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Ich will Ihnen erzдhlen, was sich inzwischen zugetragen hat:
Ende April war Wassertrum so weit, daЯ meine Suggestion anfing zu
wirken.
Ich sah es daran, daЯ er auf der Gasse bestдndig gestikulierte und laut
mit sich selbst sprach.
So etwas ist ein sicheres Zeichen, daЯ die Gedanken eines Menschen sich
zum Sturm rotten, um ьber ihren Herrn herzufallen.
Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.
Er schrieb!
Er schrieb! DaЯ ich nicht lache! Er schrieb.
Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wuЯte ich, was er
oben machte: - er machte sein Testament.
DaЯ er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht.
Ich hдtte wahrscheinlich den Veitstanz bekommen vor Vergnьgen, wenn's mir
eingefallen wдre.
Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an
dem er noch etwas gutmachen kцnnte, wie er glaubte. Das Gewissen hat ihn
ьberlistet.
Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich wьrde ihn segnen, wenn ich mich
nach seinem Tode durch seine Huld plцtzlich als Millionдr sдhe, und dadurch
den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat mit anhцren
mьssen.
Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.
Rasend witzig, daЯ er heimlich also doch an eine Wiedervergeltung im
Jenseits geglaubt hat, wдhrend er sich's das ganze Leben lang mьhselig
ausreden wollte.
Aber so ist's bei allen den Ganzgescheiten; man sieht es schon an der
wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt. Sie
fьhlen sich ertappt.
Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, lieЯ ich ihn nicht mehr
aus dem Auge.
Des Nachts horchte ich an den Verschlagbrettern seines Ladens, denn
jede Minute konnte die Entscheidung fallen. -
Ich glaube, durch Mauern hindurch wьrde ich das ersehnte schnalzende
Gerдusch gehцrt haben, wenn er den Stцpsel aus der Giftflasche gezogen
hдtte.
Es fehlte vielleicht nur eine Stunde, und mein Lebenswerk war
vollbracht.
Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.
Lassen Sie sich das Nдhere von Wenzel erzдhlen, mir wird es zu bitter,
alles das niederschreiben zu mьssen.
Nennen Sie es Aberglaube, - aber, wie ich sah, daЯ Blut vergossen
worden war - die Dinge im Laden waren befleckt davon, - kam es mir vor, als
sei mir seine Seele entwischt.
Etwas in mir, - ein feiner, untrьglicher Instinkt - sagt mir, daЯ es
nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von fremder Hand stirbt oder von eigener:
- daЯ Wassertrum sein Blut mit sich in die Erde hдtte nehmen mьssen, dann
erst wдre meine Mission erfьllt gewesen. - Jetzt, wo es anders gekommen ist,
fьhle ich mich als AusgestoЯener, als ein Werkzeug, das nicht wьrdig
befunden wurde in der Hand des Todesengels.
Aber ich will mich nicht auflehnen. Mein HaЯ ist von der Art, die ьbers
Grab hinaus geht, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich vergieЯen
kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich der Schatten auf
Schritt und Tritt. - - -
Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich drauЯen bei
ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.
Ich glaube, ich weiЯ es bereits, aber ich will noch warten, bis das
innere Wort, das zu mir spricht, klar wird wie eine Quelle. - Wir Menschen
sind unrein, und oft bedarf es langen Fastens und Wachens, bis wir das
Flьstern unserer Seele verstehen. - - -
In der verflossenen Woche wurde mir offiziell vom Gericht mitgeteilt,
daЯ mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.
DaЯ ich fьr mich keinen Kreuzer davon anrьhre, brauche ich Ihnen wohl
nicht zu versichern, Herr Pernath. - Ich werde mich hьten, ›ihm‹ - fьr
›drьben‹ eine Handhabe zu geben.
Die Hдuser, die er besessen hat, lasse ich versteigern, die
Gegenstдnde, die er berьhrt hat, werden verbrannt, und was an Geld und
Geldeswert sich dann ergibt, fдllt nach meinem Tode zu einem Drittel Ihnen
zu. -
Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann
Sie beruhigen. Was Sie bekommen, ist Ihr rechtmдЯiges Eigentum mit Zinsen
und Zinseszinsen. Schon lange wuЯte ich, daЯ Wassertrum vor Jahren Ihren
Vater und seine Familie um alles gebracht hat, - erst jetzt bin ich in der
Lage, es aktenmдЯig nachweisen zu kцnnen.
Ein zweites Drittel wird unter die zwцlf Mitglieder des "Bataillons"
verteilt, die den Dr. Hulbert noch persцnlich gekannt haben. Ich will, daЯ
jeder von ihnen reich wird und Zutritt bekommt zur Prager - "guten
Gesellschaft".
Das letzte Drittel gehцrt zu gleichen Teilen den nдchsten sieben
Raubmцrdern des Landes, die mangels zureichender Beweise freigesprochen
werden mьssen.
Ich bin das dem цffentlichen Дrgernis schuldig.
So. Das wдre wohl alles.
Und jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie
zuweilen
Ihres
aufrichtigen und dankbaren
Innocenz Charousek."
Tief erschьttert legte ich den Brief aus der Hand. Ich konnte mich
nicht freuen ьber die Nachricht von meiner bevorstehenden Enthaftung.
Charousek! Armer Mensch! Wie ein Bruder kьmmerte er sich um mein
Schicksal. BloЯ, weil ich ihm einst 100 fl geschenkt hatte. Wenn ich ihm nur
einmal noch die Hand drьcken kцnnte!
Ich fьhlte: ja, er hatte recht; der Tag wьrde nie kommen.
Ich sah ihn vor mir: seine flackernden Augen, die schwindsьchtigen
Schultern, die hohe, noble Stirn.
Vielleicht, daЯ alles ganz anders gekommen wдre, wenn eine hilfreiche
Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen hдtte.
Noch einmal las ich den Brief durch.
Wieviel Methode in Charouseks Irrsinn lag! Ob er ьberhaupt irrsinnig
war?
Ich schдmte mich beinahe, diesen Gedanken auch nur einen Augenblick
geduldet zu haben.
Sagten seine Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch wie Hillel,
wie Mirjam, wie ich selbst; ein Mensch, ьber den die eigene Seele Gewalt
gewonnen hatte, - den sie durch die wilden Schluchten und Klьfte des Lebens
emporfьhrte in die Firnenwelt eines unbetreten Landes.
Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen, stand er nicht reiner
da, als irgendeiner von denen, die naserьmpfend umhergehen und angelernte
Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen vorgeben?
Er hielt das Gebot, das ihm ein ьbermдchtiger Trieb diktierte, ohne an
eine "Belohnung" hier oder jenseits auch nur zu denken.
Was er getan hatte, war es etwas anderes als frцmmste Pflichterfьllung
in des Wortes verborgenster Bedeutung?
"Feig, hinterlistig, mordgierig, krank, eine problematische - eine
Verbrechernatur" - ich hцrte fцrmlich, wie das Urteil der Menge ьber ihn
lauten muЯte, wenn sie mit ihren blinden Stallaternen in seine Seele
hineinzuleuchten kдme, - dieser geifernden Menge, die nie und nimmer
begreifen wird, daЯ die giftige Herbstzeitlose tausendfach schцner und edler
ist als der nьtzliche Schnittlauch. - - -
Wieder ging das TьrschloЯ drauЯen, und ich hцrte, daЯ man einen
Menschen hereinschob.
Ich drehte mich nicht einmal um, so sehr war ich erfьllt von dem
Eindruck des Briefes.
Kein Wort ьber Angelina, nichts von Hillel stand darin.
Freilich: Charousek muЯte in grцЯter Eile geschrieben haben, die
Schrift verriet es mir.
Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich ьberbracht werden wьrde?
Ich hoffte heimlich auf den morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang
der Gefangenen im Hof. - Da war es noch am leichtesten, daЯ mir irgendeiner
vom "Bataillon" etwas zusteckte.
Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen Grьbeleien:
"Wьrden Sie gestatten, mein Herr, daЯ ich mich Ihnen vorstelle? Mein
Name ist Laponder. Amadeus Laponder".
Ich drehte mich um.
Ein kleiner, schmдchtiger, noch ziemlich junger Mann in gewдhlter
Kleidung, nur ohne Hut, wie alle Untersuchungsgefangenen, verbeugte sich
korrekt vor mir.
Er war glattrasiert wie ein Schauspieler, und seine groЯen, hellgrьn
glдnzenden, mandelfцrmigen Augen hatten das Eigentьmliche an sich, daЯ, so
geradeaus sie auch auf mich gerichtet waren, sie mich doch nicht zu sehen
schienen. - Es lag so etwas wie - Geistesabwesenheit darin.
Ich murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich
wieder umdrehen, konnte aber lange den Blick von dem Menschen nicht wenden,
so fremdartig wirkte er auf mich mit dem pagodenhaften Lдcheln, das die
aufwдrts gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen bestдndig seinem
Gesicht aufdrьckten.
Er sah fast aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit
seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut, der mдdchenhaft schmalen Nase und
den zarten Nьstern.
"Amadeus Laponder, Amadeus Laponder", wiederholte ich vor mich hin.
"Was er wohl begangen haben mag?"
"Waren Sie schon beim Verhцr", fragte ich nach einer Weile.
"Ich komme soeben von dort. - Hoffentlich werde ich Sie hier nicht
lange inkommodieren mьssen", antwortete Herr Laponder liebenswьrdig.
"Armer Teufel," dachte ich mir, "er ahnt nicht, was einem
Untersuchungsgefangenen bevorsteht."
Ich wollte ihn langsam vorbereiten:
"Man gewцhnt sich allmдhlich an das Stillsitzen, wenn einmal die
ersten, schlimmsten Tage vorьber sind." - - -
Er machte ein verbindliches Gesicht.
Pause.
"Hat das Verhцr lange gedauert, Herr Laponder?"
Er lдchelte zerstreut:
"Nein. Ich wurde bloЯ gefragt, ob ich gestдndig sei, und muЯte das
Protokoll unterschreiben."
"Sie haben unterschrieben, daЯ Sie gestдndig sind?" fuhr es mir heraus.
"Allerdings."
Er sagte es, als ob es sich von selbst verstьnde.
Es kann nichts Schlimmes sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar
keine Aufregung zeigt. Wahrscheinlich eine Herausforderung zum Duell oder
etwas Дhnliches.
"Ich bin leider schon so lange hier, daЯ es mir wie ein Menschenleben
vorkommt"; - ich seufzte unwillkьrlich, und er machte sofort eine
teilnehmende Miene. "Ich wьnsche Ihnen, daЯ Sie das nicht mitzumachen
brauchen, Herr Laponder. Nach allem, was ich sehe, werden Sie bald auf
freiem FuЯ sein."
"Wie man's nimmt", antwortete er ruhig, aber es klang wie ein
versteckter Doppelsinn.
"Sie glauben nicht?", fragte ich lдchelnd. Er schьttelte den Kopf.
"Wie soll ich das verstehen? - Was haben Sie denn gar so Schreckliches
begangen? Verzeihen Sie, Herr Laponder, es ist nicht Neugierde von mir, -
lediglich Teilnahme, daЯ ich frage."
Er zцgerte einen Augenblick, dann sagte er, ohne mit der Wimper zu
zucken:
"Lustmord."
Mir war, als hдtte er mich mit einem Stock ьber den Kopf geschlagen.
Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.
Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht das
leiseste Minenspiel in seinem automatenhaft lдchelnden Gesicht verriet, daЯ
er ьber mein plцtzlich verдndertes Benehmen verletzt gewesen wдre.
Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. -
- -
Als ich mich nach Einbruch der Dunkelheit niederlegte, folgte er
sogleich meinem Beispiel, entkleidete sich, hдngte sorgsam seine Kleider an
den Wandnagel, streckte sich aus und schien, nach seinen ruhigen, tiefen
Atemzьgen zu schlieЯen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu sein.
Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.
Das bestдndige Gefьhl, ein solches Scheusal in meiner nдchsten Nдhe zu
haben und dieselbe Luft mit ihm atmen zu mьssen, war mir so grдЯlich und
aufregend, daЯ die Eindrьcke des Tages, Charouseks Brief und all das erlebte
Neue tief in den Hintergrund traten.
Ich hatte mich so gelegt, daЯ ich den Mцrder bestдndig im Auge behielt,
denn ich wьrde es nicht haben ertragen kцnnen, ihn hinter mir zu wissen.
Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchdдmmert, und ich konnte
sehen, daЯ Laponder regungslos, fast starr, dalag.
Seine Zьge hatten etwas Leichenhaftes bekommen, und der halbgeцffnete
Mund erhцhte diesen Eindruck.
Viele Stunden hindurch дnderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.
Erst spдt nach Mitternacht, als ein dьnner Mondstrahl auf sein Gesicht
fiel, kam eine leise Unruhe ьber ihn und er bewegte unaufhцrlich die Lippen,
wie jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu sein, -
ein zweisilbiger Satz vielleicht, - so wie:
"LaЯ mich. LaЯ mich, LaЯ mich."
Die nдchsten paar Tage vergingen, ohne daЯ ich Notiz von ihm genommen
hдtte, und auch er brach niemals das Schweigen.
Sein Benehmen blieb nach wie vor gleich liebenswьrdig. Sooft ich auf
und ab gehen wollte, sah er es mir sofort an und zog hцflich, wenn er auf
der Pritsche saЯ, die FьЯe zurьck, um mir nicht im Wege zu sein.
Ich fing an, mir Vorwьrfe wegen meiner Schroffheit zu machen, konnte
aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.
So sehr ich gehofft hatte, mich an seine Nдhe gewцhnen zu kцnnen, - es
ging nicht.
Selbst in den Nдchten hielt es mich wach. Kaum eine Viertelstunde
verbrachte ich im Schlaf.
Abend fьr Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete
respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte sie
pedantisch in Falten, hдngte sie auf, und so weiter und so weiter.
Eines Nachts - es mochte um die zweite Stunde sein - stand ich
schlaftrunken vor Mьdigkeit wieder auf dem Wandbrett, starrte in den
Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes Цl auf dem kupfernen Gesicht
der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.
Da hцrte ich plцtzlich leise ihre Stimme hinter mir.
Sofort war ich wach, ьberwach, - fuhr herum und horchte.
Eine Minute verging.
Schon glaubte ich, ich hдtte mich getдuscht, da kam es wieder. Ich
konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:
"Frag' mich. Frag' mich."
Es war bestimmt Mirjams Stimme.
Schlotternd vor Aufregung stieg ich, so leise ich konnte, herab und
trat an das Bett Laponders.
Das Mondlicht schien voll auf sein Gesicht, und ich konnte deutlich
unterscheiden, daЯ er die Lider offen hatte, doch nur das WeiЯe der Augдpfel
war sichtbar.
An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, daЯ er im Tiefschlaf lag.
Nur die Lippen bewegten sich wieder wie neulich. Und allmдhlich
verstand ich die Worte, die hinter seinen Zдhnen hervordrangen:
"Frag' mich. Frag' mich."
Die Stimme war der von Mirjam tдuschend дhnlich.
"Mirjam? Mirjam?" rief ich unwillkьrlich, dдmpfte aber sofort den Ton,
um den Schlдfer nicht zu erwecken.
Ich wartete, bis sein Gesicht wieder starr geworden war, dann
wiederholte ich leise:
"Mirjam? Mirjam?"
Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:
"Ja."
Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen. Nach einer Weile hцrte ich
Mirjams Stimme flьstern - so unverkennbar ihre Stimme, daЯ mir Kдlteschauer
ьber die Haut liefen.
Ich trank die Worte so gierig, daЯ ich nur den Sinn begriff. Sie sprach
von Liebe zu mir und von dem unsagbaren Glьck, daЯ wir uns endlich gefunden
hдtten - und uns nie wieder trennen wьrden - hastig - ohne Pause, wie
jemand, der fьrchtet, unterbrochen zu werden und jede Sekunde ausnьtzen
will.
Dann wurde die Stimme stockend - erlosch zeitweilig ganz.
"Mirjam?" fragte ich, bebend vor Angst und mit eingezogenem Atem,
"Mirjam, bist du gestorben?"
Lange keine Antwort.
Dann fast unverstдndlich:
"Nein. - Ich lebe. - Ich schlafe."
Nichts mehr.
Ich lauschte und lauschte.
Vergebens.
Nichts mehr.
Vor Ergriffenheit und Zittern muЯte ich mich auf die Kante der Pritsche
stьtzen, um nicht vornьber auf Laponder zu fallen.
Die Tдuschung war so vollstдndig gewesen, daЯ ich Mirjam momentelang
tatsдchlich vor mir liegen zu sehen glaubte und alle meine Kraft
zusammennehmen muЯte, um nicht einen KuЯ auf die Lippen des Mцrders zu
drьcken.
"Henoch! Henoch!" - hцrte ich ihn plцtzlich lallen, dann immer klarer
und artikulierter: "Henoch! Henoch!"
Sofort erkannte ich Hillel.
"Bist du es, Hillel?"
Keine Antwort.
Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daЯ man Schlafenden, um sie zum
Reden zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen dьrfe, sondern gegen das
Nervengeflecht in der Magengrube richten mьsse.
Ich tat es:
"Hillel?"
"Ja, ich hцre dich!"
"Ist Mirjam gesund? WeiЯt du alles?" fragte ich schnell.
"Ja. Ich weiЯ alles. WuЯte es lдngst. - Sei ohne Sorge, Henoch, und
fьrchte dich nicht!"
"Kannst du mir verzeihen, Hillel?"
"Ich sage dir doch: sei ohne Sorge."
"Werden wir uns bald wiedersehen?" - Ich fьrchtete, die Antwort nicht
mehr verstehen zu kцnnen; schon der letzte Satz war nur noch gehaucht
worden.
"Ich hoffe es. Ich will warten - auf dich - wenn ich kann - dann muЯ
ich - Land -"
"Wohin? In welches Land?" - ich fiel beinahe auf Laponder - "In welches
Land? In welches Land?"
"- Land - Gad - sьdlich - Palдstina -"
Die Stimme erstarb.
Hundert Fragen schцssen mir in der Verwirrung durch den Kopf: Warum
nennt er mich Henoch? Zwakh, Jaromir, die Uhr, Vrieslander, Angelina,
Charousek.
"Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner zuweilen", kam es plцtzlich
wieder laut und deutlich von den Lippen des Mцrders. Diesmal in Charouseks
Tonfall, aber дhnlich so, als hдtte ich selbst es gesagt.
Ich erinnerte mich: es war wцrtlich der SchluЯsatz aus Charouseks
Brief. -
Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die
Kopfenden des Strohsacks. In einer Viertelstunde muЯte es aus der Zelle
verschwunden sein.
Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:
Der Mцrder lag unbeweglich da wie eine Leiche und hatte die Lider
geschlossen.
Ich machte mir die heftigsten Vorwьrfe, alle die Tage ьber in Laponder
nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. -
Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler - ein
Geschцpf, das unter dem EinfluЯ des Vollmonds stand.
Vielleicht hatte er den Lustmord in einer Art Dдmmerzustand begangen.
Bestimmt sogar. -
Jetzt, wo der Morgen graute, war die Starrheit aus seinen Zьgen
gewichen und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.
So ruhig kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem
Gewissen hat, sagte ich mir.
Ich konnte den Moment, wo er aufwachen wьrde, kaum erwarten.
Ob er wohl wьЯte, was geschehen war?
Endlich schlug er die Augen auf, begegnete meinem Blick und sah zur
Seite.
Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: "Verzeihen Sie mir, Herr
Laponder, daЯ ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war das
Ungewohnte, das -"
"Seien Sie ьberzeugt, mein Herr, ich begreife vollkommen," unterbrach
er mich lebhaft, "daЯ es ein scheuЯliches Gefьhl sein muЯ, mit einem
Lustmцrder beisammen zu sein."
"Reden Sie nicht mehr davon", bat ich. "Es ist mir heute nacht so
mancherlei durch den Kopf gegangen, und ich werde den Gedanken nicht los,
Sie kцnnten vielleicht - - -" ich suchte nach Worten.
"Sie halten mich fьr krank", half er mir heraus.
Ich bejahte: "Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schlieЯen zu dьrfen.
Ich - ich - darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?"
"Ich bitte darum."
"Es klingt etwas merkwьrdig, - aber - wьrden Sie mir sagen, was Sie
heute getrдumt haben?"
Er schьttelte lдchelnd den Kopf: "Ich trдume nie."
"Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen."
Er blickte ьberrascht auf. Dachte eine Weile nach. Dann sagte er
bestimmt:
"Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben." - Ich
gab es zu. "Denn wie gesagt, ich trдume nie. Ich - ich wandere", setzte er
nach einer Pause halblaut hinzu.
"Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?"
Er schien nicht recht mit der Sprache heraus zu wollen, und ich hielt
es fьr angezeigt, ihm die Grьnde zu nennen, die mich bewogen hatten, in ihn
zu dringen, und erzдhlte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.
"Sie kцnnen sich fest darauf verlassen," sagte er ernst, als ich zu
Ende war, "daЯ alles auf Richtigkeit beruht, was ich im Schlaf gesprochen
habe. Wenn ich vorhin bemerkte, daЯ ich nicht trдume, sondern ›wandere‹, so
meine ich damit, daЯ mein Traumleben anders beschaffen ist als das - sagen
wir: normaler Menschen. Nennen Sie es, wenn Sie wollen, ein Austreten aus
dem Kцrper. - - So war ich z. B. heute nacht in einem hцchst sonderbaren
Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch eine Falltьr fьhrte."
"Wie sah es aus?" fragte ich rasch. "War es unbewohnt? Leer?"
"Nein; es standen Mцbel darin; aber nicht viele. Und ein Bett, in dem
ein junges Mдdchen schlief - oder wie scheintot lag, - und ein Mann saЯ
neben ihr und hielt seine Hand ьber ihre Stirn." - Laponder schilderte die
Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und Mirjam.
Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.
"Bitte, erzдhlen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?"
"Sonst noch jemand? Warten Sie - - - nein: sonst war niemand mehr im
Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch. - Dann ging ich
eine Wendeltreppe hinunter."
"Sie war zerbrochen?" fiel ich ein.
"Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von ihr zweigte
seitlich eine Kammer ab, darin saЯ ein Mann mit silbernen Schnallen an den
Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich noch nie einen Menschen gesehen
habe: von gelber Gesichtsfarbe und mit schrдgstehenden Augen; - er war
vornьber gebeugt und schien auf etwas zu warten. Auf einen Auftrag
vielleicht."
"Ein Buch - ein altes groЯes Buch haben Sie nirgends gesehen?",
forschte ich.
Er rieb sich die Stirn:
"Ein Buch sagen Sie? - Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es
war aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit einem groЯen, goldenen ›A‹
fing die Seite an."
"Mit einem ›I‹, meinen Sie wohl?"
"Nein, mit einem ›A‹."
"Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein ›I‹?"
"Nein, es war bestimmt ein ›A‹."
Ich schьttelte den Kopf und fing an zu zweifeln. Offenbar hatte
Laponder im Halbschlaf in meinem Vorstellungsinhalt gelesen und alles wirr
durcheinander gebracht: Hillel, Mirjam, den Golem, das Buch Ibbur und den
unterirdischen Gang.
