---------------------------------------------------------------
Густав Майринк. Голем. На немецком языке).
Дата создание произведения: 1915 г.
Печатный источник: Gustav Meyrink. Der Golem, Leipzig, 1916
OCR, Spellcheck: Serge Winitzki
---------------------------------------------------------------


Leipzig
Kurt Wolff Verlag
1916
Vierter Abdruck. Dezember 1915
Copyright 1915 by Kurt Wolff Verlag Leipzig
Kapitelverzeichnis
Schlaf
Tag
I
Prag
Punsch
Nacht
Wach
Schnee
Spuk
Licht
Not
Angst
Trieb
Weib
List
Qual
Mai
Mond
Frei
SchluЯ
Schlaf
Das Mondlicht fдllt auf das FuЯende meines Bettes und liegt dort wie
ein groЯer, heller, flacher Stein.
Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine
rechte Seite fдngt an zu verfallen, - wie ein Gesicht, das dem Alter
entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert, - dann
bemдchtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trьbe, qualvolle
Unruhe.
Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum vermischt sich in
meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und Gehцrtem, wie Strцme von
verschiedener Farbe und Klarheit zusammenflieЯen.
Ich hatte ьber das Leben des Buddha Gotama gelesen, ehe ich mich
niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder von vorne
beginnend durch meinen Sinn:
"Eine Krдhe flog zu einem Stein hin, der wie ein Stьck Fett aussah, und
dachte: vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die Krдhe dort
nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort. Wie die Krдhe, die sich dem
Stein genдhert, so verlassen wir - wir, die Versucher, - den Asketen Gotama,
da wir den Gefallen an ihm verloren haben."
Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein Stьck Fett, wдchst ins
Ungeheuerliche in meinem Hirn:
Ich schreite durch ein ausgetrocknetes FluЯbett und hebe glatte Kiesel
auf.
Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, ьber die ich nachgrьble
und nachgrьble und doch mit ihnen nichts anzufangen weiЯ, - dann schwarze
mit schwefelgelben Flecken wie die steingewordenen Versuche eines Kindes,
plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.
Und ich will sie weit von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen
sie mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich meiner Augen nicht
bannen.
Alle jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt, tauchen
auf rings um mich her.
Manche quдlen sich schwerfдllig ab, sich aus dem Sande ans Licht
emporzuarbeiten - wie groЯe schieferfarbene Taschenkrebse, wenn die Flut
zurьckkommt, - und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf sich
zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.
Andere - erschцpft - fallen kraftlos zurьck in ihre Lцcher und geben es
auf, je zu Worte zu kommen.
Zuweilen fahre ich empor aus dem Dдmmer dieser halben Trдume und sehe
fьr einen Augenblick wiederum den Mondschein auf dem gebauschten FuЯende
meiner Decke liegen wie einen groЯen, hellen, flachen Stein, um blind von
neuem hinter meinem schwindenden BewuЯtsein herzutappen, ruhelos nach jenem
Stein suchend, der mich quдlt - der irgendwo verborgen im Schutte meiner
Erinnerung liegen muЯ und aussieht wie ein Stьck Fett.
Eine Regenrцhre muЯ einst neben ihm auf der Erde gemьndet haben, male
ich mir aus - stumpfwinklig abgebogen, die Rдnder von Rost zerfressen, - und
trotzig will ich mir im Geiste ein solches Bild erzwingen, um meine
aufgescheuchten Gedanken zu belьgen und in Schlaf zu lullen.
Es gelingt mir nicht.
Immer wieder und immer wieder mit alberner Beharrlichkeit behauptet
eine eigensinnige Stimme in meinem Innern - unermьdlich wie ein
Fensterladen, den der Wind in regelmдЯigen Zwischenrдumen an die Mauer
schlagen lдЯt: es sei das ganz anders, das sei gar nicht der Stein, der wie
Fett aussehe.
Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.
Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebensдchlich, so
schweigt sie wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder auf
und beginnt hartnдckig von neuem: gut, gut, schon recht, es ist aber doch
nicht der Stein, der wie ein Stьck Fett aussieht. -
Langsam beginnt sich meiner ein unertrдgliches Gefьhl von Hilflosigkeit
zu bemдchtigen.
Wie es weiter gekommen ist, weiЯ ich nicht. Habe ich freiwillig jeden
Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich ьberwдltigt und geknebelt, meine
Gedanken?
Ich weiЯ nur, mein Kцrper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind
losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. -
Wer ist jetzt "ich", will ich plцtzlich fragen; da besinne ich mich,
daЯ ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen kцnnte;
dann fьrchte ich, die dumme Stimme werde wieder aufwachen und von neuem das
endlose Verhцr ьber den Stein und das Fett beginnen.
Und so wende ich mich ab.

    Tag


Da stand ich plцtzlich in einem dьsteren Hofe und sah durch einen
rцtlichen Torbogen gegenьber - jenseits der engen, schmutzigen StraЯe -
einen jьdischen Trцdler an einem Gewцlbe lehnen, das an den Mauerrдndern mit
altem Eisengerьmpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten Steigbьgeln und
Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war.
