als Arzt ausьben, wird Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek"; sagte
ich, um dem Gesprдch eine versцhnliche Richtung zu geben, - "machen Sie bald
Ihr Doktorat?"
"Demnдchst. Ich bin es meinen Wohltдtern schuldig. Zweck hat's ja
keinen, denn meine Tage sind gezдhlt."
Ich wollte den ьblichen Einwand machen, daЯ er doch wohl zu schwarz
sehe, aber erwehrte lдchelnd ab:
"Es ist das beste so. Es muЯ ьberdies kein Vergnьgen sein, den
Heilkomцdianten zu mimen und sich zu guterletzt noch als diplomierter
Brunnenvergifter einen Adelstitel zuzuziehen. - - Andererseits", setzte er
mit seinem galligen Humor hinzu, "wird mir leider jedes weitere segensreiche
Wirken hier im Diesseits-Getto ein fьr allemal abgeschnitten sein." Er griff
nach seinem Hut. "Jetzt will ich aber nicht langer stцren. Oder wдre noch
etwas zu besprechen in der Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht. Lassen
Sie mich jedenfalls wissen, wenn Sie etwas Neues erfahren. Am besten, Sie
hдngen einen Spiegel hier ans Fenster, als Zeichen, daЯ ich Sie besuchen
soll. Zu mir in den Keller dьrfen Sie auf keinen Fall kommen: Wassertrum
wurde sofort Verdacht schцpfen, daЯ wir zusammenhalten. - Ich bin ьbrigens
sehr neugierig, was er jetzt tun wird, wo er gesehen hat, daЯ die Dame zu
Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie hдtte Ihnen ein Schmuckstьck
zu reparieren gebracht, und wenn er zudringlich wird, spielen Sie eben den
Rabiaten."
Es wollte sich keine passende Gelegenheit ergeben, Charousek die
Banknote aufzudrдngen; ich nahm daher das Modellierwachs wieder vom
Fensterbrett und sagte: "Kommen Sie, ich begleite Sie ein Stьck die Treppen
hinunter. - Hillel erwartet mich", log ich.
Er stutzte:
"Sie sind mit ihm befreundet?"
"Ein wenig. Kennen Sie ihn? - - Oder miЯtrauen Sie ihm", - ich muЯte
unwillkьrlich lдcheln - "vielleicht auch?"
"Da sei Gott vor!"
"Warum sagen Sie das so ernst?"
Charousek zцgerte und dachte nach:
"Ich weiЯ selbst nicht warum. Es muЯ etwas UnbewuЯtes sein: so oft ich
ihm auf der StraЯe begegne, mцchte ich am liebsten vom Pflaster
heruntertreten und das Knie beugen wie vor einem Priester, der die Hostie
trдgt. - Sehen Sie, Meister Pernath, da haben Sie einen Menschen, der in
jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum ist. Er gilt z. B. bei den Christen
hier im Viertel, die, wie immer, so auch in diesem Fall falsch informiert
sind, als Geizhals und heimlicher Millionдr und ist doch unsagbar arm."
Ich fuhr entsetzt auf: "arm?"
"Ja, womцglich noch armer als ich. Das Wort ›nehmen‹ kennt er, glaub'
ich, ьberhaupt nur aus Bьchern; aber wenn er am Ersten des Monats aus dem
›Rathaus‹ kommt, dann laufen die jьdischen Bettler vor ihm davon, weil sie
wissen, er wьrde dem nдchsten besten von ihnen seinen ganzen kдrglichen
Gehalt in die Hand drьcken und ein paar Tage spдter - samt seiner Tochter
selber verhungern. - Wenn's wahr ist, was eine uralte talmudische Legende
behauptet: daЯ von den zwцlf jьdischen Stдmmen zehn verflucht sind und zwei
hellig, so verkцrpert er die zwei heiligen und Wassertrum alle zehn andern
zusammen. - Haben Sie noch nie bemerkt, wie Wassertrum sдmtliche Farben
spielt, wenn Hillel an ihm vorьber geht? Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen
Sie, solches Blut kann sich gar nicht vermischen; da kamen die Kinder tot
zur Welt. Vorausgesetzt, daЯ die Mьtter nicht schon frьher vor Entsetzen
stьrben. - Hillel ist ьbrigens der einzige, an den sich Wassertrum nicht
herantraut; - er weicht ihm aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel das
Unbegreifliche, das vollkommen Unentrдtselbare, fьr ihn bedeutet. Vielleicht
wittert er in ihm auch den Kabballsten."
Wir gingen bereits die Stiegen hinab.
"Glauben Sie, daЯ es heutzutage noch Kabballsten gibt - daЯ ьberhaupt
an der Kabbala etwas sein konnte?", fragte ich, gespannt, was er wohl
antworten wьrde, aber er schien nicht zugehцrt zu haben.
Ich wiederholte meine Frage.
Hastig lenkte er ab und deutete auf eine Tьr des Treppenhauses, die aus
Kistendeckeln zusammengenagelt war:
"Sie haben da neue Mitbewohner bekommen, eine zwar jьdische aber arme
Familie: den meschuggenen Musikanten Nephtali Schaffranek mit Tochter,
Schwiegersohn und Enkelkindern. Wenn's dunkel wird und er allein ist mit den
kleinen Mдdchen, kommt der Rappel ьber ihn: dann bindet er sie an den Daumen
zusammen, damit sie ihm nicht davonlaufen, zwдngt sie in einen alten
Hьhnerkдfig und unterweist sie im ›Gesang‹, wie er es nennt, damit sie
spдter ihren Lebensunterhalt selbst erwerben kцnnen, - das heiЯt, er lehrt
sie die verrьcktesten Lieder, die es gibt, deutsche Texte, Bruchstьcke, die
er irgendwo aufgeschnappt hat und im Dдmmer seines Seelenzustandes fьr -
preuЯische Schlachthymnen oder dergleichen hдlt."
Wirklich tцnte da eine sonderbare Musik leise auf den Gang heraus. Ein
Fiedelbogen kratzte fьrchterlich hoch und immerwдhrend in ein und demselben
Ton die Umrisse eines Gassenhauers, und zwei fadendьnne Kinderstimmen sangen
dazu:
"Frau Pick,
Frau Hock,
Frau Kle - pe - tarsch,
se stehen beirenond
und schmusen allerhond - -"
0x01 graphic

Es war wie Wahnwitz und Komik zugleich, und ich muЯte wider Willen
hellaut auflachen.