"Haben Sie die Gabe zu ›wandern‹, wie Sie es nennen, schon lang?",
fragte ich.
"Seit meinem 21. Jahr - - -", er stockte, schien nicht gern davon zu
reden; da nahm seine Miene plцtzlich den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens
an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas sдhe.
Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und
bat - fast flehentlich:
"Um Himmels willen, sagen Sie mir alles. Es ist heute der letzte Tag,
den ich bei Ihnen verbringen darf. Vielleicht schon in einer Stunde werde
ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhцren - -."
Ich unterbrдche ihn entsetzt:
"Dann mьssen Sie mich mitnehmen als Zeugen! Ich werde beschwцren, daЯ
Sie krank sind. - Sie sind mondsьchtig. Es darf nicht sein, daЯ man Sie
hinrichtet, ohne Ihren Geisteszustand untersucht zu haben. So nehmen Sie
doch Vernunft an!"
Er wehrte nervцs ab: "Das ist doch so nebensдchlich, - bitte, sagen Sie
mir alles!"
"Aber was soll ich Ihnen denn sagen? - Reden wir doch lieber von Ihnen
und - -"
"Sie mьssen, ich weiЯ das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben,
die mich nah angehen, - nдher als Sie ahnen kцnnen; - - ich bitte Sie, sagen
Sie mir alles!", flehte er.
Ich konnte es nicht fassen, daЯ ihn mein Leben mehr interessierte als
seine eigenen, doch wahrhaftig genьgend dringenden Angelegenheiten; um ihn
aber zu beruhigen, erzдhlte ich ihm alles, was mir an Unbegreiflichem
geschehen war.
Bei jedem grцЯeren Abschnitt nickte er zufrieden, wie jemand, der eine
Sache bis zum Grund durchschaut.
Als ich zu der Stelle kam, wo die Erscheinung ohne Kopf vor mir
gestanden und mir die schwarzroten Kцrner hingehalten hatte, konnte er es
kaum erwarten, den SchluЯ zu erfahren.
"Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm", murmelte er sinnend.
"Ich hдtte nie gedacht, daЯ es einen dritten ›Weg‹ geben kцnnte.
"Es war das kein dritter Weg", sagte ich, "es war derselbe, wie wenn
ich die Kцrner abgelehnt hдtte."
Er lдchelte.
"Glauben Sie nicht, Herr Laponder?"
"Wenn Sie sie abgelehnt hдtten, wдren Sie wohl auch den ›Weg des
Lebens‹ gegangen, aber die Kцrner, die magische Krдfte bedeuten, wдren nicht
zurьckgeblieben. - So sind sie auf den Boden gerollt, wie Sie sagen. Das
heiЯt: sie sind hiergeblieben und werden von Ihren Vorfahren so lange
gehьtet, bis die Zeit des Keimens da ist. Dann werden die Krдfte, die in
Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden."
Ich verstand nicht: "Von meinen Vorfahren werden die Kцrner behьtet?"
"Sie mьssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie erlebt haben",
erklдrte Laponder. "Der Kreis der blдulich strahlenden Menschen, der Sie
umstand, war die Kette der ererbten ›Iche‹, die jeder von einer Mutter
Geborene mit sich herumschleppt. Die Seele ist nichts ›Einzelnes‹, - sie
soll es erst werden, und das nennt man dann: ›Unsterblichkeit‹; Ihre Seele
ist noch zusammengesetzt aus vielen ›Ichen‹ - so, wie ein Ameisenstaat aus
vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren in
sich: - die Hдupter Ihres Geschlechtes. Bei allen Wesen ist es so. Wie
kцnnte denn ein Huhn, das aus einem Ei kьnstlich erbrьtet wurde, sich
sogleich die richtige Nahrung suchen, wenn nicht die Erfahrung von
Jahrmillionen in ihm stдke? - Das Vorhandensein des ›Instinkts‹ verrдt die
Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele. - Aber, verzeihen Sie, ich
wollte Sie nicht unterbrechen."
Ich erzдhlte zu Ende. Alles. Auch das, was Mirjam ьber den
"Hermaphroditen" gesagt hatte.
Als ich innehielt und aufblickte, bemerkte ich, daЯ Laponder weiЯ
geworden war wie der Kalk an der Wand und Trдnen ьber seine Wangen liefen.
Rasch stand ich auf, tat, als sдhe ich es nicht, und ging in der Zelle
auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben wьrde.
Dann setzte ich mich ihm gegenьber und bot meine ganze Beredsamkeit
auf, ihn zu ьberzeugen, wie dringend nцtig es wдre, den Richtern gegenьber
auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.
"Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden hдtten!", schloЯ ich.
"Aber ich muЯte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt", sagte er
naiv.
"Halten Sie denn eine Lьge fьr schlimmer als - als einen Lustmord?",
fragte ich verblьfft.
"Im allgemeinen vielleicht nicht, in meinem Fall gewiЯ. - Sehen Sie:
als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde, ob ich gestьnde, hatte ich
die Kraft, die Wahrheit zu sagen. Es stand also in meiner Wahl, zu lьgen
oder nicht zu lьgen. - Als ich den Lustmord beging - - bitte, ersparen Sie
mir die Details: es war so grдЯlich, daЯ ich die Erinnerung nicht wieder
aufleben lassen mцchte - - als ich den Lustmord beging, da hatte ich keine
Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen klarem BewuЯtsein handelte, so hatte ich
dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt
hatte, wachte auf und war stдrker als ich. Glauben Sie, wenn ich die Wahl
gehabt haben wьrde, ich hдtte gemordet? - Nie habe ich getцtet - nicht
einmal das kleinste Tier, - und jetzt wдre ich es schon gar nicht mehr
imstande.
Nehmen Sie an, es wдre Menschengesetz: zu morden, und auf die
Unterlassung stьnde der Tod - дhnlich, wie es im Krieg der Fall ist, -
augenblicklich hдtte ich mir den Tod verdient. - Weil mir keine Wahl bliebe.
Ich kцnnte ganz einfach nicht morden. Damals, als ich den Lustmord beging,
lag die Sache umgekehrt."
"Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer fьhlen, mьssen Sie
alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!", wandte ich ein.
Laponder machte eine abwehrende Handbewegung: "Sie irren! Die Richter
haben von ihrem Standpunkt aus ganz recht. Sollen sie einen Menschen wie
mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder ьbermorgen wieder
das Unheil losbricht?"
"Nein; aber in einer Heilanstalt fьr Geisteskranke sollte man Sie
internieren. Das ist es doch, was ich sage!"
"Wenn ich irrsinnig wдre, hдtten Sie recht", erwiderte Laponder
gleichmьtig. "Aber ich bin nicht irrsinnig. Ich bin etwas ganz anderes, -
etwas, was dem Irrsinn sehr дhnlich sieht, aber gerade das Gegenteil ist.
Bitte, hцren Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. - - - Was Sie mir
vorhin von dem Phantom ohne Kopf - ein Symbol natьrlich: dieses Phantom; den
Schlьssel kцnnen Sie leicht finden, wenn Sie darьber nachdenken - erzдhlten,
ist mir einst genauso passiert. Nur habe ich die Kцrner angenommen. Ich gehe
also den ›Weg des Todes‹! - Fьr mich ist das Heiligste, das ich denken kann:
meine Schritte vom Geistigen in mir lenken zu lassen. Blind, vertrauensvoll,
wohin der Weg auch fьhren mag: ob zum Galgen oder zum Thron, ob zur Armut
oder zum Reichtum. Niemals habe ich gezцgert, wenn die Wahl in meine Hand
gelegt war.
Darum habe ich auch nicht gelogen, als die Wahl in meiner Hand lag.
Kennen Sie die Worte des Propheten Micha:
"Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,
und was der Herr von dir fordert,"?
Wьrde ich gelogen haben, hдtte ich eine Ursache geschaffen, weil ich
die Wahl hatte; - - als ich den Mord beging, schuf ich keine Ursache; nur
die Wirkung einer in mir schlummernden, lдngst gelegten Ursache, ьber die
ich keine Gewalt mehr besaЯ, wurde frei.
Also sind meine Hдnde rein.
Dadurch, daЯ das Geistige in mir mich zum Mцrder werden lieЯ, hat es
eine Hinrichtung an mir vollzogen; dadurch, daЯ mich die Menschen an den
Galgen knьpfen, wird mein Schicksal losgelцst von dem ihrigen: - ich komme
zur Freiheit."
Er ist ein Heiliger, fьhlte ich, und das Haar strдubte sich mir vor
Schauder ьber meine eigene Kleinheit.
"Sie haben mir erzдhlt, daЯ Sie durch den hypnotischen Eingriff eines
Arztes in Ihr BewuЯtsein lange die Erinnerung an Ihre Jugendzeit vergessen
hatten", fuhr er fort. "Es ist das das Kennzeichen - das Stigma - aller
derer, die von der ›Schlange des geistigen Reiches‹ gebissen sind. Es
scheint fast, als mьЯten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden, wie
ein Edelreis auf den wilden Baum, ehe das Wunder der Erweckung geschehen
kann; - was sonst durch den Tod getrennt wird, geschieht hier durch
Erlцschen der Erinnerung - manchmal nur durch eine plцtzliche innere Umkehr.
Bei mir war es so, daЯ ich scheinbar ohne дuЯere Ursache in meinem 21.
Jahr eines Morgens wie verдndert erwachte. Was mir bis dahin lieb gewesen,
erschien mir mit einemmal gleichgьltig: Das Leben kam mir dumm vor wie eine
Indianergeschichte und verlor an Wirklichkeit; die Trдume wurden zu
GewiЯheit - zu apodiktischer, beweiskrдftiger GewiЯheit, verstehen Sie wohl:
zu beweiskrдftiger, realer GewiЯheit, und das Leben des Tages wurde zum
Traum.
Alle Menschen kцnnten das, wenn sie den Schlьssel hдtten. Und der
Schlьssel liegt einzig und allein darin, daЯ man sich seiner ›Ichgestalt‹,
sozusagen seiner Haut, im Schlaf bewuЯt wird, - die schmale Ritze findet,
durch die sich das BewuЯtsein zwдngt zwischen Wachsein und Tiefschlaf.
Darum sagte ich vorhin: ›ich wandere‹ und nicht: ›ich trдume‹.
Das Ringen nach der Unsterblichkeit ist ein Kampf um das Zepter gegen
die uns innewohnenden Klдnge und Gespenster; und das Warten auf das
Kцnigwerden des eigenen ›Ichs‹ ist das Warten auf den Messias.
Der schemenhafte Habal Garmin, den Sie gesehen haben, der ›Hauch der
Knochen‹ der Kabbala, das war der Kцnig. Wenn er gekrцnt sein wird, dann -
reiЯt der Strick entzwei, mit dem Sie durch die дuЯeren Sinne und den
Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.
Wieso es kommen konnte, daЯ ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben
ьber Nacht zum Lustmцrder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist wie
ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben nur die
eine. Ist die Kugel rot, heiЯt der Mensch: ›schlecht‹. Ist sie gelb, dann
ist der Mensch: ›gut‹. Laufen zwei hintereinander - eine rote und eine
gelbe, dann hat ›man‹ einen ›ungefestigten‹ Charakter. Wir von der ›Schlange
Gebissenen‹, machen in einem Leben durch, was sonst an der ganzen Rasse in
einem Weltenalter geschieht: die farbigen Kugeln rasen hintereinander her
durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind - - dann sind wir Propheten, -
sind die Spiegel Gottes geworden."
Laponder schwieg.