Und dieses Bild trug das quдlend Eintцnige an sich, das alle jene
Eindrьcke kennzeichnet, die tagtдglich so und so oft wie Hausierer die
Schwelle unserer Wahrnehmung ьberschreiten, und rief in mir weder Neugierde
noch Ьberraschung hervor.
Ich wurde mir bewuЯt, daЯ ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung
zu Hause war.
Auch diese Empfindung hinterlieЯ mir trotz ihres Gegensatzes zu dem,
was ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt,
keinerlei tieferen Eindruck. - -
Ich muЯ einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und
einem Stьck Fett gehцrt oder gelesen haben, drдngte sich mir plцtzlich der
Einfall auf, als ich die ausgetretenen Stufen zu meiner Kammer emporstieg
und mir ьber das speckige Aussehen der Steinschwellen flьchtige Gedanken
machte.
Da hцrte ich Schritte die oberen Treppen ьber mir vorauslaufen, und als
ich zu meiner Tьr kam, sah ich, daЯ es die vierzehnjдhrige, rothaarige
Rosina des Trцdlers Aaron Wassertrum gewesen war.
Ich muЯte dicht an ihr vorbei, und sie stand mit dem Rьcken gegen das
Stiegengelдnder und bog sich lьstern zurьck.
Ihre schmutzigen Hдnde hatte sie um die Eisenstange gelegt, - zum Halt
- und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trьben Halbdunkel
hervorleuchteten.
Ich wich ihren Blicken aus.
Mich ekelte vor ihrem zudringlichen Lдcheln und diesem wдchsernen
Schaukelpferdgesicht.
Sie muЯ schwammiges, weiЯes Fleisch haben wie der Axolotl, den ich
vorhin im Salamanderkдfig bei dem Vogelhдndler gesehen habe, fьhlte ich.
Die Wimpern Rothaariger sind mir widerwдrtig wie die eines Kaninchens.
Und ich sperrte auf und schlug rasch die Tьr hinter mir zu. - -
Von meinem Fenster aus konnte ich den Trцdler Aaron Wassertrum vor
seinem Gewцlbe stehen sehen.
Er lehnte am Eingang der dunklen Wцlbung und zwickte mit einer
BeiЯzange an seinen Fingernдgeln herum.
War die rothaarige Rosina seine Tochter oder seine Nichte? Er hatte
keine Дhnlichkeit mit ihr.
Unter den Judengesichtern, die ich Tag fьr Tag in der HahnpaЯgasse
auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene Stдmme unterscheiden, die
sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen
verwischen lassen, wie sich цl und Wasser vermengen wird. Da darf man nicht
sagen: die dort sind Brьder oder Vater und Sohn.
Der gehцrt zu jenem Stamm und dieser zu einem andern, das ist alles,
was sich aus den Gesichtszьgen lesen lдЯt.
Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem Trцdler дhnlich sдhe!
Diese Stдmme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der
sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft durchbricht, - aber sie
verstehen ihn geheimzuhalten vor der AuЯenwelt, wie man ein gefдhrliches
Geheimnis hьtet.
Kein einziges lдЯt ihn durchblicken, und in dieser Ьbereinstimmung
gleichen sie haЯerfьllten Blinden, die sich an ein schmutzgetrдnktes Seil
klammern: der eine mit beiden Fдusten, ein anderer nur widerwillig mit einem
Finger, alle aber von aberglдubischer Furcht besessen, daЯ sie dem Untergang
verfallen mьssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von den
ьbrigen trennen.
Rosina ist von jenem Stamme, dessen rothaariger Typus noch abstoЯender
ist, als der der andern. Dessen Mдnner engbrьstig sind und lange Hьhnerhдlse
haben mit vorstehendem Adamsapfel.
Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr ganzes Leben leiden sie
unter brьnstigen Qualen, diese Mдnner, - und kдmpfen heimlich gegen ihre
Gelьste einen ununterbrochenen, erfolglosen Kampf, von immerwдhrender
widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.
Ich war mir nicht klar, wieso ich Rosina ьberhaupt in
verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Trцdler Wassertrum bringen konnte.
Nie habe ich sie doch in der Nдhe des Alten gesehen oder bemerkt, daЯ
sie jemals einander etwas zugerufen hдtten.
Auch war sie fast immer in unserem Hofe oder drьckte sich in den
dunklen Winkeln und Gдngen unseres Hauses umher.
Sicherlich halten sie alle meine Mitbewohner fьr eine nahe Verwandte
oder zumindest Schutzbefohlene des Trцdlers, und doch bin ich ьberzeugt, daЯ
kein einziger einen Grund fьr solche Vermutungen anzugeben vermцchte.
Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreiЯen und sah von dem offenen
Fenster meiner Stube hinab auf die HahnpaЯgasse.
Als habe Aaron Wassertrum meinen Blick gefьhlt, wandte er plцtzlich
sein Gesicht zu mir empor.
Sein starres, grдЯliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der
klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.
Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinste Berьhrung
ihres Netzes spьrt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.
Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben?
Ich wuЯte es nicht.
An den Mauerrдndern seines Gewцlbes hдngen unverдndert Tag fьr Tag,
jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge.
