sich allmählich. Fabian legte dem Beamґten seine
Papiere vor. Der Mann sagte, Propagandisten seien hier nicht üblich, und er
empfehle Fabian, sich an die Stelle zu wenden, die für freie Berufe,
Wissenschaftler und Künstler zuständig sei. Er nannte die Adresse.
Fabian fuhr mit dem Autobus bis zum Alexanderplatz. Es war fast Mittag.
Er geriet in der neuen Filiale in eine sehr gemischte Gesellschaft. Den
Anschlägen entnahm er, daß es sich möglicherweise um Ärzte, Juristen,
Ingenieure, Diplomlandwirte und Musiklehrer handelte. "Ich bin jetzt bei der
Krisenfürsorge", sagte ein kleiner Herr. "Ich kriege 24,50 Mark. Auf jeden
Kopf meiner Familie komґmen in der Woche 2,72 Mark, und auf einen Tag für
einen Menschen 38 Pfennige. Ich habe es in meiner chronischen Freizeit genau
ausgerechnet. Wenn das so weitergeht, fange ich nächstens an, einzubrechen."
"Wenn das so leicht wäre", seufzte sein Nachbar, ein kurzsichtiger
Jüngling. "Sogar Stehlen will gelernt sein. Ich habe ein Jahr im Gefängnis
gesessen. Also, es gibt erfreulichere Milieus."
"Es ist mir egal, wenigstens vorher", erklärte der kleine Herr erregt.
"Meine Frau kann den Kindern nicht mal ein Stück Brot in die Schule
mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit an."
"Als ob Stehlen Sinn hätte", sagte ein großer, breiter Mensch,
der am Fenster lehnte. "Wenn der Kleinbürger nichts zu fressen hat, will er
gleich zum Lumpenproletaґriat übergehen. Warum denken Sie nicht
klassenbewußt, Sie kleine häßliche Figur? Merken Sie noch immer
nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie die politische Revolution vorbereiten."
"Bis dahin sind meine Kinder verhungert."
"Wenn man Sie einsperrt, weil Sie geklaut haben, verhungern Ihre werten
Herren Kinder noch rascher", sagte der Mann am Fenster. Der kurzsichtige
Jüngling lachte und schaukelte entschuldigend mit der Schulter. "Meine
Sohґlen sind völlig zerrissen", sagte der kleine Herr. "Wenn ich jedesmal
hierherlaufe, sind die Schuhe in einer Woche hin, und zum Fahren habe ich
kein Geld."
"Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?" fragte der Kurzsichtige.
"Ich habe so empfindliche Füße", erklärte der kleine Herr.
"Hängen Sie sich auf!" meinte der Mann am Fenster.
"Er hat einen so empfindlichen Hals", sagte Fabian.
Der Jüngling hatte ein paar Münzen auf den Tisch gelegt und zählte sein
Vermögen. "Die Hälfte des Geldes geht regelmäßig für
Bewerbungsschreiben drauf. Porto braucht man. Rückporto braucht man. Die
Zeugnisse muß ich mir jede Woche zwanzigmal abschreiben und
beglaubigen lassen. Kein Mensch schickt die Papiere zurück. Nicht einmal
Antwort erhält man. Die Bürofritґzen legen sich vermutlich mit meinem
Rückporto Briefґmarkensammlungen an."
"Aber die Behörden tun, was sie tun können", sagte der Mann am Fenster.
"Unter anderem haben sie Gratiszeichenkurse für Arbeitslose eingerichtet.
Das ist eine wahre Wohltat, meine Herren. Erstens lernt man Äpfel und
Beefsteaks malen, und zweitens wird man davon satt. Die Kunsterziehung als
Nahrungsmittel."
Der kleine Herr, dem jeder Humor abhanden gekommen zu sein schien,
sagte bedrückt: "Das nützt mir gar nichts. Ich bin nämlich Zeichner."
