ungewöhnlichen Kontrakt, den die beiden geschlossen haben. Dann ging ich."
"Warum nahmst du die Schlüssel mit?"
"Weil die Haustür verschlossen war."
"Ein schauderhaftes Weib", sagte Labude. "Sie hing besoffen überm
Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die Handtasche."
"Sie hat dir nicht gefallen?" fragte Fabian. "Sie ist doch sehr
eindrucksvoll gewachsen, und das freche Konfirmandengesicht obendrauf wirkt
so wunderbar unpassend."
"Wenn sie häßlich wäre, hättest du die Schlüssel längst beim
Portier abgegeben." Labude zog den Freund weiter. Sie bogen langsam in eine
Nebenstraße ein, kamen an einem Denkmal, auf dem Herr
Schulze-Delitzsch stand, und am Märkischen Museum vorbei, der Steinerne
Roland lehnte finster in einer Efeuecke, und auf der Spree jammerte ein
Dampfer. Oben auf der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen
Fluß und auf die fensterlosen Lagerhäuser. Über der Friedrichstadt
brannte der Himmel.
"Lieber Stephan", sagte Fabian leise, "es ist rührend, wie du dich um
mich bemühst. Aber ich bin nicht unglücklicher als unsere Zeit. Willst du
mich glücklicher machen, als sie es ist? Und wenn du mir einen
Direktorposten, eine Million Dollar oder eine anständige Frau, die ich
lieben könnte, verschaffst, oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht
gelingen." Ein kleines schwarzes Boot, mit einer roten Laterne am Heck,
trieb den Fluß entlang. Fabian legte die Hand auf die Schulter des
Freundes. "Als ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit damit, neugierig
zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe
Wahrheit. Daß ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen Grund.
Ich treibe mich herum, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir
wußten: Nun werden wir eingezogen. Erinnerst du dich? Wir schrieben
Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es war gleichgültig, ob wir
es taten oder unterlieґßen. Wir sollten ja in den Krieg. Saßen
wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich
die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus
Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich? Wir wollten
nichts versäumen, und wir hatten einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir
glaubten, es sei die Henkersmahlzeit."
Labude lehnte am Geländer und blickte auf die Spree hinunter. Fabian
ging hin und her, als liefe er in seinem Zimmer auf und ab. "Erinnerst du
dich?" fragte er. "Und ein halbes Jahr später waren wir marschbereit. Ich
bekam acht Tage Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin, weil ich als Kind
einmal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief melancholisch
über den schwankenden Boden der Erlenwälder. Die Ostsee war verrückt, und
die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit
sechsen schlief ich. Die nächste Zukunft haltenden Entschluß
gefaßt, mich zu Blutwurst zu verarbeiten. Was sollte ich bis dahin
tun? Bücher lesen? An meinem Charakter feilen ? Geld verdienen ? Ich
saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht
Tage später fuhr der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr, und was
aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt sitzen wir
wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir
nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein
Ende!"
"Zum Donnerwetter!" rief Labude, "wenn alle so denken wie du, wird nie
stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den provisorischen Charakter der
Epoche nicht? Ist dieses Mißvergnügen dein Privileg? Aber ich sehe
nicht zu, ich versuche, vernünftig zu handeln."
"Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen", sagte Fabian, "und
die Gerechten noch weniger."
"So?" Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit beiden Händen
am Mantelkragen. "Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?"
In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen Aufschrei
und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. Labude rannte ins Dunkel,
die Brücke entlang, auf das Museum zu. Wieder klang ein Schuß. "Viel
Spaß!" sagte Fabian zu sich selber, während er lief, und suchte,
obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen.
Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuchtelte mit dem
Revolver und brüllte: "Warte nur, du Schwein!" Und dann schoß er
wieder über die Straße weg auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Laterne
zerbrach. Glas klirrte aufs Pflaster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der
Hand, und Fabian fragte: "Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?"
"Weil mich's am Bein erwischt hat", knurrte der Mann. Es war ein junger
stämmiger Mensch, und er trug eine Mütze. "So ein Mistvieh", brüllte er.
"Aber ich weiß, wie du heißt." Und er drohte der Dunkelheit.
"Quer durch die Wade", stellte Labude fest, kniete nieder, zog ein
Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Notverband.
"Drüben in der Kneipe ging's los", lamentierte der Verwundete. "Er
schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich sagte was. Er sagte was. Ich
knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl
lief mir nach und schimpfte auf die Internationale. Ich drehte mich um, da
schoß er schon."
"Sind Sie nun wenigstens überzeugt?" fragte Fabian und blickte auf den
Mann hinunter, der die Zähne zusammenbiß, weil Labude an der
Schußwunde hantierte.
"Die Kugel ist nicht mehr drin", bemerkte Labude. "Kommt denn hier gar
kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf."
"Nicht einmal ein Schutzmann ist da", stellte Fabian bedauernd fest.
"Der hätte mir gerade noch gefehlt!" Der Verletzte versuchte
aufzustehen. "Damit sie wieder einen Proleten einsperren, weil er so
unverschämt war, sich von einem Nazi die Knochen kaputtschießen zu
lassen."