"Schwiegersohn Schaffranek - seine Frau verkauft auf dem Eiermarkt
Gurkensaft glдschenweise an die Schuljugend - lдuft den ganzen Tag in den
Bьros herum", fuhr Charousek grimmig fort, "und erbettelt sich alte
Briefmarken. Die sortiert er dann, und wenn er welche darunter findet, die
zufдllig nur am Rande gestempelt sind, so legt er sie aufeinander und
schneidet sie durch. Die ungestempelten Hдlften klebt er zusammen und
verkauft sie als neu. Anfangs blьhte das Geschдft und warf manchmal fast
einen - Gulden im Tag ab, aber schlieЯlich kamen die Prager jьdischen
GroЯindustriellen dahinter - und machen es jetzt selber. Sie schцpfen den
Rahm ab."
"Wьrden Sie Not lindern, Charousek, wenn Sie ьberflьssiges Geld
hдtten?" fragte ich rasch. - Wir standen vor Hillels Tьr und ich klopfte an.
"Halten Sie mich fьr so gemein, daЯ Sie glauben kцnnen, ich tдte es
nicht?", fragte er verblьfft zurьck.
Mirjams Schritte kamen nдher, und ich wartete, bis sie die Klinke
niederdrьckte, dann schob ich ihm rasch die Banknote in die Tasche:
"Nein, Herr Charousek, ich halte Sie nicht dafьr, aber mich mьЯten Sie
fьr gemein halten, wenn ich's unterlieЯe."
Ehe er etwas erwidern konnte, hatte ich ihm die Hand geschьttelt und
die Tьr hinter mir zugezogen. Wдhrend mich Mirjam begrьЯte, lauschte ich,
was er tun wьrde.
Er blieb eine Weile stehen, dann schluchzte er leise auf und ging
langsam mit suchendem Schritt die Treppe hinunter. Wie jemand, der sich am
Gelдnder halten muЯ. - - -
0x01 graphic

Es war das erste Mal, daЯ ich Hillels Zimmer besuchte.
Es sah schmucklos aus wie ein Gefдngnis. Der Boden peinlich sauber und
mit weiЯem Sand bestreut. Nichts an Mцbeln als zwei Stьhle und ein Tisch und
eine Kommode. Ein Holzpostament je links und rechts an den Wдnden. - - -
Mirjam saЯ mir gegenьber am Fenster, und ich bossierte an meinem
Modellierwachs.
"MuЯ man denn ein Gesicht vor sich haben, um die Дhnlichkeit zu
treffen?", fragte sie schьchtern und nur, um die Stille zu unterbrechen.
Wir wichen einander scheu mit den Blicken aus. Sie wuЯte nicht, wohin
die Augen richten in ihrer Qual und Scham ьber die jammervolle Stube, und
mir brannten die Wangen von innerem Vorwurf, daЯ ich mich nicht lдngst darum
gekьmmert hatte, wie sie und ihr Vater lebten.
Aber irgend etwas muЯte ich doch antworten!
"Nicht so sehr, um die Дhnlichkeit zu treffen, als um zu vergleichen,
ob man innerlich auch richtig gesehen hat", - ich fьhlte, noch wдhrend ich
sprach, wie grundfalsch das alles war, was ich sagte.
Jahrelang hatte ich den irrigen Grundsatz der Maler, man mьsse die
дuЯere Natur studieren, um kьnstlerisch schaffen zu kцnnen, stumpfsinnig
nachgebetet und befolgt; erst, seit Hillel mich in jener Nacht erweckt, war
mir das innere Schauen aufgegangen: das wahre Sehenkцnnen hinter
geschlossenen Lidern, das sofort erlischt, wenn man die Augen aufschlдgt, -
die Gabe, die sie alle zu haben glauben und die doch unter Millionen keiner
wirklich besitzt.
Wie konnte ich auch nur von der Mцglichkeit sprechen, die unfehlbare
Richtschnur der geistigen Vision an den groben Mitteln des Augenscheins
nachmessen zu wollen!
Mirjam schien Дhnliches zu denken, nach dem Erstaunen in ihren Mienen
zu schlieЯen.
"Sie dьrfen es nicht so wцrtlich nehmen", entschuldigte ich mich.
Voll Aufmerksamkeit sah sie zu, wie ich mit dem Griffel die Form
vertiefte.
"Es muЯ unendlich schwer sein, alles dann haargenau auf Stein zu
ьbertragen?"
"Das ist nur mechanische Arbeit. So ziemlich wenigstens."

Pause.

"Darf ich die Gemme sehen, wenn sie fertig ist?" fragte sie.
"Sie ist doch fьr Sie bestimmt, Mirjam."
"Nein, nein; das geht nicht, - - das - das - -", - ich sah, wie ihre
Hдnde nervцs wurden.
"Nicht einmal diese Kleinigkeit wollen Sie von mir annehmen?",
unterbrach ich sie schnell, "ich wollte, ich dьrfte mehr fьr Sie tun."
Hastig wandte sie das Gesicht ab.
Was hatte ich da gesagt! Ich muЯte sie aufs tiefste verletzt haben. Es
hatte geklungen, als wollte ich auf ihre Armut anspielen.
Konnte ich es noch beschцnigen? Wurde es dann nicht weit schlimmer?
Ich nahm einen Anlauf:
"Hцren Sie mich ruhig an, Mirjam! Ich bitte Sie darum. - Ich schulde
Ihrem Vater so unendlich viel, - Sie kцnnen das gar nicht ermessen - -"
Sie sah mich unsicher an; verstand offenbar nicht.
"-ja ja: unendlich viel. Mehr als mein Leben."
"Weil er Ihnen damals beistand, als Sie ohnmдchtig waren? Das war doch
selbstverstдndlich."
Ich fьhlte: sie wuЯte nicht, welches Band mich mit ihrem Vater
verknьpfte. Vorsichtig sondierte ich, wie weit ich gehen durfte, ohne zu
verraten, was er ihr verschwieg.
"Weit hцher als дuЯere Hilfe, dachte ich, ist die innere zu stellen. -
Ich meine die, die aus dem geistigen EinfluЯ eines Menschen auf den andern
ьberstrahlt. - Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Mirjam? - Man kann
jemand auch seelisch heilen, nicht nur kцrperlich, Mirjam."
"Und das hat - -?"
"Ja, das hat Ihr Vater an mir getan!" - ich faЯte sie an der Hand, -
"begreifen Sie nicht, daЯ es mir da ein Herzenswunsch sein muЯ, wenn schon
nicht ihm, so doch jemand, der ihm so nahesteht, wie Sie, irgendeine Freude
zu bereiten? - Haben Sie nur ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir! - Gibt's
denn gar keinen Wunsch, den ich Ihnen erfьllen kцnnte?"
Sie schьttelte den Kopf: "Sie glauben, ich fьhle mich unglьcklich
hier?"