Dann ging ein Beamter durch den Warteraum, und Fabian erkundigte sich,
vorsichtig geworden, ob er Aussicht habe, hier abgefertigt zu werden. Der
Beamte fragte nach dem Ausweis des regionalen Arbeitsamts.
"Sie haben sich noch nicht gemeldet? Das müssen Sie vorher erledigen."
"Jetzt geh ich wieder dorthin, wo ich vor fünf Stunden die Tournee
begonnen habe", sagte Fabian. Aber der Beamte war nicht mehr da.
"Die Bedienung ist zwar höflich", meinte der Jüngling, "aber daß
die Auskünfte immer stimmen, kann kein Mensch behaupten."
Fabian fuhr mit dem Autobus zum Arbeitsamt seines Wohnbezirks. Er hatte
bereits eine Mark Fahrgeld verґbraucht und blickte vor Wut nicht aus dem
Fenster.
Als er ankam, war das Amt geschlossen. "Zeigen Sie mal Ihre Papiere
her", sagte der Portier. "Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein." Fabian
gab dem Biedermann das Zettelpaket: "Aha", erklärte der Türsteher nach
eingehender Lektüre. "Sie sind ja gar nichts arbeitslos." Fabian setzte sich
auf einen der bronzenen Meilensteine, welche die Einfahrt zierten.
"Sie haben bis zum Monatsende gewissermaßen bezahlten Urlaub. Das
Geld haben Sie doch von Ihrer Firma erґhalten?"
Fabian nickte.
"Dann kommen Sie mal in vierzehn Tagen wieder", schlug der andere vor.
"Bis dahin können Sie es ja mit Bewerbungsschreiben probieren. Lesen Sie die
Stellenanґgebote in den Zeitungen. Viel Sinn hat es nicht, aber man soll's
nicht beschreien."
"Glückliche Reise", sprach Fabian, nahm die Papiere in Empfang und
begab sich in den Tiergarten, wo er ein paar Brötchen verzehren wollte. Zu
guter Letzt verfütterte er sie aber an die Schwäne, die mit ihren Jungen im
Neuen See spazieren fuhren.
Als er gegen Abend das Zimmer betrat, fand er seine Mutter vor. Sie
saß auf dem Sofa, legte ein Buch beiseite und sagte: "Da staunst du,
mein Junge."
Man umarmte sich. Sie fuhr fort: "Ich mußte nachsehen, was du
machst. Vater paßt inzwischen auf, daß niemand ins Geschäft
kommt. Ich hatte Sorgen um dich. Du beantwortest meine Briefe nicht mehr.
Zehn Tage hast du nicht geschrieben. Es ließ mir keine Ruhe, Jakob."
Er setzte sich neben die Mutter, streichelte ihre Hände und erklärte,
es gehe ihm gut.
Sie betrachtete ihn prüfend. "Komme ich dir ungelegen?"
Er schüttelte den Kopf. Sie stand auf. "Die Wäsche habe ich dir schon
in den Schrank geräumt. Deine Wirtin könnte mal reinemachen. Ist sie noch
immer zu fein dazu? Was denkst du, was ich mitgebracht habe." Sie öffnete
den Spankorb und legte Pakete auf den Tisch. "Blutwurst", sagte sie, "ein
Pfund, aus der Breiten Straße, du weißt schon. Kaltes Schnitzel.
Leider kann man hier nicht in die Küche, sonst würde ich's aufbraten.
Schinkenspeck. Eine halbe Salamiwurst. Tante Martha läßt grüßen.
Ich war gestern bei ihr im Garten. Ein paar Stück Seife aus dem Laden. Wenn
das Geschäft bloß nicht so schlecht ginge. Ich glaube, die Leute
waschen sich nicht mehr. Und hier eine Krawatte, gefällt sie dir?"
"Du bist so gut", sagte Fabian. "Aber du sollst nicht so viel Geld für
mich ausgeben."