Labude hielt den Mann zurück, zog ihn wieder zu Boden und befahl dem
Freund, ein Taxi zu besorgen. Fabian rannte davon, quer über die
Straße, um die Ecke, den nächtlichen Uferweg entlang.
In der nächsten Nebenstraße standen Wagen. Er gab dem Chauffeur
den Auftrag, zum Märkischen Museum zu fahren, am Roland gäbe es eine Fuhre.
Das Auto verschwand. Fabian folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam.
Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals.
Es pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die Stirn. Dieser
verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei erwischt zu
haben, war zwar eine Kinderei, aber Fabian genügte das Andenken. In der
Provinz zerstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer
verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer mit
furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor
nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein,
durch dünne Glasröhren, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher
spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte
lachen und sprechen und schreien können. Fabian bog um die Ecke. Drüben war
das Museum. Das Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich
schrecklicher Fotografien, die er gesehen hatte und die mitunter in seinen
Träumen auftauchten und ihn erschreckten. Diese armen Ebenbilder Gottes!
Noch immer lagen sie in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten
sich füttern lassen und mußten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie
zu töten. Aber es war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu
zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern und Vätern
und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären vermißt. Das war nun
fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten wieder geheiratet. Und der Selige, der
irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu
Hause nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen im
Gewehrlauf, und darunter saß der Nachfolger und ließ sich's
schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein?
Plötzlich rief jemand "Hallo!" Fabian öffnete die Augen und suchte den
Rufer. Der lag auf der Erde, hatte sich auf den Ellenbogen gestützt und
preßte seine Hand aufs Gesäß.
"Was ist denn mit Ihnen los?"
"Ich bin der andere", sagte der Mann. "Mich hat's auch erwischt."
Da stellte sich Fabian breitbeinig hin und lachte. Von der anderen
Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte ein Echo mit.
"Entschuldigen Sie", rief Fabian, "meine Heiterkeit ist nicht gerade
höflich." Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die
Hände, die voll Blut waren, und sagte verbissen: "Wie's beliebt. Der Tag
wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht."
"Warum stehst du denn da herum?" schrie Labude und kam ärgerlich über
die Straße.
"Ach, Stephan", sagte Fabian, "hier sitzt die andere Hälfte des Duells
mit einem Steckschuß im Allerwertesten."
Sie riefen den Chauffeur und transportierten den Nationalsozialisten
ins Auto, neben den kommunistischen Spielgefährten. Die Freunde kletterten
hinterdrein und gaben dem Chauffeur Anweisung, sie zum nächsten Krankenhaus
zu bringen.
Das Auto fuhr los.
"Tut's sehr weh?" fragte Labude.
"Es geht", antworteten die beiden Verwundeten gleichzeitig und
musterten sich finster.
"Volksverräter!" sagte der Nationalsozialist. Er war größer als
der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe
aus.
"Arbeiterverräter!" sagte der Kommunist.
"Du Untermensch!" rief der eine.
"Du Affe!" rief der andere. Der Kommis griff in die Tasche.
Labude faßte sein Handgelenk. "Geben Sie den Revolver her!"
befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waffe heraus und steckte
sie ein.
"Meine Herren", sagte er. "Daß es mit Deutschland so nicht
weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl alle einig. Und daß man
jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare Zustände zu
verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre Strafe finden wird. Trotzdem
hat es keinen Sinn, wenn Sie einander Reservelöcher in die entlegensten
Körperteile schießen. Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins
Leichenschauhaus führen, statt in die Klinik, wäre auch nichts Besonderes
erreicht. Ihre Partei", er meinte den Faschisten, "weiß nur, wogegen
sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau. Und Ihre Partei", er
wandte sich an den Arbeiter, "Ihre Partei..."
"Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats", erklärte dieser,
"und Sie sind ein Bourgeois." "Freilich", antwortete Fabian, "ich bin ein
Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort."
Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite geneigt, auf
der heilen Sitzfläche und hatte Mühe, mit seinem Kopf nicht an den des
Gegners zu stoßen.
"Das Proletariat ist ein Interessenverband", sagte Fabian. "Es ist der
größte Interessenverband. Daß ihr euer Recht wollt, ist eure
Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich
die Gerechtigkeit liebe. Ich bin euer Freund, obwohl ihr darauf pfeift.
Aber, mein Herr, auch wenn Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der
Menschheit im verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht gut
und klug, bloß weil man arm ist."
"Unsere Führer..." begann der Mann.
"Davon wollen wir lieber nicht reden", unterbrach ihn Labude.
Das Auto hielt. Fabian klingelte am Portal des Krankenhauses. Der
Portier öffnete. Krankenwärter kamen und trugen die Verletzten aus dem
Wagen. Der wachhabende Arzt gab den Freunden die Hand.
"Sie bringen mir zwei Politiker?" fragte er lächelnd. "Heute nacht sind
insgesamt neun Leute eingeliefert worden, einer mit einem schweren
Bauchschuß. Lauter Arbeiter und Angestellte. Ist Ihnen auch schon
aufgefallen, daß es sich meist um Bewohner von Vororten handelt, um
Leute, die einander kennen? Diese politischen Schießereien gleichen
den Tanzbodenschlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um
Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat man den Eindruck, sie
wollen die Arbeitslosenziffer senken, indem sie einander totschießen.