"GewiЯ nicht. Aber vielleicht haben Sie zuweilen Sorgen, die ich Ihnen
abnehmen konnte? Sie sind verpflichtet - hцren Sie! - verpflichtet, mich
daran teilnehmen zu lassen! Warum leben Sie denn beide hier in der finstern
traurigen Gasse, wenn Sie nicht mьЯten? Sie sind noch so jung, Mirjam, und -
-"
"Sie leben doch selbst hier, Herr Pernath", unterbrach sie mich
lдchelnd, "was fesselt Sie an das Haus?"
Ich stutzte. - Ja. Ja, das war richtig. Warum lebte ich eigentlich
hier? Ich konnte es mir nicht erklдren, was fesselt dich an das Haus?
wiederholte ich mir geistesabwesend. Ich konnte keine Erklдrung finden und
vergaЯ einen Augenblick ganz, wo ich war. - Dann stand ich plцtzlich
entrьckt irgendwo hoch oben - in einem Garten - roch den zauberhaften Duft
von blьhenden Holunderdolden, - sah herab auf die Stadt - - -
"Habe ich eine Wunde berьhrt? Hab' ich Ihnen weh getan?", kam Mirjams
Stimme von weit, weit her zu mir.
Sie hatte sich ьber mich gebeugt und sah mir дngstlich forschend ins
Gesicht.
Ich muЯte wohl lange starr dagesessen haben, daЯ sie so besorgt war.
Eine Weile schwankte es hin und her in mir, dann brach sich's plцtzlich
gewaltsam Bahn, ьberflutete mich, und ich schьttete Mirjam mein ganzes Herz
aus.
Ich erzдhlte ihr, wie einem lieben, alten Freund, mit dem man sein
ganzes Leben beisammen war und vor dem man kein Geheimnis hat, wie's um mich
stand und auf welche Weise ich aus einer Erzдhlung Zwakhs erfahren hatte,
daЯ ich in frьheren Jahren wahnsinnig gewesen und der Erinnerung an meine
Vergangenheit beraubt worden war, - wie in letzter Zeit Bilder in mir wach
geworden, die in jenen Tagen wurzeln muЯten, immer hдufiger und hдufiger,
und daЯ ich vor dem Moment zitterte, wo mir alles offenbar werden und mich
von neuem zerreiЯen wьrde.
Nur, was ich mit ihrem Vater in Zusammenhang bringen muЯte: - meine
Erlebnisse in den unterirdischen Gдngen und all das ьbrige, verschwieg ich
ihr.
Sie war dicht zu mir gerьckt und hцrte mit einer tiefen atemlosen
Teilnahme zu, die mir unsдglich wohl tat.
Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich mich aussprechen
konnte, wenn mir meine geistige Einsamkeit zu schwer wurde. - GewiЯ wohl:
Hillel war ja noch da, aber fьr mich nur wie ein Wesen jenseits der Wolken,
das kam und verschwand wie ein Licht, an das ich nicht herankonnte, wenn ich
mich sehnte.
Ich sagte es ihr und sie verstand mich. Auch sie sah ihn so, trotzdem
er ihr Vater war.
Er hing mit unendlicher Liebe an ihr und sie an ihm - "und doch bin ich
wie durch eine Glaswand von ihm getrennt," vertraute sie mir an, "die ich
nicht durchbrechen kann. Solange ich denke, war es so. - Wenn ich ihn als
Kind im Traum an meinem Bette stehen sah, immer trug er das Gewand des
Hohenpriesters: die goldene Tafel des Moses mit den 12 Steinen darin auf der
Brust, und blaue leuchtende Strahlen gingen von seinen Schlдfen aus. - Ich
glaube, seine Liebe ist von der Art, die ьbers Grab hinausgeht, und zu groЯ,
als daЯ wir sie fassen kцnnten. - Das hat auch meine Mutter immer gesagt,
wenn wir heimlich ьber ihn sprachen." - - Sie schauderte plцtzlich und
zitterte am ganzen Leib. Ich wollte aufspringen, aber sie hielt mich zurьck:
"Seien Sie ruhig, es ist nichts. BloЯ eine Erinnerung. Als meine Mutter
starb - nur ich weiЯ, wie er sie geliebt hat, ich war damals noch ein
kleines Mдdchen, - glaubte ich vor Schmerz ersticken zu mьssen, und ich lief
zu ihm hin und krallte mich in seinen Rock und wollte aufschreien und konnte
doch nicht, weil alles gelдhmt war in mir - und - und da - - - - mir lauft's
wieder eiskalt ьber den Rьcken, wenn ich daran denke - sah er mich lдchelnd
an, kьЯte mich auf die Stirn und fuhr mir mit der Hand ьber die Augen. - - -
- Und von dem Moment an bis heute war jedes Leid, daЯ ich meine Mutter
verloren hatte, wie ausgetilgt in mir. Nicht eine Trдne konnte ich
vergieЯen, als sie begraben wurde; ich sah die Sonne als strahlende Hand
Gottes am Himmel stehen und wunderte mich, warum die Menschen weinten. Mein
Vater ging hinter dem Sarge her, neben mir, und wenn ich aufblickte,
lдchelte er jedesmal leise und ich fьhlte, wie das Entsetzen durch die Menge
fuhr, als sie es sahen."
"Und sind Sie glьcklich, Mirjam? Ganz glьcklich? Liegt nicht zugleich
etwas Furchtbares fьr Sie in dem Gedanken, ein Wesen zum Vater zu haben, das
hinausgewachsen ist ьber alles Menschentum?", fragte ich leise.
Mirjam schьttelte freudig den Kopf:
"Ich lebe wie in einem seligen Schlaf dahin. - Als Sie mich vorhin
fragten, Herr Pernath, ob ich nicht Sorgen hдtte und warum wir hier wohnten,
muЯte ich fast lachen. Ist denn die Natur schцn? Nun ja, die Bдume sind grьn
und der Himmel ist blau, aber das alles kann ich mir viel schцner
vorstellen, wenn ich die Augen schlieЯe. MuЯ ich denn, um sie zu sehen, auf
einer Wiese sitzen? - Und das biЯchen Not und - und - und Hunger? Das wird
tausendfach aufgewogen durch die Hoffnung und das Warten."
"Das Warten?", fragte ich erstaunt.
"Das Warten auf ein Wunder. Kennen Sie das nicht? Nein? Da sind Sie
aber ein ganz, ganz armer Mensch. - DaЯ das so wenige kennen?! Sehen Sie,
das ist auch der Grund, weshalb ich nie ausgehe und mit niemand verkehre.