"Quatsch mit Sauce", sagte die Mutter und legte die Eßwaren auf
einen Teller. "Sie mag uns ein bißchen Tee kochen, deine Gnädige. Ich
hab's ihr schon erzählt. Morgen abend fahre ich zurück. Ich bin mit dem
Persoґnenzug gekommen. Die Zeit verging schnell. Ein Kind war im Abteil. Wir
haben viel gelacht. Was macht dein Herz? Du rauchst zu viel? Überall stehen
leere Zigarettenґschachteln herum."
Fabian sah der Mutter zu. Sie hantierte vor lauter Rührung wie ein
Gendarm.
"Ich mußte gestern daran denken", sagte er, "wie das damals war,
als ich im Internat steckte, und du warst krank, und ich rannte abends
davon, über den Exerzierґplatz, nur um zu sehen, wie es dir ginge. Einmal,
das weiß ich noch, schobst du einen Stuhl vor dir her und stütztest
dich darauf, sonst hättest du mir gar nicht öffnen können."
"Du hast viel durchgemacht mit deiner Mutter", sagte sie. "Man
müßte sich öfter sehen. Wie geht's in der Fabrik?"
"Ich habe ihnen ein Preisausschreiben vorgeschlagen. Daran können sie
eine Viertelmillion verdienen."
"Für zweihundertsiebzig Mark im Monat, diese Bande." Die Mutter war
empört. Dann klopfte es. Frau Hohlfeld brachte den Tee, stellte das Tablett
auf den Tisch und sagte: "Ihr Onkel ist schon wieder da."
"Dein Onkel?" fragte die Mutter erstaunt.
"Ich habe mich schon gewundert", erklärte die Wirtin.
"Hoffentlich haben Sie sich dabei keinen Schaden getan, gnädige Frau",
erwiderte Fabian, und Frau Hohlfeld entfernte sich gekränkt. Fabian holte
den Erfinder ins Zimmer und sagte: "Mama, das ist ein alter Freund von mir.
Er hat gestern auf dem Sofa geschlafen, und ich habe ihn zu meinem Onkel
ernannt, um das Verfahren abzuґkürzen." Er wandte sich an den Erfinder. "Das
ist meine Mutter, lieber Onkel. Die beste Frau des Jahrhunderts. Nehmen Sie
Platz. Aus dem Sofa wird heute freilich nichts. Aber ich möchte Sie für
morgen einladen, wenn es Ihnen recht ist."
Der alte Herr setzte sich, hustete, stülpte den Hut auf den Schirmknauf
und drückte Fabian ein Kuvert in die Hand. "Stecken Sie das rasch ein", bat
er. "Es ist meine Maschine. Man ist hinter mir her. Meine Familie will mich
wieder einmal ins Irrenhaus bringen. Sie hofft wahrscheinlich, mir dabei die
Notizen abzujagen und zu Geld zu machen."
Fabian steckte den Briefumschlag ein. "Man will Sie ins Irrenhaus
sperren?"
"Ich habe nichts dagegen", bemerkte der Alte. "Man hat seine Ruhe dort.
Der Park ist wundervoll. Der leitende Arzt ist ein erträglicher Kerl, selber
ein bißchen verrückt und spielt ausgezeichnet Schach. Ich war schon
einmal dort. Wenn mir's zu dumm wird, rück ich wieder aus. Entschuldigen
Sie, meine Dame", sagte er zu der Mutter. "Ich mache Ihnen Ungelegenheiten.
Erschrecken Sie nicht, wenn man mich abholt. Es wird gleich klingeln. Ich
bin soweit. Die Papiere sind gut aufgehoben. Verrückt bin ich übrigens
nicht, ich bin meinen werten Angehörigen zu vernünftig. Lieber Freund,
schreiben Sie mir ein paar Zeilen nach Bergendorf in die Heilanstalt."
Es klingelte.
"Da sind sie schon", rief der Alte. Frau Hohlfeld ließ zwei
Herren eintreten.