Mit geschlossenen Augen hдtte ich sie hinzeichnen kцnnen: hier die
verbogene Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt,
mit den so sonderbar zusammengestellten Soldaten. Dann eine Girlande
verrosteter Sporen an einem schimmligen Lederriemen und anderes halb
vermodertes Gerьmpel.
Und vorne auf dem Boden, dicht nebeneinander geschichtet, so daЯ
niemand die Schwelle des Gewцlbes ьberschreiten kann, eine Reihe runder
eiserner Herdplatten. -
Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier
und da einmal ein Vorьbergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen
oder andern, geriet der Trцdler in heftige Erregung.
In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte
empor und sprudelte gereizt irgend etwas Unverstдndliches in einem
gurgelnden, stolpernden BaЯ hervor, daЯ dem Kдufer die Lust weiter zu fragen
verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.
Der Blick des Aaron Wassertrum war blitzschnell von meinen Augen
abgeglitten und ruhte jetzt mit gespanntem Interesse an den kahlen Mauern,
die vom Nebenhause an mein Fenster stoЯen.
Was konnte er dort nur sehen?
Das Haus steht doch mit dem Rьcken gegen die HahnpaЯgasse, und seine
Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die StraЯe gekehrt.
Zufдllig schienen die Rдume, die nebenan in derselben Stockhцhe wie die
meinigen liegen - ich glaube, sie gehцren zu einem winkligen Atelier - in
diesem Moment betreten worden zu sein, denn durch die Mauern hцrte ich
plцtzlich eine mдnnliche und eine weibliche Stimme miteinander reden.
Unmцglich konnte das aber der Trцdler von unten aus wahrgenommen haben!
- -
Vor meiner Tьr bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch
Rosina, die drauЯen im Dunkeln steht in begehrlichem Warten, daЯ ich sie
doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.
Und unten, ein halbes Stockwerk tiefer, lauert der blatternarbige,
halbwьchsige Loisa auf den Stiegen mit angehaltenem Atem, ob ich die Tьr
цffnen werde, und ich spьre fцrmlich den Hauch seines Hasses und seine
schдumende Eifersucht bis herauf zu mir.
Er fьrchtet sich nдher zu kommen und von Rosina bemerkt zu werden. Er
weiЯ sich von ihr abhдngig wie ein hungriger Wolf von seinem Wдrter und
mцchte doch am liebsten aufspringen und besinnungslos seiner Wut die Zьgel
schieЯen lassen! - - -
Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten und
Stichel hervor.
Aber ich konnte nichts fertigbringen und meine Hand war nicht ruhig
genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.
Das trьbe, dьstere Leben, das an diesem Hause hдngt, lдЯt mein Gemьt
nicht stillwerden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.
Loisa und sein Zwillingsbruder Jaromir sind wohl kaum ein Jahr дlter
als Rosina.
An ihren Vater, der Hostienbдcker gewesen, konnte ich mich kaum mehr
erinnern, und jetzt sorgt fьr sie, glaube ich, ein altes Weib.
Ich wuЯte nur nicht, welche es war unter den vielen, die versteckt im
Hause wohnen wie Krцten in ihrem Schlupfwinkel.
Sie sorgt fьr die beiden Jungen, das heiЯt: sie gewдhrt ihnen
Unterkunft; dafьr mьssen sie ihr abliefern, was sie gelegentlich stehlen
oder erbetteln. -
Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich konnte es mir nicht denken,
denn erst spдt abends kommt die Alte heim.
Leichenwдscherin soll sie sein.
Loisa, Jaromir und Rosina sah ich, als sie noch Kinder waren, oft
harmlos im Hof zu dritt spielen.
Die Zeit aber ist lang vorbei.
Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen Judenmдdel her.
Zuweilen sucht er sie lange umsonst, und wenn er sie nirgends finden
kann, dann schleicht er sich vor meine Tьr und wartet mit verzerrtem
Gesicht, daЯ sie heimlich hierher komme.
Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste drauЯen in
dem winkligen Gange lauern, den Kopf mit dem ausgemergelten Genick horchend
vorgebeugt.
Manchmal bricht dann durch die Stille plцtzlich ein wilder Lдrm.
Jaromir, der taubstumm ist, und dessen ganzes Denken eine
ununterbrochene wahnsinnige Gier nach Rosina erfьllt, irrt wie ein wildes
Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell, das er, vor
Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstцЯt, klingt so schauerlich, daЯ
einem das Blut in den Adern stockt.
Er sucht die beiden, die er stets beieinander vermutet - irgendwo in
einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel versteckt - in blinder Raserei,
immer von dem Gedanken gepeitscht, seinem Bruder auf den Fersen sein zu
mьssen, daЯ nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.
Und gerade diese unaufhцrliche Qual des Krьppels ist, ahnte ich, das
Reizmittel, das Rosina antreibt, sich stets von neuem mit dem andern
einzulassen.
Wird ihre Neigung oder Bereitwilligkeit schwдcher, so ersinnt Loisa
immer wieder besondere ScheuЯlichkeiten, um Rosinas Gier von neuem zu
entfachen.
Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen
und locken den Rasenden heimtьckisch hinter sich her in dunkle Gдnge, wo sie
aus rostigen FaЯreifen, die in die Hцhe schnellen, wenn man auf sie tritt,
und eisernen Rechen - mit den Spitzen nach oben gekehrt - bцsartige Fallen
errichtet haben, in die er stьrzen muЯ und sich blutig fдllt.