Merkwürdige Art von Selbsthilfe."
"Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist", meinte Fabian.
"Ja, natürlich." Der Arzt nickte. "Der Kontinent hat den Hungertyphus.
Der Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich zu schlagen. Leben
Sie wohl!" Das Portal schloß sich.
Labude gab dem Chauffeur Geld und schickte den Wagen weg. Sie gingen
schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb Labude stehen und sagte: "Ich kann
jetzt noch nicht nach Hause gehen. Komm, wir fahren ms Kabarett der
Anonymen."
"Was ist das?"
"Ich kenne es auch noch nicht. Ein findiger Kerl hat Halbverrückte
aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt ihnen ein paar
Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum beschimpfen und auslachen.
Wahrscheinlich merken sie es gar nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein.
Das ist ja auch verständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber
freuen, daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie
selber."
Fabian war einverstanden. Er blickte noch einmal zum Krankenhaus
zurück, über dem der Große Bär funkelte.
"Wir leben in einer großen Zeit", sagte er, "und sie wird jeden
Tag größer."


SIEBENTES KAPITEL

Verrückte auf dem Podium
Die Todesfahrt von Paul Müller
Ein Fabrikant in Badewannen

Vor dem Kabarett parkten viele Privatautos. Ein rotbärtiger Mann, der
einen Pleureusenhut trug und eine riesige Hellebarde hielt, lehnte an der
Tür des Lokals und rief: "Immer herein in die Gummizelle!" Labude und Fabian
traten ein, gaben die Garderobe ab und fanden nach langem Suchen in dem
überfüllten, verqualmten Raum an einem Ecktisch Platz.
Auf der wackligen Bühne machte ein zwecklos vor sich hinlächelndes
Mädchen Sprünge. Es handelte sich offenbar um eine Tänzerin. Sie trug ein
giftgrünes selbstgeґschneidertes Kleid, hielt eine Ranke künstlicher Blumen
und warf sich und die Ranke in regelmäßigen Zeitabständen in die Luft.
Links von der Bühne saß ein zahnloser Greis an einem verstimmten
Klavier und spielte die Ungarische Rhapsodie.
Ob der Tanz und das Klavierspiel miteinander in Beziehung standen, war
nicht ersichtlich. Das Publikum, ausnahmslos elegant gekleidet, trank Wein,
unterhielt sich laut und lachte.
"Fräulein, Sie werden dringend am Telefon verlangt!" schrie ein
glatzköpfiger Herr, der mindestens Generaldirektor war. Die anderen lachten
noch mehr als vorher. Die Tänzerin ließ sich nicht aus der Ruhe
bringen und fuhr fort zu lächeln und zu springen. Da hörte das Klavierspiel
auf. Die Rhapsodie war zu Ende. Das Mädchen auf der Bühne warf dem
Klavierspieler einen bösen Blick zu und hüpfte weiter, der Tanz war noch
nicht aus. "Mutter, dein Kind ruft!" kreischte eine Dame, die ein Monokel
trug.
"Ihr Kind auch", bemerkte jemand von einem entfernten Tisch.
Die Dame drehte sich um. "Ich habe keine Kinder." "Da können Sie aber
lachen!" rief man aus dem Hintergrund.
"Ruhe!" brüllte jemand anders. Der Wortwechsel hörte auf.
Das Mädchen tanzte noch immer, obwohl ihr längst die Beine wehtun
mußten. Schließlich fand sie selber, es sei genug, landete in
einem mißlungenen Knicks, lächelte noch alberner als vorher und
breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smoking stand auf. "Gut, sehr gut!
Sie können morgen zum Teppichklopfen kommen!"
Das Publikum lärmte und klatschte. Das Mädchen knickste wieder und
wieder.
Da kam ein Mann aus der Kulisse, zog die Tänzerin, die sich heftig
sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe.
"Bravo, Caligula!" rief eine Dame aus der ersten Tischreihe.
Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wandte sich an den
Herrn, der neben der Ruferin saß. "Ist das Ihre Frau?" fragte er.
Der Herr nickte.
"Dann sagen Sie Ihrer Frau, sie soll die Schnauze halten!" sagte
Caligula. Man applaudierte. Der Mann m der ersten Tischreihe wurde rot.
Seine Frau fühlte sich geschmeichelt. "Ruhe, ihr Armleuchter!" rief Caligula
und hob die Hände. Es wurde ruhig. "War die Tanzdarbietung nicht geradezu
ein Erlebnis?"
"Jawohl", brüllten alle.
"Aber es kommt noch besser. Jetzt schicke ich einen heraus, der Paul
Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt in Sachsen. Paul Müller
spricht sächsisch und gibt vor, Rezitator zu sein. Er wird Ihnen eine
Ballade vortragen. Machen Sie sich auf das Äußerste gefaßt. Paul
Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht alles täuscht, verrückt. Ich habe keine
Kosten gescheut, diese wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn
ich kann es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind."