"Ich bitte, die Störung zu entschuldigen", sagte der eine und verbeugte
sich. "Vollmachten, die Sie gern einsehen können, veranlassen mich, Herrn
Professor Kollrepp aus Ihrem Kreise zu entfernen. Unten wartet mein Auto."
"Wozu die Umstände, lieber Sanitätsrat? Sie sind dünner geworden. Ich merkte
es schon gestern, daß ihr mir auf der Spur wart. Tag, Winkler. Da
wollen wir mal in Ihren Wagen klettern. Wie geht's meiner lieben Familie?"
Der Arzt hob die Schultern.
Der Alte ging zum Schrank hinüber, öffnete ihn, sah hinein und
schloß die Tür wieder. Dann trat er zu Fabian und nahm dessen Hand.
"Ich danke Ihnen sehr." Er schritt zur Tür. "Sie haben einen guten Sohn",
sagte er zu der alten Frau. "Das kann nicht jeder von sich behaupґten." Dann
verließ er das Zimmer. Der Arzt und der Wärter folgten ihm. Fabian und
seine Mutter blickten durchs Fenster. Ein Auto stand vor dem Haus. Die drei
Männer traten aus der Tür. Der Chauffeur half dem alten Erfinder in einen
Staubmantel. Die Pelerine wurde verґstaut.
"Ein komischer Mann", sagte die Mutter, "aber verrückt ist er nicht."
Das Auto fuhr davon. "Warum sah er eigentlich in den Schrank?"
"Ich habe ihn heute früh in den Schrank gesperrt, damit die Wirtin
nichts merkte", sagte der Sohn. Die Mutter goß Tee ein. "Aber
leichtsinnig ist es trotzdem von dir, wildfremde Menschen hier schlafen zu
lassen. Wie schnell kann etwas passieren. Hoffentlich hat er deine Sachen im
Schrank nicht schmutzig gemacht."
Fabian schrieb sich die Adresse der Irrenanstalt auf das Kuvert und
schloß es weg. Dann setzte er sich zum Essen. Nach dem Abendbrot sagte
er: "Komm, mach dich fertig. Wir gehen ins Kino." Während sich die Mutter
anzog, besuchte er Cornelia und erzählte ihr, daß seine Mutter da sei.
Die Freundin war müde und lag schon im Bett. "Ich schlafe, bis du aus dem
Kino zurück bist", meinte sie. "Siehst du dann noch einmal zu mir herein?"
Er versprach es.
Der Tonfilm, den Fabian und seine Mutter sahen, war ein albernes
Theaterstück, das in zwei Dimensionen verlief. Abgesehen davon war nicht
gespart worden, der vorgeґführte Luxus überschritt jede Grenze. Man hatte,
obwohl dergleichen anstandshalber nicht gezeigt wurde, den Einґdruck, unter
den Betten stünden goldene Nachttöpfe. Die Mutter lachte wiederholt, und das
freute Fabian so sehr, daß er mitlachte.
Nach Hause gingen sie zu Fuß. Die Mutter war vergnügt. "Wenn ich
früher so gesund gewesen wäre wie heute, mein Junge, dann hättest du es
besser gehabt", meinte sie nach einiger Zeit.
"Es war auch so nicht übel", sagte er. "Und außerdem ist es
vorbei."
Zu Hause stritten sie sich ein bißchen, wer im Bett und wer auf
dem Sofa schlafen solle. Endlich siegte Fabian. Die Mutter bereitete das
Sofa zur Nacht. Er müsse erst einmal nebenan, sagte er dann. "Dort wohnt
eine junge Dame, und ich bin mit ihr befreundet." Er verabschiedete sich für
alle Fälle, gab der Mutter einen Kuß und öffnete leise die Tür.
Eine Minute später kam er wieder. "Sie schläft schon", flüsterte er und
bestieg sein Sofa.
"Früher wäre das nicht möglich gewesen", bemerkte Frau Fabian.
