Wohl eine Viertelstunde lang saЯ ich da und hielt den Brief in der
Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern nacht her
umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen, - weggeweht von dem
frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. Ein junges Schicksal kam
lдchelnd und verheiЯungsvoll - ein Frьhlingskind - auf mich zu. Ein
Menschenherz suchte Hilfe bei mir. - Bei mir! Wie sah meine Stube plцtzlich
so anders aus! Der wurmstichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden
drein, und die vier Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch
herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.
Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum
und Glanz.
So sollte der morsche Baum noch Frьchte tragen?
Ich fьhlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher
schlafen gelegen in mir - verborgen gewesen in den Tiefen meiner Seele,
verschьttet von dem Gerцll, das der Alltag hдuft, wie eine Quelle losbricht
aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.
Und ich wuЯte so gewiЯ, wie ich den Brief in der Hand hielt, daЯ ich
wьrde helfen kцnnen, um was es auch ginge. Der Jubel in meinem Herzen gab
mir die Sicherheit.
Wieder und wieder las ich die Stelle: "und weiter, daЯ Ihr lieber
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat - - -"; - mir stand der Atem
still. Klang das nicht wie VerheiЯung: "Heute noch wirst du mit mir im
Paradiese sein?" Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt
mir das Geschenk entgegen: die Rьckerinnerung, nach der ich dьrstete, -
wьrde mir das Geheimnis offenbaren, den Vorhang heben helfen, der sich
hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!
"Ihr lieber seliger Vater" - -, wie fremdartig die Worte klangen, als
ich sie mir vorsagte! - Vater! - Einen Augenblick sah ich das mьde Gesicht
eines alten Mannes mit weiЯem Haar in dem Lehnstuhl neben meiner Truhe
auftauchen - fremd, ganz fremd und doch so schauerlich bekannt; - - dann
kamen meine Augen wieder zu sich, und die Hammerlaute meines Herzens
schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.
Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit vertrдumt? Ich blickte auf
die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fьnf.
Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel und
schritt die Treppen hinab. Was kьmmerte mich heute das Geraune der dunklen
Winkel, die bцsartigen, engherzigen, verdrossenen Bedenken, die immer von
ihnen aufstiegen: "Wir lassen dich nicht, - du bist unser, - wir wollen
nicht, daЯ du dich freust - das wдre noch schцner, Freude hier im Haus!"
Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen Gдngen und
Ecken her um mich gelegt mit wьrgenden Hдnden: heute wich er vor dem
lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels
Tьr.
Sollte ich eintreten?
Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz anders
heute, - so, als dьrfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die
Hand des Lebens vorwдrts, die Stiegen hinab. - -
Die Gasse lag weiЯ im Schnee.
Ich glaube, daЯ viele Leute mich gegrьЯt haben; ich erinnere mich
nicht, ob ich ihnen gedankt. Immer wieder fьhlte ich an die Brust, ob ich
den Brief auch bei mir trьge:
Es ging eine Wдrme von der Stelle aus. - -
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Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten Laubengдnge auf dem
Altstдdter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes Gitter voll
Eiszapfen hing, hinьber ьber die steinerne Brьcke mit ihren Heiligenstatuen
und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.
Unten schдumte der FluЯ voll HaЯ gegen die Fundamente.
Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehцhlten Sandstein der heiligen
Luitgard mit "den Qualen der Verdammten" darin: dicht lag der Schnee auf den
Lidern der BьЯenden und den Ketten an ihren betend erhobenen Hдnden.
Torbogen nahmen mich auf und entlieЯen mich, Palдste zogen langsam an
mir vorьber, mit geschnitzten, hochmьtigen Portalen, darinnen Lцwenkцpfe in
bronzene Ringe bissen.
Auch hier ьberall Schnee, Schnee. Weich, weiЯ wie das Fell eines
riesigen Eisbдren.
Hohe, stolze Fenster, die Simse beglitzert und vereist, schauten
teilnahmslos zu den Wolken empor.
Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vцgel war.
Als ich die unzдhligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, jede so
breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank Schritt um Schritt
die Stadt mit ihren Dдchern und Giebeln vor meinem Sinn. - - -
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Schon schlich die Dдmmerung die Hдuserreihen entlang, da trat ich auf
den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel.
FuЯstapfen - die Rдnder mit Krusten aus Eis - fьhrten hin zum Nebentor.
Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene Tцne
eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. Wie Trдnentropfen der Schwermut
fielen sie in die Verlassenheit.
Ich hцrte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die
Kirchentьre mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel, und der goldene Altar
blinkte in starrer Ruhe herьber zu mir durch den grьnen und blauen Schimmer
sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster auf die Betstьhle
niedersank. Funken sprьhten aus roten, glдsernen Ampeln.
Welker Duft von Wachs und Weihrauch.
Ich lehnte mich in eine Bank. Mein Blut ward seltsam still in diesem
Reich der Regungslosigkeit.
Ein Leben ohne Herzschlag erfьllte den Raum - ein heimliches,
geduldiges Warten.
Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.
Da! - Aus weiter, weiter Ferne drang das Gerдusch von Pferdehufen
gedдmpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte nдher kommen und verstummte.
Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufдllt. - - -
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Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen, und eine
zarte, schmale Damenhand hatte leicht meinen Arm berьhrt.
"Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler; es widerstrebt
mir, hier in den Betstьhlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen
muЯ."
Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nьchterner Klarheit. Der
Tag hatte mich plцtzlich angefaЯt.
"Ich weiЯ gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, daЯ
Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht
haben."
Ich stotterte ein paar banale Worte.
"- - Aber ich wuЯte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor
Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiЯ
niemand nachgegangen."
Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.
Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang
ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die damals voll
Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der HahnpaЯgasse flьchtete. Ich
war auch nicht erstaunt darьber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.
Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der Dдmmerung der
Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein mochte.
Ihre Schцnheit benahm mir fast den Atem, und ich stand wie gebannt. Am
liebsten wдre ich vor ihr niedergefallen und hдtte ihre FьЯe gekьЯt, daЯ sie
es war, der ich helfen sollte, daЯ sie mich dazu erwдhlt hatte.
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"Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, - wenigstens solange
wir hier sind - die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben", sprach
sie gepreЯt weiter, "ich weiЯ auch gar nicht, wie Sie ьber solche Dinge
denken - -"
"Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in meinem
Leben war ich so vermessen, daЯ ich mich Richter gedьnkt hдtte ьber meine
Mitmenschen", war das einzige, was ich hervorbrachte.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath", sagte sie warm und schlicht. "Und
jetzt hцren Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Verzweiflung nicht
helfen oder wenigstens einen Rat geben kцnnen." - Ich fьhlte, wie eine wilde
Angst sie packte, und hцrte ihre Stimme zittern. - "Damals - - im Atelier -
- - damals brach die schreckliche GewiЯheit ьber mich herein, daЯ jener
grauenhafte Oger mir mit Vorbedacht nachgespьrt hat. - Schon durch Monate
war mir aufgefallen, daЯ, wohin ich auch immer ging, - ob allein, oder mit
meinem Gatten, oder mit - - - mit - mit Dr. Savioli, - stets das
entsetzliche Verbrechergesicht dieses Trцdlers irgendwo in der Nдhe
auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielenden Augen.
Noch macht sich ja kein Zeichen bemerkbar, was er vorhat, aber um so
qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir die Schlinge um
den Hals!
Anfangs wollte mich Dr. Savioli damit beruhigen, was denn so ein
armseliger Trцdler wie dieser Aaron Wassertrum ьberhaupt vermцchte -
schlimmsten Falles kцnnte es sich nur um eine geringfьgige Erpressung oder
dergleichen handeln, aber jedesmal wurden seine Lippen weiЯ, wenn der Name
Wassertrum fiel. Ich ahne: Dr. Savioli hдlt mir etwas geheim, um mich zu
beruhigen, - irgend etwas Furchtbares, was ihn oder mich das Leben kosten
kann.
Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte: daЯ ihn
der Trцdler mehrere Male des Nachts in seiner Wohnung besucht hat!
- Ich
weiЯ es, ich spьre es in jeder Faser meines Kцrpers: es geht etwas vor, das
sich langsam um uns zusammenzieht wie die Ringe einer Schlange. - Was hat
dieser Mцrder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn nicht abschьtteln?
Nein, nein, ich sehe das nicht lдnger mit an; ich muЯ etwas tun. Irgend
etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt."
Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie lieЯ mich
nicht zu Ende sprechen.
"Und in den letzten Tagen nahm der Alp, der mich zu erwьrgen droht,
immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plцtzlich erkrankt, - ich kann
mich nicht mehr mit ihm verstдndigen - darf ihn nicht besuchen, wenn ich
nicht stьndlich gewдrtigen soll, daЯ meine Liebe zu ihm entdeckt wird -; er
liegt in Delirien, und das einzige, was ich erkunden konnte, ist, daЯ er
sich im Fieber von einem Scheusal verfolgt wдhnt, dessen Lippen von einer
Hasenscharte gespalten sind: - Aaron Wassertrum!
Ich weiЯ, wie mutig Dr. Savioli ist; um so entsetzlicher - kцnnen Sie
sich das vorstellen? - wirkt es auf mich, ihn jetzt gelдhmt vor einer
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle Nдhe eines grauenhaften Wьrgengels
empfinde, zusammengebrochen zu sehen.
Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu
Dr. Savioli bekenne, alles von mir wьrfe, wenn ich ihn doch so liebe -:
alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber -" sie schrie es fцrmlich
heraus, daЯ es widerhallte von den Chorgalerien, - "ich kann nicht! - Ich
hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines Mдdel! Ich kann doch mein
Kind nicht hergeben! - Glauben Sie denn, mein Mann lieЯe es mir?! Da, da,
nehmen Sie das, Meister Pernath" - sie riЯ im Wahnwitz ein Tдschchen auf,
das vollgestopft war mit Perlenschnьren und Edelsteinen - "und bringen Sie
es dem Verbrecher; - ich weiЯ, er ist habsьchtig - er soll sich alles holen,
was ich besitze, aber mein Kind soll er mir lassen. - Nicht wahr, er wird
schweigen? - So reden Sie doch um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein
Wort, daЯ Sie mir helfen wollen!"
Es gelang mir mit grцЯter Mьhe, die Rasende wenigstens so weit zu
beruhigen, daЯ sie sich auf eine Bank niederlieЯ.
