scheine, wie die unzweideutige Situation eindeutig beweise, eher an mir als
an ihr zu liegen. Sie gab zu, daß es schwer sei, die Strecke zwischen
Hamburg und Berlin seelisch zu überbrücken. Und in sexueller Beziehung gebe
es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich nicht da, und wenn ich da
sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erledigt werden, ob man Hunger hat
oder nicht. Aber wenn wir erst verheiratet wären, würde das anders. Ich
solle übrigens nicht böse sein. Sie habe vor mehreren Wochen einen
ärztlichen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als meine Frau
zur Welt bringen, nicht vorher. Mitgeteilt habe sie mir diesen kleinen
Unfall nicht, um mich nicht zu ängstigen. Sie sei aber wieder auf dem
Posten, und ich solle mich endlich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht.
"Von wem war das wieder rückgängig gemachte Kind?" fragte ich. Sie
setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht.
"Und wer war der Mann, der heute nacht bei dir schlief ?" fragte ich
weiter.
"Du siehst Gespenster", sagte sie. "Du bist eifersüchtig, es ist
geradezu albern."
Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging fort. Sie lief hinter mir her,
die Treppe hinunter, bis vor die Tür. Dort stand sie, nackt, im wehenden
Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und rief, ich solle bleiben. Aber ich
rannte davon und fuhr zur Bahn."
Fabian trat hinter Labude und legte die Hände auf die Schultern des
Freundes. "Warum hast du mir das nicht schon gestern erzählt?"
"Na, ich komme schon darüber weg", sagte Labude.
"Mich so zu belügen."
"Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?"
"Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir ist, als sei ich schwer
krank gewesen!"
"Du bist noch krank", meinte Fabian. "Du hast sie noch lieb."
"Das ist wahr", sagte Labude. "Aber ich bin schon mit ganz anderen
Kerlen fertig geworden als mit mir."
"Wenn sie dir nun schreibt?"
"Der Fall ist erledigt. Ich habe fünf Jahre damit zugebracht, unter
einer falschen Voraussetzung zu leben, das reicht. Das Schlimmste habe ich
dir noch nicht gesagt. Sie liebt mich nicht, und sie hat mich noch nie lieb
gehabt! Erst jetzt, nach dem Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung
auf. Erst als sie neben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die
vergangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Akten!" Labude
schob den Freund zur Tür. "Jetzt gehen wir. Ruth Reiter hat uns eingeladen.
Komm, ich habe verschiedenes nachzuholen."
"Wer ist Ruth Reiter?"
"Ich lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bildhauert, wenn
man ihr glauben darf." "Modellstehen wollte ich schon immer mal", sagte
Fabian und zog den Mantel an.


NEUNTES KAPITEL

Sonderbare junge Mädchen
Ein Todeskandidat wird lebendig
Das Lokal heißt "Cousine"

"Endlich ein paar Männer!" rief die Reiter. "Macht's euch bequem. Die
Kulp hat gerade gestöhnt, so ginge das nicht weiter. Sie hat zwei Tage
keinen Mann gehabt, und der letzte war auch bloß ein Verkehrsunfall.
Sie ist Modezeichnerin, und der Kerl hätte ihr, ohne die kleine
Gegenleistung, keinen Auftrag gegeben. Ein beinahe impotenter Lebegreis
war's, sagte sie."
"Das sind die Schlimmsten", meinte Labude. "Sie probieren
ununterbrochen, um nachzusehen, ob sich der Schaґden inzwischen behoben
hat." Er blickte sich nach dem Mädchen um, das Kulp hieß.
Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf einer Chaiselongue und winkte
ihm.
l.abude setzte sich neben die Kulp. Fabian wartete unschlüssig. Das
Atelier war groß. In der Mitte des Raumes, unter der Lampe, vor einer
Reihe von Skulpturen, stand ein holzgezimmerter Tisch, und auf dem Tisch
saß eine nackte, dunkelhaarige Frau. Die Reiter kauerte auf einem
Schemel, nahm den Skizzenblock und zeichnete. "Abendakt", erläuterte sie,
ohne sich umzudrehen. "Heißt Selow. Neue Position, mein Schatz!
Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen. So, Hände im Nacken
verґschränken. Halt!" Die nackte Frau, die Selow hieß, hatte sich
aufgerichtet und stand nun breitbeinig auf dem Tisch. Sie war vorzüglich
gebaut und blickte gleichgültig, aus schwermütigen Augen, vor sich hin.
"Baron, was zu trinken, mich friert", sagte sie plötzlich.
"Wahrhaftig, Fräulein Selow hat überall Gänsehaut", pflichtete Fabian
bei. Er war nähergetreten und stand vor dem Modell wie ein Kunstkenner vor
einer weiblichen Bronze.
"Berühren verboten!" Die Stimme der Bildhauerin klang äußerst
unfreundlich.
Fräulein Kulp, die sich in Labudes Armen wie in warmem Badewasser
dehnte, rief Fabian zu: "Hand von der Butter. Der Baron ist eifersüchtig.
Sie hat mit dem Abendakt ein gutgehendes Verhältnis."