Lange konnte ich kein Wort sprechen. Seine Rede hatte mich fast
betдubt.
"Weshalb fragten Sie mich vorhin so дngstlich nach meinen Erlebnissen,
wo Sie doch so viel, viel hцher stehen als ich?", fing ich endlich wieder
an.
"Sie irren," sagte Laponder, "ich stehe weit unter Ihnen. - Ich fragte
Sie, weil ich fьhlte, daЯ Sie den Schlьssel besitzen, der mir noch fehlte."
"Ich? Einen Schlьssel. O Gott!"
"Jawohl Sie! Und Sie haben ihn mir gegeben. - Ich glaube nicht, daЯ es
einen glьcklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin."
DrauЯen entstand ein Gerдusch; die Riegel wurden zurьckgeschoben, -
Laponder achtete kaum darauf:
"Das mit dem Hermaphroditen war der Schlьssel. Jetzt habe ich die
GewiЯheit. Schon deshalb bin ich froh, daЯ man mich holen kommt, denn bald
bin ich am Ziel."
Vor Trдnen konnte ich Laponders Gesicht nicht mehr unterscheiden, ich
hцrte nur das Lдcheln in seiner Stimme.
"Und jetzt: Leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken Sie: das, was man
morgen aufhenkt, sind nur meine Kleider; Sie haben mir das Schцnste
erцffnet, - das Letzte, was ich noch nicht wuЯte. Jetzt geht's zur Hochzeit
- - -," er stand auf und folgte dem Gefangenwдrter - "es hдngt mit dem
Lustmord eng zusammen", waren die letzten Worte, die ich hцrte und nur
dunkel begriff.
Sooft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel stand, glaubte ich immer
wieder Laponders schlafendes Gesicht auf der grauen Leinwand des Bettes
liegen zu sehen.
In den nдchsten Tagen, nachdem er weggefьhrt worden war, hatte ich ein
Hдmmern und Zimmern aus dem Hinrichtungshof heraufdrцhnen hцren, das
manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.
Ich erriet, was es bedeutete, und hielt mir stundenlang die Ohren zu
vor Verzweiflung.
Monat um Monat verfloЯ. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden
des kьmmerlichen Laubs im Hof; roch es an dem pelzigen Hauch, der aus den
Mauern drang.
Wenn mein Blick bei den Rundgдngen auf den sterbenden Baum fiel und das
eingewachsene Glasbild der Heiligen in seiner Rinde, zog ich unwillkьrlich
jedesmal den Vergleich, wie tief sich auch Laponders Gesicht in mich
eingegraben hatte. Bestдndig trug ich es in mir herum, dieses Buddhagesicht
mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen, immerwдhrenden Lдcheln.
Ein einziges Mal noch - im September - hatte mich der
Untersuchungsrichter holen lassen und miЯtrauisch gefragt, wie ich es
begrьnden kцnne, daЯ ich bei dem Bankschalter gesagt, ich mьsse dringend
verreisen, und warum ich in den Stunden vor meiner Verhaftung so unruhig
gewesen wдre und meine sдmtlichen Edelsteine zu mir gesteckt hдtte.
Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu
nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch hцhnisch gemeckert. -
Bis dahin war ich allein in meiner Zelle gewesen und konnte meinen
Gedanken, meiner Trauer um Charousek, der, wie ich fьhlte, lдngst tot sein
muЯte, und Laponder und meiner Sehnsucht nach Mirjam nachhдngen.
Dann kamen wieder neue Gefangene: diebische Kommis mit verlebten
Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer, - "Waisenkinder", wie der schwarze
Vуssatka sie genannt haben wьrde, - und verpesteten mir die Luft und die
Stimmung.
Eines Tages gab einer von ihnen voll Entrьstung zum besten, daЯ vor
geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum Glьck hдtte man
den Tдter sogleich erwischt und kurzen ProzeЯ mit ihm gemacht.
"Laponder hat er geheiЯen, der Schuft, der gottserbдrmliche", schrie
ein Kerl mit einer Raubtierschnauze, der wegen KindsmiЯhandlung zu - 14
Tagen Gefдngnis verurteilt worden war, dazwischen. "Auf frischer Tat
habn's'n g'faЯt. Die Lampen is umg'fallen bei dem Krawall und's Zimmer is
ausbrennt. Die Leich' von dem Mдdel is dabei so verkohlt, daЯ mer bis zum
heutigen Tage noch nцt hat rausbringen kцnnen, wer sie eigentlich war.
Schwarze Haar hat's g'habt und a schmal's G'sicht, dцs is alls, was mer
weiЯ. Und der Laponder hat net ums Verrecken rausg'rьckt mit ihrem Namen. -
Wann's nach mir gangen wдr, i hдtt ihm d'Haut ab'zogen und Pfeffer drauf
g'streut. - Dцs san halt die feinen Herren! Mцrder san's, alle z'samm. - - -
- Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann aner a Mдdel los sein wьll",
setzte er mit zynischem Lдcheln hinzu.
Die Wut kochte in mir, und am liebsten hдtte ich den Halunken zu Boden
geschlagen.
Nacht fьr Nacht schnarchte er in dem Bett, auf dem Laponder gelegen.
Ich atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.
Aber selbst da war ich ihn noch nicht los: seine Rede hatte sich wie
ein Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.
Fast bestдndig, hauptsдchlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der
grausige Verdacht, Mirjam kцnnte das Opfer Laponders gewesen sein.
Je mehr ich dagegen ankдmpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem
Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.
Manchmal, besonders wenn der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es
besser: ich konnte mir die Stunden, die ich mit Laponder verlebt, dann
lebendig machen, und das tiefe Gefьhl fьr ihn verscheuchte mir die Qual, -
aber nur zu oft kamen die grдЯlichen Minuten wieder, wo ich Mirjam ermordet
und verkohlt im Geiste vor mir sah und glaubte, vor Angst den Verstand
verlieren zu mьssen.
Die schwachen Anhaltspunkte, die ich fьr meinen Verdacht hatte,
verdichteten sich in solchen Zeiten zu einem geschlossenen Ganzen, - zu
einem Gemдlde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.
Anfang November gegen 10 Uhr abends, es war bereits stockfinster und
die Verzweiflung in mir hatte einen derartigen Hцhepunkt erreicht, daЯ ich
mich, um nicht laut aufzuschreien, in meinen Strohsack verbiЯ wie ein
verdurstendes Tier, цffnete plцtzlich der Gefangenwдrter die Zelle und
forderte mich auf, mit ihm zum Untersuchungsrichter zu kommen. Ich fьhlte
mich so schwach, daЯ ich mehr taumelte als ging.
Die Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu dьrfen, war
lдngst in mir gestorben.
Ich machte mich darauf gefaЯt, wieder eine kalte Frage gestellt zu
bekommen, das stereotype Gemecker hinter dem Schreibtisch zu hцren und dann
zurьck in die Finsternis zu mьssen.
Der Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein
alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.
Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen wьrde.
Es fiel mir auf, daЯ der Gefangenwдrter mit hereingekommen war und mir
gutmьtig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als daЯ ich mir
ьber die Bedeutung alles dessen hдtte klarwerden kцnnen.
"Die Untersuchung hat ergeben", fing der Schreiber an, meckerte, stieg
auf einen Sessel und kramte erst lange auf dem Bьcherbord nach
Schriftstьcken, ehe er fortfuhr: "hat ergeben, daЯ der in Frage kommende
Karl Zottmann vor seinem Tode anlдЯlich einer heimlichen Zusammenkunft mit
der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die damaliger
Zeit den Spitznamen ›die rote Rosina‹ fьhrte, dann spдter von einem
taubstummen, nunmehr unter polizeilicher Aufsicht stehenden
Silhubettenschneider namens Jaromir KwбЯnitschka aus dem Weinsalon ›Kautsky‹
losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner Durchlaucht dem Fьrsten
Ferri Athenstдdt im gemeinsamen, wilden Konkubinate als Maiteresse lebt, von
hinterlistiger Hand in ein unterirdisches, aufgelassenes Kellergewцlbe des
Hauses Nummer conscriptionis 21873, gebrochen durch rцmisch III, der
HahnpaЯgasse, laufende Numero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und
sich selbst, beziehungsweise dem Tode durch Verhungern oder Erfrieren
ьberlassen wurde. - - Der obenerwдhnte Zottmann nдmlich", erklдrte der
Schreiber mit einem Blick ьber die Brille hinweg und blдtterte ein paarmal
um.
"Die Untersuchung hat weiters ergeben, daЯ der obenerwдhnte Karl
Zottmann allem Anscheine nach - nach eingetretenem Ableben - seiner
sдmtlichen bei ihm getragenen Habseligkeiten, insbesondere seiner sub
faszikel rцmisch P gebrochen durch ›Bдh‹ beigeschlossenen doppelmanteligen
Taschenuhr" - der Schreiber hob die Uhr an der Kette in die Hцhe - "beraubt
wurde. Der eidesstattlichen Aussage des Silhubettenschnitzers Jaromir
KwбЯnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17 Jahren verstorbenen
Hostienbдckers gleichen Namens: die Uhr im Bette seines inzwischen flьchtig
gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den Altwarenhдndler und mehrfachen,
inzwischen aus dem Leben geschiedenen Realitдtenbesitzer Aaron Wassertrum
gegen Inempfangnahme von Geldeswert verдuЯert zu haben, konnte mangels
Glaubwьrdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.
Die Untersuchung hat weiters ergeben, daЯ die Leiche des erwдhnten Karl
Zottmann in der rьckwдrtigen Hosentasche zur Zeit ihrer Auffindung ein
Notizbuch bei sich trug, in der sie vermutlich bereits einige Tage vor
erfolgtem Ableben mehrere den Tatbestand erhellende und die Ergreifung des
Tдters durch die k. k. Behцrden erleichternde Eintragungen vorgenommen
hatte.
Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge
auf den nunmehr durch die Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend
verdдchtig gewordenen Loisa KwбЯnitschka, zurzeit flьchtig, gelenkt und
unter einem verfьgt, die Untersuchungshaft gegen Athanasius Pernath,
Gemmenschneider, dermalen noch unbescholten, aufzuheben, und das Verfahren
gegen ihn einzustellen.
Prag im Juli
gezeichnet
Dr. Freiherr von Leisetreter."
Der Boden schwankte unter meinen FьЯen, und ich verlor eine Minute das
BewuЯtsein.
Als ich erwachte, saЯ ich auf einem Stuhl, und der Gefangenwдrter
klopfte mir freundlich auf die Schulter.
Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich
und sagte zu mir:
"Die Verlesung der Verfьgung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr
Name mit einem ›Pдh‹ beginnt und naturgemдЯ im Alphabet erst gegen SchluЯ
vorkommen kann." - Dann las er weiter:
"Ьberdies ist der Athanasius Pernath, Gemmenschneider, in Kenntnis zu
setzen, daЯ ihm laut testamentarischer Verfьgung des im Mai mit Tod
abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek ein Drittel von dessen gesamter
Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und ist er zur Unterfertigung des
Protokolls hiermit anzuhalten."
Der Schreiber hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing
an zu schmieren.
Ich erwartete gewohnheitsmдЯig, daЯ er meckern wьrde, aber er meckerte
nicht.
"Innocenz Charousek", murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.
Der Gefangenwдrter beugte sich ьber mich und flьsterte mir ins Ohr:
"Kurz vor seinem Tode war er bei mir, der Herr Dr. Charousek, und hat
sich nach Ihnen erkundigt. Er lдЯt Sie viel-vielmals grьЯen, hat er g'sagt.
Ich hab's natьrlich damals nicht ausrichten dьrfen. Es ist streng verboten.
