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Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte
unverwandt auf das hцlzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zцgernd etwas zu suchen, dann
ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plцtzlich gewannen die Zьge des
Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch
gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine
Sekunde gedauert, und ich spьrte, daЯ mein Herz zu schlagen aufhцrte und
дngstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir - wie damals - des Gesichtes bewuЯt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders SchoЯ und spдhte
umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte
meinen Schдdel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hцrte seine
Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt
das Schnitzwerk entreiЯen, doch der wehrte sich und rief lachend:
"Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar miЯlungen." Und er wand sich
los, цffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein BewuЯtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis,
die von schimmernden Goldfдden durchzogen war, und als ich, wie es mir
schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hцrte ich das Holz
klappernd auf das Pflaster fallen. - - -
"Sie haben so fest geschlafen, daЯ Sie nicht merkten, wie wir Sie
schьttelten," - sagte Josua Prokop zu mir, "der Punsch ist aus, und Sie
haben alles versдumt."
Der heiЯe Schmerz ьber das, was ich vorhin mitangehцrt, ьbermannte mich
wieder, und ich wollte aufschreien, daЯ ich nicht getrдumt habe, als ich
ihnen von dem Buche Ibbur erzдhlte - und es aus der Kassette nehmen und
ihnen zeigen kцnne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung
allgemeinen Aufbruches, die meine Gдste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh hдngte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
"Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre
Lebensgeister erfrischen."
Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterfьhren lassen.
Ich spьrte den Geruch des Nebels, der von der StraЯe ins Haus drang,
deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige
Schritte vorausgegangen, und man hцrte, wie sie drauЯen vor dem Torweg
mitsammen sprachen.
"Er muЯ rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum
Teufelholen."
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bьckte
und die Marionette suchte.
"Freut mich, daЯ du den dummen Kopf nicht finden kannst", brummte
Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete
grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen - wie er das Feuer eines
Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte
sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
"Still doch! Hцrt ihr denn nichts?"
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte
horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten
in den Schacht hinab.
Nichts.
"Was war's denn?" flьsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch
sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick - kaum einen Herzschlag lang - hatte es mir
geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte - fast
unhцrbar. Wie ich eine Sekunde spдter darьber nachdachte, war alles vorbei;
nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und lцste sich
langsam in ein unbestimmtes Gefьhl des Grauens auf.
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
"Gehen wir; was stehen wir da herum!" mahnte Vrieslander.
Wir schritten die Hдuserreihe entlang.
Prokop folgte nur widerwillig.
"Meinen Hals mцcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in
Todesangst."
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fьhlte, daЯ etwas wie leise
dдmmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverhдngten Schenkenfenster.
"Heinte groЯes Konzehr"
stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen
Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, цffnete sich die
Eingangstьr nach innen, und ein vierschrцtiger Kerl mit gewichstem schwarzem
Haar, ohne Kragen - eine grьnseidene Krawatte um den bloЯen Hals geschlungen
und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinszдhnen geschmьckt - empfing
uns mit Bьcklingen.
"Jд, jд, das sin mir Gдstдh. - - - Pane Schaffranek, rasch einen
Tusch!" setzte er, ьber die Schulter in das von Menschen ьberfьllte Lokal
gewendet, hastig seinem WillkommensgruЯ hinzu.
Ein klimperndes Gerдusch, wie wenn eine Ratte ьber Klaviersaiten liefe,
war die Antwort.
"Jд, jд, das sin mir Gдstдh, das sin mir Gдstдh. Da schaut man",
murmelte der Vierschrцtige immerwдhrend eifrig vor sich hin, wдhrend er uns
aus den Mдnteln half.
"Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir
versammelt", beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als
im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch Gelдnder und eine
zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar
vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
Schwaden beiЯenden Tabakrauches lagerten ьber den Tischen, hinter denen
die langen Holzbдnke an den Wдnden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten
waren: Dirnen von den Schanzen, ungekдmmt, schmutzig, barfuЯ, die festen
Brьste kaum verhьllt von miЯfarbigen Umhдngetьchern, Zuhдlter daneben mit
blauen Militдrmьtzen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhдndler mit haarigen
Fдusten und schwerfдlligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme
Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und
blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
"Ich stell' ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schцn
ungestцrt sein", krдchzte die feiste Stimme des Vierschrцtigen, und eine
Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor
den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
Schnarrende Klдnge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer
verlцschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an.
Mit erschreckender Deutlichkeit hцrte man plцtzlich wie die eisernen
Gasstдbe fauchend die flachen herzfцrmigen Flammen aus ihren Mьndern in die
Luft bliesen - - dann fiel die Musik ьber das Gerдusch her und verschlang
es.
Als wдren sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem, wallendem, weiЯen Prophetenbart, ein schwarzseidenes
Kдppchen - wie es die alten jьdischen Familienvдter tragen - auf dem
Kahlkopf, die blinden Augen milchblдulich und glдsern - starr zur Decke
gerichtet - saЯ dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit
dьrren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in
speckglдnzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals
und Armen - ein Sinnbild erheuchelter Bьrgermoral - ein schwammiges
Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem SchoЯ.
Ein wildes Gestolper von Klдngen drдngte sich aus den Instrumenten,
dann sank die Melodie ermattet zur bloЯen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riЯ den Mund weit
auf, daЯ man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust
herauf rang sich ihm, von seltsamen hebrдischen Rцchellauten begleitet, ein
wilder BaЯ:
"Roo - n - te, blau - we Stern - -"
"Rititit" (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die
keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
"Roonte blaue Steern
Hцrndlach ess i' ach geern";
"Rititit"
"Rotboart, Grienboart
allerlaj Stern" - -
"Rititit, rititit."
Die Paare traten zum Tanze an.
"Es ist das Lied vom ›chomezigen Borchu‹", erklдrte uns lдchelnd der
Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlцffel, der sonderbarerweise
mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. "Vor wohl hundert Jahren
oder mehr noch hatten zwei Bдckergesellen, Rotbart und Grьnbart, am Abend
des ›Schabbes Hagodel‹ das Brot - Sterne und Hцrnchen - vergiftet, um ein
ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der ›Meschores‹ -
der Gemeindediener - war infolge gцttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig
draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei ьberliefern.
Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals
die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als
Bordellquadrille hцren."
"Rititit - Rititit"
"Roote blaue Steern - - - -" immer hohler und fanatischer erscholl das
Gebell des Greises.
Plцtzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmдhlich in den
Rhythmus des bцhmischen "Schlapak" - eines schleifenden Schiebetanzes -
ьber, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preЯten.
"So recht. Bravo. Дh da! fang, hep, hep!" rief von der Estrade ein
schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten
zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstьck in der Richtung. Es
erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es ьber das Tanzgewьhl
hinblitzte; da war es plцtzlich verschwunden. Ein Strolch - sein Gesicht kam
mir so bekannt vor; ich glaube, es muЯ derselbe gewesen sein, der neulich
bei dem RegenguЯ neben Charousek gestanden - hatte seine Hand hinter dem
Busentuch seiner Tдnzerin, wo er sie bisher hartnдckig ruhen gehabt,
hervorgezogen - ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne
auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die Mьnze war geschnappt.
Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in
der Nдhe grinsten leise.
"Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹, nach der Geschicklichkeit zu
schlieЯen", sagte Zwakh lachend.
"Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehцrt",
fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem
Marionettenspieler zu, daЯ ich es nicht sehen sollte. - Ich verstand gar
wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich fьr krank.
Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzдhlen. Irgend etwas.
Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiЯ vom Herzen
in die Augen. Wenn er wьЯte, wie weh mir sein Mitleid tat!
Ich ьberhцrte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine
Worte einleitete, - ich weiЯ nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir
wurde immer kдlter und starrer, wie vorhin, als ich als hцlzernes Gesicht
auf Vrieslanders SchoЯ gelegen hatte. Dann war ich plцtzlich mitten drin in
der Erzдhlung, die mich fremdartig umfing, - einhьllte, wie ein lebloses
Stьck aus einem Lesebuch.
Zwakh begann:
"Die Erzдhlung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
- - - No, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen
und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als Jьngling kannte er nichts als
Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er sich durch
Stundengeben mьhsam erwarb, muЯte er noch seine kranke Mutter erhalten. Wie
grьne Wiesen aussehen und Hecken und Hьgel voll Blumen und Wдlder, erfuhr
er, glaube ich, nur aus Bьchern. Und wie wenig von Sonnenschein in Prags
schwarze Gassen fдllt, wissen Sie ja selbst.
Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich
selbstverstдndlich.
Nun, und mit der Zeit wurde er ein berьhmter Rechtsgelehrter. So
berьhmt, daЯ alle Leute - Richter und alte Advokaten - zu ihm fragen kamen,
wenn sie irgend etwas nicht wuЯten. Dabei lebte er дrmlich wie ein Bettler
in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner
Wissenschaft wurde allmдhlich Sprichwort im ganzen Lande. DaЯ ein Mann wie
er weichen Herzensempfindungen zugдnglich sein konnte, zumal sein Haar schon
anfing weiЯ zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem
als von Jurisprudenz sprechen gehort zu haben, hatte wohl keiner geglaubt.
Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen glьht die Sehnsucht am
heiЯesten.
An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als
Hцchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: - als nдmlich Seine
Majestдt der Kaiser von Wien aus ihn zum Rector magnificus an unserer
Universitдt ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem
jungen, bildschцnen Frдulein aus zwar armer, aber adliger Familie verlobt.
Und wirklich schien von da an das Gluck bei Dr. Hulbert eingezogen zu
sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge
Gattin auf Hдnden, und jeden Wunsch zu erfьllen, den er ihr nur irgend von
den Augen abzulesen vermochte, war seine hцchste Freude.
In seinem Gluck vergaЯ er jedoch keineswegs, wie es wohl so mancher
andere getan hatte, seine leidenden Mitmenschen. "Mir hat Gott meine
Sehnsucht gestillt," soll er einmal gesagt haben, - "er hat mir ein
Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir
hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir das lieblichste Wesen zu eigen
gegeben, das die Erde tragt. Und so will ich, daЯ ein Schimmer von diesem
Gluck, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fallt." - - -
Und so kam es, daЯ er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm
wie seines eigenen Sohnes. Vermutlich in der Erwдgung, wie wohl ihm selbst
ein solch gutes Werk getan hatte, wдre es ihm am eigenen Leib und Leben in
den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun auf Erden
manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht
gleich der einer fluchwьrdigen, weil wir wohl doch nicht richtig
unterscheiden kцnnen zwischen dem, was giftigen Samen in sich tragt und was
heilsamen, so begab es sich auch hier, daЯ aus Dr. Hulberts mitleidsvollem
Werk das bitterste Leid fьr ihn selbst sproЯ.
Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem
Studenten, und ein erbarmungsloses Schicksal wollte, daЯ sie der Rektor
gerade in dem Augenblicke, als er unerwartet nach Hause kam, um sie zum
Zeichen seiner Liebe mit einem StrauЯ Rosen als Geburtstagsprдsent zu
ьberraschen, in den Armen dessen antraf, auf den er Wohltat ьber Wohltat
gehдuft hatte.
Man sagt, daЯ die blaue Muttergottesblume fьr immer ihre Farbe
verlieren kann, wenn der fahle, schweflige Schein eines Blitzes, der ein
Hagelwetter verkьndet, plцtzlich auf sie fдllt; gewiЯ ist, daЯ die Seele des
alten Mannes fьr immer erblindete an dem Tage, wo sein Gluck in Scherben
ging. Am selben Abend noch saЯ er, er, der bis dahin nicht gewuЯt, was
UnmдЯigkeit ist, hier beim "Loisitschek" - fast bewuЯtlos vom Fusel - bis
zum Morgengrauen. Und der "Loisitschek" wurde seine Heimstдtte fьr den Rest
seines zerstцrten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines
Neubaus, im Winter hier auf den hцlzernen Bдnken.
Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte belieЯ man ihm
stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berьhmten
Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daЯ man Дrgernis nдhme an seinem Wandel.
Allmдhlich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der
Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Grьndung jener seltsamen
Gemeinschaft, die man noch heutigentags "das Bataillon" nennt.
Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk fьr alle
die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War irgendein
entlassener Strдfling daran zu verhungern, schickte ihn Dr. Hulbert
splitternackt hinaus auf den Altstadter Ring - und das Amt auf der
sogenannten "Fischbanka" sah sich genцtigt, einen Anzug beizustellen. Sollte
eine unterstandslose Dirne aus der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie
schnell einen Strolch, der bezirkszustдndig war, und wurde dadurch ansдssig.
Hundert solcher Auswege wuЯte Dr. Hulbert, und seinem Rate gegenьber
stand die Polizei machtlos da. - Was diese AusgestoЯenen der menschlichen
Gesellschaft "verdienten", ьbergaben sie getreulich auf Heller und Kreuzer
der gemeinsamen Kassa, aus der der nцtige Lebensunterhalt bestritten wurde.
Niemals lieЯ sich auch nur einer die geringste Unehrlichkeit zuschulden
kommen. Mag sein, daЯ angesichts dieser eisernen Disziplin der Name "das
Bataillon" entstand.
Pьnktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglьcks jдhrte, das
den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim "Loisitschek" eine
seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrдngt standen sie hier: Bettler,
Vagabunden, Zuhдlter und Dirnen, Trunkenbolde und Lumpensammler, und eine
lautlose Stille herrschte wie beim Gottesdienst. - Und dann erzдhlte ihnen
Dr. Hulbert dort von der Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen,
gerade unter dem Krцnungsbilde Seiner Majestдt des Kaisers, seine
Lebensgeschichte: - wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und
spдter Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er mit
dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner jungen Frau trat, - zur Feier
ihres Geburtstages und zugleich zum Gedдchtnis jener Stunde, da er dereinst
um sie anhalten gekommen und sie seine liebe Braut geworden war, - da
versagte ihm jedesmal die Stimme, und weinend sank er am Tisch zusammen.
Dann geschah es wohl zuweilen, daЯ irgendein liederliches Frauenzimmer ihm
verschдmt und heimlich, damit es keiner sehen sollte, eine halbwelke Blume
in die Hand legte.
Von den Zuhцrern rьhrte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum Weinen
sind diese Menschen zu hart, aber an ihren Kleidern blickten sie herunter
und drehten unsicher die Finger.
Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten an der
Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein.
Sein Leichenbegдngnis sehe ich noch heute vor mir. Das "Bataillon"
hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie mцglich zu gestalten.
Voran ging der Pedell der Universitдt in vollem Ornat: in den Hдnden
das purpurne Kissenpolster mit der gьldenen Kette darauf und hinter dem
Leichenwagen in unabsehbarer Reihe - - das "Bataillon" barfuЯ,
schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. Einer von ihnen hatte sein Letztes
verkauft und ging daher: Leib, Beine und Arme mit Lagen aus altem
Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
Auf seinem Grabe, drauЯen im Friedhof, steht ein weiЯer Stein, darein
sind drei Figuren gemeiЯelt: Der Heiland gekreuzigt zwischen zwei Rдubern.
Von unbekannter Hand gestiftet. Man munkelt, Dr. Hulberts Frau habe das
Denkmal errichtet. - - -
Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vorgesehen,
danach bekommt jeder vom "Bataillon" mittags "beim Loisitschek" umsonst eine
Suppe; zu diesem Zwecke hдngen hier am Tisch die Lцffel an den Ketten, und
die ausgehцhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller. Um 12 Uhr kommt
die Kellnerin und spritzt mit einer groЯen, blechernen Spritze die Brьhe
hinein und, wenn sich einer nicht ausweisen kann als "vom Bataillon", so
zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurьck.
Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz die Runde durch
die ganze Welt."
Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner Lethargie.
Die letzten Sдtze, die Zwakh gesprochen, wehten ьber mein BewuЯtsein hinweg.
Ich sah noch, wie er seine Hдnde bewegte, um das Vor- und Zurьckschieben
eines Spritzenkolbens klarzumachen, dann jagten die Bilder, die sich rings
um uns abrollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so
gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorьber, daЯ ich in Momenten ganz
mich selbst vergaЯ und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
Das Zimmer war ein einziges Menschengewьhl geworden. Oben auf der
Estrade: dutzende Herren in schwarzen Frдcken. WeiЯe Manschetten, blitzende
Ringe. Eine Dragoneruniform mit Rittmeisterschnьren. Im Hintergrund ein
Damenhut mit lachsfarbigen StrauЯenfedern.