"Halt den Rand!" knurrte die Reiter. "Labude, wenn Sie mit der Kulp
etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten, genieren Sie sich nicht. Ich habe
nur diesen Raum, aber der ist an Kummer gewöhnt."
Labude äußerte, er habe moralische Bedenken.
"Was es so alles gibt", meinte die Kulp traurig. Die Reiter blickte
vorübergehend von ihrem Block hoch und sah Fabian an. "Falls Sie sich an der
Kulp beteiligen wollen, halten Sie sich ran! Ihr braucht weiter nichts dazu
als einen Groschen. Labude wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den
Groschen hoch, das regt ihr Sonnengeflecht an. Wer oben liegt, hat den
Vortritt."
"Welche tiefe Wahrheit!" rief die Kulp. "Aber einen Groschen? Du
verdirbst die Preise!"
Fabian sagte höflich, er sei kein Freund von Glücksspielen. Die nackte
Frau stampfte mit dem Fuß auf: "Was zu trinken!"
"Battenberg, neben deinem Lehnstuhl steht ein Tischchen, und auf dem
Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber."
"Gern", sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es. Dann trat ein
fremdes Mädchen in den Lichtkreis der Lampe und reichte dem Abendakt ein
gefülltes Glas. Fabian war überrascht. "Wie viele weibliche Wesen sind
eigentlich hier?" fragte er.
"Ich bin das einzige", erklärte Fräulein Battenberg und lachte. Fabian
sah ihr ins Gesicht und fand, sie passe nicht in das Milieu. Sie spazierte
wieder hinter die Plastiken. Er folgte ihr. Sie setzte sich in den
Lehnstuhl. Er stellte sich neben eine Diana aus Gips, legte den Arm um die
Hüfte der trainierten Göttin und schaute durch das Atelierfenster auf die
Bogen und Veduten der Jugendstilgiebel. Man hörte den Baron kommandieren.
"Letzte Position, mein Schatz, Rumpfbeuge vorwärts, Knie einknicken,
Gesäß heraus, Hände auf die Knie, gut, halt!" Und aus der vorderen
Hälfte des Ateliers klangen kleine, zugespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt
vorübergehend an Atemnot. "Wie kommen Sie eigentlich in diesen Saustall?"
fragte Fabian.
"Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen in die
gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der Straße. Und
weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken
ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt."
"Das freut mich", sagte er. "Ich bin kein ausgesprochener
Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß,
daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt." Sie sah ihn ernst an. "Ich bin
kein Engel, mein Herr. Unsere Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir
anfangen? Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir
trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm. "Da bin ich",
sagen wir freundlich lächelnd. "Ja", sagt er, "da bist du", und kratzt sich
hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten
Herzens schenken wir ihm, was wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind
ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein
wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Männern wurde
ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm, den man absichtlich
irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?"
"Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sorgen. Und die
Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die
Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns.
Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer
Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er
einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus
Verantwortungsґgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu
versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen,
daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine
Antinomie, die es früher nicht gab."
Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein Fenster
erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau
saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand
davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß
den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände
vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch,
ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil.
Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im
Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus
beobachtet und sah ihn traurig an.
"Schon wieder ein verhinderter Engel", meinte er.
"Der zweite Mann, den ich liebte und damit belästigte", sagte sie
leise, "ging eines schönen Abends aus der Wohnung, um einen Brief in den
Kasten zu werfen. Er ging die Treppe hinunter und kam nicht wieder." Sie
schüttelte den Kopf, als verstehe sie das Erlebnis noch immer nicht. "Ich
wartete drei Monate darauf, daß er vom Briefkasten zurückkehre.
Komisch, nein? Dann schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit vielen
herzlichen Grüßen. Meine Mutter sagte: "Du bist eine Dirne!", und als
ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten Mann mit achtzehn Jahren und
das erste Kind mit neunzehn Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: "Das war
etwas ganz anderes!" Freilich, das war etwas ganz anderes."
"Warum sind Sie nach Berlin gekommen?"
"Früher verschenkte man sich und wurde wie ein Geschenk bewahrt. Heute
wird man bezahlt und eines Tages, wie jede bezahlte und benutzte Ware,
weggetan. Bezahlung ist billiger, denkt der Mann."
"Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware. Heute ist das
Geschenk eine Ware, die null Mark kostet. Diese Billigkeit macht den Käufer
mißtrauisch. Sicher ein faules Geschäft, denkt er. Und meist hat er
recht. Denn später präsentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich soll er
den moralischen Preis des Geschenks rückvergüten. In seelischer Valuta. Als
Lebensrente zu zahlen."
"Genauso ist es", sagte sie. "Genauso denken die Männer. Aber warum
nennen Sie dann dieses Atelier einen Saustall? Hier sind doch die Frauen so
ähnlich, wie ihr sie haben wollt! Oder etwa nicht? Ich weiß, was euch
zu eurem Glück noch fehlt. Wir sollen zwar kommen und gehen, wann ihr es
wollt. Aber wir sollen weinen, wenn ihr uns fortschickt. Und wir sollen
selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber
die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem berechtigt und zu nichts
verpflichtet, wir zu allem verpflichtet und zu nichts berechtigt, so sieht
euer Paradies aus. Doch das geht zu weit!" Fräulein Battenberg putzte sich
die Nase. Dann fuhr sie fort: "Wenn wir euch nicht behalten dürfen, wollen
wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns kaufen wollt, dann sollt ihr teuer
dafür bezahlen." Sie schwieg. Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht.