Ich sprach zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre,
zusammenhanglose Sдtze.
Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so daЯ ich selbst kaum verstand,
was mein Mund redete, - Ideen phantastischer Art, die zusammenbrachen, kaum
daЯ sie geboren waren.
Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten Mцnchsstatue in
der Wandnische. Ich redete und redete. Allmдhlich verwandelten sich die Zьge
der Statue, die Kutte wurde ein fadenscheiniger Ьberzieher mit
hochgeklapptem Kragen, und ein jugendliches Gesicht mit abgezehrten Wangen
und hektischen Flecken wuchs daraus empor.
Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der Mцnch wieder da. Meine
Pulse schlugen zu laut.
Die unglьckliche Frau hatte sich ьber meine Hand gebeugt und weinte
still.
Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der Stunde,
als ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals ьbermдchtig
erfьllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.
"Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet habe,
Meister Pernath", fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. "Es waren
ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben - und die ich nie vergessen
konnte die vielen Jahre hindurch - -"
Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.
"- - Sie nahmen Abschied von mir - ich weiЯ nicht mehr, weshalb und
wieso, ich war ja noch ein Kind, - und Sie sagten so freundlich und doch so
traurig:
›Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn Sie
je im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir Gott der Herr,
daЯ ich es dann sein darf, der Ihnen hilft.‹ - Ich habe mich damals
abgewendet und rasch meinen Ball in den Springbrunnen fallen lassen, damit
Sie meine Trдnen nicht sehen sollten. Und dann wollte ich Ihnen das rote
Korallenherz schenken, das ich an einem Seidenband um den Hals trug, aber
ich schдmte mich, weil das gar so lдcherlich gewesen wдre." - - -
Erinnerung!
- Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer
wie aus einem vergessenen, fernen Land der Sehnsucht trat vor mich -
unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines Mдdchen in weiЯem Kleid und
ringsum die dunkle Wiese eines SchloЯparks, von alten Ulmen umsдumt.
Deutlich sah ich es wieder vor mir. - -
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Ich muЯte mich verfдrbt haben; ich merkte es an der Hast, mit der sie
fortfuhr: "Ich weiЯ ja, daЯ Ihre Worte damals nur der Stimmung des Abschieds
entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und - und ich danke Ihnen
dafьr."
Mit aller Kraft biЯ ich die Zдhne zusammen und jagte den heulenden
Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurьck.
Ich verstand: Eine gnдdige Hand war es gewesen, die die Riegel vor
meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem BewuЯtsein
geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen herьbergetragen: Eine
Liebe, die fьr mein Herz zu stark gewesen, hatte fьr Jahre mein Denken
zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam fьr meinen wunden
Geist geworden.
Allmдhlich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins ьber mich und kьhlte
die Trдnen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog ernst und
stolz durch den Dom, und ich konnte freudig lдchelnd der in die Augen sehen,
die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.
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Wieder hцrte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der
Hufe. - - -
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Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.
Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen, und aus
geschichteten Bergen von Tannenbдumen raunte es von Flitter und silbernen
Nьssen und vom kommenden Christfest.
Auf dem Rathausplatz an der Mariensдule murmelten bei Kerzenglanz die
alten Bettelweiber mit den grauen Kopftьchern der Muttergottes ihren
Rosenkranz.
Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des
Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete grell,
von schwelenden Fackeln beschienen, die offene Bьhne eines
Marionettentheaters.
Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und
daran an der Schnur einen Totenschдdel, ritt klappernd auf hцlzernem
Schimmel ьber die Bretter.
In Reihen fest aneinander gedrдngt starrten die Kleinen - die
Pelzmьtzen tief ьber die Ohren gezogen - mit offenem Munde hinauf und
lauschten gebannt den Versen des Prager Dichters Oskar Wiener, die mein
Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:
"Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
Der Kerl war mager wie ein Dichter
Und hatte bunte Lappen an
Und torkelte und schnitt Gesichter." - - -
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Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz
mьndete. Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da in der
Finsternis vor einem Anschlagzettel.
Ein Mann hatte ein Streichholz angezьndet, und ich konnte einige Zeilen
bruchstьckweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein BewuЯtsein ein paar
Worte auf:
VermiЯt!
1000 fl Belohnung
Дlterer Herr... schwarz gekleidet...
......... Signalement:
... fleischiges, glattrasiertes Gesicht......
...... Haarfarbe: weiЯ.........
.. Polizeidirektion... Zimmer Nr....
Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein
in die lichtlosen Hдuserreihen.
Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen
Himmelsweg ьber den Giebeln.
Friedvoll schweiften meine Gedanken zurьck in den Dom, und die Ruhe
meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz herьber,
schneidend klar - als stьnde sie dicht an meinem Ohr - die Stimme des
Marionettenspielers durch die Winterluft:
"Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Es hing an einem Seidenbande
Und funkelte im Frьhrotschein." - - -

    Spuk


Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir
das Gehirn zermartert, wie ich "ihr" Hilfe bringen kцnnte.
Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu gehen,
ihm zu erzдhlen, was mir anvertraut worden, und ihn um Rat zu bitten. Aber
jedesmal verwarf ich den EntschluЯ.