Durch die Stдbe des Gelдnders stierte das verzerrte Gesicht Loisas
hinauf. Ich sah: er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war da
und schaute unverwandt hinauf, mit dem Rьcken dicht, ganz dicht, an der
Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
Die Gestalten hielten plцtzlich im Tanzen inne: der Wirt muЯte ihnen
etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch,
aber leise; sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte; man fьhlte es
deutlich. Und doch lag der Ausdruck hдmischer wilder Freude in dem Gesicht
des Wirtes.
- - - - In der Eingangstьr steht mit einem Mal der Polizeikommissдr in
Uniform. Er hatte die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter
ihm ein Kriminalschutzmann.
"Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes? Ich sperre die Spelunke.
Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!"
Es klingt wie Kommandos.
Der Vierschrцtige gibt keine Antwort, aber das hдmische Grinsen bleibt
in seinen Zьgen.
BloЯ starrer ist es geworden.
Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.
Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
Die Gesichter sind plцtzlich alle im Profil zu sehen: sie glotzen
erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
Und da kommt eine vornehme schwarze Gestalt gelassen die paar Stufen
herab und geht langsam auf den Kommissдr zu.
Die Augen des Kriminalschutzmannes hдngen gebannt an den
heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben
und lдЯt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den FьЯen und wieder
zurьck schweifen.
Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich ьber das
Gelдnder gebeugt und verbeiЯen das Lachen hinter ihren grauseidenen
Taschentьchern.
Der Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstьck ins Auge und spuckt einem
Mдdchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
Der Polizeikommissдr hat sich verfдrbt und starrt in der Verlegenheit
immerwдhrend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
Er kann den gleichgьltigen, glanzlosen Blick dieses glattrasierten,
unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
Die Totenstille im Lokal wird immer quдlender.
"So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten Hдnden auf den
Steinsдrgen liegen in den gotischen Kirchen", flьstert der Maler Vrieslander
mit einem Blick auf den Kavalier.
Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: "Дh - Hm." - - - er
kopiert die Stimme des Wirtes: "Jд, jд, das sin mir Gдstдh - da schaut man."
Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, daЯ die Glдser klirren; die
Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand
und zerschellt. Der vierschrцtige Wirt meckert uns erlдuternd und
ehrfurchtsvoll zu: "Seine Durchlaucht Exzellenz Fьrst Ferri Athenstдdt."
Der Fьrst hat dem Beamten eine Visitkarte hingehalten. Der Дrmste nimmt
sie, salutiert wiederholt und schlдgt die Hacken zusammen.
Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter
geschehen wird.
Der Kavalier spricht wieder:
"Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, - дh - sind meine
lieben Gдste." Seine Durchlaucht deutet mit einer nachlдssigen Armbewegung
auf das Gesindel, "wьnschen Sie, Herr Kommissдr, - дh - vielleicht
vorgestellt zu werden?"
Der Kommissдr verneint mit erzwungenem Lдcheln, stottert verlegen etwas
von "leidiger Pflichterfьllung" und rafft sich schlieЯlich zu den Worten
auf: "Ich sehe ja, daЯ es hier anstдndig zugeht."
Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund
auf den Damenhut mit der StrauЯenfeder zu und zerrt im nдchsten Augenblick
unter dem Jubel der jungen Adligen - Rosina am Arm herunter in den Saal.
Sie schwankt vor Trunkenheit und hдlt die Augen geschlossen. Der groЯe,
kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa Strьmpfe
und - einen Herrenfrack auf dem bloЯen Kцrper.
Ein Zeichen: Die Musik fallt ein wie rasend - - - "Rititit - Rititit" -
- - und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als
er Rosina gesehen, an der Wand drьben ausgestoЯen hat. - -
Wir wollen gehen.
Zwakh ruft nach der Kellnerin.
Der allgemeine Lдrm verschlingt seine Worte.
Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
Der Rittmeister hдlt die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich
langsam mit ihr im Takt.
Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
Dann murmelt es von den Bдnken: "Der Loisitschek, der Loisitschek", die
Hдlse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites noch
seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit langem
blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt wie eine
Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung, - hдngt
schmachtend an der Brust des Fьrsten Athenstдdt.
Ein sьЯlicher Walzer quillt aus der Harfe.
Wilder Ekel vor dem Leben schnьrt mir die Kehle zusammen.
Mein Blick sucht voll Angst die Ture: der Kommissдr steht dort
abgewendet, um nichts zu sehen, und flьstert hastig mit dem
Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.
Die beiden spдhen hinьber auf den blatternarbigen Loisa, der einen
Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelдhmt - das Gesicht kalkweiЯ
und verzerrt vor Entsetzen - stehen bleibt.
Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: Das
Bild, wie "Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen, - ьber das
Kanalgitter gebeugt - und ein Todesschrei gellt aus der Erde empor."
Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und
biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzдhne, daЯ es wie ein
Klumpen meinen Gaumen erfьllt und ich kein Wort hervorbringen kann.
Ich kann die Finger nicht sehen, weiЯ, daЯ sie unsichtbar sind, und
doch empfinde ich sie wie etwas Kцrperliches.
Und klar steht es in meinem BewuЯtsein: sie gehцren zu der
gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der HahnpaЯgasse das Buch
"Ibbur" gegeben hat.
"Wasser, Wasser!" schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und
leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
"In seine Wohnung schaffen, Arzt holen - der Archivar Hillel kennt sich
aus in solchen Dingen - - zu ihm bringen!" beraten sie murmelnd.
Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop und
Vrieslander tragen mich hinaus.
Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen, und ich hцrte, wie
Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn дngstlich ausfragte und er sie
zu beruhigen trachtete.
Ich gab mir keine Mьhe hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, und
erriet mehr, als ich es in Worten verstand, daЯ Zwakh erzдhlte, mir sei ein
Unfall zugestoЯen und sie kдmen bitten, mir die erste Hilfe zu leisten und
mich wieder zu BewuЯtsein zu bringen.
Noch immer konnte ich kein Glied rьhren, und die unsichtbaren Finger
hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das Gefьhl des
Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wuЯte genau, wo ich war und was mit
mir geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, daЯ man mich wie
einen Toten hinauftrug, samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hillels
niedersetzte und - allein lieЯ.
Eine ruhige, natьrliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach
einer langen Wanderung genieЯt, erfьllte mich.
Es war finster in der Stube, und mit verschwimmenden Umrissen hoben
sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem mattleuchtenden Dunst ab,
der von der Gasse heraufschimmerte.
Alles kam mir selbstverstдndlich vor und ich wunderte mich weder
darьber, daЯ Hillel mit einem jьdischen siebenflammigen Sabbatleuchter
eintrat, noch, daЯ er mir gelassen "guten Abend" wьnschte wie jemandem,
dessen Kommen er erwartet hatte.
Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas
Besonderes bemerkt hatte, - trotzdem wir einander oft drei- bis viermal in
der Woche auf den Stiegen begegnet waren, - fiel mir plцtzlich stark an ihm
auf, wie er so hin und her ging, einige Gegenstдnde auf der Kommode
zurechtrьckte und schlieЯlich mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls
siebenflammigen anzьndete.
Nдmlich: sein EbenmaЯ an Leib und Gliedern und der schmale, feine
Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.
Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht дlter sein
als ich: hцchstens 45 Jahre zдhlen.
"Du bist um einige Minuten frьher gekommen", - begann er nach einer
Weile - "als anzunehmen war, sonst hдtte ich die Lichter schon vorher
angezьndet." - Er deutete auf die beiden Leuchter, trat an die Bahre und
richtete seine dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der
mir zu Hдupten stand oder kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte.
Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.
Sofort lieЯen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und der
Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte hinter mich:
Niemand auЯer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.
Sein "Du" und die Bemerkung, daЯ er mich erwartet habe, hatten also mir
gegolten!?
Viel befremdender als diese beiden Umstдnde an sich wirkte es auf mich,
daЯ ich nicht imstande war, auch nur die geringste Verwunderung darьber zu
empfinden.
Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lдchelte freundlich,
wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel
wies, und sagte:
"Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die
gespenstischen Dinge - die Kischuph - auf den Menschen; das Leben kratzt und
brennt wie ein hдrener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt
sind mild und erwдrmend."
Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hдtte erwidern sollen.
Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegenьber
und fuhr gelassen fort: "Auch ein silberner Spiegel, hдtte er Empfindung,
litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glдnzend geworden, gibt
er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung."
"Wohl dem Menschen", setzte er leise hinzu, "der von sich sagen kann:
Ich bin geschliffen." - Einen Augenblick versank er in Nachdenken, und ich
hцrte ihn einen hebrдischen Satz murmeln: "Lischuosиcho Kiwisi Adoschem."
Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:
"Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich wach
gemacht. Im Psalm David heiЯt es:
"Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist
es, welche diese Verдnderung gemacht hat."
Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstдtten, so wдhnen sie, sie
hдtten den Schlaf abgeschьttelt, und wissen nicht, daЯ sie ihren Sinnen zum
Opfer fallen und die Beute eines neuen viel tieferen Schlafes werden, als
der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und
das ist das, dem Du dich jetzt nдherst. Sprich den Menschen davon und sie
werden sagen, Du seist krank, denn sie kцnnen dich nicht verstehen. Darum
ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.
Sie fahren dahin wie ein Strom -
Und sind wie ein Schlaf,
Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird -
Das des Abends abgehauen wird und verdorret."
"Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir
das Buch "Ibbur" gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?", wollte
ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte
fassen konnte:
"Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute
die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf
Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!
Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem
Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst."
Ich fьhlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen,
sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein
uferloses Meer.
Ruhevoll fuhr Hillel fort:
"Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben; Schlaf und Tod
sind dasselbe."
"- - kann nicht mehr sterben?" - Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.
"Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg
des Todes. Du hast das Buch "Ibbur" genommen und darin gelesen. Deine Seele
ist schwanger geworden vom Geist des Lebens", hцrte ich ihn reden.
"Hillel, Hillel, laЯ mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den
des Sterbens!", schrie alles wild in mir auf.
Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.
"Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des
Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: "Ehe Gott die
Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die
geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen
die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese
strich Gott aus dem Buche der Lebenden." Du aber gehst einen Weg und hast
ihn aus freiem Willen beschritten, - wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr
weiЯt: Du bist berufen von dir selbst. Grдm' dich nicht: allmдhlich, wenn
das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind
dasselbe."
Der freundliche, fast liebenswьrdige Ton, in den Hillels Rede
ausgeklungen war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich fьhlte mich geborgen
wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiЯ.
Ich blickte auf und sah, daЯ mit einemmal viele Gestalten im Zimmer
waren und uns im Kreis umstanden: einige in weiЯen Sterbegewдndern, wie sie
die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an
den Schuhen - aber Hillel fuhr mir mit der Hand ьber die Augen, und die
Stube war wieder leer.
Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende
Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten kцnne in mein Zimmer.
Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam
nicht, und ich geriet stattdessen in einen sonderbaren Zustand, der weder
Trдumen war, noch Wachen, noch Schlafen.
Das Licht hatte ich ausgelцscht, aber trotzdem war alles in der Stube
so deutlich, daЯ ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei
fьhlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen qualvollen
Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in дhnlicher Verfassung befindet.
Nie vorher in meinem Leben wдre ich imstande gewesen, so scharf und
prдzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchstrцmte
meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee,
die nur auf meine Befehle wartete.
Ich brauchte bloЯ zu rufen, und sie traten vor mich und erfьllten, was
ich wьnschte.
Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu
schneiden versucht hatte, - ohne damit zurechtzukommen, da sich die vielen
zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den Gesichtszьgen decken
wollten, die ich mir vorgestellt, - fiel mir ein, und im Nu sah ich die
Lцsung vor mir und wuЯte genau, wie ich den Stichel zu fьhren hatte, um der
Struktur der Masse gerecht zu werden.
Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindrьcke und Traumgesichter,
von denen ich oft nicht gewuЯt: waren es Ideen oder Gefьhle, sah ich mich
jetzt plцtzlich als Herr und Kцnig im eigenen Reich.
Rechenexempel, die ich frьher nur mit Дchzen und auf dem Papier hдtte
bewдltigen kцnnen, fьgten sich mir mit einem Mal im Kopf spielend zum
Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten Fдhigkeit, das zu
sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen,
Gegenstдnde oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch
derlei Werkzeuge nicht zu lцsen waren: - philosophische Probleme und
дhnliches -, so trat an Stelle des inneren Sehens das Gehцr, wobei die
Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers ьbernahm.
Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloЯes Wort an meinem Ohr hatte
vorьbergehen lassen, stand wertgetrдnkt bis in die tiefste Faser vor mir;
was ich "auswendig" gelernt, "erfaЯte" ich mit einem Schlag als mein
"Eigen"tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor
mir.
Die "hohen" Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienrдtlich
biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab
behandelt hatten, - demьtig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze und
entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin Krьcken
fьr - einen noch frecheren Schwindel.
Trдumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel
gesprochen?
Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und
selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich ьberzeugt hat,
daЯ der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wьhlte
ich mich wieder in die Kissen.
Und wie ein Spьrhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen
Rдtsel, die mich rings umgaben.
Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurьckzugelangen, bis
zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus - glaubte ich - kцnnte es
mir mцglich sein, jenen Teil meines Daseins zu ьberblicken, der fьr mich,
durch eine seltsame Fьgung des Schicksals in Finsternis gehьllt lag.
Aber wie sehr ich mich auch bemьhte, ich kam nicht weiter, als daЯ ich
mich wie einst in dem dьsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den
Torbogen den Trцdlerladen des Aaron Wassertrum unterschied - als ob ich ein
Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt hдtte, immer
gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiter zu schьrfen in
den Schдchten der Vergangenheit, da begriff ich plцtzlich mit leuchtender
Klarheit, daЯ in meiner Erinnerung wohl die breite HeerstraЯe der
Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig
schmaler FuЯsteige, die wohl bisher den Hauptpfad stдndig begleitet hatten,
von mir jedoch nicht beachtet worden waren. "Woher", schrie es mir fast in
die Ohren, "hast du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben
fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt - und Gravieren und all das
andere? Lesen, schreiben, sprechen - und essen - und gehen, atmen, denken
und fьhlen?"
Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein
Leben zurьck.
Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge zu
ьberlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag
vor diesem und so weiter?
Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt - - jetzt! Jetzt!
Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen
trennte, muЯte ьberflogen sein - da trat ein Bild vor mich, das ich auf der
Rьckwanderung meiner Gedanken ьbersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit
der Hand ьber die Augen - genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.
Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die Reihe
der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch
zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind's, die in die
verlorene Heimat zurьckfьhren: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift
in unserem Kцrper eingraviert ist, und nicht die scheuЯliche Narbe, die die
Raspel des дuЯeren Lebens hinterlaЯt, - birgt die Lцsung der letzten
Geheimnisse.
So, wie ich zurьckfinden kцnnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in
der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornдhme von Z bis A, um dort
anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen, - so, begriff ich,
muЯte ich auch wandern kцnnen in die andere ferne Heimat, die jenseits allen
Denkens liegt.
Eine Weltkugel an Arbeit wдlzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules
trug eine Zeitlang das Gewцlbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein,
und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und wie
Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: "LaЯ
mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit mir die
entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt", so gдbe es vielleicht einen
dunklen Weg - dдmmerte mir - von dieser Klippe weg.
Ein tiefer Argwohn, der Fьhrerschaft meiner Gedanken weiter blind zu
vertrauen, beschlich mich plцtzlich. Ich legte mich gerade und verschloЯ mit
den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die Sinne.
Um jeden Gedanken zu tцten.
Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur
einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon
mдstete sich der nдchste an seinem Fleische. Ich flьchtete in den brausenden
Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem FuЯ; ich verbarg
mich im Hдmmerwerk meines Herzens: nur eine kleine Weile, und sie hatten
mich entdeckt.
Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte:
"Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schlьssel zur Kunst des
Vergessens gehцrt unseren Brьdern, die den Pfad des Todes wandeln; du aber
bist geschwдngert vom Geiste des - Lebens."
Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin
auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, mдchtig,
gleich einem Erdbeben, - der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit
auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand ьber meine
Augen, und ich schlummerte ein.
"Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und hцchster Angst.
Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, - oder
besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. - Ich hдtte keine Ruhe
sonst.
Sagen Sie keiner Menschenseele, daЯ ich Ihnen geschrieben habe. Auch
nicht, wohin Sie heute gehen werden!
Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir - "neulich" - (Sie werden durch
diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie waren, erraten,
wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fьrchte mich, meinen Namen
darunter zu setzen) - so viel Vertrauen eingeflцЯt, und weiter, daЯ Ihr
lieber, seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat, - alles das gibt mir
den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen
kann, zu wenden.
Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche
auf dem Hradschin."