"Das geht entschieden zu weit!" rief ein Besucher, dessen Gesicht mit
Schmißnarben verziert war. Er war aufgesprungen und zog sich empört
das Jackett straff. "Hinґsetzen!" sagte Caligula und verzog den Mund.
"Wissen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!"
Der Akademiker rang nach Luft.
"Im übrigen", fuhr der Kabarettinhaber fort, "im übrigen meine ich
Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Charakteristikum."
Die Leute lachten und klatschten. Der Herr mit den Schmissen und der
Empörung wurde von seinen Bekannten auf den Stuhl gezogen und beschwichtigt.
Caligula nahm eine Klingel in die Hand, schellte wie ein Nachtwächter und
rief: "Paul Müller, erscheine!" Dann verґschwand er.
Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, ungewöhnlich blasser
Mensch in abgerissener Kleidung. "Tag, Müller!" brüllte man.
"Er ist zu schnell gewachsen", meinte jemand.
Paul Müller verbeugte sich, zeigte herausfordernden Ernst im Gesicht,
fuhr sich durch die Haare und preßte dann die Hände vor die Augen. Er
sammelte sich. Plötzlich zog er die Hände vom Gesicht fort, streckte sie
weit von sich, spreizte die Finger, riß die Augen auf und sagte: "Die
Todesfahrt von Paul Müller." Dann trat er noch einen Schritt vor.
"Fall nicht runter!" rief die Dame, der von Caligula eigentlich
befohlen worden war, die Schnauze zu halten. Paul Müller machte aus Trotz
noch ein Schrittchen, blickte verächtlich auf das Publikum da unten und
begann wieder: "Die Todesfahrt von Paul Müller."

"Das war der Graf von Hohenstein.
Der sperrte seine Tochter ein.
Sie liebte einen Offizier.
Der Vater sprach: "Du bleibst bei mir"!"

In diesem Augenblick warf jemand aus dem Publikum ein Stück
Würfelzucker auf die Bühne. Paul Müller bückte sich, steckte den Zucker ein
und fuhr mit unheilschwangerer Stimme fort:

"Da half nur Flucht, und die Komteß
entfloh in ihrem zehn PS.
Sie steuerte durch Nacht und Not.
Doch auf dem Kühler saß der Tod!"

Wieder warf man Zucker auf die Bühne. Vermutlich saßen Stammgäste
in dem Raum, die den Gewohnheiten der Künstler Rechnung trugen. Andere Gäste
folgten dem Beispiel, und allmählich kam ein Würfelzuckerbombardement
zustande, dem Müller dadurch zu begegnen wußte, daß er sich
dauernd bückte.
Es entwickelte sich ein Balladenvortrag mit Kniebeugen. Auch mit
aufgerissenem Mund versuchte Müller, den ihm zufliegenden Zucker
aufzufangen. Sein Gesicht wurde immer drohender. Seine Stimme klang immer
schwärzer. Man entnahm der Rezitation, daß in jener schrecklichen
Nacht nicht nur die Komteß Hohenstein Auto fuhr, um zu ihrem Offizier
zu gelangen, sondern daß auch der Geliebte in seinem Wagen unterwegs
war und sich dem Schloß näherte, wo er das Fräulein vermutete, während
sie ihm doch entgegeneilte. Da die zwei Liebenden die gleiche
Landstraße benutzten, da es sich ferner um eine ausgesprochen
regnerische, neblige Nacht handelte, und da das Gedicht "Todesfahrt"
hieß, war mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß
die beiden Autos zusammenґstoßen würden. Paul Müller beseitigte auch
den letzten Zweifel darüber.
"Mach den Mund zu, sonst fallen dir die Sägespäne aus dem Schädel!"
brüllte eine Stimme. Aber das Autounglück war nicht mehr aufzuhalten.

"Das Auto jenes Offiziers
kam links gefahren, rechts kam ihrs.
Der Nebel war entsetzlich dick.
Und so vollzog sich das Geschick.
Von links ein Schrei,
von rechts ein Schrei - "

"Das macht nach Adam Riese zwei!" schrie jemand. Die Leute johlten und
klatschten. Sie hatten von Paul Müller genug und waren auf den Ausgang der
Tragödie nicht länger neugierig.
Er deklamierte weiter. Aber man sah nur, daß er den Mund bewegte.
Zu hören war nichts, die Todesfahrt ging im Lärm der Überlebenden unter. Da
packte den dürren Balladendichter die blasse Wut. Er sprang vom Podium und
rüttelte die Dame derartig an den Schultern, daß ihr die Zigarette aus
dem Mund und in den blauseidenen Schoß fiel. Sie sprang schreiend auf.
Ihr Begleiter erhob sich ebenfalls und schimpfte. Es klang, als belle ein
Hund. Paul Müller gab dem Kavalier einen Stoß, daß er in den
Stuhl zurücktaumelte.
Da tauchte Caligula auf. Er war wütend und glich einem knirschenden
Tierbändiger, zog den Mann aus Tolkewitz an der Krawatte und führte ihn ins
Künstlerґzimmer.
"Pfui Teufel", sagte Labude, "unten Sadisten und oben Verrückte."