"Sie sind deswegen nach Berlin gekommen?" fragte Fabian.
Sie weinte geräuschlos.
Er trat neben sie und streichelte ihre Schulter. "Sie verstehen auch
nichts von Geschäften", sagte er und blickte zwischen zwei Gipsfiguren in
den anderen Teil des Ateliers. Der Abendakt saß auf dem Tisch und
trank Gin. Die Bildhauerin beugte sich über die nackte Frau und küßte
sie auf den wenig gewölbten Bauch und auf die Brust. Die Selow trank
inzwischen das Glas leer und strich der Freundin gleichgültig über den
Rücken. Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die
andere tat. Und im Hintergrund, auf der Chaiselongue, lagen die Kulp und
Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt.
Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und ging
mit schweren Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümpfe an. Ein riesiger
Mann kam durch die Tür. Er atmete keuchend, hatte ein Holzbein und ging an
einem Stock.
"Ist die Kulp da?" fragte er. Die Reiter nickte. Er zog ein paar
Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhauerin und sagte: "Ihr anderen
solltet eine Stunde fortgehen. Die Selow kannst du mir eventuell noch
dalassen." Er sank auf einen Stuhl und lachte schwerfällig. "Nein, nein,
Baron, es war nur Spaß."
Die Kulp kroch von der Chaiselongue, strich sich das Kleid glatt und
gab dem Mann die Hand. "Tag, Wilhelmy, noch immer nicht tot?"
Wilhelmy wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte
den Kopf.
"Lange kann's aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld früher zu Ende
als ich." Er gab ihr ein paar Geldscheine. "Selow!" rief er, "sauf den Gin
nicht aus! Und zieh dich schneller an."
"Geht in die "Cousine". Ich komme nach", sagte die Kulp. Dann rüttelte
sie Labude munter. "Mein Lieber, du wirst rausgeschmissen. Hier ist einer,
dem die Ärzte erzählt haben, daß er noch in diesem Monat stirbt. Er
lauert auf den Tod wie unsereins auf die Periode. Ich helf ihm bloß
ein Viertelstündchen warten. Später treff ich euch wieder." Labude stand
auf. Die Reiter holte ihren Mantel. Fabian kam mit Fräulein Battenberg
hinter den Plastiken vor. Die Selow war mit Anziehen fertig. Sie gingen. Der
Todeskandidat und die Kulp blieben zurück.
"Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr wie beim letzten Mal", sagte
die Bildhauerin auf der Treppe. "Es bringt ihn auf, daß andere länger
leben dürfen als er."
"Die hat nichts dagegen, die liebt die Keile", meinte die Selow. "Und
außerdem, von ihrer Zeichnerei kann sie nicht leben und nicht
sterben."
"Feine Berufe haben wir!" Die Reiter lachte wütend.
Die "Cousine" war ein Klublokal, in dem vorwiegend Frauen verkehrten.
Sie tanzten miteinander. Sie saßen Arm in Arm auf kleinen grünen
Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen. Sie tranken Schnaps, und manche
trugen Smokingjacken und hochgeschlossene Blusen, um den Männern recht
ähnlich zu sein. Die Inhaberin hieß wie ihr Lokal, rauchte schwarze
Zigarren und vermittelte Bekanntschaften. Sie ging von Tisch zu Tisch,
begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und soff wie ein Budiker.
Labude schien sich vor Fabian und vor sich selber zu schämen. Er tanzte mit
dem Abendakt, setzte sich dann mit der Frau an die Theke und drehte dem
Freund den Rücken.
Ruth Reiter war eifersüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte ganz
selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken. Später schob
sie an einen anderen Tisch und unterhielt sich dort mit einer älteren Dame,
die schrecklich geschminkt war und, wenn sie lachte, derartig gackerte,
daß man dachte: Gleich legt sie ein Ei.
"Ich kann unser Gespräch noch nicht vergessen", sagte Fabian zu
Fräulein Battenberg. "Halten Sie wirklich alle Frauen, die hier versammelt
sind, für gebürtige Abnormitäten? Die Blondine da drüben war jahrelang die
Freundin eines Schauspielers, bis er sie ruckartig an die Luft setzte. Dann
ging sie ins Büro und schlief mit dem Prokuristen. Sie kriegte ein Kind und
verlor den Prozeß. Der Prokurist leugnete die Vaterschaft. Das Kind
wurde aufs Land gegeben. Die Blondine bekam eine neue Stellung. Aber sie
hat, vielleicht für immer, mindestens vorübergehend, von den Männern genug,
und mancher, die außer ihr hier sitzt, erging es ähnlich. Die eine
findet keinen Mann, die andere zu viele, die dritte hat panische Angst vor
den Folgen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse sind. Die
Selow, die mit meinem Freunde zusammenhockt, gehört auch zu dieser Sorte.