Von Zeit zu Zeit denkt sich Rosina, um die Folter aufs дuЯerste
anzuspannen, auf eigene Faust etwas Hцllisches aus.
Dann дndert sie mit einem Schlage ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als
fдnde sie plцtzlich Gefallen an ihm.
Mit ihrer ewig lдchelnden Miene teilt sie dem Krьppel hastig Dinge mit,
die ihn in eine fast irrsinnige Erregung versetzen, und sie hat sich dazu
eine geheimnisvoll scheinende, nur halbverstдndliche Zeichensprache
ersonnen, die den Taubstummen rettungslos in ein unentwirrbares Netz von
UngewiЯheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muЯ. -
Einmal sah ich ihn im Hofe vor ihr stehen, und sie sprach mit so
heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen auf ihn ein, daЯ ich glaubte,
jeden Augenblick wьrde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.
Der SchweiЯ lief ihm ьbers Gesicht vor ьbermenschlicher Anstrengung,
den Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilungen zu erfassen.
Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in Erwartung auf
den finsteren Stiegen eines halb versunkenen Hauses, das in der Fortsetzung
der engen, schmutzigen HahnpaЯgasse liegt, - bis er die Zeit versдumt hatte,
sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.
Und als er spдt abends halbtot vor Hunger und Aufregung heim wollte,
hatte ihn die Pflegemutter lдngst ausgesperrt. - - -
0x01 graphic

Ein frцhliches Frauenlachen drang aus dem anstoЯenden Atelier durch die
Mauern herьber zu mir.
Ein Lachen! - In diesen Hдusern ein frцhliches Lachen? Im ganzen Getto
wohnt niemand, der frцhlich lachen kцnnte.
Da fiel mir ein, daЯ mir vor einigen Tagen der alte Marionettenspieler
Zwakh anvertraute, ein junger, vornehmer Herr hдtte ihm das Atelier teuer
abgemietet - offenbar, um mit der Erwдhlten seines Herzens unbelauscht
zusammenkommen zu kцnnen.
Nach und nach, jede Nacht, mьЯten nun, damit niemand im Hause etwas
merke, die kostbaren Mцbel des neuen Mieters heimlich Stьck fьr Stьck
hinaufgeschafft werden.
Der gutmьtige Alte hatte sich vor Vergnьgen die Hдnde gerieben, als er
es mir erzдhlte, und sich kindlich gefreut, wie er alles so geschickt
angefangen habe: keiner der Mitbewohner kцnne auch nur eine Ahnung von dem
romantischen Liebespaar haben.
Und von drei Hдusern aus sei es mцglich, unauffдllig in das Atelier zu
gelangen. - Sogar durch eine Falltьre gдbe es einen Zugang!
Ja, wenn man die eiserne Tьr des Bodenraumes aufklinke, - und das sei
von drьben aus sehr leicht, - kцnne man an meiner Kammer, vorbei zu den
Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang benьtzen ...
Wieder klingt das frцhliche Lachen herьber und lдЯt in mir die
undeutliche Erinnerung an eine luxuriцse Wohnung und an eine adlige Familie
auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren Altertьmern kleine
Ausbesserungen vorzunehmen. -
Plцtzlich hцre ich nebenan einen gellenden Schrei. Ich horche
erschreckt.
Die eiserne Bodentьr klirrt heftig, und im nдchsten Augenblick stьrzt
eine Dame in mein Zimmer.
Mit aufgelцstem Haar, weiЯ wie die Wand, einen goldenen Brokatstoff
ьber die bloЯen Schultern geworfen.
"Meister Pernath, verbergen Sie mich, - um Gottes Christi willen! -
fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!"
Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine Tьr abermals aufgerissen und
sofort wieder zugeschlagen. -
Eine Sekunde lang hatte das Gesicht des Trцdlers Aaron Wassertrum wie
eine scheuЯliche Maske hereingegrinst. -
0x01 graphic

Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor mir auf, und im Schein des
Mondlichtes erkenne ich wiederum das FuЯende meines Bettes. Noch liegt der
Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel und der Name Pernath steht
in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.
Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? - Athanasius Pernath?
Ich glaube, ich glaube vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo
meinen Hut verwechselt, und ich wunderte mich damals, daЯ er mir so genau
passe, wo ich doch eine hцchst eigentьmliche Kopfform habe.
Und ich sah in den fremden Hut hinein - damals und - - ja, ja, dort
hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weiЯen Futter:
ATHANASIUS PERNATH.
Ich hatte mich vor dem Hut gescheut und gefьrchtet, ich wuЯte nicht
warum.
Da fдhrt plцtzlich die Stimme, die ich vergessen hatte, und die immer
von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie Fett ausgesehen habe, auf
mich los, gleich einem Pfeil.
Schnell male ich mir das scharfe, sьЯlich grinsende Profil der roten
Rosina aus, und es gelingt mir auf diese Weise, dem Pfeil auszuweichen, der
sich sogleich in der Finsternis verliert.