Ein schreckliches Ende hat er ьbrigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er
Ende April war Wassertrum so weit, daЯ meine Suggestion anfing zu
wirken.
Ich sah es daran, daЯ er auf der Gasse bestдndig gestikulierte und laut
mit sich selbst sprach.
So etwas ist ein sicheres Zeichen, daЯ die Gedanken eines Menschen sich
zum Sturm rotten, um ьber ihren Herrn herzufallen.
Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.
Er schrieb!
Er schrieb! DaЯ ich nicht lache! Er schrieb.
Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wuЯte ich, was er
oben machte: - er machte sein Testament.
DaЯ er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht.
Ich hдtte wahrscheinlich den Veitstanz bekommen vor Vergnьgen, wenn's mir
eingefallen wдre.
Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an
dem er noch etwas gutmachen kцnnte, wie er glaubte. Das Gewissen hat ihn
ьberlistet.
Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich wьrde ihn segnen, wenn ich mich
nach seinem Tode durch seine Huld plцtzlich als Millionдr sдhe, und dadurch
den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat mit anhцren
mьssen.
Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.
Rasend witzig, daЯ er heimlich also doch an eine Wiedervergeltung im
Jenseits geglaubt hat, wдhrend er sich's das ganze Leben lang mьhselig
ausreden wollte.
Aber so ist's bei allen den Ganzgescheiten; man sieht es schon an der
wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt. Sie
fьhlen sich ertappt.
Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, lieЯ ich ihn nicht mehr
aus dem Auge.
Des Nachts horchte ich an den Verschlagbrettern seines Ladens, denn
jede Minute konnte die Entscheidung fallen. -
Ich glaube, durch Mauern hindurch wьrde ich das ersehnte schnalzende
Gerдusch gehцrt haben, wenn er den Stцpsel aus der Giftflasche gezogen
hдtte.
Es fehlte vielleicht nur eine Stunde, und mein Lebenswerk war
vollbracht.
Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.
Lassen Sie sich das Nдhere von Wenzel erzдhlen, mir wird es zu bitter,
alles das niederschreiben zu mьssen.
Nennen Sie es Aberglaube, - aber, wie ich sah, daЯ Blut vergossen
worden war - die Dinge im Laden waren befleckt davon, - kam es mir vor, als
sei mir seine Seele entwischt.
Etwas in mir, - ein feiner, untrьglicher Instinkt - sagt mir, daЯ es
nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von fremder Hand stirbt oder von eigener:
- daЯ Wassertrum sein Blut mit sich in die Erde hдtte nehmen mьssen, dann
erst wдre meine Mission erfьllt gewesen. - Jetzt, wo es anders gekommen ist,
fьhle ich mich als AusgestoЯener, als ein Werkzeug, das nicht wьrdig
befunden wurde in der Hand des Todesengels.
Aber ich will mich nicht auflehnen. Mein HaЯ ist von der Art, die ьbers
Grab hinaus geht, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich vergieЯen
kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich der Schatten auf
Schritt und Tritt. - - -
Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich drauЯen bei
ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.
Ich glaube, ich weiЯ es bereits, aber ich will noch warten, bis das
innere Wort, das zu mir spricht, klar wird wie eine Quelle. - Wir Menschen
sind unrein, und oft bedarf es langen Fastens und Wachens, bis wir das
Flьstern unserer Seele verstehen. - - -
In der verflossenen Woche wurde mir offiziell vom Gericht mitgeteilt,
daЯ mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.
DaЯ ich fьr mich keinen Kreuzer davon anrьhre, brauche ich Ihnen wohl
nicht zu versichern, Herr Pernath. - Ich werde mich hьten, ›ihm‹ - fьr
›drьben‹ eine Handhabe zu geben.
Die Hдuser, die er besessen hat, lasse ich versteigern, die
Gegenstдnde, die er berьhrt hat, werden verbrannt, und was an Geld und
Geldeswert sich dann ergibt, fдllt nach meinem Tode zu einem Drittel Ihnen
zu. -
Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann
Sie beruhigen. Was Sie bekommen, ist Ihr rechtmдЯiges Eigentum mit Zinsen
und Zinseszinsen. Schon lange wuЯte ich, daЯ Wassertrum vor Jahren Ihren
Vater und seine Familie um alles gebracht hat, - erst jetzt bin ich in der
Lage, es aktenmдЯig nachweisen zu kцnnen.
Ein zweites Drittel wird unter die zwцlf Mitglieder des "Bataillons"
verteilt, die den Dr. Hulbert noch persцnlich gekannt haben. Ich will, daЯ
jeder von ihnen reich wird und Zutritt bekommt zur Prager - "guten
Gesellschaft".
Das letzte Drittel gehцrt zu gleichen Teilen den nдchsten sieben
Raubmцrdern des Landes, die mangels zureichender Beweise freigesprochen
werden mьssen.
Ich bin das dem цffentlichen Дrgernis schuldig.
So. Das wдre wohl alles.
Und jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie
zuweilen
Ihres
aufrichtigen und dankbaren
Innocenz Charousek."
Tief erschьttert legte ich den Brief aus der Hand. Ich konnte mich
nicht freuen ьber die Nachricht von meiner bevorstehenden Enthaftung.
Charousek! Armer Mensch! Wie ein Bruder kьmmerte er sich um mein
Schicksal. BloЯ, weil ich ihm einst 100 fl geschenkt hatte. Wenn ich ihm nur
einmal noch die Hand drьcken kцnnte!
Ich fьhlte: ja, er hatte recht; der Tag wьrde nie kommen.
Ich sah ihn vor mir: seine flackernden Augen, die schwindsьchtigen
Schultern, die hohe, noble Stirn.
Vielleicht, daЯ alles ganz anders gekommen wдre, wenn eine hilfreiche
Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen hдtte.
Noch einmal las ich den Brief durch.
Wieviel Methode in Charouseks Irrsinn lag! Ob er ьberhaupt irrsinnig
war?
Ich schдmte mich beinahe, diesen Gedanken auch nur einen Augenblick
geduldet zu haben.
Sagten seine Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch wie Hillel,
wie Mirjam, wie ich selbst; ein Mensch, ьber den die eigene Seele Gewalt
gewonnen hatte, - den sie durch die wilden Schluchten und Klьfte des Lebens
emporfьhrte in die Firnenwelt eines unbetreten Landes.
Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen, stand er nicht reiner
da, als irgendeiner von denen, die naserьmpfend umhergehen und angelernte
Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen vorgeben?
Er hielt das Gebot, das ihm ein ьbermдchtiger Trieb diktierte, ohne an
eine "Belohnung" hier oder jenseits auch nur zu denken.
Was er getan hatte, war es etwas anderes als frцmmste Pflichterfьllung
in des Wortes verborgenster Bedeutung?
"Feig, hinterlistig, mordgierig, krank, eine problematische - eine
Verbrechernatur" - ich hцrte fцrmlich, wie das Urteil der Menge ьber ihn
lauten muЯte, wenn sie mit ihren blinden Stallaternen in seine Seele
hineinzuleuchten kдme, - dieser geifernden Menge, die nie und nimmer
begreifen wird, daЯ die giftige Herbstzeitlose tausendfach schцner und edler
ist als der nьtzliche Schnittlauch. - - -
Wieder ging das TьrschloЯ drauЯen, und ich hцrte, daЯ man einen
Menschen hereinschob.
Ich drehte mich nicht einmal um, so sehr war ich erfьllt von dem
Eindruck des Briefes.
Kein Wort ьber Angelina, nichts von Hillel stand darin.
Freilich: Charousek muЯte in grцЯter Eile geschrieben haben, die
Schrift verriet es mir.
Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich ьberbracht werden wьrde?
Ich hoffte heimlich auf den morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang
der Gefangenen im Hof. - Da war es noch am leichtesten, daЯ mir irgendeiner
vom "Bataillon" etwas zusteckte.
Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen Grьbeleien:
"Wьrden Sie gestatten, mein Herr, daЯ ich mich Ihnen vorstelle? Mein
Name ist Laponder. Amadeus Laponder".
Ich drehte mich um.
Ein kleiner, schmдchtiger, noch ziemlich junger Mann in gewдhlter
Kleidung, nur ohne Hut, wie alle Untersuchungsgefangenen, verbeugte sich
korrekt vor mir.
Er war glattrasiert wie ein Schauspieler, und seine groЯen, hellgrьn
glдnzenden, mandelfцrmigen Augen hatten das Eigentьmliche an sich, daЯ, so
geradeaus sie auch auf mich gerichtet waren, sie mich doch nicht zu sehen
schienen. - Es lag so etwas wie - Geistesabwesenheit darin.
Ich murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich
wieder umdrehen, konnte aber lange den Blick von dem Menschen nicht wenden,
so fremdartig wirkte er auf mich mit dem pagodenhaften Lдcheln, das die
aufwдrts gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen bestдndig seinem
Gesicht aufdrьckten.
Er sah fast aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit
seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut, der mдdchenhaft schmalen Nase und
den zarten Nьstern.
"Amadeus Laponder, Amadeus Laponder", wiederholte ich vor mich hin.
"Was er wohl begangen haben mag?"
"Waren Sie schon beim Verhцr", fragte ich nach einer Weile.
"Ich komme soeben von dort. - Hoffentlich werde ich Sie hier nicht
lange inkommodieren mьssen", antwortete Herr Laponder liebenswьrdig.
"Armer Teufel," dachte ich mir, "er ahnt nicht, was einem
Untersuchungsgefangenen bevorsteht."
Ich wollte ihn langsam vorbereiten:
"Man gewцhnt sich allmдhlich an das Stillsitzen, wenn einmal die
ersten, schlimmsten Tage vorьber sind." - - -
Er machte ein verbindliches Gesicht.
Pause.
"Hat das Verhцr lange gedauert, Herr Laponder?"
Er lдchelte zerstreut:
"Nein. Ich wurde bloЯ gefragt, ob ich gestдndig sei, und muЯte das
Protokoll unterschreiben."
"Sie haben unterschrieben, daЯ Sie gestдndig sind?" fuhr es mir heraus.
"Allerdings."
Er sagte es, als ob es sich von selbst verstьnde.
Es kann nichts Schlimmes sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar
keine Aufregung zeigt. Wahrscheinlich eine Herausforderung zum Duell oder
etwas Дhnliches.
"Ich bin leider schon so lange hier, daЯ es mir wie ein Menschenleben
vorkommt"; - ich seufzte unwillkьrlich, und er machte sofort eine
teilnehmende Miene. "Ich wьnsche Ihnen, daЯ Sie das nicht mitzumachen
brauchen, Herr Laponder. Nach allem, was ich sehe, werden Sie bald auf
freiem FuЯ sein."
"Wie man's nimmt", antwortete er ruhig, aber es klang wie ein
versteckter Doppelsinn.
"Sie glauben nicht?", fragte ich lдchelnd. Er schьttelte den Kopf.
"Wie soll ich das verstehen? - Was haben Sie denn gar so Schreckliches
begangen? Verzeihen Sie, Herr Laponder, es ist nicht Neugierde von mir, -
lediglich Teilnahme, daЯ ich frage."
Er zцgerte einen Augenblick, dann sagte er, ohne mit der Wimper zu
zucken:
"Lustmord."
Mir war, als hдtte er mich mit einem Stock ьber den Kopf geschlagen.
Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.
Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht das
leiseste Minenspiel in seinem automatenhaft lдchelnden Gesicht verriet, daЯ
er ьber mein plцtzlich verдndertes Benehmen verletzt gewesen wдre.
Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. -
- -
Als ich mich nach Einbruch der Dunkelheit niederlegte, folgte er
sogleich meinem Beispiel, entkleidete sich, hдngte sorgsam seine Kleider an
den Wandnagel, streckte sich aus und schien, nach seinen ruhigen, tiefen
Atemzьgen zu schlieЯen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu sein.
Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.
Das bestдndige Gefьhl, ein solches Scheusal in meiner nдchsten Nдhe zu
haben und dieselbe Luft mit ihm atmen zu mьssen, war mir so grдЯlich und
aufregend, daЯ die Eindrьcke des Tages, Charouseks Brief und all das erlebte
Neue tief in den Hintergrund traten.
Ich hatte mich so gelegt, daЯ ich den Mцrder bestдndig im Auge behielt,
denn ich wьrde es nicht haben ertragen kцnnen, ihn hinter mir zu wissen.
Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchdдmmert, und ich konnte
sehen, daЯ Laponder regungslos, fast starr, dalag.
Seine Zьge hatten etwas Leichenhaftes bekommen, und der halbgeцffnete
Mund erhцhte diesen Eindruck.
Viele Stunden hindurch дnderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.
Erst spдt nach Mitternacht, als ein dьnner Mondstrahl auf sein Gesicht
fiel, kam eine leise Unruhe ьber ihn und er bewegte unaufhцrlich die Lippen,
wie jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu sein, -
ein zweisilbiger Satz vielleicht, - so wie:
"LaЯ mich. LaЯ mich, LaЯ mich."
Die nдchsten paar Tage vergingen, ohne daЯ ich Notiz von ihm genommen
hдtte, und auch er brach niemals das Schweigen.
Sein Benehmen blieb nach wie vor gleich liebenswьrdig. Sooft ich auf
und ab gehen wollte, sah er es mir sofort an und zog hцflich, wenn er auf
der Pritsche saЯ, die FьЯe zurьck, um mir nicht im Wege zu sein.
Ich fing an, mir Vorwьrfe wegen meiner Schroffheit zu machen, konnte
aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.
So sehr ich gehofft hatte, mich an seine Nдhe gewцhnen zu kцnnen, - es
ging nicht.
Selbst in den Nдchten hielt es mich wach. Kaum eine Viertelstunde
verbrachte ich im Schlaf.
Abend fьr Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete
respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte sie
pedantisch in Falten, hдngte sie auf, und so weiter und so weiter.
Eines Nachts - es mochte um die zweite Stunde sein - stand ich
schlaftrunken vor Mьdigkeit wieder auf dem Wandbrett, starrte in den
Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes Цl auf dem kupfernen Gesicht
der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.
Da hцrte ich plцtzlich leise ihre Stimme hinter mir.
Sofort war ich wach, ьberwach, - fuhr herum und horchte.
Eine Minute verging.
Schon glaubte ich, ich hдtte mich getдuscht, da kam es wieder. Ich
konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:
"Frag' mich. Frag' mich."
Es war bestimmt Mirjams Stimme.
Schlotternd vor Aufregung stieg ich, so leise ich konnte, herab und
trat an das Bett Laponders.
Das Mondlicht schien voll auf sein Gesicht, und ich konnte deutlich
unterscheiden, daЯ er die Lider offen hatte, doch nur das WeiЯe der Augдpfel
war sichtbar.
An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, daЯ er im Tiefschlaf lag.
Nur die Lippen bewegten sich wieder wie neulich. Und allmдhlich
verstand ich die Worte, die hinter seinen Zдhnen hervordrangen:
"Frag' mich. Frag' mich."
Die Stimme war der von Mirjam tдuschend дhnlich.
"Mirjam? Mirjam?" rief ich unwillkьrlich, dдmpfte aber sofort den Ton,
um den Schlдfer nicht zu erwecken.
Ich wartete, bis sein Gesicht wieder starr geworden war, dann
wiederholte ich leise:
"Mirjam? Mirjam?"
Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:
"Ja."
Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen. Nach einer Weile hцrte ich
Mirjams Stimme flьstern - so unverkennbar ihre Stimme, daЯ mir Kдlteschauer
ьber die Haut liefen.
Ich trank die Worte so gierig, daЯ ich nur den Sinn begriff. Sie sprach
von Liebe zu mir und von dem unsagbaren Glьck, daЯ wir uns endlich gefunden
hдtten - und uns nie wieder trennen wьrden - hastig - ohne Pause, wie
jemand, der fьrchtet, unterbrochen zu werden und jede Sekunde ausnьtzen
will.
Dann wurde die Stimme stockend - erlosch zeitweilig ganz.
"Mirjam?" fragte ich, bebend vor Angst und mit eingezogenem Atem,
"Mirjam, bist du gestorben?"
Lange keine Antwort.
Dann fast unverstдndlich:
"Nein. - Ich lebe. - Ich schlafe."
Nichts mehr.
Ich lauschte und lauschte.
Vergebens.
Nichts mehr.
Vor Ergriffenheit und Zittern muЯte ich mich auf die Kante der Pritsche
stьtzen, um nicht vornьber auf Laponder zu fallen.
Die Tдuschung war so vollstдndig gewesen, daЯ ich Mirjam momentelang
tatsдchlich vor mir liegen zu sehen glaubte und alle meine Kraft
zusammennehmen muЯte, um nicht einen KuЯ auf die Lippen des Mцrders zu
drьcken.
"Henoch! Henoch!" - hцrte ich ihn plцtzlich lallen, dann immer klarer
und artikulierter: "Henoch! Henoch!"
Sofort erkannte ich Hillel.
"Bist du es, Hillel?"
Keine Antwort.
Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daЯ man Schlafenden, um sie zum
Reden zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen dьrfe, sondern gegen das
Nervengeflecht in der Magengrube richten mьsse.
Ich tat es:
"Hillel?"
"Ja, ich hцre dich!"
"Ist Mirjam gesund? WeiЯt du alles?" fragte ich schnell.
"Ja. Ich weiЯ alles. WuЯte es lдngst. - Sei ohne Sorge, Henoch, und
fьrchte dich nicht!"
"Kannst du mir verzeihen, Hillel?"
"Ich sage dir doch: sei ohne Sorge."
"Werden wir uns bald wiedersehen?" - Ich fьrchtete, die Antwort nicht
mehr verstehen zu kцnnen; schon der letzte Satz war nur noch gehaucht
worden.
"Ich hoffe es. Ich will warten - auf dich - wenn ich kann - dann muЯ
ich - Land -"
"Wohin? In welches Land?" - ich fiel beinahe auf Laponder - "In welches
Land? In welches Land?"
"- Land - Gad - sьdlich - Palдstina -"
Die Stimme erstarb.
Hundert Fragen schцssen mir in der Verwirrung durch den Kopf: Warum
nennt er mich Henoch? Zwakh, Jaromir, die Uhr, Vrieslander, Angelina,
Charousek.
"Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner zuweilen", kam es plцtzlich
wieder laut und deutlich von den Lippen des Mцrders. Diesmal in Charouseks
Tonfall, aber дhnlich so, als hдtte ich selbst es gesagt.
Ich erinnerte mich: es war wцrtlich der SchluЯsatz aus Charouseks
Brief. -
Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die
Kopfenden des Strohsacks. In einer Viertelstunde muЯte es aus der Zelle
verschwunden sein.
Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:
Der Mцrder lag unbeweglich da wie eine Leiche und hatte die Lider
geschlossen.
Ich machte mir die heftigsten Vorwьrfe, alle die Tage ьber in Laponder
nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. -
Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler - ein
Geschцpf, das unter dem EinfluЯ des Vollmonds stand.
Vielleicht hatte er den Lustmord in einer Art Dдmmerzustand begangen.
Bestimmt sogar. -
Jetzt, wo der Morgen graute, war die Starrheit aus seinen Zьgen
gewichen und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.
So ruhig kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem
Gewissen hat, sagte ich mir.
Ich konnte den Moment, wo er aufwachen wьrde, kaum erwarten.
Ob er wohl wьЯte, was geschehen war?
Endlich schlug er die Augen auf, begegnete meinem Blick und sah zur
Seite.
Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: "Verzeihen Sie mir, Herr
Laponder, daЯ ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war das
Ungewohnte, das -"
"Seien Sie ьberzeugt, mein Herr, ich begreife vollkommen," unterbrach
er mich lebhaft, "daЯ es ein scheuЯliches Gefьhl sein muЯ, mit einem
Lustmцrder beisammen zu sein."
"Reden Sie nicht mehr davon", bat ich. "Es ist mir heute nacht so
mancherlei durch den Kopf gegangen, und ich werde den Gedanken nicht los,
Sie kцnnten vielleicht - - -" ich suchte nach Worten.
"Sie halten mich fьr krank", half er mir heraus.
Ich bejahte: "Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schlieЯen zu dьrfen.
Ich - ich - darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?"
"Ich bitte darum."
"Es klingt etwas merkwьrdig, - aber - wьrden Sie mir sagen, was Sie
heute getrдumt haben?"
Er schьttelte lдchelnd den Kopf: "Ich trдume nie."
"Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen."
Er blickte ьberrascht auf. Dachte eine Weile nach. Dann sagte er
bestimmt:
"Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben." - Ich
gab es zu. "Denn wie gesagt, ich trдume nie. Ich - ich wandere", setzte er
nach einer Pause halblaut hinzu.
"Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?"
Er schien nicht recht mit der Sprache heraus zu wollen, und ich hielt
es fьr angezeigt, ihm die Grьnde zu nennen, die mich bewogen hatten, in ihn
zu dringen, und erzдhlte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.
"Sie kцnnen sich fest darauf verlassen," sagte er ernst, als ich zu
Ende war, "daЯ alles auf Richtigkeit beruht, was ich im Schlaf gesprochen
habe. Wenn ich vorhin bemerkte, daЯ ich nicht trдume, sondern ›wandere‹, so
meine ich damit, daЯ mein Traumleben anders beschaffen ist als das - sagen
wir: normaler Menschen. Nennen Sie es, wenn Sie wollen, ein Austreten aus
dem Kцrper. - - So war ich z. B. heute nacht in einem hцchst sonderbaren
Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch eine Falltьr fьhrte."
"Wie sah es aus?" fragte ich rasch. "War es unbewohnt? Leer?"
"Nein; es standen Mцbel darin; aber nicht viele. Und ein Bett, in dem
ein junges Mдdchen schlief - oder wie scheintot lag, - und ein Mann saЯ
neben ihr und hielt seine Hand ьber ihre Stirn." - Laponder schilderte die
Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und Mirjam.
Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.
"Bitte, erzдhlen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?"
"Sonst noch jemand? Warten Sie - - - nein: sonst war niemand mehr im
Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch. - Dann ging ich
eine Wendeltreppe hinunter."
"Sie war zerbrochen?" fiel ich ein.
"Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von ihr zweigte
seitlich eine Kammer ab, darin saЯ ein Mann mit silbernen Schnallen an den
Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich noch nie einen Menschen gesehen
habe: von gelber Gesichtsfarbe und mit schrдgstehenden Augen; - er war
vornьber gebeugt und schien auf etwas zu warten. Auf einen Auftrag
vielleicht."
"Ein Buch - ein altes groЯes Buch haben Sie nirgends gesehen?",
forschte ich.
Er rieb sich die Stirn:
"Ein Buch sagen Sie? - Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es
war aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit einem groЯen, goldenen ›A‹
fing die Seite an."
"Mit einem ›I‹, meinen Sie wohl?"
"Nein, mit einem ›A‹."
"Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein ›I‹?"
"Nein, es war bestimmt ein ›A‹."
Ich schьttelte den Kopf und fing an zu zweifeln. Offenbar hatte
Laponder im Halbschlaf in meinem Vorstellungsinhalt gelesen und alles wirr
durcheinander gebracht: Hillel, Mirjam, den Golem, das Buch Ibbur und den
unterirdischen Gang.