Eine Ihnen bekannte Dame.
unverwandt auf das hцlzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zцgernd etwas zu suchen, dann
ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plцtzlich gewannen die Zьge des
Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch
gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine
Sekunde gedauert, und ich spьrte, daЯ mein Herz zu schlagen aufhцrte und
дngstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir - wie damals - des Gesichtes bewuЯt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders SchoЯ und spдhte
umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte
meinen Schдdel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hцrte seine
Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt
das Schnitzwerk entreiЯen, doch der wehrte sich und rief lachend:
"Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar miЯlungen." Und er wand sich
los, цffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein BewuЯtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis,
die von schimmernden Goldfдden durchzogen war, und als ich, wie es mir
schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hцrte ich das Holz
klappernd auf das Pflaster fallen. - - -
"Sie haben so fest geschlafen, daЯ Sie nicht merkten, wie wir Sie
schьttelten," - sagte Josua Prokop zu mir, "der Punsch ist aus, und Sie
haben alles versдumt."
Der heiЯe Schmerz ьber das, was ich vorhin mitangehцrt, ьbermannte mich
wieder, und ich wollte aufschreien, daЯ ich nicht getrдumt habe, als ich
ihnen von dem Buche Ibbur erzдhlte - und es aus der Kassette nehmen und
ihnen zeigen kцnne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung
allgemeinen Aufbruches, die meine Gдste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh hдngte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
"Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre
Lebensgeister erfrischen."
Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterfьhren lassen.
Ich spьrte den Geruch des Nebels, der von der StraЯe ins Haus drang,
deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige
Schritte vorausgegangen, und man hцrte, wie sie drauЯen vor dem Torweg
mitsammen sprachen.
"Er muЯ rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum
Teufelholen."
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bьckte
und die Marionette suchte.
"Freut mich, daЯ du den dummen Kopf nicht finden kannst", brummte
Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete
grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen - wie er das Feuer eines
Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte
sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
"Still doch! Hцrt ihr denn nichts?"
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte
horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten
in den Schacht hinab.
Nichts.
"Was war's denn?" flьsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch
sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick - kaum einen Herzschlag lang - hatte es mir
geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte - fast
unhцrbar. Wie ich eine Sekunde spдter darьber nachdachte, war alles vorbei;
nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und lцste sich
langsam in ein unbestimmtes Gefьhl des Grauens auf.
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
"Gehen wir; was stehen wir da herum!" mahnte Vrieslander.
Wir schritten die Hдuserreihe entlang.
Prokop folgte nur widerwillig.
"Meinen Hals mцcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in
Todesangst."
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fьhlte, daЯ etwas wie leise
dдmmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverhдngten Schenkenfenster.
"Heinte groЯes Konzehr"
stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen
Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, цffnete sich die
Eingangstьr nach innen, und ein vierschrцtiger Kerl mit gewichstem schwarzem
Haar, ohne Kragen - eine grьnseidene Krawatte um den bloЯen Hals geschlungen
und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinszдhnen geschmьckt - empfing
uns mit Bьcklingen.
"Jд, jд, das sin mir Gдstдh. - - - Pane Schaffranek, rasch einen
Tusch!" setzte er, ьber die Schulter in das von Menschen ьberfьllte Lokal
gewendet, hastig seinem WillkommensgruЯ hinzu.
Ein klimperndes Gerдusch, wie wenn eine Ratte ьber Klaviersaiten liefe,
war die Antwort.
"Jд, jд, das sin mir Gдstдh, das sin mir Gдstдh. Da schaut man",
murmelte der Vierschrцtige immerwдhrend eifrig vor sich hin, wдhrend er uns
aus den Mдnteln half.
"Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir
versammelt", beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als
im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch Gelдnder und eine
zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar
vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
Schwaden beiЯenden Tabakrauches lagerten ьber den Tischen, hinter denen
die langen Holzbдnke an den Wдnden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten
waren: Dirnen von den Schanzen, ungekдmmt, schmutzig, barfuЯ, die festen
Brьste kaum verhьllt von miЯfarbigen Umhдngetьchern, Zuhдlter daneben mit
blauen Militдrmьtzen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhдndler mit haarigen
Fдusten und schwerfдlligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme
Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und
blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
"Ich stell' ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schцn
ungestцrt sein", krдchzte die feiste Stimme des Vierschrцtigen, und eine
Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor
den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
Schnarrende Klдnge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer
verlцschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an.
Mit erschreckender Deutlichkeit hцrte man plцtzlich wie die eisernen
Gasstдbe fauchend die flachen herzfцrmigen Flammen aus ihren Mьndern in die
Luft bliesen - - dann fiel die Musik ьber das Gerдusch her und verschlang
es.
Als wдren sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem, wallendem, weiЯen Prophetenbart, ein schwarzseidenes
Kдppchen - wie es die alten jьdischen Familienvдter tragen - auf dem
Kahlkopf, die blinden Augen milchblдulich und glдsern - starr zur Decke
gerichtet - saЯ dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit
dьrren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in
speckglдnzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals
und Armen - ein Sinnbild erheuchelter Bьrgermoral - ein schwammiges
Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem SchoЯ.
Ein wildes Gestolper von Klдngen drдngte sich aus den Instrumenten,
dann sank die Melodie ermattet zur bloЯen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riЯ den Mund weit
auf, daЯ man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust
herauf rang sich ihm, von seltsamen hebrдischen Rцchellauten begleitet, ein
wilder BaЯ:
"Roo - n - te, blau - we Stern - -"
"Rititit" (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die
keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
"Roonte blaue Steern
Hцrndlach ess i' ach geern";
"Rititit"
"Rotboart, Grienboart
allerlaj Stern" - -
"Rititit, rititit."
Die Paare traten zum Tanze an.
"Es ist das Lied vom ›chomezigen Borchu‹", erklдrte uns lдchelnd der
Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlцffel, der sonderbarerweise
mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. "Vor wohl hundert Jahren
oder mehr noch hatten zwei Bдckergesellen, Rotbart und Grьnbart, am Abend
des ›Schabbes Hagodel‹ das Brot - Sterne und Hцrnchen - vergiftet, um ein
ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der ›Meschores‹ -
der Gemeindediener - war infolge gцttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig
draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei ьberliefern.
Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals
die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als
Bordellquadrille hцren."
"Rititit - Rititit"
"Roote blaue Steern - - - -" immer hohler und fanatischer erscholl das
Gebell des Greises.
Plцtzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmдhlich in den
Rhythmus des bцhmischen "Schlapak" - eines schleifenden Schiebetanzes -
ьber, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preЯten.
"So recht. Bravo. Дh da! fang, hep, hep!" rief von der Estrade ein
schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten
zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstьck in der Richtung. Es
erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es ьber das Tanzgewьhl
hinblitzte; da war es plцtzlich verschwunden. Ein Strolch - sein Gesicht kam
mir so bekannt vor; ich glaube, es muЯ derselbe gewesen sein, der neulich
bei dem RegenguЯ neben Charousek gestanden - hatte seine Hand hinter dem
Busentuch seiner Tдnzerin, wo er sie bisher hartnдckig ruhen gehabt,
hervorgezogen - ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne
auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die Mьnze war geschnappt.
Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in
der Nдhe grinsten leise.
"Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹, nach der Geschicklichkeit zu
schlieЯen", sagte Zwakh lachend.
"Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehцrt",
fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem
Marionettenspieler zu, daЯ ich es nicht sehen sollte. - Ich verstand gar
wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich fьr krank.
Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzдhlen. Irgend etwas.
Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiЯ vom Herzen
in die Augen. Wenn er wьЯte, wie weh mir sein Mitleid tat!
Ich ьberhцrte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine
Worte einleitete, - ich weiЯ nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir
wurde immer kдlter und starrer, wie vorhin, als ich als hцlzernes Gesicht
auf Vrieslanders SchoЯ gelegen hatte. Dann war ich plцtzlich mitten drin in
der Erzдhlung, die mich fremdartig umfing, - einhьllte, wie ein lebloses
Stьck aus einem Lesebuch.
Zwakh begann:
"Die Erzдhlung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
- - - No, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen
und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als Jьngling kannte er nichts als
Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er sich durch
Stundengeben mьhsam erwarb, muЯte er noch seine kranke Mutter erhalten. Wie
grьne Wiesen aussehen und Hecken und Hьgel voll Blumen und Wдlder, erfuhr
er, glaube ich, nur aus Bьchern. Und wie wenig von Sonnenschein in Prags
schwarze Gassen fдllt, wissen Sie ja selbst.
Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich
selbstverstдndlich.
Nun, und mit der Zeit wurde er ein berьhmter Rechtsgelehrter. So
berьhmt, daЯ alle Leute - Richter und alte Advokaten - zu ihm fragen kamen,
wenn sie irgend etwas nicht wuЯten. Dabei lebte er дrmlich wie ein Bettler
in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner
Wissenschaft wurde allmдhlich Sprichwort im ganzen Lande. DaЯ ein Mann wie
er weichen Herzensempfindungen zugдnglich sein konnte, zumal sein Haar schon
anfing weiЯ zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem
als von Jurisprudenz sprechen gehort zu haben, hatte wohl keiner geglaubt.
Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen glьht die Sehnsucht am
heiЯesten.
An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als
Hцchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: - als nдmlich Seine
Majestдt der Kaiser von Wien aus ihn zum Rector magnificus an unserer
Universitдt ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem
jungen, bildschцnen Frдulein aus zwar armer, aber adliger Familie verlobt.
Und wirklich schien von da an das Gluck bei Dr. Hulbert eingezogen zu
sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge
Gattin auf Hдnden, und jeden Wunsch zu erfьllen, den er ihr nur irgend von
den Augen abzulesen vermochte, war seine hцchste Freude.
In seinem Gluck vergaЯ er jedoch keineswegs, wie es wohl so mancher
andere getan hatte, seine leidenden Mitmenschen. "Mir hat Gott meine
Sehnsucht gestillt," soll er einmal gesagt haben, - "er hat mir ein
Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir
hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir das lieblichste Wesen zu eigen
gegeben, das die Erde tragt. Und so will ich, daЯ ein Schimmer von diesem
Gluck, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fallt." - - -
Und so kam es, daЯ er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm
wie seines eigenen Sohnes. Vermutlich in der Erwдgung, wie wohl ihm selbst
ein solch gutes Werk getan hatte, wдre es ihm am eigenen Leib und Leben in
den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun auf Erden
manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht
gleich der einer fluchwьrdigen, weil wir wohl doch nicht richtig
unterscheiden kцnnen zwischen dem, was giftigen Samen in sich tragt und was
heilsamen, so begab es sich auch hier, daЯ aus Dr. Hulberts mitleidsvollem
Werk das bitterste Leid fьr ihn selbst sproЯ.
Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem
Studenten, und ein erbarmungsloses Schicksal wollte, daЯ sie der Rektor
gerade in dem Augenblicke, als er unerwartet nach Hause kam, um sie zum
Zeichen seiner Liebe mit einem StrauЯ Rosen als Geburtstagsprдsent zu
ьberraschen, in den Armen dessen antraf, auf den er Wohltat ьber Wohltat
gehдuft hatte.
Man sagt, daЯ die blaue Muttergottesblume fьr immer ihre Farbe
verlieren kann, wenn der fahle, schweflige Schein eines Blitzes, der ein
Hagelwetter verkьndet, plцtzlich auf sie fдllt; gewiЯ ist, daЯ die Seele des
alten Mannes fьr immer erblindete an dem Tage, wo sein Gluck in Scherben
ging. Am selben Abend noch saЯ er, er, der bis dahin nicht gewuЯt, was
UnmдЯigkeit ist, hier beim "Loisitschek" - fast bewuЯtlos vom Fusel - bis
zum Morgengrauen. Und der "Loisitschek" wurde seine Heimstдtte fьr den Rest
seines zerstцrten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines
Neubaus, im Winter hier auf den hцlzernen Bдnken.
Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte belieЯ man ihm
stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berьhmten
Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daЯ man Дrgernis nдhme an seinem Wandel.
Allmдhlich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der
Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Grьndung jener seltsamen
Gemeinschaft, die man noch heutigentags "das Bataillon" nennt.
Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk fьr alle
die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War irgendein
entlassener Strдfling daran zu verhungern, schickte ihn Dr. Hulbert
splitternackt hinaus auf den Altstadter Ring - und das Amt auf der
sogenannten "Fischbanka" sah sich genцtigt, einen Anzug beizustellen. Sollte
eine unterstandslose Dirne aus der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie
schnell einen Strolch, der bezirkszustдndig war, und wurde dadurch ansдssig.
Hundert solcher Auswege wuЯte Dr. Hulbert, und seinem Rate gegenьber
stand die Polizei machtlos da. - Was diese AusgestoЯenen der menschlichen
Gesellschaft "verdienten", ьbergaben sie getreulich auf Heller und Kreuzer
der gemeinsamen Kassa, aus der der nцtige Lebensunterhalt bestritten wurde.
Niemals lieЯ sich auch nur einer die geringste Unehrlichkeit zuschulden
kommen. Mag sein, daЯ angesichts dieser eisernen Disziplin der Name "das
Bataillon" entstand.
Pьnktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglьcks jдhrte, das
den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim "Loisitschek" eine
seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrдngt standen sie hier: Bettler,
Vagabunden, Zuhдlter und Dirnen, Trunkenbolde und Lumpensammler, und eine
lautlose Stille herrschte wie beim Gottesdienst. - Und dann erzдhlte ihnen
Dr. Hulbert dort von der Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen,
gerade unter dem Krцnungsbilde Seiner Majestдt des Kaisers, seine
Lebensgeschichte: - wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und
spдter Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er mit
dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner jungen Frau trat, - zur Feier
ihres Geburtstages und zugleich zum Gedдchtnis jener Stunde, da er dereinst
um sie anhalten gekommen und sie seine liebe Braut geworden war, - da
versagte ihm jedesmal die Stimme, und weinend sank er am Tisch zusammen.
Dann geschah es wohl zuweilen, daЯ irgendein liederliches Frauenzimmer ihm
verschдmt und heimlich, damit es keiner sehen sollte, eine halbwelke Blume
in die Hand legte.
Von den Zuhцrern rьhrte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum Weinen
sind diese Menschen zu hart, aber an ihren Kleidern blickten sie herunter
und drehten unsicher die Finger.
Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten an der
Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein.
Sein Leichenbegдngnis sehe ich noch heute vor mir. Das "Bataillon"
hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie mцglich zu gestalten.
Voran ging der Pedell der Universitдt in vollem Ornat: in den Hдnden
das purpurne Kissenpolster mit der gьldenen Kette darauf und hinter dem
Leichenwagen in unabsehbarer Reihe - - das "Bataillon" barfuЯ,
schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. Einer von ihnen hatte sein Letztes
verkauft und ging daher: Leib, Beine und Arme mit Lagen aus altem
Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
Auf seinem Grabe, drauЯen im Friedhof, steht ein weiЯer Stein, darein
sind drei Figuren gemeiЯelt: Der Heiland gekreuzigt zwischen zwei Rдubern.
Von unbekannter Hand gestiftet. Man munkelt, Dr. Hulberts Frau habe das
Denkmal errichtet. - - -
Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vorgesehen,
danach bekommt jeder vom "Bataillon" mittags "beim Loisitschek" umsonst eine
Suppe; zu diesem Zwecke hдngen hier am Tisch die Lцffel an den Ketten, und
die ausgehцhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller. Um 12 Uhr kommt
die Kellnerin und spritzt mit einer groЯen, blechernen Spritze die Brьhe
hinein und, wenn sich einer nicht ausweisen kann als "vom Bataillon", so
zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurьck.
Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz die Runde durch
die ganze Welt."
Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner Lethargie.
Die letzten Sдtze, die Zwakh gesprochen, wehten ьber mein BewuЯtsein hinweg.
Ich sah noch, wie er seine Hдnde bewegte, um das Vor- und Zurьckschieben
eines Spritzenkolbens klarzumachen, dann jagten die Bilder, die sich rings
um uns abrollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so
gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorьber, daЯ ich in Momenten ganz
mich selbst vergaЯ und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
Das Zimmer war ein einziges Menschengewьhl geworden. Oben auf der
Estrade: dutzende Herren in schwarzen Frдcken. WeiЯe Manschetten, blitzende
Ringe. Eine Dragoneruniform mit Rittmeisterschnьren. Im Hintergrund ein
Damenhut mit lachsfarbigen StrauЯenfedern.