"Dieser Sport ist international", meinte Fabian, "in Paris gibt es
dieselbe Sache. Dort schreien die Zuschauer: "Tue-le!" und dann schiebt sich
eine riesengroße hölzerne Hand aus der Kulisse und schaufelt den
Ärmsten aus dem Gesichtskreis. Er wird weggefegt!"
"Caligula nennt sich der Bursche. Er kennt sich aus. Sogar in der
römischen Geschichte." Labude stand auf und ging. Er hatte genug. Auch
Fabian erhob sich. Da schlug ihn jemand derb auf die Schulter. Er drehte
sich um. Der Mann strahlte über das ganze Gesicht und rief vergnügt: "Alter
Junge, wie geht's dir denn?"
"Danke, gut."
"Nein, wie ich mich freue, dich altes Haus mal wiederzusehen!" Der
Akademiker gab Fabian einen Freudenґstoß vor den Brustkasten, genau
auf einen der Hemdknöpfe. "Kommen Sie", meinte Fabian, "prügeln wir uns
draußen weiter!" Dann drängte er sich, zwischen Stühlen hindurch, in
den Vorraum. "Mein Lieber", sagte er zu Labude, der sich den Mantel anzog,
"wir wolґlen schnell machen. Eben hat mich einer ununterbrochen geduzt." Sie
nahmen die Hüte. Aber es war schon zu spät.
Der Mann mit den Schmissen schob eine sommersprossige Frau vor sich
her, als könne sie nicht allein laufen, und sagte zu ihr: "Siehst du, Meta,
der Herr war auf dem Pennal unser Primus." Und zu Fabian sagte er: "Das ist
meine Frau, alter Knabe. Meine bessere Hälfte gewissermaßen. Wir leben
in Remscheid. Ich habe den Assessor an den Nagel gehängt und bin im Geschäft
meines Schwiegervaters. Wir machen Badewannen. Wenn du mal eine brauchen
solltest, kannst du sie zum Engrospreis haben! Haha! Ja, es geht mir gut.
Danke, glückliche Ehe, Wohnung in einem Zweifamilienhaus, großer
Garten dahinter, nicht ganz ohne Bargeld, Kind haben wir auch, aber noch
nicht lange."
"Es ist erst so groß", entschuldigte sich Meta und zeigte mit den
Händen, wie klein das Kind war. "Es wird schon noch wachsen", tröstete
Labude. Die Frau blickte ihn dankbar an und hängte sich bei ihrem Mann ein.
"Also, alter Schwede", fing der Akademiker wieder an, "nun erzähle mal, was
du die ganze Zeit über gemacht hast."
"Nichts Besonderes", bemerkte Fabian. "Augenblicklich bastle ich an
einer Weltraumrakete. Ich will mir mal den Mond ansehen."
"Ausgezeichnet", rief der Mann, der in die Badewannen eingeheiratet
hatte. "Deutschland allen voran! Und wie geht's deinem Bruder?"
"Sie überschütten mich mit frohen Neuigkeiten, mein Herr", sagte
Fabian. "Ein Brüderchen habe ich mir schon lange gewünscht. Nur eine
bescheidene Zwischenfrage: Wo sind Sie eigentlich aufs Gymnasium gegangen?"
"In Marburg natürlich."
Fabian hob bedauernd die Schultern. "Es soll eine bezaubernde Stadt
sein, aber ich kenne Marburg leider gar nicht."
"Dann entschuldigen Sie vielmals", knarrte der andere. "Kleine
Verwechslung, täuschende Ähnlichkeit, nichts für ungut." Er knallte die
Absätze zusammen, befahl: "Komm, Meta!" und entfernte sich. Meta blickte
Fabian verlegen an, nickte Labude zu und folgte dem Gemahl. "So ein
dämlicher Affe!" Fabian war entrüstet. "Spricht wildfremde Leute an und tut
familiär. Ich habe diesen Caligula im Verdacht, daß die Anpöbelei zu
seiner Kabarettregie gehört."
"Das glaube ich nicht", meinte Labude. "Die Badewannen waren sicher
echt, und das entsetzlich kleine Kind auch." Sie gingen heimwärts. Labude
schaute trübselig aufs Pflaster. "Es ist eine Schande", sagte er nach einer
Weile. "Dieser gewesene Assessor hat eine Wohnung, einen Garten, einen
Beruf, eine Frau mit Sommersprossen und was noch alles. Und unsereins
vegetiert herum wie ein Landstreicher ohne Land, man hat noch keinen festen
Beruf, man hat kein festes Einkommen, man hat kein festes Ziel und nicht mal
eine feste Freundin."
"Du hast doch Leda."
"Und was mich besonders aufbringt", fuhr Labude fort, "so ein Kerl hat
ein eigenes, selbstgemachtes Kind."
"Sei nicht neidisch", sagte Fabian, "dieser juristisch vorgebildete
Badewannenfabrikant ist ein Ausnahmefall. Wer von den Leuten, die heute
dreißig Jahre alt sind, kann heiraten? Der eine ist arbeitslos, der
andere verliert morgen seine Stellung. Der dritte hat noch nie eine gehabt.