"Haben Sie die Gabe zu ›wandern‹, wie Sie es nennen, schon lang?",
fragte ich.
"Seit meinem 21. Jahr - - -", er stockte, schien nicht gern davon zu
reden; da nahm seine Miene plцtzlich den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens
an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas sдhe.
Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und
bat - fast flehentlich:
"Um Himmels willen, sagen Sie mir alles. Es ist heute der letzte Tag,
den ich bei Ihnen verbringen darf. Vielleicht schon in einer Stunde werde
ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhцren - -."
Ich unterbrдche ihn entsetzt:
"Dann mьssen Sie mich mitnehmen als Zeugen! Ich werde beschwцren, daЯ
Sie krank sind. - Sie sind mondsьchtig. Es darf nicht sein, daЯ man Sie
hinrichtet, ohne Ihren Geisteszustand untersucht zu haben. So nehmen Sie
doch Vernunft an!"
Er wehrte nervцs ab: "Das ist doch so nebensдchlich, - bitte, sagen Sie
mir alles!"
"Aber was soll ich Ihnen denn sagen? - Reden wir doch lieber von Ihnen
und - -"
"Sie mьssen, ich weiЯ das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben,
die mich nah angehen, - nдher als Sie ahnen kцnnen; - - ich bitte Sie, sagen
Sie mir alles!", flehte er.
Ich konnte es nicht fassen, daЯ ihn mein Leben mehr interessierte als
seine eigenen, doch wahrhaftig genьgend dringenden Angelegenheiten; um ihn
aber zu beruhigen, erzдhlte ich ihm alles, was mir an Unbegreiflichem
geschehen war.
Bei jedem grцЯeren Abschnitt nickte er zufrieden, wie jemand, der eine
Sache bis zum Grund durchschaut.
Als ich zu der Stelle kam, wo die Erscheinung ohne Kopf vor mir
gestanden und mir die schwarzroten Kцrner hingehalten hatte, konnte er es
kaum erwarten, den SchluЯ zu erfahren.
"Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm", murmelte er sinnend.
"Ich hдtte nie gedacht, daЯ es einen dritten ›Weg‹ geben kцnnte.
"Es war das kein dritter Weg", sagte ich, "es war derselbe, wie wenn
ich die Kцrner abgelehnt hдtte."
Er lдchelte.
"Glauben Sie nicht, Herr Laponder?"
"Wenn Sie sie abgelehnt hдtten, wдren Sie wohl auch den ›Weg des
Lebens‹ gegangen, aber die Kцrner, die magische Krдfte bedeuten, wдren nicht
zurьckgeblieben. - So sind sie auf den Boden gerollt, wie Sie sagen. Das
heiЯt: sie sind hiergeblieben und werden von Ihren Vorfahren so lange
gehьtet, bis die Zeit des Keimens da ist. Dann werden die Krдfte, die in
Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden."
Ich verstand nicht: "Von meinen Vorfahren werden die Kцrner behьtet?"
"Sie mьssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie erlebt haben",
erklдrte Laponder. "Der Kreis der blдulich strahlenden Menschen, der Sie
umstand, war die Kette der ererbten ›Iche‹, die jeder von einer Mutter
Geborene mit sich herumschleppt. Die Seele ist nichts ›Einzelnes‹, - sie
soll es erst werden, und das nennt man dann: ›Unsterblichkeit‹; Ihre Seele
ist noch zusammengesetzt aus vielen ›Ichen‹ - so, wie ein Ameisenstaat aus
vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren in
sich: - die Hдupter Ihres Geschlechtes. Bei allen Wesen ist es so. Wie
kцnnte denn ein Huhn, das aus einem Ei kьnstlich erbrьtet wurde, sich
sogleich die richtige Nahrung suchen, wenn nicht die Erfahrung von
Jahrmillionen in ihm stдke? - Das Vorhandensein des ›Instinkts‹ verrдt die
Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele. - Aber, verzeihen Sie, ich
wollte Sie nicht unterbrechen."
Ich erzдhlte zu Ende. Alles. Auch das, was Mirjam ьber den
"Hermaphroditen" gesagt hatte.
Als ich innehielt und aufblickte, bemerkte ich, daЯ Laponder weiЯ
geworden war wie der Kalk an der Wand und Trдnen ьber seine Wangen liefen.
Rasch stand ich auf, tat, als sдhe ich es nicht, und ging in der Zelle
auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben wьrde.
Dann setzte ich mich ihm gegenьber und bot meine ganze Beredsamkeit
auf, ihn zu ьberzeugen, wie dringend nцtig es wдre, den Richtern gegenьber
auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.
"Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden hдtten!", schloЯ ich.
"Aber ich muЯte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt", sagte er
naiv.
"Halten Sie denn eine Lьge fьr schlimmer als - als einen Lustmord?",
fragte ich verblьfft.
"Im allgemeinen vielleicht nicht, in meinem Fall gewiЯ. - Sehen Sie:
als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde, ob ich gestьnde, hatte ich
die Kraft, die Wahrheit zu sagen. Es stand also in meiner Wahl, zu lьgen
oder nicht zu lьgen. - Als ich den Lustmord beging - - bitte, ersparen Sie
mir die Details: es war so grдЯlich, daЯ ich die Erinnerung nicht wieder
aufleben lassen mцchte - - als ich den Lustmord beging, da hatte ich keine
Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen klarem BewuЯtsein handelte, so hatte ich
dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt
hatte, wachte auf und war stдrker als ich. Glauben Sie, wenn ich die Wahl
gehabt haben wьrde, ich hдtte gemordet? - Nie habe ich getцtet - nicht
einmal das kleinste Tier, - und jetzt wдre ich es schon gar nicht mehr
imstande.
Nehmen Sie an, es wдre Menschengesetz: zu morden, und auf die
Unterlassung stьnde der Tod - дhnlich, wie es im Krieg der Fall ist, -
augenblicklich hдtte ich mir den Tod verdient. - Weil mir keine Wahl bliebe.
Ich kцnnte ganz einfach nicht morden. Damals, als ich den Lustmord beging,
lag die Sache umgekehrt."
"Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer fьhlen, mьssen Sie
alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!", wandte ich ein.
Laponder machte eine abwehrende Handbewegung: "Sie irren! Die Richter
haben von ihrem Standpunkt aus ganz recht. Sollen sie einen Menschen wie
mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder ьbermorgen wieder
das Unheil losbricht?"
"Nein; aber in einer Heilanstalt fьr Geisteskranke sollte man Sie
internieren. Das ist es doch, was ich sage!"
"Wenn ich irrsinnig wдre, hдtten Sie recht", erwiderte Laponder
gleichmьtig. "Aber ich bin nicht irrsinnig. Ich bin etwas ganz anderes, -
etwas, was dem Irrsinn sehr дhnlich sieht, aber gerade das Gegenteil ist.
Bitte, hцren Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. - - - Was Sie mir
vorhin von dem Phantom ohne Kopf - ein Symbol natьrlich: dieses Phantom; den
Schlьssel kцnnen Sie leicht finden, wenn Sie darьber nachdenken - erzдhlten,
ist mir einst genauso passiert. Nur habe ich die Kцrner angenommen. Ich gehe
also den ›Weg des Todes‹! - Fьr mich ist das Heiligste, das ich denken kann:
meine Schritte vom Geistigen in mir lenken zu lassen. Blind, vertrauensvoll,
wohin der Weg auch fьhren mag: ob zum Galgen oder zum Thron, ob zur Armut
oder zum Reichtum. Niemals habe ich gezцgert, wenn die Wahl in meine Hand
gelegt war.
Darum habe ich auch nicht gelogen, als die Wahl in meiner Hand lag.
Kennen Sie die Worte des Propheten Micha:
"Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,
und was der Herr von dir fordert,"?
Wьrde ich gelogen haben, hдtte ich eine Ursache geschaffen, weil ich
die Wahl hatte; - - als ich den Mord beging, schuf ich keine Ursache; nur
die Wirkung einer in mir schlummernden, lдngst gelegten Ursache, ьber die
ich keine Gewalt mehr besaЯ, wurde frei.
Also sind meine Hдnde rein.
Dadurch, daЯ das Geistige in mir mich zum Mцrder werden lieЯ, hat es
eine Hinrichtung an mir vollzogen; dadurch, daЯ mich die Menschen an den
Galgen knьpfen, wird mein Schicksal losgelцst von dem ihrigen: - ich komme
zur Freiheit."
Er ist ein Heiliger, fьhlte ich, und das Haar strдubte sich mir vor
Schauder ьber meine eigene Kleinheit.
"Sie haben mir erzдhlt, daЯ Sie durch den hypnotischen Eingriff eines
Arztes in Ihr BewuЯtsein lange die Erinnerung an Ihre Jugendzeit vergessen
hatten", fuhr er fort. "Es ist das das Kennzeichen - das Stigma - aller
derer, die von der ›Schlange des geistigen Reiches‹ gebissen sind. Es
scheint fast, als mьЯten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden, wie
ein Edelreis auf den wilden Baum, ehe das Wunder der Erweckung geschehen
kann; - was sonst durch den Tod getrennt wird, geschieht hier durch
Erlцschen der Erinnerung - manchmal nur durch eine plцtzliche innere Umkehr.
Bei mir war es so, daЯ ich scheinbar ohne дuЯere Ursache in meinem 21.
Jahr eines Morgens wie verдndert erwachte. Was mir bis dahin lieb gewesen,
erschien mir mit einemmal gleichgьltig: Das Leben kam mir dumm vor wie eine
Indianergeschichte und verlor an Wirklichkeit; die Trдume wurden zu
GewiЯheit - zu apodiktischer, beweiskrдftiger GewiЯheit, verstehen Sie wohl:
zu beweiskrдftiger, realer GewiЯheit, und das Leben des Tages wurde zum
Traum.
Alle Menschen kцnnten das, wenn sie den Schlьssel hдtten. Und der
Schlьssel liegt einzig und allein darin, daЯ man sich seiner ›Ichgestalt‹,
sozusagen seiner Haut, im Schlaf bewuЯt wird, - die schmale Ritze findet,
durch die sich das BewuЯtsein zwдngt zwischen Wachsein und Tiefschlaf.
Darum sagte ich vorhin: ›ich wandere‹ und nicht: ›ich trдume‹.
Das Ringen nach der Unsterblichkeit ist ein Kampf um das Zepter gegen
die uns innewohnenden Klдnge und Gespenster; und das Warten auf das
Kцnigwerden des eigenen ›Ichs‹ ist das Warten auf den Messias.
Der schemenhafte Habal Garmin, den Sie gesehen haben, der ›Hauch der
Knochen‹ der Kabbala, das war der Kцnig. Wenn er gekrцnt sein wird, dann -
reiЯt der Strick entzwei, mit dem Sie durch die дuЯeren Sinne und den
Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.
Wieso es kommen konnte, daЯ ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben
ьber Nacht zum Lustmцrder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist wie
ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben nur die
eine. Ist die Kugel rot, heiЯt der Mensch: ›schlecht‹. Ist sie gelb, dann
ist der Mensch: ›gut‹. Laufen zwei hintereinander - eine rote und eine
gelbe, dann hat ›man‹ einen ›ungefestigten‹ Charakter. Wir von der ›Schlange
Gebissenen‹, machen in einem Leben durch, was sonst an der ganzen Rasse in
einem Weltenalter geschieht: die farbigen Kugeln rasen hintereinander her
durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind - - dann sind wir Propheten, -
sind die Spiegel Gottes geworden."
Laponder schwieg.
Lange konnte ich kein Wort sprechen. Seine Rede hatte mich fast
betдubt.