"Das hat ihre Mutter auch gesagt", meinte der Sohn und drehte sich nach
der Wand. Plötzlich, kurz vor dem Einschlafen, stand er noch einmal auf,
tappte durchs dunkle Zimmer, beugte sich über das Bett und sagte wie einst:
"Schlaf gut, Muttchen."
"Du auch", murmelte sie und öffnete die Augen. Er konnte das nicht
sehen. Er tastete sich im Finstern zum Sofa zurück.


DREIZEHNTES KAPITEL

Das Kaufhaus und Arthur Schopenhauer
Das reziproke Bordell
Die zwei Zwanzigmarkscheine

Am anderen Morgen wurde er von seiner Mutter geweckt. "Aufstehen,
Jakob! Du kommst zu spät ins Büro!" Er machte sich rasch fertig, trank den
Kaffee im Stehen und verabschiedete sich.
"Ich werde inzwischen Ordnung schaffen", sagte sie. "Sowas von Staub
überall. Und an deinem Mantel ist der Henkel abgerissen. Geh ohne Mantel. Es
ist ja warm draußen." Fabian lehnte an der Tür und sah zu, wie die
Mutter hantierte. Ihr aus Nervosität und Ordnungsliebe addierter Fleiß
wirkte anheimelnd. Das Zimmer war erfüllt davon, es erinnerte plötzlich an
zu Hause. "Daß du dich ja nicht fünf Minuten hinsetzt und die Hände in
den Schoß legst", warnte er.
"Wäre es nicht schöner, wenn ich jetzt Zeit hätte? Wir könnten in den
Tiergarten gehen. Oder ins Aquarium. Oder wir blieben hier, und du würdest
mir wieder einmal davon erzählen, wie komisch ich als Kind war. Als ich die
Bettstelle mit der Stecknadel zerkratzte und dich dann bei der Hand nahm, um
dir das herrliche Gemälde zu zeigen. Oder als ich dir zum Geburtstag
weißen und schwarzen Zwirn und ein Dutzend Nähnadeln und Druckknöpfe
schenkte."
"Und ein Heft Stecknadeln und weiße und schwarze Nähseide. Es ist
mir noch wie heute", sagte die Mutter und strich sein Jackett glatt. "Der
Anzug müßte gebügelt werden."
"Und eine Frau müßte ich haben und sieben kleine ulkige Kinder",
ergänzte er in weiser Voraussicht. "Scher dich an die Arbeit!" Die Mutter
stemmte die Arme in die Hüften. "Arbeiten ist gesund. Übrigens, ich hole
dich am Nachmittag vom Büro ab. Ich warte vor der Tür. Dann bringst du mich
zum Bahnhof."
"Es ist sehr schade, daß du nur einen Tag bleiben kannst." Er kam
noch einmal zurück.
Die Mutter sah ihn nicht an. Sie machte sich am Sofa zu schaffen. "Ich
hielt es drüben nicht mehr aus", murmelte sie. "Aber nun geht's schon
wieder, du mußt nur länger schlafen, und du darfst das Leben nicht zu
schwer nehґmen, mein Junge. Es wird dadurch nicht leichter."
"Nun gehe ich aber, sonst komme ich wirklich noch zu spät", sagte er.
Sie blickte ihm vom Fenster aus nach und nickte. Er winkte und lachte
und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen war. Dann verlangsamte er
den Schritt und blieb schließlich stehen. Ein hübsches Versteckspiel
trieb er da mit der alten Frau! Rannte auf und davon, obwohl er nichts zu
tun hatte. Ließ sie da oben allein in dem fremden, häßlichen
Zimmer, obwohl er wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit ihm
Zusammensein durfte, bereit war, gegen ein ganzes Jahr ihres Lebens
einzutauschen. Am Nachmittag würde sie ihn vom Büro abholen. Er mußte
ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht wissen, daß er entlassen
war. Der Anzug, den er trug, war der einzige, den er sich in
zweiunddreißig Jahren selber gekauft hatte. Ihr Leben lang hatte sie
deswegen geschufґtet und gespart. Sollte das denn nie ein Ende nehmen?