Sie ist nur lesbisch, weil sie mit dem anderen Geschlecht schmollt."
"Wollen Sie mich nach Hause bringen?" fragte Fräulein Battenberg.
"Es gefällt Ihnen hier nicht?"
Sie schüttelte den Kopf.
Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem Tisch, an dem
die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffnete den Mund. Sie schrie
nicht, sie sprach nichts. Sie brach zusammen. Die Frauen drängten sich
neugierig um die Ohnmächtige. Die Cousine brachte Whisky. "Der Wilhelmy hat
sie wieder geschlagen", sagte die Reiter.
"Ein Hoch auf die Männer!" schrie ein Mädchen und lachte hysterisch.
"Holt den Doktor aus dem Hinterzimmer!" rief die Cousine. Man rannte
durcheinander. Der Klavierspieler, der ebenso witzig wie betrunken war,
intonierte den Trauermarsch von Chopin.
"Das soll der Doktor sein?" fragte Fräulein Battenberg. Durch die
Seitentür trat eine große, hagere Dame im Abendkleid, das Gesicht
glich einem weißgepuderten Totenkopf.
"Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann", sagte Fabian. "Er war
sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmisse unterm Puder? Jetzt ist er
Morphinist und hat polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Er lebt
davon, daß er Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden sie ihn
erwischen, dann vergiftet er sich." Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der
Doktor im Abendkleid folgte. Der Klavierspieler begann einen Tango. Die
Bildhauerin holte den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin eng an
sich und sprach heftig auf sie ein. Die Selow war völlig betrunken, hörte
kaum zu und schloß die Augen. Plötzlich riß sie sich los,
überquerte schwankend das Parkett, schlug den Klavierdeckel zu, daß
das Instrument jammerte, und brüllte: "Nein!"
Es wurde totenstill. Die Bildhauerin stand allein auf der Tanzfläche
und hatte die Hände ineinandergekrampft.
"Nein!" brüllte die Selow noch einmal. "Ich habe genug davon! Bis
dahin! Ich will einen Mann haben! Einen Mann will ich haben! Steig mir doch
den Buckel runter, du geile Ziege!" Sie zerrte Labude von seinem Hocker, gab
ihm einen Kuß, hieb sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann,
kaum daß er den Mantel mitnehmen konnte, zur Tür. "Es lebe der kleine
Unterschied!" schrie sie. Dann waren die beiden verґschwunden.
"Es ist wirklich besser, wenn wir gehen." Fabian erhob sich, legte Geld
auf den Tisch und half der Battenberg beim Anziehen. Als sie gingen, stand
Ruth Reiter, auch der Baron genannt, noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand
wagte es, sich ihr zu nähern.


ZEHNTES KAPITEL

Topographie der Unmoral
Die Liebe höret nimmer auf!
Es lebe der kleine Unterschied!

"Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?" fragte sie auf der Straße.
"Sie kennen ihn doch gar nicht!" Er ärgerte sich über ihre Frage und
ärgerte sich über seine Antwort. Sie gingen schweigend nebeneinander. Nach
einer Weile sagte er: "Labude hat Pech gehabt. Er ist nach Hamburg gefahren
und hat zugesehen, wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt. Er organisiert
gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die fünfte
Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun stellt sich über Nacht heraus,
es war alles falsch. Er will das rasch vergessen und versucht es zunächst
auf horizontale Art."
Sie blieben vor einem Geschäft stehen. Der Laden war trotz der
nächtlichen Stunde hell erleuchtet, und die Kleider und Blusen und
Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern wie auf einer kleinen, von der
Sonne beschienenen Insel.
"Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" fragte jemand neben ihnen.
Fräulein Battenberg erschrak und faßte den Arm ihres Begleiters.
"Zehn nach zwölf", sagte Fabian.
"Danke schön. Da muß ich mich beeilen." Der junge Mann, der sie
angesprochen hatte, bückte sich und nestelte umständlich an einem
Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf und fragte verlegen lächelnd:
"Haben Sie zufällig fünfzig Pfennige, die Sie entbehren könnten?" "Zufällig
ja", antwortete Fabian und gab ihm ein Zweimarkstück.
"Oh, das ist schön. Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Da brauche ich
nicht bei der Heilsarmee zu übernachten." Der Fremde zuckte entschuldigend
die Achseln, lüftete den Hut und lief hastig davon.
"Ein gebildeter Mensch", meinte Fräulein Battenberg.
"Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte."
Sie setzten ihren Weg fort. Fabian wußte nicht, wo das Mädchen
wohnte. Er ließ sich führen, obwohl er die Gegend besser kannte als
sie. "Das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist das", sagte er, "Labude
hat, allerdings fünf Jahre zu spät, bemerkt, daß ihn Leda, eben jene
Frau aus Hamburg, niemals lieb hatte. Sie hat ihn nicht betrogen, weil er zu
selten bei ihr war. Sie betrog ihn, weil sie ihn nicht liebte. Er stand ihr
nur individuell nahe, er war nicht ihr Typus. Es gibt auch den umgekehrten
Fall. Man kann jemanden mögen, weil er den rechten Typus verkörpert, aber
man kann seine Individualität nicht leiden."