Unser Staat ist darauf, daß Generationen nachwachsen, momentan nicht
eingerichtet. Wem es dreckig geht, der bleibt am besten allein, statt Frau
und Kind an seinem Leben proportional zu beteiligen. Und wer trotzdem andere
mit hineinzieht, der handelt mindestens fahrlässig. Ich weiß nicht,
von wem der Satz stammt, daß geteiltes Leid halbes Leid sei, aber wenn
der Quatschkopf noch leben sollte, dann wünsche ich ihm zweihundert Mark
monatlich und eine achtköpfige Familie. Da soll er sein Leid so lange durch
acht dividieren, bis er schwarz wird." Fabian sah den Freund von der Seite
an. "Übrigens, wozu bedrückt dich das? Dein Vater gibt dir doch Geld. Und
wenn du die Venia legendi hast, wirst du noch ein paar Groschen
dazuverdienen. Dann heiratest du Leda, und deinen Vaterfreuden steht nichts
mehr im Wege."
"Es gibt ja auch andere Schwierigkeiten außer den ökonomischen",
sagte Labude, blieb stehen und winkte einem Taxi. "Sei mir nicht böse, wenn
ich jetzt allein sein will. Kannst du mich morgen bei meinen Eltern abholen?
Ich muß dir verschiedenes erzählen." Er drückte dem Freund etwas in
die Hand und stieg in den wartenden Wagen.
"Handelt es sich um Leda?" fragte Fabian durchs offene Fenster. Labude
nickte und senkte den Kopf. Das Auto fuhr an. Der andere blickte dem Wagen
nach. "Ich komme!" rief er. Doch das Auto war schon weit weg, und das rote
Schlußlicht konnte ein Glühwürmchen sein. Dann besann er sich und
stellte fest, was er in der Hand hielt. Es war ein Fünfzigmarkschein.


ACHTES KAPITEL

Studenten treiben Politik
Labude sen. liebt das Leben
Die Ohrfeige an der Außenalster

Labudes Eltern bewohnten im Grunewald einen großen griechischen
Tempel. Eigentlich war es kein Tempel, sondern eine Villa. Und eigentlich
bewohnten sie die Villa gar nicht. Die Mutter war viel auf Reisen, meist im
Süden, in einem Landhaus bei Lugano. Erstens gefiel es ihr am Lago di Lugano
besser als am Grunewaldsee. Und zweitens fand Labudes Vater, die zarte
Gesundheit seiner Frau erfordere südlichen Aufenthalt. Er liebte seine Frau
sehr, besonders in ihrer Abwesenheit. Seine Zuneigung wuchs im Quadrat der
Entfernung, die zwischen ihnen lag. Er war ein bekannter Verteidiger. Da
seine Klienten viel Geld und viele Prozesse hatten, hatte auch er viele
Prozesse und viel Geld. Die Aufregungen des Berufs, den er liebte, genügten
ihm nicht. Fast jede Nacht saß er in Spielklubs. Die Ruhe, die sein
Haus verbreitete, war ihm höchst zuwider. Und die vorwurfsvollen Augen
seiner Frau brachten ihn zur Verzweiflung. Da beide befürchteten, den
anderen anzutreffen, mieden beide die Villa, sooft das möglich war. Und
Stephan, der Sohn, mußte, wenn er seinen Eltern begegnen wollte, auf
die Gesellschaften gehen, die sie im Winter gaben. Da ihn diese
Veranstaltungen von Jahr zu Jahr mehr abstießen, bis er sie endlich
nicht mehr besuchte, traf er seine Eltern nur noch aus Versehen.
Das meiste, was er über den Vater wußte, hatte er einmal von
einer jungen Schauspielerin erfahren. Das war auf einem Maskenball gewesen,
und sie hatte ihm sehr eingehend den Mann geschildert, der sie damals
finanzierte. Leichtfertige Frauen versuchen ja gelegentlich, Liebhaber zu
erwerben, indem sie die intimen Sitten und Gebräuche der ehemaligen Besitzer
ausplauderten. Im Laufe des Gesprächs hatte es sich herausgestellt,
daß von Justizrat Labude die Rede gewesen war, und Stephan hatte das
Fest fluchtartig verlassen. Fabian kam nicht gern m die Grunewaldvilla. Er
empfand den Aufwand, den solche Häuser mit sich treiben lassen, als albern.
Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß man mitten in
derartigem Luxus das Gefühl, man sei nur auf Besuch, jemals loswerden könne.
Und er fand es, von allen anderen Gründen abgesehen, schon deshalb
vollkommen in Ordnung, daß sich Labudes Eltern in dem Wohnmuseum
entfremdet hatten.
"Schrecklich", sagte er zu dem Freund, der am Schreibtisch saß,
"jedesmal, wenn ich hierher komme, erwarte ich, daß mir euer Diener
Filzpantoffeln überzieht und mit einer Schloßführung beginnt. Falls du
mir erzählen solltest, daß der Große Kurfürst auf diesem Stuhl
hier in die Schlacht von Fehrbellin geritten ist, könnte ich mich bereit
erklären, es zu glauben. Im übrigen danke ich dir für das Geld."
Labude winkte ab. "Du weißt, daß ich mehr davon habe, als
notwendig ist. Lassen wir das. Ich bat dich hierher, weil ich dir erzählen
will, was mir in Hamburg passiert ist."