"Weshalb fragten Sie mich vorhin so дngstlich nach meinen Erlebnissen,
wo Sie doch so viel, viel hцher stehen als ich?", fing ich endlich wieder
an.
"Sie irren," sagte Laponder, "ich stehe weit unter Ihnen. - Ich fragte
Sie, weil ich fьhlte, daЯ Sie den Schlьssel besitzen, der mir noch fehlte."
"Ich? Einen Schlьssel. O Gott!"
"Jawohl Sie! Und Sie haben ihn mir gegeben. - Ich glaube nicht, daЯ es
einen glьcklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin."
DrauЯen entstand ein Gerдusch; die Riegel wurden zurьckgeschoben, -
Laponder achtete kaum darauf:
"Das mit dem Hermaphroditen war der Schlьssel. Jetzt habe ich die
GewiЯheit. Schon deshalb bin ich froh, daЯ man mich holen kommt, denn bald
bin ich am Ziel."
Vor Trдnen konnte ich Laponders Gesicht nicht mehr unterscheiden, ich
hцrte nur das Lдcheln in seiner Stimme.
"Und jetzt: Leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken Sie: das, was man
morgen aufhenkt, sind nur meine Kleider; Sie haben mir das Schцnste
erцffnet, - das Letzte, was ich noch nicht wuЯte. Jetzt geht's zur Hochzeit
- - -," er stand auf und folgte dem Gefangenwдrter - "es hдngt mit dem
Lustmord eng zusammen", waren die letzten Worte, die ich hцrte und nur
dunkel begriff.
Sooft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel stand, glaubte ich immer
wieder Laponders schlafendes Gesicht auf der grauen Leinwand des Bettes
liegen zu sehen.
In den nдchsten Tagen, nachdem er weggefьhrt worden war, hatte ich ein
Hдmmern und Zimmern aus dem Hinrichtungshof heraufdrцhnen hцren, das
manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.
Ich erriet, was es bedeutete, und hielt mir stundenlang die Ohren zu
vor Verzweiflung.
Monat um Monat verfloЯ. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden
des kьmmerlichen Laubs im Hof; roch es an dem pelzigen Hauch, der aus den
Mauern drang.
Wenn mein Blick bei den Rundgдngen auf den sterbenden Baum fiel und das
eingewachsene Glasbild der Heiligen in seiner Rinde, zog ich unwillkьrlich
jedesmal den Vergleich, wie tief sich auch Laponders Gesicht in mich
eingegraben hatte. Bestдndig trug ich es in mir herum, dieses Buddhagesicht
mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen, immerwдhrenden Lдcheln.
Ein einziges Mal noch - im September - hatte mich der
Untersuchungsrichter holen lassen und miЯtrauisch gefragt, wie ich es
begrьnden kцnne, daЯ ich bei dem Bankschalter gesagt, ich mьsse dringend
verreisen, und warum ich in den Stunden vor meiner Verhaftung so unruhig
gewesen wдre und meine sдmtlichen Edelsteine zu mir gesteckt hдtte.
Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu
nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch hцhnisch gemeckert. -
Bis dahin war ich allein in meiner Zelle gewesen und konnte meinen
Gedanken, meiner Trauer um Charousek, der, wie ich fьhlte, lдngst tot sein
muЯte, und Laponder und meiner Sehnsucht nach Mirjam nachhдngen.
Dann kamen wieder neue Gefangene: diebische Kommis mit verlebten
Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer, - "Waisenkinder", wie der schwarze
Vуssatka sie genannt haben wьrde, - und verpesteten mir die Luft und die
Stimmung.
Eines Tages gab einer von ihnen voll Entrьstung zum besten, daЯ vor
geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum Glьck hдtte man
den Tдter sogleich erwischt und kurzen ProzeЯ mit ihm gemacht.
"Laponder hat er geheiЯen, der Schuft, der gottserbдrmliche", schrie
ein Kerl mit einer Raubtierschnauze, der wegen KindsmiЯhandlung zu - 14
Tagen Gefдngnis verurteilt worden war, dazwischen. "Auf frischer Tat
habn's'n g'faЯt. Die Lampen is umg'fallen bei dem Krawall und's Zimmer is
ausbrennt. Die Leich' von dem Mдdel is dabei so verkohlt, daЯ mer bis zum
heutigen Tage noch nцt hat rausbringen kцnnen, wer sie eigentlich war.
Schwarze Haar hat's g'habt und a schmal's G'sicht, dцs is alls, was mer
weiЯ. Und der Laponder hat net ums Verrecken rausg'rьckt mit ihrem Namen. -
Wann's nach mir gangen wдr, i hдtt ihm d'Haut ab'zogen und Pfeffer drauf
g'streut. - Dцs san halt die feinen Herren! Mцrder san's, alle z'samm. - - -
- Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann aner a Mдdel los sein wьll",
setzte er mit zynischem Lдcheln hinzu.
Die Wut kochte in mir, und am liebsten hдtte ich den Halunken zu Boden
geschlagen.
Nacht fьr Nacht schnarchte er in dem Bett, auf dem Laponder gelegen.
Ich atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.
Aber selbst da war ich ihn noch nicht los: seine Rede hatte sich wie
ein Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.
Fast bestдndig, hauptsдchlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der
grausige Verdacht, Mirjam kцnnte das Opfer Laponders gewesen sein.
Je mehr ich dagegen ankдmpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem
Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.
Manchmal, besonders wenn der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es
besser: ich konnte mir die Stunden, die ich mit Laponder verlebt, dann
lebendig machen, und das tiefe Gefьhl fьr ihn verscheuchte mir die Qual, -
aber nur zu oft kamen die grдЯlichen Minuten wieder, wo ich Mirjam ermordet
und verkohlt im Geiste vor mir sah und glaubte, vor Angst den Verstand
verlieren zu mьssen.
Die schwachen Anhaltspunkte, die ich fьr meinen Verdacht hatte,
verdichteten sich in solchen Zeiten zu einem geschlossenen Ganzen, - zu
einem Gemдlde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.
Anfang November gegen 10 Uhr abends, es war bereits stockfinster und
die Verzweiflung in mir hatte einen derartigen Hцhepunkt erreicht, daЯ ich
mich, um nicht laut aufzuschreien, in meinen Strohsack verbiЯ wie ein
verdurstendes Tier, цffnete plцtzlich der Gefangenwдrter die Zelle und
forderte mich auf, mit ihm zum Untersuchungsrichter zu kommen. Ich fьhlte
mich so schwach, daЯ ich mehr taumelte als ging.
Die Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu dьrfen, war
lдngst in mir gestorben.
Ich machte mich darauf gefaЯt, wieder eine kalte Frage gestellt zu
bekommen, das stereotype Gemecker hinter dem Schreibtisch zu hцren und dann
zurьck in die Finsternis zu mьssen.
Der Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein
alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.
Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen wьrde.
Es fiel mir auf, daЯ der Gefangenwдrter mit hereingekommen war und mir
gutmьtig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als daЯ ich mir
ьber die Bedeutung alles dessen hдtte klarwerden kцnnen.
"Die Untersuchung hat ergeben", fing der Schreiber an, meckerte, stieg
auf einen Sessel und kramte erst lange auf dem Bьcherbord nach
Schriftstьcken, ehe er fortfuhr: "hat ergeben, daЯ der in Frage kommende
Karl Zottmann vor seinem Tode anlдЯlich einer heimlichen Zusammenkunft mit
der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die damaliger
Zeit den Spitznamen ›die rote Rosina‹ fьhrte, dann spдter von einem
taubstummen, nunmehr unter polizeilicher Aufsicht stehenden
Silhubettenschneider namens Jaromir KwбЯnitschka aus dem Weinsalon ›Kautsky‹
losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner Durchlaucht dem Fьrsten
Ferri Athenstдdt im gemeinsamen, wilden Konkubinate als Maiteresse lebt, von
hinterlistiger Hand in ein unterirdisches, aufgelassenes Kellergewцlbe des
Hauses Nummer conscriptionis 21873, gebrochen durch rцmisch III, der
HahnpaЯgasse, laufende Numero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und
sich selbst, beziehungsweise dem Tode durch Verhungern oder Erfrieren
ьberlassen wurde. - - Der obenerwдhnte Zottmann nдmlich", erklдrte der
Schreiber mit einem Blick ьber die Brille hinweg und blдtterte ein paarmal
um.
"Die Untersuchung hat weiters ergeben, daЯ der obenerwдhnte Karl
Zottmann allem Anscheine nach - nach eingetretenem Ableben - seiner
sдmtlichen bei ihm getragenen Habseligkeiten, insbesondere seiner sub
faszikel rцmisch P gebrochen durch ›Bдh‹ beigeschlossenen doppelmanteligen
Taschenuhr" - der Schreiber hob die Uhr an der Kette in die Hцhe - "beraubt
wurde. Der eidesstattlichen Aussage des Silhubettenschnitzers Jaromir
KwбЯnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17 Jahren verstorbenen
Hostienbдckers gleichen Namens: die Uhr im Bette seines inzwischen flьchtig
gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den Altwarenhдndler und mehrfachen,
inzwischen aus dem Leben geschiedenen Realitдtenbesitzer Aaron Wassertrum
gegen Inempfangnahme von Geldeswert verдuЯert zu haben, konnte mangels
Glaubwьrdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.
Die Untersuchung hat weiters ergeben, daЯ die Leiche des erwдhnten Karl
Zottmann in der rьckwдrtigen Hosentasche zur Zeit ihrer Auffindung ein
Notizbuch bei sich trug, in der sie vermutlich bereits einige Tage vor
erfolgtem Ableben mehrere den Tatbestand erhellende und die Ergreifung des
Tдters durch die k. k. Behцrden erleichternde Eintragungen vorgenommen
hatte.
Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge
auf den nunmehr durch die Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend
verdдchtig gewordenen Loisa KwбЯnitschka, zurzeit flьchtig, gelenkt und
unter einem verfьgt, die Untersuchungshaft gegen Athanasius Pernath,
Gemmenschneider, dermalen noch unbescholten, aufzuheben, und das Verfahren
gegen ihn einzustellen.
Prag im Juli
gezeichnet
Dr. Freiherr von Leisetreter."
Der Boden schwankte unter meinen FьЯen, und ich verlor eine Minute das
BewuЯtsein.
Als ich erwachte, saЯ ich auf einem Stuhl, und der Gefangenwдrter
klopfte mir freundlich auf die Schulter.
Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich
und sagte zu mir:
"Die Verlesung der Verfьgung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr
Name mit einem ›Pдh‹ beginnt und naturgemдЯ im Alphabet erst gegen SchluЯ
vorkommen kann." - Dann las er weiter:
"Ьberdies ist der Athanasius Pernath, Gemmenschneider, in Kenntnis zu
setzen, daЯ ihm laut testamentarischer Verfьgung des im Mai mit Tod
abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek ein Drittel von dessen gesamter
Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und ist er zur Unterfertigung des
Protokolls hiermit anzuhalten."
Der Schreiber hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing
an zu schmieren.
Ich erwartete gewohnheitsmдЯig, daЯ er meckern wьrde, aber er meckerte
nicht.
"Innocenz Charousek", murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.
Der Gefangenwдrter beugte sich ьber mich und flьsterte mir ins Ohr:
"Kurz vor seinem Tode war er bei mir, der Herr Dr. Charousek, und hat
sich nach Ihnen erkundigt. Er lдЯt Sie viel-vielmals grьЯen, hat er g'sagt.
Ich hab's natьrlich damals nicht ausrichten dьrfen. Es ist streng verboten.
Ein schreckliches Ende hat er ьbrigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er