Er stand im Geist so riesengroЯ vor mir, daЯ es eine Entweihung schien,
ihn mit Dingen, die das дuЯere Leben betrafen, zu behelligen, dann wieder
kamen Momente, wo mich brennende Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit
alles das erlebt hдtte, was nur eine kurze Spanne Zeit zurьcklag und doch so
seltsam verblaЯt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des
verflossenen Tages.
Hatte ich nicht doch getrдumt? Durfte ich - ein Mensch, dem das
Unerhцrte geschehen war, daЯ er seine Vergangenheit vergessen hatte, - auch
nur eine Sekunde lang als GewiЯheit annehmen, wofьr als einziger Zeuge bloЯ
meine Erinnerung die Hand aufhob?
Mein Blick fiel auf die Kerze Hillels, die immer noch auf dem Sessel
lag. Gott sei Dank, wenigstens das eine stand fest: ich war mit ihm in
persцnlicher Berьhrung gewesen!
Sollte ich nicht ohne Besinnen hinunterlaufen zu ihm, seine Knie
umfassen und wie Mensch zu Mensch ihm klagen, daЯ ein unsдgliches Weh an
meinem Herzen fraЯ?
Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da lieЯ ich wieder los; ich sah
voraus, was kommen wьrde: Hillel wьrde mir mild ьber die Augen fahren und -
- - nein, nein, nur das nicht! Ich hatte kein Recht, Linderung zu begehren.
"Sie" vertraute auf mich und meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der sie
sich fьhlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, - sie
empfand sie sicherlich als riesengroЯ!
Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit - ich zwang mich, kalt und
nьchtern zu denken; - ihn jetzt - mitten in der Nacht zu stцren? - es ging
nicht an. So wьrde nur ein Verrьckter handeln.
Ich wollte die Lampe anzьnden; dann lieЯ ich es wieder sein: der
Abglanz des Mondlichts fiel von den Dдchern gegenьber herein in mein Zimmer
und gab mehr Helle, als ich brauchte. Und ich fьrchtete, die Nacht kцnnte
noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.
Es lag so viel Hoffnungslosigkeit in dem Gedanken, die Lampe
anzuzьnden, nur um den Tag zu erwarten, - eine leise Angst sagte mir, der
Morgen rьcke dadurch in unerlebbare Ferne.
Ich trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft schwebender
Friedhof lagen die Reihen verschnцrkelter Giebel dort oben - Leichensteine
mit verwitterten Jahreszahlen, getьrmt ьber die dunklen Modergrьfte, diese
"Wohnstдtten", darein sich das Gewimmel der Lebenden Hцhlen und Gдnge
genagt.
Lange stand ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise
zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschrдke, wo doch ein Gerдusch von
verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang.
Ich horchte hin: Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch. Das kurze
Дchzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zцgernd schlich.
Mit einem Schlage war ich ganz bei mir. Ich wurde fцrmlich kleiner, so
preЯte sich alles in mir zusammen unter dem Druck des Willens, zu hцren.
Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.
Noch ein rasches Knistern, das vor sich selbst erschrak und hastig
abbrach. Dann Totenstille. Jene lauernde, grauenhafte Stille, die ihr
eigener Verrдter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.
Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrьckt, das drohende Gefьhl
in der Kehle, daЯ drьben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat.
Ich lauschte und lauschte:
Nichts.
Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.
Lautlos - auf den Zehenspitzen - stahl ich mich an den Sessel bei
meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zьndete sie an.
Dann ьberlegte ich: Die eiserne Speichertьre drauЯen auf dem Gang, die
zum Atelier Saviolis fьhrte, ging nur von drьben aufzuklinken.
Aufs Geratewohl ergriff ich ein hakenfцrmiges Stьck Draht, das unter
meinen Graviersticheln auf dem Tische lag: derlei Schlцsser springen leicht
auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!
Und was wьrde dann geschehen?
Nur Aaron Wassertrum konnte es sein, der da nebenan spionierte, -
vielleicht in Kдsten wьhlte, um neue Waffen und Beweise in die Hand zu
bekommen, legte ich mir zurecht.
Ob es viel nьtzen wьrde, wenn ich dazwischen trat?
Ich besann mich nicht lang: handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare
Warten auf den Morgen zerfetzen!
Und schon stand ich vor der eisernen Bodentьre, drьckte dagegen, schob
vorsichtig den Haken ins SchloЯ und horchte. Richtig: Ein schleifendes
Gerдuch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.
Im nдchsten Augenblick schnellte der Riegel zurьck.
Ich konnte das Zimmer ьberblicken und sah, obwohl es fast finster war
und meine Kerze mich nur blendete, wie ein Mann in langem schwarzem Mantel
entsetzt vor einem Schreibtisch aufsprang, - eine Sekunde lang unschlьssig,
wohin sich wenden, - eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losstьrzen,
sich dann den Hut vom Kopf riЯ und hastig damit sein Gesicht bedeckte.
"Was suchen Sie hier!" wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:
"Pernath! Sie sind's? Gotteswillen! Das Licht weg!" Die Stimme kam mir
bekannt vor, war aber keinesfalls die des Trцdlers Wassertrum.
Automatisch blies ich die Kerze aus.