Durch die Stдbe des Gelдnders stierte das verzerrte Gesicht Loisas
hinauf. Ich sah: er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war da
und schaute unverwandt hinauf, mit dem Rьcken dicht, ganz dicht, an der
Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
Die Gestalten hielten plцtzlich im Tanzen inne: der Wirt muЯte ihnen
etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch,
aber leise; sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte; man fьhlte es
deutlich. Und doch lag der Ausdruck hдmischer wilder Freude in dem Gesicht
des Wirtes.
- - - - In der Eingangstьr steht mit einem Mal der Polizeikommissдr in
Uniform. Er hatte die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter
ihm ein Kriminalschutzmann.
"Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes? Ich sperre die Spelunke.
Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!"
Es klingt wie Kommandos.
Der Vierschrцtige gibt keine Antwort, aber das hдmische Grinsen bleibt
in seinen Zьgen.
BloЯ starrer ist es geworden.
Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.
Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
Die Gesichter sind plцtzlich alle im Profil zu sehen: sie glotzen
erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
Und da kommt eine vornehme schwarze Gestalt gelassen die paar Stufen
herab und geht langsam auf den Kommissдr zu.
Die Augen des Kriminalschutzmannes hдngen gebannt an den
heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben
und lдЯt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den FьЯen und wieder
zurьck schweifen.
Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich ьber das
Gelдnder gebeugt und verbeiЯen das Lachen hinter ihren grauseidenen
Taschentьchern.
Der Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstьck ins Auge und spuckt einem
Mдdchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
Der Polizeikommissдr hat sich verfдrbt und starrt in der Verlegenheit
immerwдhrend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
Er kann den gleichgьltigen, glanzlosen Blick dieses glattrasierten,
unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
Die Totenstille im Lokal wird immer quдlender.
"So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten Hдnden auf den
Steinsдrgen liegen in den gotischen Kirchen", flьstert der Maler Vrieslander
mit einem Blick auf den Kavalier.
Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: "Дh - Hm." - - - er
kopiert die Stimme des Wirtes: "Jд, jд, das sin mir Gдstдh - da schaut man."
Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, daЯ die Glдser klirren; die
Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand
und zerschellt. Der vierschrцtige Wirt meckert uns erlдuternd und
ehrfurchtsvoll zu: "Seine Durchlaucht Exzellenz Fьrst Ferri Athenstдdt."
Der Fьrst hat dem Beamten eine Visitkarte hingehalten. Der Дrmste nimmt
sie, salutiert wiederholt und schlдgt die Hacken zusammen.
Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter
geschehen wird.
Der Kavalier spricht wieder:
"Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, - дh - sind meine
lieben Gдste." Seine Durchlaucht deutet mit einer nachlдssigen Armbewegung
auf das Gesindel, "wьnschen Sie, Herr Kommissдr, - дh - vielleicht
vorgestellt zu werden?"
Der Kommissдr verneint mit erzwungenem Lдcheln, stottert verlegen etwas
von "leidiger Pflichterfьllung" und rafft sich schlieЯlich zu den Worten
auf: "Ich sehe ja, daЯ es hier anstдndig zugeht."
Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund
auf den Damenhut mit der StrauЯenfeder zu und zerrt im nдchsten Augenblick
unter dem Jubel der jungen Adligen - Rosina am Arm herunter in den Saal.
Sie schwankt vor Trunkenheit und hдlt die Augen geschlossen. Der groЯe,
kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa Strьmpfe
und - einen Herrenfrack auf dem bloЯen Kцrper.
Ein Zeichen: Die Musik fallt ein wie rasend - - - "Rititit - Rititit" -
- - und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als
er Rosina gesehen, an der Wand drьben ausgestoЯen hat. - -
Wir wollen gehen.
Zwakh ruft nach der Kellnerin.
Der allgemeine Lдrm verschlingt seine Worte.
Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
Der Rittmeister hдlt die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich
langsam mit ihr im Takt.
Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
Dann murmelt es von den Bдnken: "Der Loisitschek, der Loisitschek", die
Hдlse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites noch
seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit langem
blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt wie eine
Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung, - hдngt
schmachtend an der Brust des Fьrsten Athenstдdt.
Ein sьЯlicher Walzer quillt aus der Harfe.
Wilder Ekel vor dem Leben schnьrt mir die Kehle zusammen.
Mein Blick sucht voll Angst die Ture: der Kommissдr steht dort
abgewendet, um nichts zu sehen, und flьstert hastig mit dem
Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.
Die beiden spдhen hinьber auf den blatternarbigen Loisa, der einen
Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelдhmt - das Gesicht kalkweiЯ
und verzerrt vor Entsetzen - stehen bleibt.
Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: Das
Bild, wie "Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen, - ьber das
Kanalgitter gebeugt - und ein Todesschrei gellt aus der Erde empor."
Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und
biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzдhne, daЯ es wie ein
Klumpen meinen Gaumen erfьllt und ich kein Wort hervorbringen kann.
Ich kann die Finger nicht sehen, weiЯ, daЯ sie unsichtbar sind, und
doch empfinde ich sie wie etwas Kцrperliches.
Und klar steht es in meinem BewuЯtsein: sie gehцren zu der
gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der HahnpaЯgasse das Buch
"Ibbur" gegeben hat.
"Wasser, Wasser!" schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und
leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
"In seine Wohnung schaffen, Arzt holen - der Archivar Hillel kennt sich
aus in solchen Dingen - - zu ihm bringen!" beraten sie murmelnd.
Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop und
Vrieslander tragen mich hinaus.
Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen, und ich hцrte, wie
Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn дngstlich ausfragte und er sie
zu beruhigen trachtete.
Ich gab mir keine Mьhe hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, und
erriet mehr, als ich es in Worten verstand, daЯ Zwakh erzдhlte, mir sei ein
Unfall zugestoЯen und sie kдmen bitten, mir die erste Hilfe zu leisten und
mich wieder zu BewuЯtsein zu bringen.
Noch immer konnte ich kein Glied rьhren, und die unsichtbaren Finger
hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das Gefьhl des
Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wuЯte genau, wo ich war und was mit
mir geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, daЯ man mich wie
einen Toten hinauftrug, samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hillels
niedersetzte und - allein lieЯ.
Eine ruhige, natьrliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach
einer langen Wanderung genieЯt, erfьllte mich.
Es war finster in der Stube, und mit verschwimmenden Umrissen hoben
sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem mattleuchtenden Dunst ab,
der von der Gasse heraufschimmerte.
Alles kam mir selbstverstдndlich vor und ich wunderte mich weder
darьber, daЯ Hillel mit einem jьdischen siebenflammigen Sabbatleuchter
eintrat, noch, daЯ er mir gelassen "guten Abend" wьnschte wie jemandem,
dessen Kommen er erwartet hatte.
Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas
Besonderes bemerkt hatte, - trotzdem wir einander oft drei- bis viermal in
der Woche auf den Stiegen begegnet waren, - fiel mir plцtzlich stark an ihm
auf, wie er so hin und her ging, einige Gegenstдnde auf der Kommode
zurechtrьckte und schlieЯlich mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls
siebenflammigen anzьndete.
Nдmlich: sein EbenmaЯ an Leib und Gliedern und der schmale, feine
Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.
Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht дlter sein
als ich: hцchstens 45 Jahre zдhlen.
"Du bist um einige Minuten frьher gekommen", - begann er nach einer
Weile - "als anzunehmen war, sonst hдtte ich die Lichter schon vorher
angezьndet." - Er deutete auf die beiden Leuchter, trat an die Bahre und
richtete seine dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der
mir zu Hдupten stand oder kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte.
Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.
Sofort lieЯen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und der
Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte hinter mich:
Niemand auЯer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.
Sein "Du" und die Bemerkung, daЯ er mich erwartet habe, hatten also mir
gegolten!?
Viel befremdender als diese beiden Umstдnde an sich wirkte es auf mich,
daЯ ich nicht imstande war, auch nur die geringste Verwunderung darьber zu
empfinden.
Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lдchelte freundlich,
wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel
wies, und sagte:
"Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die
gespenstischen Dinge - die Kischuph - auf den Menschen; das Leben kratzt und
brennt wie ein hдrener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt
sind mild und erwдrmend."
Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hдtte erwidern sollen.
Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegenьber
und fuhr gelassen fort: "Auch ein silberner Spiegel, hдtte er Empfindung,
litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glдnzend geworden, gibt
er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung."
"Wohl dem Menschen", setzte er leise hinzu, "der von sich sagen kann:
Ich bin geschliffen." - Einen Augenblick versank er in Nachdenken, und ich
hцrte ihn einen hebrдischen Satz murmeln: "Lischuosиcho Kiwisi Adoschem."
Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:
"Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich wach
gemacht. Im Psalm David heiЯt es:
"Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist
es, welche diese Verдnderung gemacht hat."
Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstдtten, so wдhnen sie, sie
hдtten den Schlaf abgeschьttelt, und wissen nicht, daЯ sie ihren Sinnen zum
Opfer fallen und die Beute eines neuen viel tieferen Schlafes werden, als
der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und
das ist das, dem Du dich jetzt nдherst. Sprich den Menschen davon und sie
werden sagen, Du seist krank, denn sie kцnnen dich nicht verstehen. Darum
ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.
Sie fahren dahin wie ein Strom -
Und sind wie ein Schlaf,
Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird -
Das des Abends abgehauen wird und verdorret."
"Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir
das Buch "Ibbur" gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?", wollte
ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte
fassen konnte:
"Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute
die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf
Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!
Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem
Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst."
Ich fьhlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen,
sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein
uferloses Meer.
Ruhevoll fuhr Hillel fort:
"Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben; Schlaf und Tod
sind dasselbe."
"- - kann nicht mehr sterben?" - Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.
"Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg
des Todes. Du hast das Buch "Ibbur" genommen und darin gelesen. Deine Seele
ist schwanger geworden vom Geist des Lebens", hцrte ich ihn reden.
"Hillel, Hillel, laЯ mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den
des Sterbens!", schrie alles wild in mir auf.
Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.
"Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des
Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: "Ehe Gott die
Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die
geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen
die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese
strich Gott aus dem Buche der Lebenden." Du aber gehst einen Weg und hast
ihn aus freiem Willen beschritten, - wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr
weiЯt: Du bist berufen von dir selbst. Grдm' dich nicht: allmдhlich, wenn
das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind
dasselbe."
Der freundliche, fast liebenswьrdige Ton, in den Hillels Rede
ausgeklungen war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich fьhlte mich geborgen
wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiЯ.
Ich blickte auf und sah, daЯ mit einemmal viele Gestalten im Zimmer
waren und uns im Kreis umstanden: einige in weiЯen Sterbegewдndern, wie sie
die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an
den Schuhen - aber Hillel fuhr mir mit der Hand ьber die Augen, und die
Stube war wieder leer.
Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende
Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten kцnne in mein Zimmer.
Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam
nicht, und ich geriet stattdessen in einen sonderbaren Zustand, der weder
Trдumen war, noch Wachen, noch Schlafen.
Das Licht hatte ich ausgelцscht, aber trotzdem war alles in der Stube
so deutlich, daЯ ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei
fьhlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen qualvollen
Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in дhnlicher Verfassung befindet.
Nie vorher in meinem Leben wдre ich imstande gewesen, so scharf und
prдzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchstrцmte
meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee,
die nur auf meine Befehle wartete.
Ich brauchte bloЯ zu rufen, und sie traten vor mich und erfьllten, was
ich wьnschte.
Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu
schneiden versucht hatte, - ohne damit zurechtzukommen, da sich die vielen
zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den Gesichtszьgen decken
wollten, die ich mir vorgestellt, - fiel mir ein, und im Nu sah ich die
Lцsung vor mir und wuЯte genau, wie ich den Stichel zu fьhren hatte, um der
Struktur der Masse gerecht zu werden.
Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindrьcke und Traumgesichter,
von denen ich oft nicht gewuЯt: waren es Ideen oder Gefьhle, sah ich mich
jetzt plцtzlich als Herr und Kцnig im eigenen Reich.
Rechenexempel, die ich frьher nur mit Дchzen und auf dem Papier hдtte
bewдltigen kцnnen, fьgten sich mir mit einem Mal im Kopf spielend zum
Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten Fдhigkeit, das zu
sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen,
Gegenstдnde oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch
derlei Werkzeuge nicht zu lцsen waren: - philosophische Probleme und
дhnliches -, so trat an Stelle des inneren Sehens das Gehцr, wobei die
Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers ьbernahm.
Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloЯes Wort an meinem Ohr hatte
vorьbergehen lassen, stand wertgetrдnkt bis in die tiefste Faser vor mir;
was ich "auswendig" gelernt, "erfaЯte" ich mit einem Schlag als mein
"Eigen"tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor
mir.
Die "hohen" Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienrдtlich
biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab
behandelt hatten, - demьtig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze und
entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin Krьcken
fьr - einen noch frecheren Schwindel.
Trдumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel
gesprochen?
Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und
selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich ьberzeugt hat,
daЯ der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wьhlte
ich mich wieder in die Kissen.
Und wie ein Spьrhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen
Rдtsel, die mich rings umgaben.
Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurьckzugelangen, bis
zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus - glaubte ich - kцnnte es
mir mцglich sein, jenen Teil meines Daseins zu ьberblicken, der fьr mich,
durch eine seltsame Fьgung des Schicksals in Finsternis gehьllt lag.
Aber wie sehr ich mich auch bemьhte, ich kam nicht weiter, als daЯ ich
mich wie einst in dem dьsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den
Torbogen den Trцdlerladen des Aaron Wassertrum unterschied - als ob ich ein
Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt hдtte, immer
gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiter zu schьrfen in
den Schдchten der Vergangenheit, da begriff ich plцtzlich mit leuchtender
Klarheit, daЯ in meiner Erinnerung wohl die breite HeerstraЯe der
Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig
schmaler FuЯsteige, die wohl bisher den Hauptpfad stдndig begleitet hatten,
von mir jedoch nicht beachtet worden waren. "Woher", schrie es mir fast in
die Ohren, "hast du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben
fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt - und Gravieren und all das
andere? Lesen, schreiben, sprechen - und essen - und gehen, atmen, denken
und fьhlen?"
Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein
Leben zurьck.
Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge zu
ьberlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag
vor diesem und so weiter?
Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt - - jetzt! Jetzt!
Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen
trennte, muЯte ьberflogen sein - da trat ein Bild vor mich, das ich auf der
Rьckwanderung meiner Gedanken ьbersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit
der Hand ьber die Augen - genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.
Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die Reihe
der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch
zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind's, die in die
verlorene Heimat zurьckfьhren: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift
in unserem Kцrper eingraviert ist, und nicht die scheuЯliche Narbe, die die
Raspel des дuЯeren Lebens hinterlaЯt, - birgt die Lцsung der letzten
Geheimnisse.
So, wie ich zurьckfinden kцnnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in
der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornдhme von Z bis A, um dort
anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen, - so, begriff ich,
muЯte ich auch wandern kцnnen in die andere ferne Heimat, die jenseits allen
Denkens liegt.
Eine Weltkugel an Arbeit wдlzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules
trug eine Zeitlang das Gewцlbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein,
und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und wie
Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: "LaЯ
mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit mir die
entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt", so gдbe es vielleicht einen
dunklen Weg - dдmmerte mir - von dieser Klippe weg.
Ein tiefer Argwohn, der Fьhrerschaft meiner Gedanken weiter blind zu
vertrauen, beschlich mich plцtzlich. Ich legte mich gerade und verschloЯ mit
den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die Sinne.
Um jeden Gedanken zu tцten.
Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur
einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon
mдstete sich der nдchste an seinem Fleische. Ich flьchtete in den brausenden
Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem FuЯ; ich verbarg
mich im Hдmmerwerk meines Herzens: nur eine kleine Weile, und sie hatten
mich entdeckt.
Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte:
"Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schlьssel zur Kunst des
Vergessens gehцrt unseren Brьdern, die den Pfad des Todes wandeln; du aber
bist geschwдngert vom Geiste des - Lebens."
Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin
auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, mдchtig,
gleich einem Erdbeben, - der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit
auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand ьber meine
Augen, und ich schlummerte ein.
"Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und hцchster Angst.
Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, - oder
besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. - Ich hдtte keine Ruhe
sonst.
Sagen Sie keiner Menschenseele, daЯ ich Ihnen geschrieben habe. Auch
nicht, wohin Sie heute gehen werden!
Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir - "neulich" - (Sie werden durch
diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie waren, erraten,
wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fьrchte mich, meinen Namen
darunter zu setzen) - so viel Vertrauen eingeflцЯt, und weiter, daЯ Ihr
lieber, seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat, - alles das gibt mir
den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen
kann, zu wenden.
Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche
auf dem Hradschin."
Eine Ihnen bekannte Dame.