"Und daß jemand in jeder Beziehung der Richtige ist, kommt das
nicht vor?"
"Man soll nicht gleich das Äußerste hoffen", erwiderte Fabian.
"Und was führt Sie, außer Ihrem kriegerischen Vorsatz, nach Sodom und
Gomorrha?"
"Ich bin Referendar", erklärte sie. "Meine Dissertation betraf eine
Frage zum internationalen Filmrecht, und eine große Berliner
Filmgesellschaft will mich in ihrer Vertragsabteilung volontieren lassen.
Hundertfünfzig Mark im Monat."
"Werden Sie doch Filmschauspielerin!"
"Wenn es sein muß, auch das", sagte sie entschlossen. Und beide
lachten. Sie gingen durch die Geisbergstraße. Nur selten durchquerte
ein Auto die Nachtruhe. In den Vorgärten dufteten Blumenbeete. In einer
Haustür streichelte sich ein Liebespaar.
"Sogar der Mond scheint in dieser Stadt", bemerkte die Kennerin des
internationalen Filmrechts. Fabian drückte ihren Arm ein wenig. "Ist es
nicht fast wie zu Hause?" fragte er. "Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein
und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im Torbogen
sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein Café, in dem Chinesen
mit Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo
parfümierte homosexuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten
Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekanntgeben, und zum
Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte Greisin, die dafür
mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen,
daneben liegt ein Restaurant, wo russische und ungarische Juden einander
anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt
es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gymnasiastinnen
verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen
Skandal, der nur schlecht vertuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem
Zimmer, das er zu Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte,
ein sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider
seineTochter, und das hatte er nicht erwartet... Soweit diese riesige Stadt
aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner
gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im
Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in
allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang."
"Und was kommt nach dem Untergang?"
Fabian pflückte einen kleinen Zweig, der über ein Gitter hing, und gab
zur Antwort: "Ich fürchte, die Dummheit."
"In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen",
sagte das Mädchen. "Aber was soll man tun?"
"Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir
kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre
nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen
die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte
auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen.
Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf Wunder. Liebes Fräulein, ich
kenne Sie noch nicht. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich
Ihnen für den Umgang mit Menschen eine Arbeitshypothese anvertrauen, die
sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht richtig zu sein
braucht. Aber sie führt in der Praxis zu verwendbaren Ergebnissen."
"Und wie lautet Ihre Hypothese?"
"Man halte hier jeden Menschen, mit Ausnahme der Kinder und Greise,
bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich bewiesen ist, für verrückt. Richten
Sie sich danach, Sie werden bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann."
"Soll ich bei Ihnen damit beginnen?" fragte sie.
"Ich bitte darum", meinte er.
Sie schwiegen und überquerten den Nürnberger Platz. Ein Auto bremste
dicht vor ihnen. Das Mädchen zitterte. Sie gingen in die
Schaperstraße. In einem verwahrlosten Garten schrien Katzen. An den
Rändern der Fußsteige standen Alleebäume, bedeckten den Weg mit
Dunkelheit und verbargen den Himmel. "Ich bin angelangt", sagte sie und
machte vor dem Hause Nummer 17 halt. In dem Hause, in dem auch Fabian
wohnte! Er verbarg seine Verwunderung und fragte, ob er sie wiedersehen
dürfe.
"Wollen Sie es wirklich?"
"Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen." Sie nickte und
legte einen Augenblick lang den Kopf an seine Schulter. "Diese Stadt ist
groß", flüsterte sie und schwieg unschlüssig. "Werden Sie mich falsch
verstehen, wenn ich Sie bitte, für eine halbe Stunde zu mir hinaufzukommen?
Das Zimmer ist mir noch so fremd. Kein Wort klingt nach und keine
Erinnerung, denn ich habe darin noch mit niemandem gesprochen, und nichts
ist da, woran es mich erinnern könnte. Und vor den Fenstern schwanken des
Nachts schwarze Bäume."
Fabian sagte lauter, als er wollte: "Ich komme gern mit.
Schließen Sie nur auf." Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und
drehte um. Doch ehe sie die Tür aufschob, wandte sie sich noch einmal zu
ihm. "Ich bin sehr in Sorge, daß Sie mich mißverstehen." Er
drückte die Tür auf und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Dann ärgerte
er sich, daß er sich dadurch verraten haben könnte. Aber sie wurde
nicht stutzig, schloß hinter ihm ab und ging voraus. Er folgte und
amüsierte sich über die Heimlichkeit, mit der er heute dieses Haus betrat.
In welcher Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür seiner
Wirtin, vor der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öffnete. Im Flur brannte
Licht. Zwei junge Mädchen in rosa Hemdhöschen spielten mit einem grünen
Luftballon Fußball. Sie erschraken und begannen vor Schreck zu
kichern. Fräulein Battenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und
Herr Dröger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama.
"Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß", brummte Fabian.