Ja, das Gesicht der Rosina! Das ist doch noch stдrker als die
stumpfsinnige plappernde Stimme; und gar, wo ich jetzt gleich wieder in
meinem Zimmer in der HahnpaЯgasse geborgen sein werde, kann ich ganz ruhig
sein.

    I


Wenn ich mich nicht getдuscht habe in der Empfindung, daЯ jemand in
einem gewissen, gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt,
in der Absicht, mich zu besuchen, so muЯ er jetzt ungefдhr auf dem letzten
Stiegenabsatz stehen.
Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine
Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des
oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muЯ
er, mьhsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Tьrschild lesen.
Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum
Eingang.
Da цffnete sich die Tьre, und er trat ein.
Nur wenige Schritte machte er auf mich zu und nahm weder den Hut ab,
noch sagte er ein Wort der BegrьЯung.
So benimmt er sich, wenn er zu Hause ist, fьhlte ich, und ich fand es
ganz selbstverstдndlich, daЯ er so und nicht anders handelte.
Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.
Dann blдtterte er lange drin herum.
Der Umschlag des Buches war aus Metall, und die Vertiefungen in Form
von Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgefьllt.
Endlich hatte er die Stelle gefunden, die er suchte, und deutete
darauf.
Das Kapitel hieЯ "Ibbur", "die Seelenschwдngerung", entzifferte ich.
Das groЯe, in Gold und Rot ausgefьhrte Initial "I" nahm fast die Hдlfte
der ganzen Seite ein, die ich unwillkьrlich ьberflog, und war am Rande
verletzt.
Ich sollte es ausbessern.
Das Initial war nicht auf das Pergament geklebt, wie ich es bisher in
alten Bьchern gesehen, schien vielmehr aus zwei Platten dьnnen Goldes zu
bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelцtet waren und mit den Enden um die
Rдnder des Pergaments griffen.
Also muЯte, wo der Buchstabe stand, ein Loch in das Blatt geschnitten
sein?
Wenn das der Fall war, muЯte auf der nдchsten Seite das "I" verkehrt
stehen?
Ich blдtterte um und fand meine Annahme bestдtigt.
Unwillkьrlich las ich auch diese Seite durch und die gegenьberliegende.
Und ich las weiter und weiter.
Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel
deutlicher. Und es rьhrte mein Herz an wie eine Frage.
Worte strцmten aus einem unsichtbaren Munde, wurden lebendig und kamen
auf mich zu. Sie drehten sich und wandten sich vor mir wie buntgekleidete
Sklavinnen, sanken dann in den Boden oder verschwanden wie schillernder
Dunst in der Luft und gaben der nдchsten Raum. Jede hoffte eine kleine
Weile, daЯ ich sie erwдhlen wьrde und auf den Anblick der Kommenden
verzichten.
Manche waren unter ihnen, die gingen prunkend einher wie Pfauen, in
schimmernden Gewдndern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.
Manche wie Kцniginnen, doch gealtert und verlebt, die Augenlider
gefдrbt, - mit dirnenhaftem Zug um den Mund und die Runzeln mit hдЯlicher
Schminke verdeckt.
Ich sah an ihnen vorbei und nach den kommenden, und mein Blick glitt
ьber lange Zьge grauer Gestalten mit Gesichtern, so gewцhnlich und
ausdrucksarm, daЯ es unmцglich schien, sie dem Gedдchtnis einzuprдgen.
Dann brachten sie ein Weib geschleppt, das war splitternackt und
riesenhaft wie ein ErzkoloЯ.
Eine Sekunde blieb das Weib vor mir stehen und beugte sich nieder zu
mir.
Ihre Wimpern waren so lang wie mein ganzer Kцrper, und sie deutete
stumm auf den Puls ihrer linken Hand.
Der schlug wie ein Erdbeben, und ich fьhlte, es war das Leben einer
ganzen Welt in ihr.
Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.
Ein Mann und ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen,
und immer nдher brauste der Zug.
Jetzt hцrte ich den hallenden Gesang der Verzьckten dicht vor mir, und
meine Augen suchten das verschlungene Paar.
Das aber hatte sich verwandelt in eine einzige Gestalt und saЯ, halb
mдnnlich, halb weiblich, - ein Hermaphrodit - auf einem Throne von
Perlmutter.
Und die Krone des Hermaphroditen endete in einem Brett aus rotem Holz;
darein hatte der Wurm der Zerstцrung geheimnisvolle Runen genagt.
In einer Staubwolke kam eilig hinterdreingetrappelt eine Herde kleiner,
blinder Schafe: die Futtertiere, die der gigantische Zwitter in seinem
Gefolge fьhrte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.
Zuweilen waren unter den Gestalten, die aus dem unsichtbaren Munde
strцmten, etliche, die kamen aus Grдbern, - Tьcher vor dem Gesicht.
Und blieben sie vor mir stehen, lieЯen sie plцtzlich ihre Hьllen fallen
und starrten mit Raubtieraugen hungrig auf mein Herz, daЯ ein eisiger
Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zurьckstaute wie ein Strom, in
den Felsblцcke vom Himmel herniedergefallen sind - plцtzlich und mitten in
sein Bette. -
Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte
es ab, und sie trug einen Mantel aus flieЯenden Trдnen. -
Maskenzьge tanzten vorьber, lachten und kьmmerten sich nicht um mich.