Fabian stand auf und setzte sich aufs Sofa. Jetzt befand er sich hinter
Labudes Rücken, und der Freund brauchte ihn während des Sprechens nicht
anzusehen. Sie blickten beide zum Fenster hinaus, auf grüne Bäume und auf
rote Villendächer. Das Fenster war offen, und manchmal kam ein Vogel,
spazierte auf dem Fensterbrett hin und her, musterte mit schiefgehaltenem
Kopf das Zimmer und flog wieder in den Garten zurück. Außerdem hörte
man, wie jemand mit einem Rechen die Kieswege harkte.
Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. "Rassow schrieb
mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maximum, vor Studenten aller
Richtungen, über das Thema "Tradition und Sozialismus". Und er schlug mir
vor, als Korreferent oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen
Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Rassow berichtete
den Studenten von seiner Rußlandreise und von seinen Erfahrungen und
Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er wurde von den
Vertretern der sozialistischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen.
Anschließend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den
Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzierte die
kapitalistische Situation Europas und stellte die Forderung auf, daß
die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und daß sie den
kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet
wird, aufhalten müsse. Diese Jugend, sagte ich, sei im Begriff, in
absehbarer Zeit die Führerschaft in Politik, Industrie, Grundbesitz und
Handel zu übernehmen, die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere
Aufgabe, den Kontinent zu reformieren: durch freiwillige Kürzung des
privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik
auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen,
durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts. Ich sagte,
diese neue Front, diese Querverbindung der Klassen sei möglich, da die
Jugend wenigstens die Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und
außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände
einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen. Wenn es schon
ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das
Regime unserer Altersklasse entscheiden. Bei den Vertretern der extremen
Gruppen erntete mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den
Antrag zur Bildung einer radikal-bürgerlichen Initiative einbrachte, fand
das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen Aufruf, der
an alle europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und
ein paar andere wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten
und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialistischen Studenten
eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn wir an allen Universitäten
Gruppen gebildet haben, werden von diesen auch andere intellektuelle
Körperschaften bearbeitet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern
nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne."
"Ich freue mich", sagte Fabian, "ich freue mich sehr, daß du nun
an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst. Hast du dich schon
mit der Gruppe der unabhängigen Demokraten in Verbindung gesetzt? In
Kopenhagen ist ein "Club Europa" gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere
dich nicht zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend. Und
sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht
jemals heiraten werden. Es handelt sich leider um eine Antinomie. Ich bin
der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei
Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann
schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das
ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt
einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist
derselbe. Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein
ist? Aber was meinte Leda dazu?"
"Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht dabei."
"Warum denn nicht?"
"Sie wußte nicht, daß ich in Hamburg war."
Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wieder hin.
Labude breitete die Arme aus und hielt sich an den Ecken der
Schreibtischplatte fest. "Ich wollte Leda überraschen. Ich wollte sie
heimlich beobachten. Denn ich war mißtrauisch geworden. Wenn man in
jedem Monat nur zwei Tage und eine Nacht beisammen ist, dann wird die
Beziehung unterminiert, und wenn so ein Zustand, wie bei uns, jahrelang
dauert, geht die Beziehung in die Brüche. Das hat mit der Qualität der
Partner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich machte dir
vor Monaten einmal Andeutungen, daß Leda sich verändert habe. Sie fing
an, sich zu verstellen. Sie markierte. Die Begrüßung auf dem Bahnhof,
die Zärtlichkeit des Gesprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch
Theater."
Labude hob den Kopf kerzengerade. Er sprach sehr leise. "Natürlich
entfremdet man sich. Man weiß nicht mehr, welche Sorgen der andere
hat. Man kennt die Bekannten nicht, die er findet. Man sieht nicht,
daß er sich verwandelt, und weswegen er's tut. Briefe sind zwecklos.
Und dann reist man hin, gibt sich einen Kuß, geht ins Theater, fragt
nach Neuigkeiten, verbringt eine Nacht miteinander und trennt sich wieder.
Vier Wochen später vollzieht sich derselbe Unfug. Seelische Nähe,
anschließend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der Uhr in der
Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die Liebe krepiert an
der Geographie."
Fabian nahm eine Zigarette und strich das Zündholz behutsam an, als
fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. "Ich habe in den letzten Monaten vor
jeder dieser Zusammenkünfte Angst gehabt. Ich hätte Leda, wenn sie mit
geschlossenen Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den
Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen mögen. Sie log.
Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder sich selber auch? Da sie, obwohl
ich sie brieflich wiederholt dazu aufforderte, Erklärungen vermied,
mußte ich tun, was ich tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in
der wir die Initiativgruppe gegründet hatten, von Rassow und den anderen
sehr bald und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt. Die Fenster waren
dunkel. Vielleicht schlief sie schon. Aber mir war nicht nach Logik zumute.