Herr Dröger grinste, trieb die Mädchen in sein Serail und riegelte ab.
Fabian legte die Hand versehentlich auf die Klinke zu seinem eigenen Zimmer.
"Um Gottes willen", flüsterte Fräulein Battenberg. "Da wohnt jemand
anderes."
"Pardon", sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor in den letzten
Raum. Er legte Hut und Mantel aufs Sofa, sie hängte ihren Mantel in den
Schrank. "Eine fürchterliche Bude", sagte sie lächelnd. "Und achtzig Mark im
Monat."
"Ich zahle genausoviel", tröstete er. Nebenan wurde gelärmt.
Die Sprungfedern knirschten unwillig. "Die Nachbarschaft habe ich
gratis", meinte sie.
"Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Eintritt."
"Ach, ich bin so froh", sie rieb sich die Hände wie vor einem Kamin.
"Wenn ich allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häßlicher. Ich bin
Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die schaurigen Bäume anschauen?"
Sie traten ans Fenster. "Heute sind sogar die Bäume freundlicher",
stellte sie fest. Dann sah sie ihn an und murmelte: "Das macht, weil ich
sonst allein bin." Er zog sie behutsam an sich und gab ihr einen Kuß.
Sie küßte ihn wieder. "Nun wirst du denken, daß ich dich deshalb
bat, mitzukommen."
"Freilich denke ich das", gab er zur Antwort. "Aber du wußtest es
selber noch nicht."
Sie rieb ihre Wange an der seinen und blickte durchs Fenster. "Wie
heißt du eigentlich?" fragte er.
"Cornelia."
Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte er ehrlich bekümmert,
während er ihr mit den Händen übers Gesicht strich und dabei die Augen
schloß, um das Gepräge des Gesichts zu spüren: "Weißt du noch,
daß wir heute abend einmal in einem Atelier saßen, hinter
Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest, wie du die Männer für ihren
Egoismus bestrafen willst?"
Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine Hände. Dann holte sie tief
Atem und antwortete: "An dem Vorsatz hat sich nichts geändert, wirklich
nicht. Aber mit dir mach ich eine Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich
liebhabe."
Er setzte sich hoch. Aber sie zog ihn wieder zu sich herab. "Vorhin,
als wir uns umarmten, hab ich geweint", flüsterte sie. Und als sie sich
dessen erinnerte, traten ihr von neuem Tränen in die Augen, aber sie
lächelte unter diesen Tränen, und er war seit langem wieder einmal beinahe
glücklich. "Ich habe geweint, weil ich dich liebhabe. Aber daß ich
dich liebhabe, das ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du
sollst kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst, will ich mich
freuen, und wenn du gehst, will ich nicht traurig sein. Das verspreche ich
dir." Sie drängte sich an ihn und preßte ihren Körper an den seinen,
daß beiden der Atem verging.
"So", rief sie, "und jetzt hab ich Hunger!"
Er zog ein so verdutztes Gesicht, daß sie lachte.
Sie erklärte ihm die Sache. "Das ist so: wenn ich wen liebhabe, ich
meine, wenn mich jemand liebgehabt hat - aber du verstehst mich schon, ja?
-, dann habe ich hinterher immer fürchterlichen Hunger. Der Hunger hat nur
einen Haken. Ich habe nichts zu essen da. Ich konnte ja nicht wissen,
daß ich in dieser fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme."
Sie lag auf dem Rücken und lächelte die Zimmerdecke an, die Engelsköpfe aus
Stuck inbegriffen.
Fabian stand auf und meinte: "Da müssen wir eben einbrechen." Dann hob
er sie aus dem Bett, öffnete die Tür und zog die widerstrebende Cornelia in
den Korridor. Sie sträubte sich, aber er faßte sie unter, und sie
spazierten, Adam und Eva zum Verwechseln ähnlich, den Flur entlang, bis vor
Fabians Tür.
"Das ist ja entsetzlich", jammerte sie und wollte entfliehen. Aber er
drückte die Klinke nieder und transportierte das Mädchen in sein Zimmer. Sie
klapperte kläglich mit den Zähnen. Er machte Licht, verbeugte sich und
äußerte feierlich: "Herr Doktor Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor
Battenberg in seinen Gemächern willkommen zu heißen." Dann warf er
sich auf sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen.
"Nein!" sagte sie hinter ihm. "Das ist nicht möglich." Aber dann
glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen.
Er stand auf und sah ihr zu. "Du darfst dir nicht so laut hintendrauf
klatschen", erklärte er würdevoll.
"Das ist beim Schuhplattler nicht anders", meinte sie und tanzte
weiter, so echt und so laut es ging. Dann schritt sie gemessen zum Tisch,
setzte sich auf einen Stuhl, tat dabei, als ob sie ihr Kleid glattstriche,
obwohl sie, augenfällig genug, nichts Derartiges anhatte, und sagte: "Bitte,
die Speisekarte."
Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und Wurst und Keks herbei und
markierte, während sie aß, den aufmerksamen Oberkellner. Später
stöberte sie auf seinem Bücherbrett herum, klemmte sich Lektüre unter den
Arm, bot ihm den linken und befahl majestätisch: "Bringen Sie mich
unverzüglich in mein Appartement zurück."
Bevor sie das Licht auslöschten, verabredeten sie noch, daß sie
ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich dafür, daß sie
ihn, bis er munter sei, am Ohr zupfen werde. Abends wollten sie sich dann
wieder in der Wohnung treffen. Wer zuerst da wäre, würde neben seine
Türklinke ein Bleistiftkreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld
nach Möglichkeit nichts merken zu lassen.
Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie bettete sich neben ihn und
sagte: "Komm!" Er streichelte ihren Körper. Sie nahm seinen Kopf in ihre
Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und flüsterte: "Komm! Was rief die
Selow? Es lebe der kleine Unterschied!"


ELFTES KAPITEL

Die Überraschung in der Fabrik
Der Kreuzberg und ein Sonderling
Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit

Am anderen Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor Bürobeginn an
der Arbeit. Er pfiff vor sich hin und überflog die Notizen zu dem
Preisausschreiben, das die Direktion von ihm erwartete.
Die Fabrik sollte dem Einzelhandel hunderttausend sehr billige
Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln sollten numeriert sein und
Zigaretten sechs verschieґdener Sorten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten.
Die Käuferschaft sollte erraten, wieviel Zigaretten der sechs bekannten
Marken der Firma in der Packung enthalten wären. Wer eine billige Schachtel
erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen der Preise gewinnen
wollte, notgedrungen je eine der sechs Spezialpackungen kaufen, die seit
langem im Handel waren, also sechs Packungen außer der billigen
Sonderschachtel. Wenn sich hunderttausend Interessenten fanden, konnten
automatisch sechshunderttausend andere Packungen, insgesamt
siebenhunderttausend Schachteln, umgesetzt werden. Dazu kam die allgemeine
Absatzsteigerung, die einem geschickt propagierten Kundenfang zu folgen
pflegt. Fabian begann eine Kalkulation aufzustellen.
Da erschien Fischer, rief: "Nanu?" und blickte dem Kollegen neugierig
über die Schulter.
"Der Entwurf fürs Preisausschreiben", sagte Fabian. Fischer zog das
graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug, und fragte: "Darf ich Ihnen
nachher mal meine Zweizeiler zeigen?"
"Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik."
Da klopfte es. Der Hausbote Schneidereit, ein ältliches, wackliges
Faktotum, auch "der Erfinder des Plattfußes" geheißen, schob
sich ins Zimmer. Er legte mürrisch einen großen gelben Brief auf
Fabians Schreibtisch und entfernte sich wieder. Der Brief enthielt Fabians
Papiere, eine Anweisung an die Hauptkasse und ein kurzes Schreiben mit
diesem Inhalt:
"Sehr geehrter Herr, die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen unter
dem heutigen Tage die Kündigung auszusprechen. Das am Monatsende zahlbare
Gehalt wird Ihnen schon heute an der Kasse ausgefolgt werden. Wir haben uns
erlaubt, aus freien Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen
auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagandistische
Tätigkeit besonders qualifiziert erscheinen. Die Kündigung ist eine
bedauerliche Folge der vom Aufsichtsrat beschlossenen Senkung des
Reklamebudgets. Wir danken Ihnen für die dem Unternehmen geleistete Arbeit
und wünschen Ihnen für Ihr weiteres Fortkommen das Beste." Unterschrift.
Aus.
Fabian saß minutenlang, ohne sich zu rühren. Dann stand er auf,
zog sich an, steckte den Brief in den Mantel und sagte zu Fischer: "Auf
Wiedersehen. Lassen Sie sich's gutgehen."
"Wo wollen Sie denn hin?"
"Man hat mir eben gekündigt."
Fischer sprang auf. Er war grün im Gesicht. "Was Sie nicht sagen!
Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!"
"Ihr Gehalt ist kleiner", meinte Fabian. "Sie dürfen bleiben."
Fischer trat auf den gekündigten Kollegen zu und drückte ihm mit
feuchter Hand sein Bedauern aus. "Na, zum Glück läßt Sie die Sache
kalt. Sie sind ein patenter Kerl, und zweitens haben Sie keine Frau am
Hals."
Plötzlich stand Direktor Breitkopf im Zimmer, zögerte, als er sah,
daß Fischer nicht allein war, und wünschte schließlich einen
guten Morgen.
"Guten Morgen, Herr Direktor", grüßte Fischer und verbeugte sich
zweimal. Fabian tat, als sehe er Breitkopf nicht, wandte sich dem Kollegen
zu und sagte: "Auf dem Schreibtisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich
vermache es Ihnen." Damit verließ Fabian seine Wirkungsґstätte und
holte sich an der Kasse zweihundertsiebzig Mark. Bevor er auf die
Straße trat, blieb er minutenlang im Tor stehen. Lastautos ratterten
vorbei. Ein Depeschenbote sprang vom Rad und eilte ins gegenüberliegende
Geґbäude. Das Nebenhaus war von einem Gerüst vergittert. Maurer standen auf
den Laufbrettern und verputzten den grauen, bröckeligen Bewurf. Eine Reihe
bunter Möbelwagen bog schwerfällig in die Seitenstraße. Der
Depeґschenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr weiter. Fabian
stand im Torbogen, griff in die Tasche, ob das Geld noch drin sei, und
dachte: "Was wird mit mir?" Dann ging er, da er nicht arbeiten durfte,
spazieren.