Nur ein Pierrot sieht sich nachdenklich um nach mir und kehrt zurьck.
Pflanzt sich vor mich hin und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es ein
Spiegel.
Er schneidet so seltsame Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald
zцgernd, bald blitzschnell, daЯ sich meiner ein gespenstiger Trieb
bemдchtigt ihn nachzuahmen, mit den Augen zu zwinkern, mit den Achseln zu
zucken und die Mundwinkel zu verziehen.
Da stoЯen ihn ungeduldig nachdrдngende Gestalten zur Seite, die alle
vor meine Blicke wollen.
Doch keines der Wesen hat Bestand.
Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen
Tцne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Mund entstrцmen.
Das war kein Buch mehr, das zu mir sprach. Das war eine Stimme. Eine
Stimme, die etwas von mir wollte, was ich nicht begriff; wie sehr ich mich
auch abmьhte. Die mich quдlte mit brennenden, unverstдndlichen Fragen.
Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und
ohne Widerhall.
Jeder Laut, der in der Welt der Gegenwart erklingt, hat viele Echos,
wie jegliches Ding einen groЯen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch
diese Stimme hatte keine Echos mehr, - lange, lange schon sind sie wohl
verweht und verklungen. - - -
Und bis zu Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den
Hдnden, da war mir, als hдtte ich suchend in meinem Gehirn geblдttert und
nicht in einem Buche! - -
Alles, was mir die Stimme gesagt, hatte ich, seit ich lebte, in mir
getragen, nur verdeckt war es gewesen und vergessen und hatte sich vor
meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. -
0x01 graphic

Ich blickte auf.
Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte?
Fortgegangen!?
Wird er es holen, wenn es fertig ist?
Oder sollte ich es ihm bringen? -
Aber ich konnte mich nicht erinnern, daЯ er gesagt hдtte, wo er wohne.
Ich wollte mir seine Erscheinung ins Gedдchtnis zurьckrufen, doch es
miЯlang.
Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? - Und welche
Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
Nichts, gar nichts mehr konnte ich mir vorstellen. - Alle Bilder, die
ich mir von ihm schuf, zerrannen haltlos, noch ehe ich sie im Geiste
zusammenzusetzen vermochte.
Ich schloЯ die Augen und preЯte die Hand auf die Lider, um einen
winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.
Nichts, nichts.
Ich stellte mich hin, mitten ins Zimmer, und blickte auf die Tьr, wie
ich es getan - vorhin, als er gekommen war, und malte mir aus: jetzt biegt
er um die Ecke, jetzt schreitet er ьber den Ziegelsteinboden, liest jetzt
drauЯen mein Tьrschild "Athanasius Pernath" und jetzt tritt er herein.
Vergebens.
Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen,
wollte in mir erwachen.
Ich sah das Buch auf dem Tische liegen und wьnschte mir im Geiste die
Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.
Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblцЯt gewesen,
ob jung oder runzlig, mit Ringen geschmьckt oder nicht, konnte ich mich
entsinnen.
Da kam mir ein seltsamer Einfall.
Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.
Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den
Gang und die Treppen hinab. Dann kam ich langsam wieder zurьck in mein
Zimmer.
Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und als ich die
Tьr цffnete, da sah ich, daЯ meine Kammer voll Dдmmerung lag. War es denn
nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?
Wie lange muЯte ich da gegrьbelt haben, daЯ ich nicht bemerkte, wie
spдt es ist!
Und ich versuchte den Unbekannten nachzuahmen in Gang und Mienen und
konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. -
Wie sollte es mir auch glьcken, ihn nachzuahmen, wenn ich keinen
Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.
Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.
Meine Haut, meine Muskeln, mein Kцrper erinnerten sich plцtzlich, ohne
es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht wьnschte
und nicht beabsichtigte.
Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehцrten!
Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, als ich
ein paar Schritte im Zimmer machte.
Das ist der Gang eines Menschen, der bestдndig im Begriffe ist,
vornьber zu fallen, sagte ich mir.
Ja, ja, ja, so war sein Gang!
Ganz deutlich wuЯte ich: so ist er.
Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden
Backenknochen und schaute aus schrдgstehenden Augen.
Ich fьhlte es und konnte mich doch nicht sehen.
Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es
betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich in die
Tasche und holte ein Buch hervor.
Ganz so, wie er es vorhin getan hatte. -
Da plцtzlich sitze ich wieder ohne Hut, ohne Mantel, am Tische und bin
ich. Ich, ich.
Athanasius Pernath.
Grausen und Entsetzen schьttelten mich, mein Herz raste zum
Zerspringen, und ich fьhlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem
Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.
Noch spьrte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer Berьhrung. -
Nun wuЯte ich, wie der Fremde war, und ich hдtte ihn wieder in mir
fьhlen kцnnen, - jeden Augenblick - wenn ich nur gewollt hдtte; aber sein
Bild mir vorzustellen, daЯ ich es vor mir sehen wьrde Auge in Auge - das
vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie kцnnen.
Es ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren
Linien ich nicht erfassen kann - in die ich selber hineinschlьpfen muЯ, wenn
ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewuЯt werden will
- -
In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; - in diese
wollte ich das Buch sperren und erst, wenn der Zustand der geistigen
Krankheit von mir gewichen sein wьrde, wollte ich es wieder hervorholen und
an die Ausbesserung des zerbrochenen Initialen "I" gehen.