Ich wartete." Labudes Stimme schwankte. Er griff auf den Schreibtisch, nahm
mehrere Bleistifte und rollte sie nervös zwischen den Händen. Das hölzerne,
klappernde Geräusch begleitete den Fortgang des Berichts. "Die Straße
ist breit und nur an einer Stelle bebaut. Die andere Seite grenzt an
Blumenbeete, Wiesen, Wege und Gebüsch, und dahinter liegt die
Außenalster. Dem Haus gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte ich
mich, rauchte zahllose Zigaretten und wartete. So oft jemand die
Straße entlang kam, dachte ich, das müsse Leda sein. So saß ich
von zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Gespräche und böse
Bilder. Und die Zeit verging. Kurz nach drei bog ein Taxi in die
Straße und hielt vor dem Haus. Ein großer schlanker Mann stieg
aus und bezahlte den Chauffeur. Dann sprang eine Frau aus dem Wagen, eilte
zur Tür, schloß auf, trat ins Haus, hielt die Tür, bis der Mann
gefolgt war, und schloß von innen wieder zu. Das Auto fuhr in die
Stadt zurück."
Labude war aufgestanden. Er warf die Bleistifte auf den Schreibtisch,
ging rasch im Zimmer auf und ab und machte in der äußersten Ecke,
dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf das Tapetenmuster und zeichnete es
mit dem Finger nach. "Es war Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah,
wie sich zwei Schatten hinter den Gardinen bewegten. Das Wohnzimmer wurde
wieder dunkel. Jetzt erhellte sich das Schlafzimmer. Die Balkontür stand
halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen. Du entsinnst dich, sie lacht so
merkwürdig hoch. Manchmal war es ganz still, droben im Haus und unten auf
meiner Straße, und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug."
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat Labude trat
ein, ohne Hut und Mantel. "Tag, Stephan!" sagte er, kam näher und gab seinem
Sohn die Hand. "Lange nicht gesehen, was? War ein paar Tage unterwegs.
Mußte mal ausspannen. Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie
geht's? Siehst schlecht aus. Sorgen? Was über die Habilitationsschrift
gehört? Nein? Langweilige Bande. Hat Mutter geschrieben? Mag noch ein paar
Wochen bleiben. Heißt mit Recht Paradiso, das Nest. Hat's die Frau
gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gespräche, wie? Gibt es ein Fortleben nach
dem Tode? Im Vertrauen gesagt, es gibt keins. Muß alles vor dem Tode
erledigt werden. Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht."
"Fritz, nun komm aber endlich!" rief im Treppenhaus eine Frauenstimme.
Der Justizrat zuckte die Achseln. "Da habt ihr's. Kleine Sängerin,
großes Talent, keine Beschäftigung. Kann sämtliche Opern auswendig.
Bißchen laut auf die Dauer. Na, Wiedersehen. Amüsiert euch lieber,
statt die Menschheit zu erlösen. Wie gesagt, das Leben muß noch vor
dem Tode erledigt werden. Zu näheren Auskünften bin ich gerne bereit. Nicht
so ernst, mein Junge." Er gab beiden die Hand, ging und warf die Tür ins
Schloß. Labude hielt sich nachträglich die Ohren zu, trat an den
Schreibtisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzählung fort:
"Gegen fünf Uhr früh begann es zu regnen. Nach sechs hörte es auf. Der
Himmel wurde hell, und der Tag fing an. In dem Schlafzimmer brannte noch
immer Licht. Das sah im Morgengrauen seltsam aus. Um sieben Uhr
verließ der Mensch das Haus. Er pfiff, als er aus der Tür trat, und
blickte nach oben. Leda stand in ihrem japanischen Schlafrock auf dem Balkon
und winkte. Er winkte wieder. Sie breitete den Schlafrock für einen Moment
noch einmal auseinander, damit er ihren Körper noch einmal sehe. Er warf ein
Kußhändchen, es war zum Speien. Er ging pfeifend die Straße
hinunter. Ich senkte den Kopf. Oben wurde die Balkontür geschlossen."
Fabian wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er blieb
sitzen. Plötzlich hob Labude den Arm und schlug mit der Faust auf den
Schreibtisch. "Diese Kanaille!" schrie er. Fabian sprang vom Sofa, aber der
andere winkte ab und sagte ganz ruhig: "Schon gut. Höre weiter. Mittags
telefonierte ich. Sie war erfreut, daß ich wieder einmal bei ihr sei.
Warum ich nicht geschrieben habe. Ob ich um fünf Uhr kommen wolle. Die
wissenschaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früher auf. Ich lief
durchs Hafenviertel, bis es soweit war. Dann fuhr ich hin. Sie hatte Tee und
Kuchen zurechtgestellt und begrüßte mich zärtlich. Ich trank eine
Tasse Tee und sprach über gleichgültige Dinge. Dann begann sie sich
automatisch zu entkleiden, nahm den Kimono um und legte sich auf die Couch.
Da fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung lösten. Sie
fragte, was mit mir los sei. Es gelte doch für ausgemacht, daß wir
heiraten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob ich sie nicht mehr liebe. Ich
erklärte, daß es sich darum jetzt nicht handle. Die zunehmende
Entfremdung, an der sie die Schuld trage, lasse das Auseinandergehen ratsam
erscheinen.
Sie rekelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite zu gleiten,
und meinte mit kindlicher Stimme, ich sei so kalt. Und die Entfremdung