Weil es zu regnen anfing, ging er im Kaufhaus des Westens spazieren.
Kaufhäuser sind, obwohl das gar nicht in ihrer Absicht liegt,
außerordentlich geeignet, Leuten, die kein Geld und keinen Schirm
haben, Unterhaltung zu bieten. Er höre einer Verkäuferin zu, die sehr
gewandt Klavier spielte. Aus der Lebensmittelabteilung vertrieb ihn der
Fischgeruch, den er seit seiner Kindheit, vielleicht auf Grund einer
embryonalen Erinnerung, nicht ausstehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm
ein junger Mann unbedingt einen großen Kleiderschrank verkaufen. Das
Stück sei preiswert, die Gelegenheit unwiederbringlich. Fabian entzog sich
der unerhörten Zumutung und wanґderte in die Buchabteilung. Er geriet an
einem der Antiґquariatstische über einen Auswahlband von Schopenhauґer,
blätterte und las sich fest. Der Vorschlag dieses verbiesterten Onkels der
Menschheit, Europa mit Hilfe einer indischen Heilpraxis zu veredeln, war
freilich eine Kateridee, wie bisher alle positiven Vorschläge, ob sie nun
von Philosophen des neunzehnten oder von Nationalökoґnomen des zwanzigsten
Jahrhunderts stammten. Aber davon abgesehen war der Alte unübertrefflich.
Fabian fand eine typologische Erörterung und las:
"Eben dieser Unterschied ist es, den Plato durch die Ausdrücke
̉έυχολος und
δύσχολος bezeichnete. Derselґbe
läßt sich zurückführen auf die bei verschiedenen Menschen sehr
verschiedene Empfänglichkeit für angeґnehme und unangenehme Eindrücke,
infolge welcher der eine noch lacht bei dem, was den anderen fast zur
Verzweiflung bringt, und zwar pflegt die Empfänglichkeit für angenehme
Eindrücke desto schwächer zu sein, je stärker sie für unangenehme ist, und
umgekehrt. Nach gleicher Möglichkeit des glücklichen und unglückґlichen
Ausgangs einer Angelegenheit wird der
δύσχολος bei dem unglücklichen sich
ärgern oder grämen, bei dem glücklichen sich aber nicht freuen; der
̉έυχολος hingegen wird über den
glücklichen sich freuen. Wenn dem
δύσχολος von zehn Vorhaben neun
gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das
eine mißlungene: der ̉έυχολος
weiß, im umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu
trösten und aufґzuheitern.
Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle Kompensaґtionen ist, so
ergibt sich auch hier, daß die
δύσχολοι, also die finsteren und
ängstlichen Charaktere, im ganzen zwar imaginäre, dafür aber weniger reale
Unfälle und Leiden zu überstehen haben werden als die heiteren und
sorglosen; denn wer alles schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und
demnach seine Vorkehrunґgen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben,
als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht."
"Was darf ich Ihnen verkaufen?" fragte ein ältliches Fräulein.
"Haben Sie baumwollene Socken?" fragte Fabian.
Das ältliche Fräulein betrachtete ihn entrüstet und sagte: "Im
Erdgeschoß." Fabian legte das Buch auf den Tisch und stieg eine Treppe
abwärts. Hatte Schopenhauer damit recht, daß er, gerade er, jene zwei
menschlichen Gattunґgen als einander ebenbürtig gegenüberstellte? Hatte
nicht gerade er in seiner Psychologie behauptet: die Lustempfindung sei
nichts anderes als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in diesem Satz
die Anschauung der δύσχολοι wider
besseres Wissen verabsolutiert? In der Abteilung für Porzellan und
keramisches Kunstgewerbe war ein Auflauf. Fabian trat hinzu. Käufer,
Verkäuferinґnen und Bummler umstanden ein kleines verheultes Mädґchen, das