Das Zimmer lag halbdunkel da - nur von dem schimmrigen Dunst, der aus
der Fensternische hereindrang, matt erhellt - genau wie meines, und ich
muЯte meine Augen aufs дuЯerste anstrengen, ehe ich in dem abgezehrten,
hektischen Gesicht, das plцtzlich ьber dem Mantel auftauchte, die Zьge des
Studenten Charousek erkennen konnte.
"Der Mцnch!" drдngte es sich mir auf die Zunge und ich verstand mit
einem Mal die Vision, die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der
Mann, an den ich mich wenden sollte!
- Und ich hцrte seine Worte wieder, die
er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt hatte: "Aaron Wassertrum wird
es schon erfahren, daЯ man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern
stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will."
Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen? WuЯte er ebenfalls, was
sich zugetragen? Sein Hiersein zu so ungewцhnlicher Stunde lieЯ fast darauf
schlieЯen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten.
Er war ans Fenster geeilt und spдhte hinter dem Vorhang hinunter auf
die Gasse.
Ich erriet: er fьrchtete, Wassertrum kцnne den Lichtschein meiner Kerze
wahrgenommen haben.
"Sie denken gewiЯ, ich sei ein Dieb, daЯ ich nachts hier in einer
fremden Wohnung herumsuche, Meister Pernath," fing er nach langem Schweigen
mit unsicherer Stimme an, "aber ich schwцre Ihnen - -"
Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.
Und um ihm zu zeigen, daЯ ich keinerlei MiЯtrauen gegen ihn hegte, in
ihm vielmehr einen Bundesgenossen sah, erzдhlte ich ihm mit kleinen
Einschrдnkungen, die ich fьr nцtig hielt, welche Bewandtnis es mit dem
Atelier habe, und daЯ ich fьrchte, eine Frau, die mir nahestehe, sei in
Gefahr, den erpresserischen Gelьsten des Trцdlers in irgendwelcher Art zum
Opfer zu fallen.
Aus der hцflichen Weise, mit der er mir zuhцrte, ohne mich mit Fragen
zu unterbrechen, entnahm ich, daЯ er das meiste bereits wuЯte, wenn auch
vielleicht nicht in Einzelheiten.
"Es stimmt schon", sagte er grьbelnd, als ich zu Ende gekommen war.
"Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl will Savioli an die Gurgel
fahren, das ist klar, aber offenbar hat er noch nicht genug Material
beisammen. Weshalb wьrde er sich sonst noch hier immerwдhrend herumdrьcken!
Ich ging nдmlich gestern, sagen wir mal: ›zufдllig‹ durch die HahnpaЯgasse,"
erklarte er, als er meine fragende Miene bemerkte, "da fiel mir auf, daЯ
Wassertrum erst lange - scheinbar unbefangen - vor dem Tor unten auf und ab
schlenderte, dann aber, als er sich unbeobachtet glaubte, rasch ins Haus
bog. Ich ging ihm sofort nach und tat so, als wollte ich Sie besuchen, das
heiЯt, ich klopfte bei Ihnen an, und dabei ьberraschte ich ihn, wie er
drauЯen an der eisernen Bodentьr mit einem Schlьssel herumhantierte.
Natьrlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und klopfte ebenfalls
als Vorwand bei Ihnen an. Sie schienen ьbrigens nicht zu Hause gewesen zu
sein, denn es цffnete niemand.
Als ich mich dann vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich,
daЯ jemand, der nach den Schilderungen nur Dr. Savioli sein konnte, hier
heimlich ein Absteigequartier besдЯe. Da Dr. Savioli schwerkrank liegt,
reimte ich mir das ьbrige zurecht.
Sehen Sie: und das da habe ich aus den Schubladen zusammengesucht, um
Wassertrum fьr alle Fдlle zuvorzukommen", schloЯ Charousek und deutete auf
ein Paket Briefe auf dem Schreibtisch; "es ist alles, was ich an
Schriftstьcken finden konnte. Hoffentlich ist sonst nichts mehr vorhanden.
Wenigstens habe ich in sдmtlichen Truhen und Schrдnken gestцbert, so gut das
in der Finsternis ging."
Meine Augen durchforschten bei seiner Rede das Zimmer und blieben
unwillkьrlich auf einer Falltьre am Boden haften. Ich entsann mich dabei
dunkel, daЯ Zwakh mir irgendwann erzдhlt hatte, ein geheimer Zugang fьhre
von unten herauf ins Atelier.
Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.
"Wo sollen wir die Briefe aufheben?", fing Charousek wieder an. "Sie,
Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Getto, die Wassertrum
harmlos vorkommen, - warum gerade ich, das - hat - seine - besonderen -
Grьnde", - (ich sah, daЯ sich seine Zьge in wildem HaЯ verzerrten, wie er so
den letzten Satz fцrmlich zerbiЯ -) "und Sie halt er fьr - -" Charousek
erstickte das Wort "verrьckt" mit einem raschen, erkьnstelten Husten, aber
ich erriet, was er hatte sagen wollen. Es tat mir nicht weh; das Gefьhl,
"ihr" helfen zu kцnnen, machte mich so glьckselig, daЯ jede Empfindlichkeit
ausgelцscht war.
Wir kamen schlieЯlich ьberein, das Paket bei mir zu verstecken, und
gingen hinьber in meine Kammer.