Er lief kreuz und quer durch die Stadt, trank gegen Mittag, Hunger
hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und setzte sich von neuem in
Bewegung, obwohl er sich lieber traurig in den tiefen Wald verkrochen hätte.
Aber wo war hier ein tiefer Wald? Er lief und lief und rannte sich den
Kummer in den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte
er das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student gelebt hatte.
Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der
verlegen abwartet, ob man ihn grüßen wird oder nicht. Fabian stieg die
Treppe hinauf und sah nach, ob die alte Geheimratswitwe noch immer hier
wohnte. Aber da war ein fremdes Schild an der Tür. Er kehrte um. Die alte
Dame war ganz weißhaarig und sehr schön gewesen. Er entsann sich des
regelmäßigen dummen Greisinnengeґsichts. Im Inflationswinter hatte er
kein Geld zum Heizen gehabt. Er hatte, im Mantel vergraben, dort oben
gehockt und an einem Vortrag über Schillers moralästhetisches System
gearbeitet. Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum Mittagessen
eingeladen und über die familiären Vorgänge in ihrem umfangreichen
Bekanntenґkreis aufgeklärt worden. Vorher, damals und heute, er war stets
ein armes Luder gewesen, und er hatte große Aussichten, eines zu
bleiben. Seine Armut war schon eine schlechte Angewohnheit, wie bei anderen
das Krummsitґzen oder das Nägelkauen.

Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht: Vielleicht
sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so
rasch Früchte trug; vielleicht sollte man sich doch ein wenig ernster nehmen
und in dem wackligen Weltgebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine
lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das Leben
zu lieben und kein seriöses Verhältnis mit ihm zu haben. Cornelia, der
weibliche Referendar, hatte danebengelegen und ihm noch im Schlaf die Hand
gedrückt. Mitten in der Nacht, hatte sie ihm am Morgen berichtet, sei sie
zusammengefahren und erwacht. Denn er habe sich im Bett aufgesetzt und
energisch erklärt: "Ich werde die Annoncen leuchten lassen!" Dann sei er
wieder zurückgesunken.
Er stieg langsam auf das Plateau des Kreuzberges und setzte sich auf
eine Bank, die der Pflege des Publikums empfohlen war. Auf einem Schild
stand: "Bürger, schont eure Anlagen!" Der Magistrat hatte den
außerordentlich zweideutigen Satz unterschrieben, der Magistrat
mußte es wissen. Fabian betrachtete den riesigen Stamm eines Baumes.
Die Rinde war von tausend senkrechten Falten zerpflückt. Sogar die Bäume
hatten Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank vorbei. Der eine, der
die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, fragte gerade empört: "Soll man
sich das gefallen lassen?" Der andere ließ sich mit der Antwort Zeit:
"Gegen die Bande kannst du gar nichts machen", meinte er schließlich.
Was sie weiter sprachen, war nicht mehr zu hören.
Von der anderen Seite des Platzes näherte sich eine merkwürdige
Gestalt: ein alter Herr, mit einem weißen Knebelbart und mit einem
schlechtgerollten Schirm. Statt eines Mantels trug er eine grünliche,
verschossene Pelerine, und der Kopf gipfelte in einem steifen grauen Hut,
der vor Jahren schwarz gewesen sein mochte. Der Pelerinenґträger steuerte
auf die Bank zu, ließ sich, eine Begrüґßungsformel murmelnd,
neben Fabian nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm Kreise
in den Sand. Er machte einen der Kreise zu einem Zahnrad, brachte dessen
Mittelpunkt mit dem Zentrum eines andeґren Kreises durch eine Gerade in
Verbindung, kompliґzierte die Skizze durch Kurven und Linien immer mehr,
schrieb Formeln daneben und darüber, rechnete, strich durch, rechnete von
neuem, unterstrich eine Zahl zweimal und fragte: "Verstehen Sie was von
Maschinen?"
"Bedaure", sagte Fabian. "Wer mich sein Grammophon aufziehen
läßt, kann sicher sein, daß es nie mehr funktioґniert.
Mechanische Feuerzeuge, mit denen ich mich befasґse, brennen nicht. Bis zum
heutigen Tage halte ich den elektrischen Strom, wie mir der Name zu
bestätigen scheint, für eine Flüssigkeit. Und wie es möglich ist, auf der
einen Seite geschlachtete Ochsen in elektrisch betrieґbene Metallgehäuse zu
sperren und auf der Rückseite Cornedbeef herauszudestillieren, werde ich
niemals beґgreifen. - Übrigens erinnert mich Ihre Pelerine an meine
Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten wir in solchen Pelerinen und mit
grünen Mützen nach der Martin-Luther-Kirche zum Gottesdienst. Während der
Predigt schliefen wir alle bis auf den, der die anderen wecken mußte,