Ich hatte wohl frьher ein paar Freundinnen - Jьdinnen natьrlich, wie ich -,
aber wir redeten immer aneinander vorbei; sie verstanden mich nicht und ich
sie nicht. Wenn ich von Wundern sprach, glaubten sie anfangs, ich mache
SpaЯ, und als sie merkten, wie ernst es mir war und daЯ ich auch unter
Wundern nicht das verstand, was die Deutschen mit ihren Brillen so
bezeichnen: das gesetzmдЯige Wachsen des Grases und dergleichen, sondern
eher das Gegenteil, - hдtten sie mich am liebsten fьr verrьckt gehalten,
aber dagegen stand ihnen wieder im Wege, daЯ ich ziemlich gelenkig bin im
Denken, hebrдisch und aramдisch gelernt habe, die Targumim und Midraschim
lesen kann, und was dergleichen Nebensдchlichkeiten mehr sind. SchlieЯlich
fanden sie ein Wort, das ьberhaupt nichts mehr ausdrьckt: sie nannten mich
›ьberspannt‹.
Wenn ich ihnen dann klarmachen wollte, daЯ das Bedeutsame - das
Wesentliche - fьr mich in der Bibel und anderen heiligen Schriften das
Wunder und bloЯ das Wunder sei und nicht Vorschriften ьber Moral und Ethik,
die nur versteckte Wege sein kцnnen, um zum Wunder zu gelangen, - so wuЯten
sie nur mit Gemeinplдtzen zu erwidern, denn sie scheuten sich, offen
einzugestehen, daЯ sie aus den Religionsschriften nur das glaubten, was
ebensogut im bьrgerlichen Gesetzbuch stehen kцnnte. Wenn sie das Wort
›Wunder‹ nur hцrten, wurde ihnen schon unbehaglich. Sie verlцren den Boden
unter den FьЯen, sagten sie.
Als ob es etwas Herrlicheres geben kцnnte, als den Boden unter den
FьЯen zu verlieren!
Die Welt ist dazu da, um von uns kaputt gedacht zu werden, hцrte ich
einmal meinen Vater sagen, - dann, dann erst fдngt das Leben an. - Ich weiЯ
nicht, was er mit dem ›Leben‹ meinte, aber ich fьhle zuweilen, daЯ ich eines
Tages so wie: ›erwachen‹ werde. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, in
welchen Zustand hinein. Und Wunder mьssen dem vorhergehen, denke ich mir
immer.
›Hast du denn schon welche erlebt, daЯ du fortwдhrend darauf wartest?‹
fragten mich oft meine Freundinnen, und wenn ich verneinte, wurden sie
plцtzlich froh und siegesgewiЯ. Sagen Sie, Herr Pernath, kцnnen Sie solche
Herzen verstehen? DaЯ ich doch Wunder erlebt habe, wenn auch nur kleine, -
winzig kleine -", - Mirjams Augen glдnzten, - "wollte ich ihnen nicht
verraten, - - -"
Ich hцrte, wie Freudentrдnen ihre Stimme fast erstickten.
"- aber Sie werden mich verstehen: oft, Wochen, ja Monate", - Mirjam
wurde ganz leise - "haben wir nur von Wundern gelebt. Wenn gar kein Brot
mehr im Hause war, aber auch nicht ein Bissen mehr, dann wuЯte ich: jetzt
ist die Stunde da! - Und dann saЯ ich hier und wartete und wartete, bis ich
vor Herzklopfen kaum mehr atmen konnte. Und - und dann, wenn's mich
plцtzlich zog, lief ich hinunter und kreuz und quer durch die StraЯen, so
rasch ich konnte, um rechtzeitig wieder im Hause zu sein, ehe mein Vater
heimkam. Und - und jedesmal fand ich Geld. Einmal mehr, einmal weniger, aber
immer soviel, daЯ ich das Nцtigste einkaufen konnte. Oft lag ein Gulden
mitten auf der StraЯe; ich sah ihn von weitem blitzen und die Leute traten
darauf, rutschten aus darьber, aber keiner bemerkte ihn. - Das machte mich
zuweilen so ьbermьtig, daЯ ich gar nicht erst ausging, sondern nebenan in
der Kьche den Boden durchsuchte wie ein Kind, ob nicht Geld oder Brot vom
Himmel gefallen sei."
- Ein Gedanke schoЯ mir durch den Kopf, und ich muЯte aus Freude
darьber lдcheln. -
Sie sah es.
"Lachen Sie nicht, Herr Pernath", flehte sie. "Glauben Sie mir, ich
weiЯ, daЯ diese Wunder wachsen werden und daЯ sie eines Tages -"
Ich beruhigte sie: "Aber ich lache doch nicht, Mirjam! Was denken Sie
denn! Ich bin unendlich glьcklich, daЯ Sie nicht sind wie die andern, die
hinter jeder Wirkung die gewohnte Ursache suchen und bocken, wenn's - wir
rufen in solchen Fallen: Gott sei Dank! - einmal anders kommt."
Sie streckte mir die Hand hin:
"Und nicht wahr, Sie werden nie mehr sagen, Herr Pernath, daЯ Sie mir -
oder uns - helfen wollen? Jetzt, wo Sie wissen, daЯ Sie mir die Mцglichkeit,
ein Wunder zu erleben, rauben wьrden, wenn Sie es tдten?"
Ich versprach es. Aber im Herzen machte ich einen Vorbehalt.
Da ging die Tьr und Hillel trat ein.
Mirjam umarmte ihn; und er begrьЯte mich. Herzlich und voll
Freundschaft, aber wieder mit dem kьhlen "Sie".
Auch schien etwas wie leise Mьdigkeit oder Unsicherheit auf ihm zu
lasten. - Oder irrte ich mich?
Vielleicht kam es nur von der Dдmmerung, die in der Stube lag.
"Sie sind gewiЯ hier, mich um Rat zu fragen", fing er an, als Mirjam
uns allein gelassen hatte, "in der Sache, die die fremde Dame betrifft - -?"
Ich wollte ihn verwundert unterbrechen, aber er fiel mir in die Rede:
"Ich weiЯ es von dem Studenten Charousek. Ich sprach ihn auf der Gasse
an, weil er mir merkwьrdig verдndert vorkam. Er hat mir alles erzдhlt. In
der Ьberfьlle seines Herzens. Auch, daЯ - Sie ihm Geld geschenkt haben." Er
sah mich durchdringend an und betonte jedes seiner Worte auf hцchst seltsame
Weise, aber ich verstand nicht, was er damit wollte:
"GewiЯ, es hat dadurch ein paar Tropfen Glьck mehr vom Himmel geregnet
- und - und in diesem - Fall hat's vielleicht auch nicht geschadet, aber -,"
er dachte eine Weile nach, - "aber manchmal schafft man sich und anderen nur
Leid damit. Gar so leicht ist das Helfen nicht, wie Sie denken, mein lieber
Freund! Da wдre es sehr, sehr einfach, die Welt zu erlцsen. - Oder glauben
Sie nicht?"
"Geben Sie denn nicht auch den Armen? Oft alles, was Sie besitzen,
Hillel?", fragte ich.