Und ich nahm das Buch vom Tisch.
Da war mir, als hдtte ich es gar nicht angefaЯt; ich griff die Kassette
an: dasselbe Gefьhl. Als mьЯte das Tastempfinden eine lange, lange Strecke
voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem BewuЯtsein mьndete, als
seien die Dinge durch eine jahresgroЯe Zeitschicht von mir entfernt und
gehцrten einer Vergangenheit an, die lдngst an mir vorьbergezogen!
0x01 graphic

Die Stimme, die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit
dem fettigen Stein zu quдlen, ist an mir vorbeigekommen und hat mich nicht
gesehen. Und ich weiЯ, daЯ sie aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was
ich erlebt, das war wirkliches Leben, - darum konnte sie mich nicht sehen
und sucht vergeblich nach mir, fьhle ich.

    Prag


Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dьnnen,
fadenscheinigen Ьberziehers aufgeschlagen, und ich hцrte, wie ihm vor Kдlte
die Zдhne aufeinanderschlugen.
Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte
ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinьber in meine Wohnung zu kommen.
Er aber lehnte ab.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath," murmelte er frцstelnd, "leider habe
ich nicht mehr so viel Zeit ьbrig; - ich muЯ eilends in die Stadt. - Auch
wьrden wir bis auf die Haut naЯ, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten
- schon nach wenigen Schritten! - - Der Platzregen will nicht schwдcher
werden!"
Die Wasserschauer fegten ьber die Dдcher hin und liefen an den
Gesichtern der Hдuser herunter wie ein Trдnenstrom.
Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drьben im vierten
Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen ьberrieselt, aussah, als seien
seine Scheiben aufgeweicht, - undurchsichtig und hцckerig geworden wie
Hausenblase.
Ein gelber Schmutzbach floЯ die Gasse herab, und der Torbogen fьllte
sich mit Vorьbergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten
wollten.
"Dort schwimmt ein Brautbukett", sagte plцtzlich Charousek und deutete
auf einen StrauЯ aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben
kam.
Darьber lachte jemand hinter uns laut auf.
Als ich mich umdrehte, sah ich, daЯ es ein alter, vornehm gekleideter
Herr mit weiЯem Haar und einem aufgedunsenen, krцtenartigen Gesicht gewesen
war.
Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurьck und brummte etwas
vor sich hin.
Unangenehmes ging von dem Alten aus; - ich wandte meine Aufmerksamkeit
von ihm ab und musterte die miЯfarbigen Hдuser, die da vor meinen Augen wie
verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten.
Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!
Ohne Ьberlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem
Boden dringt.
An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden
Ьberrest eines frьheren, langgestreckten Gebдudes, hat man sie angelehnt -
vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rьcksicht auf die
ьbrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit
zurьckspringender Stirn; - ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.
Unter dem trьben Himmel sahen sie aus, als lдgen sie im Schlaf, und man
spьlte nichts von dem tьckischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen
ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr
leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.
In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in
mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des
Nachts und im frьhesten Morgengrauen fьr sie gдbe, wo sie erregt eine
lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fдhrt da ein
schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklдren lдЯt, Gerдusche
laufen ьber ihre Dдcher und fallen in den Regenrinnen nieder, - und wir
nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu
forschen.
Oft trдumte mir, ich hдtte diese Hдuser belauscht in ihrem spukhaften
Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daЯ sie die heimlichen,
eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fьhlens entдuЯern
und es wieder an sich ziehen kцnnen, - es tagsьber den Bewohnern, die hier
hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder
zurьckzufordern.
Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen,
wie Wesen - nicht von Mьttern geboren, - die in ihrem Denken und Tun wie aus
Stьcken wahllos zusammengefьgt scheinen, im Geiste an mir vorьberziehen, so
bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daЯ solche Trдume in sich dunkle
Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie Eindrьcke von farbigen
Mдrchen in der Seele fortglimmen.
Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem
kьnstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein
kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem
gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches
Zahlenwort hinter die Zдhne schob.
Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte,
in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so
mьЯten auch, dьnkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick
zusammenfallen, lцschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein
nebensдchliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen,
bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gдnzlich Unbestimmtes,
Haltloses - in ihrem Hirn aus.
Was ist dabei fьr ein immerwдhrendes, schreckhaftes Lauern in diesen
Geschцpfen!
Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie
frьh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem
- wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.
Und hat es wirklich einmal den Anschein, als trдte jemand in ihren
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern kцnnten, dann fдllt
plцtzlich eine lдhmende Angst ьber sie her, scheucht sie in ihre Winkel
zurьck und lдЯt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.
Niemand scheint schwach genug, daЯ ihnen noch so viel Mut bliebe, sich
seiner zu bemдchtigen.
"Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe
genommen ist", sagte Charousek zцgernd und sah mich an. -
Wie konnte er wissen, woran ich dachte? -
So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daЯ sie imstande sind,
auf das Gehirn des Nebenstehenden ьberzuspringen wie sprьhende Funken,
fьhlte ich.