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Charousek war lдngst fort, aber immer noch konnte ich mich nicht
entschlieЯen, zu Bette zu gehen. Eine gewisse innere Unzufriedenheit nagte
an mir und hielt mich davon ab. Irgend etwas sollte ich noch tun, fьhlte
ich, aber was? was?
Einen Plan fьr den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen hдtte?
Das allein konnte es nicht sein. Charousek lieЯ den Trцdler sowieso
nicht aus den Augen, darьber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich
an den HaЯ dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.
Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?
Die seltsame innere Unruhe in mir wuchs und brachte mich fast zur
Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und ich verstand
nicht.
Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das ReiЯen am Zьgel
spьrt und nicht weiЯ, welches Kunststьck er machen soll, den Willen seines
Herrn nicht erfaЯt.
Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?
Jede Faser in mir verneinte.
Die Vision des Mцnchs in der Domkirche, auf dessen Schultern gestern
der Kopf Charouseks aufgetaucht war als Antwort auf eine stumme Bitte um
Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe Gefьhle nicht ohne weiteres
zu verachten. Geheime Krдfte keimten in mir auf seit geraumer Zeit, das war
gewiЯ: ich empfand es zu ьbermдchtig, als daЯ ich auch nur den Versuch
gemacht hдtte, es wegzuleugnen.
Buchstaben zu empfinden, sie nicht nur mit den Augen in Bьchern zu
lesen, - einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir ьbersetzt, was
die Instinkte ohne Worte raunen, darin muЯ der Schlьssel liegen, sich mit
dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verstдndigen, begriff ich.
"Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hцren nicht",
fiel mir eine Bibelstelle wie eine Erklдrung dazu ein.
"Schlьssel, Schlьssel, Schlьssel", wiederholten mechanisch meine
Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte
ich plцtzlich.
"Schlьssel, Schlьssel - -?" Mein Blick fiel auf den krummen Draht in
meiner Hand, der mir vorhin zum Цffnen der Speichertьre gedient hatte, und
eine heiЯe Neugier, wohin wohl die viereckige Falltьr aus dem Atelier fьhren
kцnnte, peitschte mich auf.
Und ohne zu ьberlegen, ging ich nochmals hinьber in Saviolis Atelier
und zog an dem Griffring der Falltьre, bis es mir schlieЯlich gelang, die
Platte zu heben.
Zuerst nichts als Dunkelheit.
Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste
Finsternis.
Ich stieg hinunter.
Eine Zeitlang tastete ich mich mit den Hдnden die Mauern entlang, aber
es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, -
Windungen, Ecken und Winkel, - Gдnge geradeaus, nach links und nach rechts,
Reste einer alten Holztьre, Wegteilungen und dann wieder Stufen, Stufen,
Stufen hinauf und hinab.
Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde ьberall.
Und noch immer kein Lichtstrahl. -
Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hдtte!
Endlich flacher, ebener Weg.
Aus dem Knirschen unter meinen FьЯen schloЯ ich, daЯ ich auf trockenem
Sand dahinschritt.
Es konnte nur einer jener zahllosen Gдnge sein, die scheinbar ohne
Zweck und Ziel unter dem Getto hinfьhren bis zum FluЯ.
Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit
unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen Lдuften, und die Bewohner
Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.
Das Fehlen jeglichen Gerдuschs zu meinen Hдupten sagte mir, daЯ ich
mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben
ist, befinden muЯte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere
StraЯen oder Plдtze ьber mir hдtten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.
Eine Sekunde lang wьrgte mich die Furcht: was, wenn ich im Kreise
herumging!? In ein Loch stьrzte, mich verletzte, ein Bein brach und nicht
mehr weiter gehen konnte?!
Was geschah dann mit ihren Briefen in meiner Kammer? Sie muЯten
unfehlbar Wassertrum in die Hдnde fallen.
Der Gedanke an Schemajah Hillel, mit dem ich vag den Begriff eines
Helfers und Fьhrers verknьpfte, beruhigte mich unwillkьrlich.
Vorsichtshalber ging ich aber doch langsamer und tastenden Schrittes
und hielt den Arm in die Hцhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen,
falls der Gang niedriger wьrde.
Von Zeit zu Zeit, dann immer цfter stieЯ ich oben mit der Hand an, und
endlich senkte sich das Gestein so tief herab, daЯ ich mich bьcken muЯte, um
durchzukommen.
Pцtzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.
Ich blieb stehen und starrte hinauf.
Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum
merklicher Schimmer von Licht.
Mьndete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?
Ich richtete mich auf und tastete mit beiden Hдnden in Kopfeshцhe um
mich herum: die Цffnung war genau viereckig und ausgemauert.
Allmдhlich konnte ich darin als AbschluЯ die schattenhaften Umrisse
eines wagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir, seine
Stдbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwдngen.
Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.
Offenbar endeten hier die Ьberbleibsel einer eisernen Wendeltreppe,
wenn mich das Gefьhl meiner Finger nicht tдuschte?
Lang, unsagbar lang muЯte ich tappen, bis ich die zweite Stufe finden
konnte, dann klomm ich empor.
Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in Mannshцhe ьber der
andern.
Sonderbar: die Treppe stieЯ oben gegen eine Art horizontalen Getдfels,
das aus regelmдЯigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein
herabschimmern lieЯ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!
Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung
besser unterscheiden zu kцnnen, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem
Erstaunen, daЯ sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf den
Synagogen findet, bildeten.
Was mochte das nur sein?
Plцtzlich kam ich dahinter: es war eine Falltьr, die an den Kanten
Licht durchlieЯ! Eine Falltьr aus Holz in Gestalt eines Sternes.
Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, drьckte sie
aufwдrts und stand im nдchsten Moment in einem Gemach, das von grellem
Mondschein erfьllt war.
Es war ziemlich klein, vollstдndig leer bis auf einen Haufen Gerumpel
in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.
Eine Tьre oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben
benьtzt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern
immer wieder von neuem absuchte.
Die Gitterstдbe des Fensters standen zu eng, als daЯ ich den Kopf hдtte
durchstecken kцnnen, so viel aber sah ich:
Das Zimmer befand sich ungefдhr in der Hцhe eines dritten Stockwerks,
denn die Hдuser gegenьber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich
tiefer.
Das eine Ufer der StraЯe unten war fьr mich noch knapp sichtbar, aber
infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe
Schlagschatten getaucht, die es mir unmцglich machten, Einzelheiten zu
unterscheiden.
Zum Judenviertel muЯte die Gasse unbedingt gehцren, denn die Fenster
drьben waren sдmtlich vermauert oder aus Simsen im Bau angedeutet, und nur
im Getto kehren die Hдuser einander so seltsam den Rьcken.
Vergebens quдlte ich mich ab herauszubringen was das wohl fьr ein
sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand.
Sollte es vielleicht ein aufgelassenes Seitentьrmchen der griechischen
Kirche sein? Oder gehцrte es irgendwie zur Altneusynagoge?
Die Umgebung stimmte nicht.
Wieder sah ich mich im Zimmer um: nichts, was mir auch nur den
kleinsten AufschluЯ gegeben hдtte. - Die Wдnde und die Decke waren kahl,
Bewurf und Kalk lдngst abgefallen und weder Nagellцcher, noch Nдgel, die
verraten hдtten, daЯ der Raum einst bewohnt gewesen.
Der Boden lag fuЯhoch bedeckt mit Staub, als hдtte ihn seit Jahrzehnten
kein lebendes Wesen betreten.
Das Gerьmpel in der Ecke zu durchsuchen, ekelte ich mich. Es lag in
tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand.
Dem дuЯeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem Knдuel geballt.
Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?
Ich tastete mit dem FuЯ hin, und es gelang mir, mit dem Absatz einen
Teil davon in die Nдhe des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer ьbers
Zimmer warf. Es schien wie ein breites, dunkles Band, das sich da langsam
aufrollte.
Ein blitzender Punkt wie ein Auge!
Ein Metallknopf vielleicht?
Allmдhlich wurde mir klar: ein Дrmel von sonderbarem, altmodischem
Schnitt hing da aus dem Bьndel heraus.
Und eine kleine weiЯe Schachtel, oder dergleichen lag darunter,
lockerte sich unter meinem FuЯ und zerfiel in eine Menge fleckiger
Schichten.
Ich gab ihr einen leichten StoЯ: Ein Blatt flog ins Helle.
Ein Bild?
Ich bьckte mich: ein Pagad!
Was mir eine weiЯe Schachtel geschienen, war ein Tarockspiel.
Ich hob es auf.
Konnte es etwas Lдcherlicheres geben: Ein Kartenspiel hier an diesem
gespenstischen Ort!
Merkwьrdig, daЯ ich mich zum Lдcheln zwingen muЯte. Ein leises Gefьhl
von Grauen beschlich mich.
Ich suchte nach einer banalen Erklдrung, wie die Karten wohl
hierhergekommen sein kцnnten, und zдhlte dabei mechanisch das Spiel. Es war
vollstдndig: 78 Stьck. Aber schon wдhrend des Zдhlens fiel mir etwas auf:
Die Blдtter waren wie aus Eis.
Eine lдhmende Kдlte ging von ihnen aus, und wie ich das Paket
geschlossen in der Hand hielt, konnte ich es kaum mehr loslassen: so
erstarrt waren meine Finger. Wieder haschte ich nach einer nьchternen
Erklдrung:
Mein dьnner Anzug, die lange Wanderung ohne Mantel und Hut in den
unterirdischen Gдngen, die grimmige Winternacht, die Steinwдnde, der
entsetzliche Frost, der mit dem Mondlicht durchs Fenster hereinfloЯ: -
sonderbar genug, daЯ ich erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in der
ich mich die ganze Zeit befunden, muЯte mich darьber hinweggetдuscht haben.
-
Ein Schauer nach dem andern jagte mir ьber die Haut. Schicht um Schicht
drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen Kцrper ein.
Ich fьhlte mein Skelett zu Eis werden und wurde mir jedes einzelnen
Knochens bewuЯt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror.
Kein Umherlaufen half, kein Stampfen mit den FьЯen und nicht das
Schlagen mit den Armen. Ich biЯ die Zдhne zusammen, um ihr Klappern nicht zu
hцren.
Das ist der Tod, sagte ich mir, der dir die kalten Hдnde auf den
Scheitel legt.
Und ich wehrte mich wie ein Rasender gegen den betдubenden Schlaf des
Erfrierens, der, wollig und erstickend, mich wie mit einem Mantel einhьllen
kam.
Die Briefe, in meiner Kammer - ihre Briefe! brьllte es in mir auf: man
wird sie finden, wenn ich hier sterbe. Und sie hofft auf mich! Hat ihre
Rettung in meine Hдnde gelegt! - Hilfe! - Hilfe! Hilfe! -
Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die цde Gasse, daЯ
es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe!
Warf mich zu Boden und sprang wieder auf. Ich durfte nicht sterben,
durfte nicht! ihretwegen, nur ihretwegen! Und wenn ich Funken aus meinen
Knochen schlagen sollte, um mich zu erwдrmen.
Da fiel mein Blick auf die Lumpen in der Ecke, und ich stьrzte darauf
zu und zog sie mit schlotternden Hдnden ьber meine Kleider.
Es war ein zerschlissener Anzug aus dickem, dunklem Tuch von
uraltmodischem, seltsamem Schnitt.
Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus.
Dann kauerte ich mich in dem gegenьberliegenden Mauerwinkel zusammen
und spьrte meine Haut langsam, langsam wдrmer werden. Nur das schauerliche
Gefьhl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos
saЯ ich da und lieЯ meine Augen wandern: die Karte, die ich zuerst gesehen,
- der Pagad, - lag noch immer inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen.
Unverwandt muЯte ich sie anstarren.
Sie schien, soweit ich auf die Entfernung hin erkennen konnte, in
Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und stellte den hebrдischen
Buchstaben Aleph dar, in Form eines Mannes, altfrдnkisch gekleidet, den
grauen Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm erhoben, wдhrend der
andere abwдrts deutete.
Hatte das Gesicht des Mannes nicht eine seltsame Дhnlichkeit mit
meinem, dдmmerte mir ein Verdacht auf? - Der Bart - er paЯte so gar nicht zu
einem Pagad, - - ich kroch auf die Karte zu und warf sie in die Ecke zu dem
Rest des Gerьmpels, um den quдlenden Anblick los zu sein.
Dort lag sie jetzt und schimmerte - ein grauweiЯer, unbestimmter Fleck
- zu mir herьber aus dem Dunkel.
Mit Gewalt zwang ich mich zu ьberlegen, was ich zu beginnen hдtte, um
wieder in meine Wohnung zu kommen:
Den Morgen abwarten! Unten die Vorьbergehenden vom Fenster aus anrufen,
damit sie mir von auЯen mit einer Leiter Kerzen oder eine Laterne
heraufbrдchten! - Ohne Licht die endlosen, sich ewig kreuzenden Gдnge
zurьckzufinden, wьrde mir nie gelingen, empfand ich als beklemmende
GewiЯheit. - Oder, falls das Fenster zu hoch lдge, daЯ sich jemand vom Dach
mit einem Strick
- -? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich:
jetzt wuЯte ich, wo ich war: Ein Zimmer ohne Zugang - nur mit einem
vergitterten Fenster
- das altertьmliche Haus in der Altschulgasse, das
jeder mied! - schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an einem
Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster zu schauen, und der Strick
war gerissen und - Ja: ich war in dem Haus, in dem der gespenstische Golem
jedesmal verschwand!

Ein tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht
einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederkдmpfen konnte, lдhmte
jedes Weiterdenken und mein Herz fing an, sich zu krampfen.
Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der
da so eisig aus der Ecke herьberwehte, sagte es mir vor, schneller und
schneller, mit pfeifendem Atem - es half nicht mehr: dort drьben der
weiЯliche Fleck - die Karte - sie quoll auf zu blasigem Klumpen, tastete
sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zurьck in die
Finsternis. - Tropfende Laute - halb gedacht, geahnt, halb wirklich - im
Raum und doch auЯerhalb um mich herum und doch anderswo, - tief im eigenen
Herzen und wieder mitten im Zimmer - erwachten: Gerдusche, wie wenn ein
Zirkel fдllt und mit der Spitze im Holz stecken bleibt!
Immer wieder: Der weiЯliche Fleck - - - der weiЯliche Fleck - -! Eine
Karte, eine erbдrmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir
ins Hirn hinein - - - umsonst - - jetzt hat er sich dennoch - dennoch
Gestalt erzwungen - der Pagad - und hockt in der Ecke und stiert herьber zu
mir mit meinem eigenen Gesicht.
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Stunden und Stunden kauerte ich da - unbeweglich - in meinem Winkel,
ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! - Und er drьben:
ich selbst.
Stumm und regungslos.
So starrten wir uns in die Augen, - einer das grдЯliche Spiegelbild des
andern. - - -
Ob er es auch sieht, wie sich die Mondstrahlen mit schneckenhafter
Trдgheit ьber den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren Uhrwerks
in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und fahler werden? -
Ich bannte ihn fest mit meinem Blick und es half ihm nichts, daЯ er
sich auflцsen wollte in dem Morgendдmmerschein, der ihm vom Fenster her zu
Hilfe kam.
Ich hielt ihn fest.
Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen um mein Leben - um das
Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehцrt. - -
Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in
sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hinьber zu ihm und steckte
ihn in die Tasche - den Pagad.
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Immer noch war die Gasse unten цd und menschenleer.
Ich durchstцberte die Zimmerecke, die jetzt im stumpfen Morgenlichte