Er schьttelte lдchelnd den Kopf: "Mir scheint, Sie sind ьber Nacht ein
Talmudist geworden, daЯ Sie eine Frage wieder mit einer Frage beantworten.
Da ist freilich schwer streiten."
Er hielt inne, als ob ich darauf antworten sollte, aber wiederum
verstand ich nicht, worauf er eigentlich wartete.
"Ьbrigens, um zu dem Thema zurьckzukommen", fuhr er in verдndertem Tone
fort, "ich glaube nicht, daЯ Ihrem Schьtzling - ich meine die Dame -
augenblicklich Gefahr droht. Lassen Sie die Dinge an sich herantreten. Es
heiЯt zwar: ›der kluge Mann baut vor‹, aber der Klьgere, scheint mir, wartet
ab und ist auf alles gefaЯt. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, daЯ
Aaron Wassertrum mit mir zusammentrifft, aber das muЯ dann von ihm ausgehen,
- ich tue keinen Schritt, er muЯ herьberkommen. Ob zu Ihnen oder zu mir, ist
gleichgьltig - und dann will ich mit ihm reden. An ihm wird's sein, sich zu
entscheiden, ob er meinen Rat befolgen will oder nicht. Ich wasche meine
Hдnde in Unschuld."
Ich versuchte дngstlich in seinem Gesicht zu lesen. So kalt und
eigentьmlich drohend hatte er noch nie gesprochen. Aber hinter diesem
schwarzen, tiefliegenden Auge schlief ein Abgrund.
"Es ist wie eine Glaswand zwischen ihm und uns", fielen mir Mirjams
Worte ein.
Ich konnte ihm nur wortlos die Hand drьcken und - gehen.
Er begleitete mich bis vor die Tьre und, als ich die Treppe hinaufging
und mich noch einmal umdrehte, sah ich, daЯ er stehen geblieben war und mir
freundlich nachwinkte, aber wie jemand, der noch gern etwas sagen mцchte und
nicht kann.

    Angst


Ich hatte die Absicht, mir Mantel und Stock zu holen und in die kleine
Wirtsstube "Zum alten Ungelt" essen zu gehen, wo allabendlich Zwakh,
Vrieslander und Prokop bis spдt in die Nacht beisammen saЯen und einander
verrьckte Geschichten erzдhlten; aber kaum betrat ich mein Zimmer, da fiel
der Vorsatz von mir ab, - wie wenn mir Hдnde ein Tuch oder sonst etwas, was
ich am Leibe getragen, abgerissen hдtten.
Es lag eine Spannung in der Luft, ьber die ich mir keine Rechenschaft
geben konnte, die aber trotzdem vorhanden war wie etwas Greifbares und sich
im Verlauf weniger Sekunden derart heftig auf mich ьbertrug, daЯ ich vor
Unruhe anfangs kaum wuЯte, was ich zuerst tun sollte: Licht anzьnden, hinter
mir abschlieЯen, mich niedersetzen oder auf und ab gehen.
Hatte sich jemand in meiner Abwesenheit eingeschlichen und versteckt?
War's die Angst eines Menschen vor dem Gesehenwerden, die mich ansteckte?
War Wassertrum vielleicht hier?
Ich griff hinter die Gardinen, цffnete den Schrank, tat einen Blick ins
Nebenzimmer: - niemand.
Auch die Kassette stand unverrьckt an ihrem Platz.
Ob es nicht am besten war, ich verbrannte die Briefe kurz entschlossen,
um ein fьr allemal die Sorge um sie los zu sein?
Schon suchte ich nach dem Schlьssel in meiner Westentasche - aber muЯte
es denn jetzt geschehen? Es blieb mir doch Zeit genug bis morgen frьh.
Erst Licht machen!
Ich konnte die Streichhцlzer nicht finden.
War die Tьr abgesperrt? - Ich ging ein paar Schritte zurьck. Blieb
wieder stehen.
Warum mit einemmal die Angst?
Ich wollte mir Vorwьrfe machen, daЯ ich feig sei: - die Gedanken
blieben stecken. Mitten im Satz.
Eine wahnwitzige Idee ьberfiel mich plцtzlich: rasch, rasch auf den
Tisch steigen, einen Sessel packen und zu mir hinaufziehen und "dem" den
Schдdel damit von oben herab einschlagen, das da auf dem Boden herumkroch, -
- wenn - wenn es in die Nдhe kam.
"Es ist doch niemand hier," sagte ich mir laut und дrgerlich vor, "hast
du dich denn je im Leben gefьrchtet?"
Es half nichts. Die Luft, die ich einatmete, wurde dьnn und schneidend
wie Дther.
Wenn ich irgendetwas gesehen hдtte: das GrдЯlichste, was man sich
vorstellen kann, - im Nu wдre die Furcht von mir gewichen.
Es kam nichts.
Ich bohrte meine Augen in alle Winkel:
Nichts.
Ьberall lauter wohlbekannte Dinge: Mцbel, Truhen, die Lampe, das Bild,
die Wanduhr - leblose, alte, treue Freunde.
Ich hoffte, sie wьrden sich vor meinen Blicken verдndern und mir Grund
geben, eine Sinnestдuschung als Ursache fьr das wьrgende Angstgefьhl in mir
zu finden.
Auch das nicht. - Sie blieben ihrer Form starr getreu. Viel zu starr
fьr das herrschende Halbdunkel, als daЯ es natьrlich gewesen wдre.
"Sie stehen unter demselben Zwang wie du selbst", fьhlte ich. "Sie
trauen sich nicht, auch nur die leiseste Bewegung zu machen."
Warum tickt die Wanduhr nicht? -
Das Lauern ringsum trank jeden Laut.
Ich rьttelte am Tisch und wunderte mich, daЯ ich das Gerдusch hцren
konnte.
Wenn doch wenigstens der Wind ums Haus pfiffe! - Nicht einmal das! Oder
das Holz im Ofen aufknallen wollte: - das Feuer war erloschen.
Und immerwдhrend dasselbe entsetzliche Lauern in der Luft - pausenlos,
lьckenlos, wie das Rinnen von Wasser.
Dieses vergebliche Auf-dem-Sprung-stehen aller meiner Sinne! Ich
verzweifelte daran, es je ьberdauern zu kцnnen. - Der Raum voll Augen, die
ich nicht sehen, - voll von planlos wandernden Hдnden, die ich nicht greifen
konnte.
"Es ist das Entsetzen, das sich aus sich selbst gebiert, die lдhmende
Schrecknis des unfaЯbaren Nicht-Etwas, das keine Form hat und unserm Denken
die Grenzen zerfriЯt", begriff ich dumpf.
Ich stellte mich steif hin und wartete.
Wartete wohl eine Viertelstunde: vielleicht lieЯ "es" sich verleiten
und schlich von rьckwдrts an mich heran - und ich konnte es ertappen?!
Mit einem Ruck fuhr ich herum: wieder nichts.
Dasselbe markverzehrende "Nichts", das nicht war und doch das Zimmer
mit seinem grausigen Leben erfьllte.
Wenn ich hinausliefe? Was hinderte mich?
"Es wьrde mit mir gehen", wuЯte ich sofort mit unabweisbarer
Sicherheit. Auch, daЯ es mir nichts nьtzen kцnnte, wenn ich Licht machte,
sah ich ein, - dennoch suchte ich so lange nach dem Feuerzeug, bis ich es
gefunden hatte.
Aber der Kerzendocht wollte nicht brennen und kam lang aus dem Glimmen
nicht heraus: die kleine Flamme konnte nicht leben und nicht sterben, und
als sie sich endlich doch ein schwindsьchtiges Dasein erkдmpft hatte, blieb
sie glanzlos wie gelbes, schmutziges Blech. Nein, da war die Dunkelheit noch
besser.
Ich lцschte wieder aus und warf mich angezogen ьbers Bett. Zдhlte die
Schlдge meines Herzens: eins, zwei, drei - vier ... bis tausend, und immer
von neuem - Stunden, Tage, Wochen, wie mir schien, bis meine Lippen trocken
wurden und das Haar sich mir strдubte: keine Sekunde der Erleichterung.
Auch nicht eine einzige.
Ich fing an, mir Worte vorzusagen, wie sie mir gerade auf die Zunge
kamen: "Prinz", "Baum", "Kind", "Buch" - und sie krampfhaft zu wiederholen,
bis sie plцtzlich als sinnlose, schreckhafte Laute aus barbarischer Vorzeit
nackt mir gegenьberstanden, und ich mit aller Kraft nachdenken muЯte, in
ihre Bedeutung zurьckzufinden: P-r-i-n-z? - B-u-ch?
War ich nicht schon wahnsinnig? Oder gestorben? - Ich tastete an mir
herum.
Aufstehen!
Mich in den Sessel setzen!
Ich lieЯ mich in den Lehnstuhl fallen.
Wenn doch endlich der Tod kдme!
Nur dieses blutlose, furchtbare Lauern nicht mehr fьhlen! "Ich - will -
nicht - ich will - nicht!", schrie ich. "Hцrt ihr denn nicht?!"
Kraftlos fiel ich zurьck.
Konnte es nicht fassen, daЯ ich immer noch lebte.
Unfдhig, irgend etwas zu denken oder zu tun, stierte ich geradeaus vor
mich hin.
0x01 graphic

"Weshalb er mir nur die Kцrner so beharrlich hinreicht?", ebbte ein
Gedanke auf mich zu, zog sich zurьck und kam wieder. Zog sich zurьck. Kam
wieder.
Langsam wurde mir endlich klar, daЯ ein seltsames Wesen vor mir stand -
vielleicht schon, seit ich hier saЯ, dagestanden hatte - und mir die Hand
hinstreckte:
Ein graues, breitschultriges Geschцpf, in der GrцЯe eines gedrungen
gewachsenen Menschen, auf einen spiralfцrmig gedrehten Knotenstock aus
weiЯem Holz gestьtzt.
Wo der Kopf hдtte sitzen mьssen, konnte ich nur einen Nebelballen aus
fahlem Dunst unterscheiden.
Ein trьber Geruch nach Sandelholz und nassem Schiefer ging von der
Erscheinung aus.
Ein Gefьhl vollkommenster Wehrlosigkeit raubte mir fast die Besinnung.
Was ich die ganze lange Zeit an nervenzernagender Qual mitgemacht, drдngte
sich jetzt zu Todesschrecken zusammen und war in diesem Wesen zur Form
geronnen.
Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, ich wьrde wahnsinnig werden vor
Entsetzen und Furcht, wenn ich das Gesicht des Phantoms sehen kцnnte, -
warnte mich davor, schrie es mir in die Ohren - und doch zog es mich wie ein
Magnet, daЯ ich den Blick von dem fahlen Nebelballen nicht wenden konnte und
darin forschte nach Augen, Nase und Mund.
Aber so sehr ich mich auch abmьhte: der Dunst blieb unbeweglich. Wohl
glьckte es mir, Kцpfe aller Art auf den Rumpf zu setzen, doch jedesmal wuЯte
ich, daЯ sie nur meiner Einbildungskraft entstammten.
Sie zerrannen auch stets - fast in derselben Sekunde, in der ich sie
geschaffen hatte.
Nur die Form eines дgyptischen Ibiskopfs blieb noch am lдngsten
bestehen.
Die Umrisse des Phantoms schleierten schemenhaft in der Dunkelheit,
zogen sich kaum merklich zusammen und dehnten sich wieder aus, wie unter
langsamen Atemzьgen, die die ganze Gestalt durchliefen, die einzige
Bewegung, die zu bemerken war. Statt der FьЯe berьhrten Knochenstumpen den
Boden, von denen das Fleisch - grau und blutleer - auf Spannenbreite zu
wulstigen Rдndern emporgezogen war.
Regungslos hielt das Geschцpf mir seine Hand hin.
Kleine Kцrner lagen dann. BohnengroЯ, von roter Farbe und mit schwarzen
Punkten am Rande.
Was sollte ich damit?!
Ich fьhlte dumpf: eine ungeheure Verantwortung lag auf mir - eine
Verantwortung, die weit hinausging ьber alles Irdische, - wenn ich jetzt
nicht das Richtige tat.
Zwei Waagschalen, jede belastet mit dem Gewicht des halben
Weltgebдudes, schweben irgendwo im Reich der Ursachen, ahnte ich - auf
welche von beiden ich ein Stдubchen warf: die sank zu Boden.
Das war das furchtbare Lauern ringsum!, verstand ich. "Keinen Finger
rьhren!", riet mir mein Verstand, - "und wenn der Tod in alle Ewigkeit nicht
kommen sollte und mich erlцsen aus dieser Qual." -
Auch dann hдttest du deine Wahl getroffen: du hдttest die Kцrner
abgelehnt, raunte es in mir. Hier gibt's kein Zurьck.
Hilfesuchend blickte ich um mich, ob mir denn kein Zeichen wurde, was
ich tun sollte. Nichts.
Auch in mir kein Rat, kein Einfall - alles tot, gestorben.
Das Leben von Myriaden Menschen wiegt leicht wie eine Feder in diesem
furchtbaren Augenblick, erkannte ich. - -
Es muЯte bereits tiefe Nacht sein, denn ich konnte die Wдnde meines
Zimmers nicht mehr unterscheiden.
Nebenan im Atelier stampften Schritte; ich hцrte, daЯ jemand Schrдnke
rьckte, Schubladen aufriЯ und polternd zu Boden warf, glaubte Wassertrums
Stimme zu erkennen, wie er in seinem rцchelnden BaЯ wilde Fluche ausstieЯ;
ich horchte nicht hin. Es war mir belanglos wie das Rascheln einer Maus. -
Ich schloЯ die Augen:
Menschliche Antlitze zogen in langen Reihen an mir vorьber. Die Lider
zugedrьckt - starre Totenmasken: - mein eigenes Geschlecht, meine eigenen
Vorfahren.
Immer dieselbe Schдdelbildung, wie auch der Typus zu wechseln schien,
so stand es auf aus seinen Grьften, - mit glattem gescheiteltem Haar,
gelocktem und kurz geschnittenem, mit Allongeperьcken und in Ringe
gezwдngten Schцpfen - durch Jahrhunderte heran, bis die Zьge mir bekannter
und bekannter wurden und in ein letztes Gesicht zusammenflossen: - das
Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner Ahnen abbrach.
Dann lцste die Finsternis mein Zimmer in einen unendlichen leeren Raum
auf, in dessen Mitte ich mich auf meinem Lehnstuhl sitzen wuЯte, vor mir der
graue Schatten wieder mit dem ausgestreckten Arm.
Und als ich die Augen aufschlug, standen in zwei sich schneidenden
Kreisen, die einen Achter bildeten, fremdartige Wesen um uns herum:
Die des einen Kreises gehьllt in Gewдnder mit violettem Schimmer, die
des anderen mit rцtlich schwarzem. Menschen einer fremden Rasse, von hohem,
unnatьrlich schmдchtigem Wuchs, die Gesichter hinter leuchtenden Tьchern
verborgen.
Das Herzbeben in meiner Brust sagte mir, daЯ der Zeitpunkt der
Entscheidung gekommen war. Meine Finger zuckten nach den Kцrnern: - und da
sah ich, wie ein Zittern durch die Gestalten des rцtlichen Kreises ging. -
Sollte ich die Kцrner zurьckweisen?: Das Zittern ergriff den blдulichen
Kreis; - ich blickte den Mann ohne Kopf scharf an; er stand da - in
derselben Stellung: regungslos wie frьher.
Sogar sein Atem hatte aufgehцrt.
Ich hob den Arm, wuЯte noch immer nicht, was ich tun sollte, und -
schlug auf die ausgestreckte Hand des Phantoms, daЯ die Kцrner ьber den
Boden hinrollten.
Einen Moment, so jдh wie ein elektrischer Schlag, entglitt mir das
BewuЯtsein, und ich glaubte in endlose Tiefen zu stьrzen, - dann stand ich
fest auf den FьЯen.
Das graue Geschцpf war verschwunden. Ebenso die Wesen des rцtlichen
Kreises.
Die blдulichen Gestalten hingegen hatten einen Ring um mich gebildet;
sie trugen eine Inschrift aus goldnen Hieroglyphen auf der Brust und hielten
stumm - es sah aus wie ein Schwur - zwischen Zeigefinger und Daumen die
roten Kцrner in die Hohe, die ich dem Phantom ohne Kopf aus der Hand
geschlagen hatte.
Ich hцrte, wie drauЯen Hagelschauer gegen die Fenster tobten und
brьllender Donner die Luft zerriЯ:
Ein Wintergewitter in seiner ganzen besinnungslosen Wut raste ьber die
Stadt hinweg. Vom FluЯ her drцhnten durch das Heulen des Sturms in
rhythmischen Intervallen die dumpfen Kanonenschьsse, die das Brechen der
Eisdecke auf der Moldau verkьndeten. Die Stube loderte im Licht der
ununterbrochen aufeinanderfolgenden Blitze. Ich fьhlte mich plцtzlich so
schwach, daЯ mir die Knie zitterten und ich mich setzen muЯte.
"Sei ruhig," sagte deutlich eine Stimme neben mir, "sei ganz ruhig, es
ist heute die Lelschimurim: die Nacht der Beschьtzung." -
0x01 graphic

Allmдhlich lieЯ das Unwetter nach, und der betдubende Lдrm ging ьber in
das eintцnige Trommeln der SchloЯen auf die Dacher.
Die Mattigkeit in meinen Gliedern nahm derart zu, daЯ ich nur mehr mit
stumpfen Sinnen und halb im Traum wahrnahm, was um mich her vorging:
Jemand aus dem Kreis sagte die Worte:
"Den ihr suchet, der ist nicht hier."
Die andern erwiderten etwas in einer fremden Sprache.
Hierauf sagte der erste wieder leise einen Satz, dann kam der Name
"Henoch"
vor, aber ich verstand das ьbrige nicht: der Wind trug das Stцhnen der
berstenden Eisschollen zu laut vom Flusse herьber.
0x01 graphic

Dann lцste sich einer aus dem Kreis, trat vor mich hin, deutete auf die
Hieroglyphen auf seiner Brust - sie waren dieselben Buchstaben wie die der
ьbrigen - und fragte mich, ob ich sie lesen kцnne.
Und als ich - lallend vor Mьdigkeit, - verneinte, streckte er die
Handflдche gegen mich aus, und die Schrift erschien leuchtend auf meiner
Brust in Lettern, die zuerst lateinisch waren:
CHABRAT ZEREH AUR BOCHER
0x01 graphic

und sich langsam in die mir unbekannten verwandelten. - - - Und ich
fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, wie ich ihn seit jener Nacht, in
der Hillel mir die Zunge gelцst, nicht mehr gekannt hatte.

    Trieb


Wie im Fluge waren mir die Stunden der letzten Tage vergangen. Kaum,
daЯ ich mir Zeit zu den Mahlzeiten lieЯ.
Ein unwiderstehlicher Drang nach дuЯerer Tдtigkeit hatte mich von frьh
bis abends an meinen Arbeitstisch gefesselt.
Die Gemme war fertig geworden, und Mirjam hatte sich wie ein Kind
darьber gefreut.
Auch der Buchstabe "I" in dem Buche Ibbur war ausgebessert.
Ich lehnte mich zurьck und lieЯ ruhevoll all die kleinen Geschehnisse
der heutigen Stunden an mir vorьberziehen:
Wie das alte Weib, das mich bediente, am Morgen nach dem Ungewitter zu
mir ins Zimmer gestьrzt kam mit der Meldung, die steinerne Brьcke sei in der
Nacht eingestьrzt. -
Seltsam: - Eingestьrzt! Vielleicht gerade in der Stunde, wo ich die
Kцrner - - - nein, nein, nicht daran denken; es kцnnte einen Anstrich von
Nьchternheit bekommen, was damals geschehen war, und ich hatte mir
vorgenommen, es in meiner Brust begraben sein zu lassen, bis es von selbst
wieder erwachte, - nur nicht daran rьhren.
Wie lange war's her, da ging ich noch ьber die Brьcke, sah die
steinernen Statuen - und jetzt lag sie, die Brьcke, die Jahrhunderte
gestanden, in Trьmmern.
Es stimmte mich beinahe wehmьtig, daЯ ich nie mehr meinen FuЯ auf sie
setzen sollte. Wenn man sie auch wieder aufbaute, war es doch nicht mehr die
alte, geheimnisvolle, steinerne Brьcke.
Stundenlang hatte ich, wдhrend ich an der Gemme schnitt, darьber
nachdenken mьssen, und so selbstverstдndlich, als hдtte ich es nie vergessen
gehabt, war es lebendig in mir geworden: wie oft ich als Kind und auch in
spдtern Jahren zu dem Bildnis der heiligen Luitgard und all den andern, die
jetzt begraben lagen in den tosenden Wassern, aufgeblickt.
Die vielen, kleinen lieben Dinge, die ich in meiner Jugend mein eigen
genannt, hatte ich wieder gesehen im Geiste - und meinen Vater und meine
Mutter und die Menge Schulkameraden. Nur an das Haus, wo ich gewohnt, konnte
ich mich nicht mehr erinnern.
Ich wuЯte, es wьrde plцtzlich, eines Tages, wenn ich es am wenigsten
erwartete, wieder vor mir stehen; und ich freute mich darauf.
Die Empfindung, daЯ sich mit einemmal alles natьrlich und einfach in
mir abwickelte, war so behaglich.
Als ich vorgestern das Buch Ibbur aus der Kassette geholt hatte, - es
war so gar nichts Erstaunliches daran gewesen, daЯ es aussah, nun, wie eben
ein altes, mit wertvollen Initialen geschmьcktes Pergamentbuch aussieht -
schien es mir ganz selbstverstдndlich.
Ich konnte nicht begreifen, daЯ es jemals gespenstisch auf mich gewirkt
hatte!
Es war in hebrдischer Sprache geschrieben, vollkommen unverstдndlich
fьr mich.
Wann wohl der Unbekannte es wieder holen kommen wurde?
Die Freude am Leben, die wдhrend der Arbeit heimlich in mich eingezogen
war, erwachte von neuem in ihrer ganzen erquickenden Frische und
verscheuchte die Nachtgedanken, die mich hinterrьcks wieder ьberfallen
wollten.
Rasch nahm ich Angelinas Bild - ich hatte die Widmung, die darunter
stand, abgeschnitten - und kьЯte es.
Es war das alles so tцricht und widersinnig, aber warum nicht einmal
von - Glьck trдumen, die glitzernde Gegenwart festhalten und sich daran
freuen, wie ьber eine Seifenblase?
Konnte denn nicht vielleicht doch in Erfьllung gehen, was mir da die
Sehnsucht meines Herzens vorgaukelte? War es so ganz und gar unmцglich, daЯ
ich ьber Nacht ein berьhmter Mann wurde? Ihr ebenbьrtig, wenn auch nicht an
Herkunft? Zumindest Dr. Savioli ebenbьrtig? Ich dachte an die Gemme Mirjams:
wenn mir noch andere so gelangen wie diese - kein Zweifei, selbst die ersten
Kьnstler aller Zeiten hatten nie etwas Besseres geschaffen.
Und nur einen Zufall angenommen: der Gatte Angelinas stьrbe plцtzlich?
Mir wurde heiЯ und kalt: ein winziger Zufall - und meine Hoffnung, die
verwegenste Hoffnung, gewann Gestalt. An einem dьnnen Faden, der stьndlich
reiЯen konnte, hing das Glьck, das mir dann in den SchoЯ fallen mьЯte.
War mir denn nicht schon tausendfach Wunderbareres geschehen? Dinge,
von denen die Menschheit gar nicht ahnte, daЯ sie ьberhaupt existierten?
War es kein Wunder, daЯ binnen weniger Wochen kьnstlerische Fдhigkeiten
in mir erwacht waren, die mich jetzt schon weit ьber den Durchschnitt
erhoben?
Und ich stand doch erst am Anfang des Weges!
Hatte ich denn kein Anrecht auf Glьck?
Ist denn Mystik gleichbedeutend mit Wunschlosigkeit?
Ich ьbertцnte das: "Ja" in mir: - nur noch eine Stunde trдumen - eine
Minute - ein kurzes Menschendasein!
Und ich trдumte mit offenen Augen:
Die Edelsteine auf dem Tisch wuchsen und wuchsen und umgaben mich von
allen Seiten mit farbigen Wasserfдllen. Bдume aus Opal standen in Gruppen
beisammen und strahlten die Lichtwellen des Himmels, der blau schillerte wie
der Flьgel eines gigantischen Tropenschmetterlings, in Funkensprьhregen ьber
unabsehbare Wiesen voll heiЯem Sommerduft.
Mich dьrstete, und ich kьhlte meine Glieder in dem eisigen Gischt der
Bдche, die ьber Felsblцcke rauschten aus schimmerndem Perlmutter.
Schwьler Hauch strich ьber Hдnge, ьbersдt mit Blьten und Blumen, und
machte mich trunken mit den Gerьchen von Jasmin, Hyazinthen, Narzissen,
Seidelbast - - -
Unertrдglich! Unertrдglich! Ich verlцschte das Bild. - Mich dьrstete.
Das waren die Qualen des Paradieses.
Ich riЯ die Fenster auf und lieЯ den Tauwind an meine Stirne wehen.
Es roch nach kommendem Frьhling - - -
0x01 graphic

Mirjam!
Ich muЯte an Mirjam denken.
Wie sie sich vor Erregung an der Wand hatte halten mьssen, um nicht
umzufallen, als sie mir erzдhlen gekommen, ein Wunder sei geschehen, ein
wirkliches Wunder: sie habe ein Goldstьck gefunden in dem Brotlaib, den der
Bдcker vom Gang aus durchs Gitter ins Kьchenfenster gelegt. - - -
Ich griff nach meiner Bцrse. - Hoffentlich war es heute nicht schon zu
spдt, und ich kam noch zurecht, ihr wieder einen Dukaten zuzuzaubern!
Tдglich hatte sie mich besucht, um mir Gesellschaft zu leisten, wie sie
es nannte, dabei aber fast nicht gesprochen, so erfьllt war sie von dem
"Wunder" gewesen. Bis in die tiefsten Tiefen hatte das Erlebnis sie
aufgewьhlt und, wenn ich mir vorstellte, wie sie manchmal plцtzlich ohne
дuЯern Grund - nur unter dem EinfluЯ ihrer Erinnerung - totenblaЯ geworden
war bis in die Lippen, schwindelte mir bei dem bloЯen Gedanken, ich kцnnte
in meiner Blindheit Dinge angerichtet haben, deren Tragweite bis ins