"- - - wovon sie nur leben mцgen?" sagte ich nach einer Weile.
"Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein Millionдr!"
Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!
Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.
Fьr einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Torbogen
gestockt, und man hцrte bloЯ das Zischen des Regens.
Was er nur damit sagen will: "Mancher unter ihnen ist ein Millionдr!?"
Wieder war es, als hдtte Charousek meine Gedanken erraten. Er wies nach
dem Trцdlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des Eisengerьmpels in
flieЯenden, braunroten Pfьtzen vorbeispьlte.
"Aaron Wassertrum! Er zum Beispiel ist Millionдr, - fast ein Drittel
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr Pernath?!"
Mir blieb fцrmlich der Atem im Mund stecken. "Aaron Wassertrum! Der
Trцdler Aaron Wassertrum Millionдr?!"
"Oh, ich kenne ihn genau", fuhr Charousek verbissen fort, und als hдtte
er nur darauf gewartet, daЯ ich ihn frage. "Ich kannte auch seinen Sohn, den
Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehцrt? Von Dr. Wassory, dem - berьhmten
- Augenarzt? - Vor einem Jahr noch hat die ganze Stadt begeistert von ihm
gesprochen, - von dem groЯen - - Gelehrten. Niemand wuЯte damals, daЯ er
seinen Namen abgelegt und frьher Wassertrum geheiЯen. - Er spielte sich
gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft hinaus, und wenn einmal
auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tiefbewegt so mit halben
Worten hin, daЯ sein Vater noch aus dem Getto stamme, - sich aus den
niedrigsten Anfдngen heraus unter Kummer aller Art und unsдglichen Sorgen
empor ans Licht habe arbeiten mьssen.
Ja! Unter Kummer und Sorgen!
Unter wessen Kummer und unsдglichen Sorgen aber und mit welchen
Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!
Ich aber weiЯ, was es mit dem Getto fьr eine Bewandtnis hat!" Charousek
faЯte meinen Arm und schьttelte ihn heftig.
"Meister Pernath, ich bin so arm, daЯ ich es selbst kaum mehr begreife;
ich muЯ halbnackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her, und ich bin doch
Student der Medizin, - bin doch ein gebildeter Mensch!"
Er riЯ seinen Ьberzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen, daЯ er
weder Hemd noch Rock anhatte und den Mantel ьber der nackten Haut trug.
"Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmдchtigen,
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, - und noch heute ahnt keiner, daЯ
ich, ich der eigentliche Urheber war.
Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen, der
seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord getrieben
hat. - Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug, sage ich Ihnen. Ich allein
habe den Plan erdacht und das Material zusammengetragen, habe die Beweise
geliefert und leise und unmerklich Stein um Stein in dem Gebдude Dr.
Wassorys gelockert, bis der Zustand erreicht war, wo kein Geld der Erde,
keine List des Gettos mehr vermocht hдtten, den Zusammenbruch, zu dem es nur
noch eines unmerklichen AnstoЯes bedurfte, abzuwenden.
Wissen Sie, so - so wie man Schach spielt.
Gerade so wie man Schach spielt.
Und niemand weiЯ, daЯ ich es war!
Den Trцdler Aaron Wassertrum, den lдЯt wohl manchmal eine furchtbare
Ahnung nicht schlafen, daЯ einer, den er nicht kennt, der immer in seiner
Nдhe ist und den er doch nicht fassen kann, - ein anderer als Dr. Savioli -
die Hand im Spiele gehabt haben mьsse.
Wiewohl Wassertrum einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu
schauen vermцgen, so faЯt er es doch nicht, daЯ es Gehirne gibt, die
auszurechnen imstande sind, wie man mit langen, unsichtbaren, vergifteten
Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold und Edelsteinen
vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen."
Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild.
"Aaron Wassertrum wird es bald erfahren; genau an dem Tage, an dem er
Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!
Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten Zug. -
Diesmal wird es ein Kцnigslдufergambit sein. Da gibt es keinen einzigen Zug
bis zum bittern Ende, gegen den ich nicht eine verderbliche Entgegnung
wьЯte.
Wer sich mit mir in ein solches Kцnigslдufergambit einlдЯt, der hдngt
in der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen Fдden, -
an Fдden, die ich zupfe, - hцren Sie wohl, die ich zupfe, und mit dessen
freiem Willen ist's dahin."
Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht.
"Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, daЯ Sie so voll
HaЯ sind?"
Charousek wehrte heftig ab:
"Lassen wir das - fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen
hat! - Oder wьnschen Sie, daЯ wir ein andres Mal darьber sprechen? - Der
Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?"
Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plцtzlich ganz ruhig wird. Ich
schьttelte den Kopf.
"Haben Sie jemals gehцrt, wie man heutzutage den grьnen Star heilt? -
Nicht? - So muЯ ich Ihnen das deutlich machen, damit Sie alles genau
verstehen, Meister Pernath!
Hцren Sie zu: Der ›grьne Star‹ also ist eine bцsartige Erkrankung des
Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein Mittel, dem
Fortschreiten des Ьbels Einhalt zu tun, nдmlich die sogenannte Iridektomie,
die darin besteht, daЯ man aus der Regenbogenhaut des Auges ein keilfцrmiges
Stьckchen herauszwickt.
Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche