Grenzenlose ging.
Und wenn ich mir die letzten, dunklen Worte Hillels ins Gedдchtnis rief
und in Zusammenhang damit brachte, ьberlief es mich eiskalt.
Die Reinheit des Motivs war keine Entschuldigung fьr mich, - der Zweck
heiligt die Mittel nicht, das sah ich ein.
Und was, wenn ьberdies das Motiv: "helfen zu wollen" nur scheinbar
"rein" war? Hielt sich nicht vielleicht doch eine heimliche Lьge dahinter
verborgen?: der selbstgefдllige, unbewuЯte Wunsch, in der Rolle des Helfers
zu schwelgen?
Ich fing an, irre an mir selbst zu werden.
DaЯ ich Mirjam viel zu oberflдchlich beurteilt hatte, war klar.
Schon als die Tochter Hillels muЯte sie anders sein als andere Mдdchen.
Wie hatte ich nur so vermessen sein kцnnen, auf solch tцrichte Weise in
ein Innenleben einzugreifen, das vielleicht himmelhoch ьber meinem eigenen
stand!
Schon ihr Gesichtsschnitt, der hundertmal eher in die Zeit der sechsten
дgyptischen Dynastie paЯte und selbst fьr diese noch viel zu vergeistigt
war, als in die unsrige mit ihren Verstandesmenschentypen, hдtte mich warnen
mьssen.
"Nur der ganz Dumme miЯtraut dem дuЯern Schein", hatte ich irgendwo
einmal gelesen. - Wie richtig! Wie richtig!
Mirjam und ich waren jetzt gute Freunde; sollte ich ihr eingestehen,
daЯ ich es gewesen war, der die Dukaten Tag fьr Tag ins Brot geschmuggelt
hatte?
Der Schlag kдme zu plцtzlich. Wьrde sie betдuben.
Ich durfte das nicht wagen, muЯte behutsamer vorgehen.
Das "Wunder" irgendwie abschwдchen? Statt das Geld ins Brot zu stecken,
es auf die Treppenstufe zu legen, daЯ sie es finden muЯte, wenn sie die Tьr
aufmachte, und so weiter, und so weiter? Etwas Neues, weniger Schroffes
wьrde sich schon ausdenken lassen, irgendein Weg, der sie aus dem
Wunderbaren allmдhlich wieder ins Alltдgliche herьberlenkte, trцstete ich
mich.
Ja! Das war das Richtige.
Oder den Knoten zerhauen? Ihren Vater einweihen und zu Rate ziehen? Die
Schamrцte stieg mir ins Gesicht. Zu diesem Schritt blieb Zeit genug, wenn
alle andern Mittel versagten.
Nur gleich ans Werk gehen, keine Zeit versдumen!
Ein guter Einfall kam mir: Ich muЯte Mirjam zu etwas ganz
Absonderlichem bewegen, sie fьr ein paar Stunden aus der gewohnten Umgebung
reiЯen, daЯ sie andere Eindrьcke bekam.
Wir wьrden einen Wagen nehmen und eine Spazierfahrt machen. Wer kannte
uns denn, wenn wir das Judenviertel mieden?
Vielleicht interessierte es sie, die eingestьrzte Brьcke zu
besichtigen?
Oder der alte Zwakh oder eine ihrer frьheren Freundinnen sollte mit ihr
fahren, wenn sie es ungeheuerlich finden wьrde, daЯ ich mit dabei sei.
Ich war fest entschlossen, keinen Widerspruch gelten zu lassen. - - -
0x01 graphic

An der Tьrschwelle rannte ich einen Mann beinahe ьber den Haufen.
Wassertrum!
Er muЯte durchs Schlьsselloch hereingespдht haben, denn er stand
gebьckt, als ich mit ihm zusammengestoЯen war.
"Suchen Sie mich?", fragte ich barsch.
Er stammelte ein paar Worte der Entschuldigung in seinem unmцglichen
Jargon; dann bejahte er.
Ich forderte ihn auf, nдher zu treten und sich zu setzen, aber er blieb
am Tisch stehen und drehte krampfhaft mit der Hutkrempe. Eine tiefe
Feindseligkeit, die er vergebens vor mir verbergen wollte, spiegelte aus
seinem Gesicht und jeder seiner Bewegungen.
Noch nie hatte ich den Mann in so unmittelbarer Nдhe gesehen. Seine
grauenhafte HдЯlichkeit war es nicht, die einen so abstieЯ; (sie machte mich
eher mitleidig gestimmt: er sah aus wie ein Geschцpf, dem die Natur selbst
bei seiner Geburt voll Wut und Abscheu mit dem FuЯ ins Gesicht getreten
hatte) - etwas anderes, Unwдgbares, das von ihm ausging, trug die Schuld
daran.
Das "Blut", wie Charousek es treffend bezeichnet hatte.
Unwillkьrlich wischte ich mir die Hand ab, die ich ihm bei seinem
Eintritt gereicht hatte.
So wenig auffдllig ich es machte, er schien es doch bemerkt zu haben,
denn er muЯte sich plцtzlich mit Gewalt zwingen, das Aufflammen des Hasses
in seinen Zьgen zu unterdrьcken.
"Hьbsch ham Se's hier", fing er endlich stockend an, als er sah, daЯ
ich ihm nicht den Gefallen tat, das Gesprдch zu beginnen.
Im Widerspruch zu seinen Worten schloЯ er dabei die Augen, vielleicht,
um meinem Blick nicht zu begegnen. Oder glaubte er, daЯ es seinem Gesicht
einen harmloseren Ausdruck verleihen wьrde?
Man konnte ihm deutlich anhцren, welche Mьhe er sich gab, hochdeutsch
zu reden.
Ich fьhlte mich nicht zu einer Entgegnung verpflichtet und wartete, was
er weiter sagen wьrde.
In seiner Verlegenheit griff er nach der Feile, die - weiЯ Gott wieso -
noch seit Charouseks Besuch auf dem Tisch lag, fuhr aber unwillkьrlich
sofort wie von einer Schlange gebissen zurьck. Ich staunte innerlich ьber
seine unterbewuЯte seelische Feinfьhligkeit.
"Freilich, natьrlich, es gehцrt zum Geschдft, daЯ man's fein hat,"
raffte er sich auf, zu sagen, "wenn man - so noble Besuche bekommt." Er
wollte die Augen aufschlagen, um zu sehen, welchen Eindruck die Worte auf
mich machten, hielt es aber offenbar noch fьr verfrьht und schloЯ sie
schnell wieder.
Ich wollte ihn in die Enge treiben: "Sie meinen die Dame, die neulich
hier vorfuhr? Sagen Sie doch offen, wo Sie hinauswollen!"
Er zцgerte einen Moment, dann packte er mich heftig am Handgelenk und
zerrte mich ans Fenster.
Die sonderbare, unmotivierte Art, mit der er es tat, erinnerte mich
daran, wie er vor einigen Tagen den taubstummen Jaromir unten in seine Hцhle
gerissen hatte.
Mit krummen Fingern hielt er mir einen blitzenden Gegenstand hin:
"Was glauben Sie, Herr Pernath, laЯt sich da noch was machen?"
Es war eine goldene Uhr mit so stark verbeulten Deckeln, daЯ es fast
aussah, als hдtte sie jemand mit Absicht verbogen.
Ich nahm ein VergrцЯerungsglas: die Scharniere waren zur Hдlfte
abgerissen und innen - stand da nicht etwas eingraviert? Kaum mehr leserlich
und noch ьberdies mit einer Menge ganz frischer Schrammen zerkratzt. Langsam
entzifferte ich:
K-rl Zott-mann.
Zottmann? Zottmann? - Wo hatte ich diesen Namen doch gelesen? Zottmann?
Ich konnte mich nicht entsinnen. Zottmann?
Wassertrum schlug mir die Lupe beinahe aus der Hand:
"Im Werk is nix, da hab' ich schon selber geschaut. Aber mit'm Gehдuse,
da stinkt's."
"Braucht man nur gerade zu klopfen - hцchstens ein paar Lцtstellen. Das
kann Ihnen ebensogut jeder beliebige Goldarbeiter machen, Herr Wassertrum."
"Ich leg' doch Wert darauf, daЯ es eine solide Arbeit wird. Was man so
sagt: kьnstlerisch", unterbrach er mich hastig. Fast дngstlich.
"Nun gut, wenn Ihnen derart viel daran liegt -"
"Viel daran liegt!" Seine Stimme schnappte ьber vor Eifer. "Ich will
sie doch selber tragen, die Uhr. Und wenn ich sie jemandem zeig', will ich
sagen kцnnen: schauen Sie mal her, so arbeitet der Herr von Pernath."
Ich ekelte mich vor dem Kerl; er spuckte mir seine widerwдrtigen
Schmeicheleien fцrmlich ins Gesicht.
"Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen, wird alles fertig sein."
Wassertrum wand sich in Krдmpfen: "Das gibt's nicht. Das will ich
nicht. Drei Tag. Vier Tag. Die nдchste Woche is Zeit genug. Das ganze Leben
mцcht' ich mir Vorwьrfe machen, daЯ ich Ihnen gedrдngt hab'."
Was wollte er nur, daЯ er so auЯer sich geriet? - Ich machte einen
Schritt ins Nebenzimmer und sperrte die Uhr in die Kassette. Angelinas
Photographie lag obenauf. Schnell schlug ich den Deckel wieder zu - fьr den
Fall, daЯ Wassertrum mir nachblicken sollte.
Als ich zurьckkam, fiel mir auf, daЯ er sich verfдrbt hatte.
Ich musterte ihn scharf, lieЯ aber meinen Verdacht sofort fallen:
Unmцglich! Er konnte nichts gesehen haben.
"Also, dann vielleicht nдchste Woche", sagte ich, um seinem Besuch ein
Ende zu machen.
Er schien mit einemmal keine Eile mehr zu haben, nahm einen Sessel und
setzte sich.
Im Gegensatz zu frьher hielt er seine Fischaugen jetzt beim Reden weit
offen und fixierte beharrlich meinen obersten Westenknopf.
Pause.
"Die Duksel hat Ihnen natьrlich gesagt, Sie sollen sich nix wissen
machen, wenn's heraus kommt. Waas?" sprudelte er plцtzlich ohne jede
Einleitung auf mich los und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Es lag etwas merkwьrdig Schreckhaftes in der Abgerissenheit, mit der er
von einer Sprechweise in die andere ьbergehen - von Schmeicheltцnen
blitzartig ins Brutale springen konnte, und ich hielt es fьr sehr
wahrscheinlich, daЯ die meisten Menschen, besonders Frauen, sich im
Handumdrehen in seiner Gewalt befinden muЯten, wenn er nur die geringste
Waffe gegen sie besaЯ.
Ich wollte auffahren, ihn am Hals packen und vor die Tьr setzen, war
mein erster Gedanke; dann ьberlegte ich, ob es nicht klьger sei, ihn
zuvцrderst einmal grьndlich auszuhorchen.
"Ich verstehe wahrhaftig nicht, was Sie meinen, Herr Wassertrum;" - ich
bemьhte mich, ein mцglichst dummes Gesicht zu machen - "Duksel? Was ist das:
Duksel?"
"Soll ich Ihnen vielleicht Deitsch lernen?", fuhr er mich grob an. "Die
Hand werden Sie aufheben mьssen bei Gericht, wenn's um die Wurscht geht.
Verstehen Sie mich?! Das sag ich Ihnen!" - Er fing an zu schreien: "Mir ins
Gesicht hinein werden Sie nicht abschwцren, daЯ ›sie‹ von da drьben" - er
deutete mit dem Daumen nach dem Atelier - "zu Ihnen heribber geloffen is mit
en Teppich an und - sonst nix!"
Die Wut stieg mir in die Augen; ich packte den Halunken an der Brust
und schьttelte ihn:
"Wenn Sie jetzt noch ein Wort in diesem Ton sagen, breche ich Ihnen die
Knochen im Leibe entzwei! Verstanden?"
Aschfahl sank er in den Stuhl zurьck und stotterte:
"Was is? Was is? Was wollen Sie? Ich mein' doch bloЯ."
Ich ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, um mich zu beruhigen.
Horchte nicht hin, was er alles zu seiner Entschuldigung herausgeiferte.
Dann setzte ich mich ihm dicht gegenьber, in der festen Absicht, die
Sache, soweit sie Angelina betraf, ein fьr allemal mit ihm ins reine zu
bringen und, sollte es im Frieden nicht gehen, ihn zu zwingen, endlich die
Feindseligkeiten zu erцffnen und seine paar schwachen Pfeile vorzeitig zu
verschieЯen.
Ohne seine Unterbrechungen im geringsten zu beachten, sagte ich ihm auf
den Kopf zu, daЯ Erpressungen irgendwelcher Art - ich betonte das Wort -
miЯglьcken mьЯten, da er auch nicht eine einzige Anschuldigung mit Beweisen
erhдrten kцnnte und ich mich einer Zeugenschaft (angenommen, es wдre
ьberhaupt im Bereiche der Mцglichkeit, daЯ es je zu einer solchen kдme) -
bestimmt zu entziehen wissen wьrde. Angelina stьnde mir viel zu nahe, als
daЯ ich sie nicht in der Stunde der Not retten wьrde, koste es, was es
wolle, sogar einen Meineid!
Jede Muskel in seinem Gesicht zuckte, seine Hasenscharte zog sich bis
zur Nase auseinander, er fletschte die Zдhne und kollerte wie ein Truthahn
mir immer wieder in die Rede hinein: "Will ich denn was von die Duksel? So
hцren Sie doch zu!" - Er war auЯer sich vor Ungeduld, daЯ ich mich nicht
beirren lieЯ. - "Um den Savioli is mir's zu tun, um den gottverfluchten
Hund, - den - den -", fuhr es ihm plцtzlich brьllend heraus.
Er japste nach Luft. Rasch hielt ich inne: endlich war er dort, wo ich
ihn haben wollte, aber schon hatte er sich gefaЯt und fixierte wieder meine
Weste.
"Hцren Sie zu, Pernath;" er zwang sich, die kьhle, abwдgende
Sprechweise eines Kaufmanns nachzuahmen, "Sie reden fort von der Duk - - von
der Dame. Gut! sie ist verheiratet. Gut: sie hat sich eingelassen mit dem -
mit dem jungen Lauser. Was hab' ich damit zu tun?" Er bewegte die Hдnde vor
meinem Gesicht hin und her, die Fingerspitzen zusammengedrьckt, als hielte
er eine Prise Salz darin - "soll sie sich das selber abmachen, die Duksel. -
Ich bin e Weltmann und Sie sin auch e Weltmann. Wir kennen doch das beide.
Waas? Ich will doch nur zu meinem Geld kommen. Verstehen Sie, Pernath?!"
Ich horchte erstaunt auf:
"Zu welchem Geld? Ist Ihnen denn Dr. Savioli etwas schuldig?"
Wassertrum wich aus:
"Abrechnungen hab' ich mit ihm. Das kommt doch auf eins heraus."
"Sie wollen ihn ermorden!" schrie ich.
Er sprang auf. Taumelte. Gluckste ein paarmal.
"Jawohl! Ermorden! Wie lange wollen Sie mir noch Komцdie vorspielen!"
Ich deutete auf die Tьr. "Schauen Sie, daЯ Sie hinauskommen."
Langsam griff er nach seinem Hut, setzte ihn auf und wandte sich zum
Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen und sagte mit einer Ruhe, deren ich
ihn nie fьr fдhig gehalten hдtte:
"Auch recht. Ich hab' Sie herauslassen wollen. Gut. Wenn nicht: Nicht.
Barmherzige Barbiere machen faule Wunden. Mein Zarbьchel ist voll. Wenn Sie
gescheit gewesen wдren -: der Savioli is Ihnen doch nur im Weg?! Jetzt -
mach - ich - mit - Ihnen allen dreien"
- er deutete mit einer Geste des
Erdrosselns an, womit er es meinte - "PreЯcolleeh".
Seine Mienen drьckten eine so satanische Grausamkeit aus und er schien
seiner Sache so sicher zu sein, daЯ mir das Blut in den Adern erstarrte. Er
muЯte eine Waffe in Hдnden haben, von der ich nichts ahnte, die auch
Charousek nicht kannte. Ich fьhlte den Boden unter mir wanken.
"Die Feile! Die Feile!" hцrte ich es in meinem Hirn flьstern. Ich
schдtzte die Entfernung ab: ein Schritt bis zum Tisch - zwei Schritte bis zu
Wassertrum - - ich wollte zuspringen - - - da stand wie aus dem Boden
gewachsen Hillel auf der Schwelle.
Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.
Ich sah nur - wie durch Nebel -, daЯ Hillel unbeweglich stehen blieb
und Wassertrum Schritt fьr Schritt bis an die Wand zurьckwich.
Dann hцrte ich Hillel sagen:
"Sie kennen doch, Aaron, den Satz: Alle Juden sind Bьrgen fьreinander?
Machen Sie's einem nicht zu schwer." - Er fьgte ein paar hebrдische Worte
hinzu, die ich nicht verstand.
"Was haben Sie das netig, an der Tьre zu schnьffeln?" geiferte der
Trцdler mit bebenden Lippen.
"Ob ich gehorcht habe oder nicht, braucht Sie nicht zu kьmmern!" -
wieder schloЯ Hillel mit einem hebrдischen Satz, der diesmal wie eine
Drohung klang. Ich erwartete, daЯ es zu einem Zank kommen wьrde, aber
Wassertrum antwortete nicht eine Silbe, ьberlegte einen Augenblick und ging
dann trotzig hinaus.
Gespannt blickte ich Hillel an. Er winkte mir zu, ich solle schweigen.
Offenbar wartete er auf irgend etwas, denn er horchte angestrengt auf den
Gang hinaus. Ich wollte die Tьre schlieЯen gehen: er hielt mich mit einer
ungeduldigen Handbewegung zurьck.
Wohl eine Minute verging, dann kamen die schleppenden Schritte des
Trцdlers wieder die Stufen herauf. Ohne ein Wort zu sprechen ging Hillel
hinaus und machte ihm Platz.
Wassertrum wartete, bis er auЯer Hцrweite war, dann knurrte er mich
verbissen an:
"Geben Se mer meine Uhr zorьck."

    Weib


Wo nur Charousek blieb?
Beinahe 24 Stunden waren vergangen, und noch immer lieЯ er sich nicht
blicken.
Sollte er das Zeichen vergessen haben, das wir verabredet hatten? Oder
sah er es vielleicht nicht?
Ich ging ans Fenster und richtete den Spiegel so, daЯ der Sonnenstrahl,
der darauf schien, genau auf das vergitterte Guckloch seiner Kellerwohnung
fiel.
Das Eingreifen Hillels - gestern - hatte mich ziemlich beruhigt.
Bestimmt wьrde er mich gewarnt haben, wenn eine Gefahr im Anzug wдre.
Ьberdies: Wassertrum konnte nichts von Belang mehr unternommen haben;
gleich, nachdem er mich verlassen hatte, war er in seinen Laden
zurьckgekehrt, - ich warf einen Blick hinunter: richtig, da lehnte er
unbeweglich hinter seinen Herdplatten, genau so, wie ich ihn schon
frьhmorgens gesehen - - -
Unertrдglich, das ewige Warten!
Die milde Frьhlingsluft, die durch das offene Fenster aus dem
Nebenzimmer hereinstrцmte, machte mich krank vor Sehnsucht.
Dies schmelzende Tropfen von den Dдchern! Und wie die feinen
Wasserschnьre im Sonnenlicht glдnzten!
Es zog mich hinaus an unsichtbaren Fдden. Voll Ungeduld ging ich in der
Stube auf und ab. Warf mich in einen Sessel. Stand wieder auf.
Dieses sьchtige Keimen einer Ungewissen Verliebtheit in meiner Brust,
es wollte nicht weichen.
Die ganze Nacht ьber hatte es mich gequдlt. Einmal war es Angelina
gewesen, die sich an mich geschmiegt, dann wieder sprach ich scheinbar ganz
harmlos mit Mirjam, und kaum hatte ich das Bild zerrissen, kam abermals
Angelina und kьЯte mich; ich roch den Duft ihres Haares, und ihr weicher
Zobelpelz kitzelte mich am Hals, rutschte von ihren entblцЯten Schultern -
und sie wurde zu Rosina, die mit trunkenen, halbgeschlossenen Augen tanzte -
im Frack - nackt; - - - und alles in einem Halbschlaf, der doch genau so
gewesen war wie Wachsein. Wie ein sьЯes, verzehrendes, dдmmeriges Wachsein.
Gegen Morgen stand dann mein Doppelgдnger an meinem Bett, der
schattenhafte Habal Garmin, "der Hauch der Knochen", von dem Hillel
gesprochen, - und ich sah ihm an den Augen an: er war in meiner Macht, muЯte
mir jede Frage beantworten, die ich ihm stellen wьrde nach irdischen oder
jenseitigen Dingen, und er wartete nur darauf, aber der Durst nach dem
Geheimnisvollen konnte nicht an gegen die Schwьle meines Blutes und
versickerte im dьrren Erdreich meines Verstandes. - Ich schickte das Phantom
weg, es solle zum Spiegelbild Angelinas werden, und es schrumpfte zusammen
zu dem Buchstaben "Aleph", wuchs wieder empor, stand da als das KoloЯweib,
splitternackt, wie ich es einstens im Buche Ibbur gesehen, mit dem Pulse
gleich einem Erdbeben, und beugte sich ьber mich, und ich atmete den
betдubenden Geruch ihres heiЯen Fleisches ein.
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Kam denn Charousek immer noch nicht? - Die Glocken sangen von den
Kirchtьrmen.
Eine Viertelstunde wollte ich noch warten - dann aber hinaus! Durch
belebte StraЯen voll festtдgig gekleideter Menschen schlendern, mich in das
frohe Gewimmel mischen in den Stadtteilen der Reichen, schцne Frauen sehen
mit koketten Gesichtern und schmalen Hдnden und FьЯen.
Vielleicht begegnete ich dabei Charousek zufдllig, entschuldigte ich
mich vor mir selbst.
Ich holte das altertьmliche Tarockspiel vom Bьcherbord, um mir die Zeit
rascher zu vertreiben. -
Vielleicht lieЯ sich aus den Bildern Anregung schцpfen zum Entwurf
einer Kamee?
Ich suchte nach dem Pagad.
Nicht zu finden. Wo konnte er hingeraten sein?
Ich blдtterte noch einmal die Karten durch und verlor mich in
Nachdenken ьber ihren verborgenen Sinn. Besonders der "Gehenkte", - was
konnte er nur bedeuten?:
Ein Mann hдngt an einem Seil zwischen Himmel und Erde, den Kopf nach
abwдrts, die Arme auf den Rьcken gebunden, den rechten Unterschenkel ьber
das linke Bein verschrдnkt, daЯ es aussieht wie ein Kreuz ьber einem
verkehrten Dreieck?
Unverstдndliches Gleichnis.
Da! - Endlich! Charousek kam.
Oder doch nicht?
Freudige Ьberraschung, es war Mirjam.
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"Wissen Sie, Mirjam, daЯ ich soeben zu Ihnen hinuntergehen wollte und
Sie bitten, eine Spazierfahrt mit mir zu machen?" Es war nicht ganz die
Wahrheit, aber ich machte mir weiter keine Gedanken darьber. - "Nicht wahr,
Sie schlagen es mir nicht ab?! Ich bin heute so unendlich froh im Herzen,
daЯ Sie, gerade Sie, Mirjam, meiner Freude die Krone aufsetzen mьssen."
"- spazierenfahren?", wiederholte sie derart verblьfft, daЯ ich laut
auflachen muЯte.
"Ist denn der Vorschlag gar so wunderbar?"
"Nein, nein, aber - -," sie suchte nach Worten, "unerhцrt merkwьrdig.
Spazierenfahren!"
"Durchaus nicht merkwьrdig, wenn Sie sich vorhalten, daЯ es
Hunderttausende von Menschen tun - eigentlich ihr ganzes Leben nichts
anderes tun."
"Ja, andere Menschen!" gab sie, immer noch vollstдndig ьberrumpelt, zu.
Ich faЯte ihre beiden Hдnde:
"Was andere Menschen an Freude erleben dьrfen, mцchte ich, daЯ Sie,
Mirjam, in noch unendlich viel reicherem MaЯe genieЯen."
Sie wurde plцtzlich leichenblaЯ, und ich sah an der starren Taubheit
ihres Blickes, woran sie dachte. Es gab mir einen Stich.
"Sie dьrfen es nicht immer mit sich herumtragen, Mirjam," redete ich
ihr zu, "das - das Wunder. Wollen Sie mir das nicht versprechen - aus - aus
Freundschaft?"
Sie hцrte die Angst aus meinen Worten und blickte mich erstaunt an.
"Wenn es Sie nicht so angriffe, kцnnte ich mich mit Ihnen freuen, aber
so? Wissen Sie, daЯ ich tief besorgt bin um Sie, Mirjam? - Um - um - wie
soll ich nur sagen? - um Ihre seelische Gesundheit! Fassen Sie es nicht
wцrtlich auf, aber -: ich wollte, das Wunder wдre nie geschehen."
Ich erwartete, sie wьrde mir widersprechen, aber sie nickte nur in
Gedanken versunken.
"Es verzehrt Sie. Habe ich nicht recht, Mirjam?" Sie raffte sich auf:
"Manchmal mцchte ich beinahe auch, es wдre nicht geschehen."
Es klang wie ein Hoffnungsstrahl fьr mich. - "Wenn ich mir denken
soll," sie sprach ganz langsam und traumverloren, "daЯ Zeiten kommen
kцnnten, wo ich ohne solche Wunder leben mьЯte - - -."
"Sie kцnnen doch ьber Nacht reich werden und brauchen dann nicht mehr
-," fuhr ich ihr unbedacht in die Rede, hielt aber rasch inne, als ich das
Entsetzen in ihrem Gesicht bemerkte, - "ich meine: Sie kцnnen plцtzlich auf
natьrliche Weise Ihrer Sorgen enthoben werden, und die Wunder, die Sie dann
erleben, wьrden geistiger Art sein: - innere Erlebnisse."
Sie schьttelte den Kopf und sagte hart: "Innere Erlebnisse sind keine
Wunder. Erstaunlich genug, daЯ es Menschen zu geben scheint, die ьberhaupt
keine haben. - Seit meiner Kindheit, Tag fьr Tag, Nacht fьr Nacht, erlebe
ich -" (sie brach mit einem Ruck ab, und ich erriet, daЯ noch etwas anderes
in ihr war, von dem sie mir nie gesprochen hatte, vielleicht das Weben
unsichtbarer Geschehnisse, дhnlich den meinigen) - "aber das gehцrt nicht
hierher. Selbst, wenn einer aufstьnde und machte Kranke gesund durch
Handauflegen, ich kцnnte es kein Wunder nennen. Erst, wenn der leblose Stoff
- die Erde - beseelt wird vom Geist und die Gesetze der Natur zerbrechen,
dann ist das geschehen, wonach ich mich sehne, seit ich denken kann. - Mir
hat einmal mein Vater gesagt: es gдbe zwei Seiten der Kabbala: eine magische
und eine abstrakte, die sich niemals zur Deckung bringen lieЯen. Wohl kцnne
die magische die abstrakte an sich ziehen, aber nie und nimmer umgekehrt.
Die magische ist ein Geschenk, die andere kann errungen werden, wenn auch
nur mit Hilfe eines Fьhrers." Sie nahm den ersten Faden wieder auf: "Das
Geschenk ist es, nach dem ich dьrste; was ich mir erringen kann, ist mir
gleichgьltig und wertlos wie Staub. Wenn ich mir denken soll, es kцnnten
Zeiten kommen, sagte ich vorhin, wo ich wieder ohne diese Wunder leben
mьЯte," - ich sah, wie sich ihre Finger krampften und Reue und Jammer
zerfleischten mich, - "ich glaube, ich sterbe jetzt schon angesichts der
bloЯen Mцglichkeit."
"Ist das der Grund, weshalb auch Sie wьnschten, das Wunder wдre nie
geschehen?", forschte ich.
"Nur zum Teil. Es ist noch etwas anderes da. Ich - ich - ", sie dachte
einen Augenblick nach, "war noch nicht reif dazu, ein Wunder in dieser Form
zu erleben. Das ist es. Wie soll ich es Ihnen erklдren? Nehmen Sie einmal
an, bloЯ als Beispiel, ich hдtte seit Jahren jede Nacht ein und denselben
Traum, der sich immer weiter fortspinnt und in dem mich jemand - sagen wir:
ein Bewohner einer andern Welt - belehrt und mir nicht nur an einem
Spiegelbilde von mir selbst und seinen allmдhlichen Verдnderungen zeigt, wie
weit ich von der magischen Reife, ein ›Wunder‹ erleben zu kцnnen, entfernt
bin, sondern: mir auch in Verstandesfragen, wie sie mich einmal tagsьber
beschдftigen, derart AufschluЯ gibt, daЯ ich es jederzeit nachprьfen kann.
Sie werden mich verstehen: Ein solches Wesen ersetzt einem an Glьck alles,
was sich auf Erden ausdenken lдЯt; es ist fьr mich die Brьcke, die mich mit
dem ›Drьben‹ verbindet, ist die Jakobsleiter, auf der ich mich ьber die
Dunkelheit des Alltags erheben kann ins Licht, - ist mir Fьhrer und Freund,
und alle meine Zuversicht, daЯ ich mich auf den dunkeln Wegen, die meine
Seele geht, nicht verirren kann in Wahnsinn und Finsternis, setze ich auf
›ihn‹, der mich noch nie belogen hat. - Da mit einem Mal, entgegen allem,
was er mir gesagt hat, kreuzt ein ›Wunder‹ mein Leben! Wem soll ich jetzt
glauben? War das, was mich die vielen Jahre ьber ununterbrochen erfьllt hat,
eine Tдuschung? Wenn ich daran zweifeln mьЯte, ich stьrzte kopfьber in einen
bodenlosen Abgrund. - Und doch ist das Wunder geschehen! Ich wьrde
aufjauchzen vor Freude, wenn -"
"Wenn - - -?" unterbrach ich sie atemlos. Vielleicht sprach sie selbst
das erlцsende Wort, und ich konnte ihr alles eingestehen.
"- wenn ich erfьhre, daЯ ich mich geirrt habe, - daЯ es gar kein Wunder
war! Aber ich weiЯ so genau, wie ich weiЯ, daЯ ich hier sitze, ich ginge
zugrunde daran"; (mir blieb das Herz stehen) - "zurьckgerissen werden, vom
Himmel wieder herab mьssen auf die Erde? Glauben Sie, daЯ das ein Mensch
ertragen kann?"
"Bitten Sie doch Ihren Vater um Hilfe", sagte ich ratlos vor Angst.
"Meinen Vater? Um Hilfe?" - sie blickte mich verstдndnislos an - "wo es
nur zwei Wege fьr mich gibt, kann er da einen dritten finden? - - Wissen
Sie, was die einzige Rettung fьr mich wдre? Wenn mir das geschдhe, was Ihnen
geschehen ist. Wenn ich in dieser Minute alles, was hinter mir liegt: mein
ganzes Leben bis zum heutigen Tag - vergessen kцnnte. - Ist es nicht
merkwьrdig: was Sie als Unglьck empfinden, wдre fьr mich das hцchste Glьck!"
Wir schwiegen beide noch eine lange Zeit. Dann ergriff sie plцtzlich
meine Hand und lдchelte. Beinahe frцhlich.
"Ich will nicht, daЯ Sie sich meinetwegen grдmen;" - (sie trцstete mich
- mich!) - "vorhin waren Sie so voll Freude und Glьck ьber den Frьhling
drauЯen, und jetzt sind Sie die Betrьbnis selbst. Ich hдtte Ihnen ьberhaupt
nichts sagen sollen. ReiЯen Sie es aus Ihrem Gedдchtnis und denken Sie
wieder so heiter wie vorhin! - Ich bin ja so froh -"
"Sie? Froh? Mirjam?", unterbrach ich sie bitter.
Sie machte ein ьberzeugtes Gesicht: "Ja! Wirklich! Froh! Als ich zu
Ihnen heraufging, war ich so unbeschreiblich дngstlich, - ich weiЯ nicht
warum: ich konnte das Gefьhl nicht loswerden, daЯ Sie in einer groЯen Gefahr
schweben", - ich horchte auf - "aber, statt mich darьber zu freuen, Sie
gesund und wohlauf zu treffen, habe ich Sie angeunkt und - -"
Ich zwang mich zur Lustigkeit: "und das kцnnen Sie nur gutmachen, wenn
Sie mit mir ausfahren." (Ich bemьhte mich, so viel Ьbermut wie mцglich in
meine Stimme zu legen:) "Ich mцchte doch einmal sehen, Mirjam, ob es mir
nicht gelingt, Ihnen die trьben Gedanken zu verscheuchen. Sagen Sie, was Sie
wollen: Sie sind noch lange kein дgyptischer Zauberer, sondern vorlдufig nur
ein junges Mдdchen, dem der Tauwind noch manchen bцsen Streich spielen
kann."
Sie wurde plцtzlich ganz lustig:
"Ja, was ist denn das heute mit Ihnen, Herr Pernath? So hab' ich Sie
noch nie gesehen! - Ьbrigens ›Tauwind‹: bei uns Judenmдdchen lenken
bekanntlich die Eltern den Tauwind, und wir haben nur zu gehorchen. Tuen es
natьrlich auch. Es steckt uns schon so im Blut. - Mir ja nicht", setzte sie
ernsthafter hinzu, "meine Mutter hat bцs gestreikt, als sie den grдЯlichen
Aaron Wassertrum heiraten sollte."
"Was? Ihre Mutter? Den Trцdler da unten?"
Mirjam nickte. "Gott sei Dank ist es nicht zustande gekommen. - Fьr den
armen Menschen freilich war es ein vernichtender Schlag."
"Armer Mensch, sagen Sie?" fuhr ich auf. "Der Kerl ist ein Verbrecher."
Sie wiegte nachdenklich den Kopf: "GewiЯ, er ist ein Verbrecher. Aber
wer in einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muЯ ein Prophet
sein."
Ich rьckte neugierig nдher;
"Wissen Sie Genaueres ьber ihn? Mich interessiert das. Aus ganz
besonderen - -"
"Wenn Sie einmal seinen Laden von innen gesehen hдtten, Herr Pernath,
wьЯten Sie sofort, wie es in seiner Seele ausschaut. Ich sage das, weil ich
als Kind sehr oft drin war. - Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ist denn
das so merkwьrdig? - Gegen mich war er immer freundlich und gьtig. Einmal
sogar, erinnere ich mich, schenkte er mir einen groЯen blitzenden Stein, der
mir besonders unter seinen Sachen gefallen hatte. Meine Mutter sagte, es sei
ein Brillant, und ich muЯte ihn natьrlich sofort zurьcktragen.
Erst wollte er ihn lange nicht wiedernehmen, aber dann riЯ er ihn mir
aus der Hand und warf ihn voll Wut weit von sich. Ich habe aber dennoch
gesehen, wie ihm dabei die Trдnen aus den Augen stьrzten; ich konnte auch
damals schon genug Hebrдisch, um zu verstehen, was er murmelte: ›Alles ist
verflucht, was meine Hand berьhrt.‹ - - Es war das letzte Mal, daЯ ich ihn
besuchen durfte. Nie wieder hat er mich seitdem aufgefordert, zu ihm zu
kommen. Ich weiЯ auch warum: Hдtte ich ihn nicht zu trцsten versucht, wдre
alles beim alten geblieben, so aber, weil er mir unendlich leid tat und ich
es ihm sagte, wollte er mich nicht mehr sehen. - - - Sie verstehen das
nicht, Herr Pernath? Es ist doch so einfach: er ist ein Besessener, - ein
Mensch, der sofort miЯtrauisch, unheilbar miЯtrauisch wird, wenn jemand an
sein Herz rьhrt. Er hдlt sich fьr noch viel hдЯlicher, als er in
Wirklichkeit ist, - wenn das ьberhaupt mцglich sein kann, und darin wurzelt
sein ganzes Denken und Handeln. Man sagt, seine Frau hдtte ihn gern gehabt,
vielleicht war es mehr Mitleid als Liebe, aber immerhin glaubten es sehr
viele Leute. Der einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen war, war er.
Ьberall wittert er Verrat und HaЯ.
Nur bei seinem Sohn machte er eine Ausnahme. Ob es daher kam, daЯ er
ihn vom Sдuglingsalter an hatte heranwachsen sehen, also das Keimen jeder
Eigenschaft von Urbeginn in dem Kinde sozusagen miterlebte und daher nie zu
einem Punkte gelangte, wo sein MiЯtrauen hдtte einsetzen kцnnen, oder ob es
im jьdischen Blute lag: alles, was an Liebesfдhigkeit in ihm lebte, auf
seinen Nachkommen auszugieЯen - in jener instinktiven Furcht unserer Rasse:
wir kцnnten aussterben und eine Mission nicht erfьllen, die wir vergessen
haben, die aber dunkel in uns fortlebt, - wer kann das wissen!
Mit einer Umsicht, die beinahe an Weisheit grenzte, und bei einem
unbelesenen Menschen, wie er, wunderbar ist, leitete er die Erziehung seines
Sohnes. Mit dem Scharfsinn eines Psychologen rдumte er dem Kinde jedes
Erlebnis aus dem Wege, das zur Entwicklung der Gewissenstдtigkeit hдtte
beitragen kцnnen, um ihm kьnftige seelische Leiden zu ersparen.
Er hielt ihm als Lehrer einen hervorragenden Gelehrten, der die Ansicht
verfocht, die Tiere seien empfindungslos und ihre SchmerzдuЯerung ein
mechanischer Reflex.
Aus jedem Geschцpf so viel Freude und GenuЯ fьr sich selbst
herauspressen, wie nur irgend mцglich, und dann die Schale sofort als
nutzlos wegzuwerfen: das war ungefдhr das Abc seines weitblickenden
Erziehungssystems.
DaЯ das Geld als Standarte und Schlьssel zur ›Macht‹ dabei eine erste
Rolle spielte, kцnnen Sie sich denken, Herr Pernath. Und so wie er selbst
den eigenen Reichtum sorgsam geheim hдlt, um die Grenzen seines Einflusses
in Dunkel zu hьllen, so ersann er sich ein Mittel, seinem Sohn Дhnliches zu
ermцglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines scheinbar дrmlichen Lebens
zu ersparen: er durchtrдnkte ihn mit der infernalischen Lьge von der
›Schцnheit‹, brachte ihm die дuЯere und innere Gebдrde der Дsthetik bei,
lehrte ihn дuЯerlich: die Lilie auf dem Felde heucheln und innerlich ein
Aasgeier sein.
Natьrlich war das mit der ›Schцnheit‹ wohl kaum eigene Erfindung von
ihm - vermutlich die ›Verbesserung‹ eines Ratschlags, den ihm ein Gebildeter
gegeben hatte.
DaЯ ihn sein Sohn spдter verleugnete, wo und wann er nur konnte, nahm
er niemals ьbel. Im Gegenteil, er machte es ihm zur Pflicht: denn seine
Liebe war selbstlos, und wie ich es schon einmal von meinem Vater sagte: -
von der Art, die ьbers Grab hinausgeht."
Mirjam schwieg einen Augenblick und ich sah ihr an, wie sie ihre
Gedanken stumm weiterspann, hцrte es an dem verдnderten Klang ihrer Stimme,
als sie sagte:
"Seltsame Frьchte wachsen auf dem Baume des Judentums."
"Sagen Sie, Mirjam," fragte ich, "haben Sie nie davon gehцrt, daЯ
Wassertrum eine Wachsfigur in seinem Laden stehen hat? Ich weiЯ nicht mehr,
wer es mir erzдhlt hat, - es war vielleicht nur ein Traum - -"
"Nein, nein, es ist schon richtig, Herr Pernath: eine lebensgroЯe
Wachsfigur steht in der Ecke, in der er, mitten unter dem tollsten Gerьmpel,
auf seinem Strohsack schlдft. Er hat sie vor Jahren einem Schaubudenbesitzer
abgewuchert, heiЯt es, bloЯ weil sie einem Mдdchen - einer Christin -
дhnlich sah, die angeblich einmal seine Geliebte gewesen sein soll."
"Charouseks Mutter!" drдngte es sich mir auf.
"Ihren Namen wissen Sie nicht, Mirjam?"
Mirjam schьttelte den Kopf. "Wenn Ihnen daran liegt, - soll ich mich
erkundigen?"
"Ach Gott, nein, Mirjam; es ist mir vollkommen gleichgьltig", (ich sah
an ihren blitzenden Augen, daЯ sie sich in Eifer geredet hatte. Sie durfte
nicht wieder zu sich kommen, nahm ich mir vor), "aber was mich viel mehr
interessiert, ist das Gebiet, von dem Sie vorhin flьchtig sprachen. Ich
meine das ›vom Tauwind‹. - Ihr Vater wьrde Ihnen doch gewiЯ nicht
vorschreiben, wen Sie heiraten sollen?"
Sie lachte lustig auf. "Mein Vater? Wo denken Sie hin!"
"Nun, das ist ein groЯes Glьck fьr mich."
"Wieso?" fragte sie arglos.
"Weil ich dann noch Chancen habe."
Es war nur ein Scherz, und sie nahm es auch nicht anders hin, aber doch
sprang sie rasch auf und ging ans Fenster, um mich nicht sehen zu lassen,
daЯ sie rot wurde.
Ich lenkte ein, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen:
"Das eine bitte ich mir aus als alter Freund: Mich mьssen Sie
einweihen, wenn's einmal so weit ist. - Oder gedenken Sie ьberhaupt ledig zu
bleiben?"
"Nein! nein! nein!" - sie wehrte so entschlossen ab, daЯ ich
unwillkьrlich lдchelte - "einmal muЯ ich ja doch heiraten."
"Natьrlich! Selbstverstдndlich!"
Sie wurde nervцs wie ein Backfisch.
"Kцnnen Sie denn nicht eine Minute ernsthaft bleiben, Herr Pernath?" -
Ich machte gehorsam ein Lehrergesicht, und sie setzte sich wieder. - "Also:
wenn ich sage, ich muЯ doch einmal heiraten, so meine ich damit, daЯ ich mir
zwar bis jetzt den Kopfьber die nдheren Umstдnde nicht zerbrochen habe, den
Sinn des Lebens aber gewiЯ nicht verstьnde, wenn ich annehmen wьrde, ich sei
als Weib auf die Welt gekommen, um kinderlos zu bleiben."
Das erste Mal, seit ich sie kannte, sah ich das Frauenhafte in ihren
Zьgen.
"Es gehцrt mit zu meinen Trдumen", fuhr sie leise fort, "mir
vorzustellen, daЯ es ein Endziel sei, wenn zwei Wesen zu einem verschmelzen,
- zu dem, was - - haben Sie nie von dem дgyptischen Osiriskult gehцrt? - zu
dem verschmelzen, was der ›Hermaphrodit‹ als Symbol bedeuten mag."
Ich horchte gespannt auf: "Der Hermaphrodit -?"
"Ich meine: Die magische Vereinigung von mдnnlich und weiblich im
Menschengeschlecht zu einem Halbgott. Als Endziel! - Nein, nicht als
Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist - kein Ende hat."
"Und hoffen Sie, dereinst denjenigen zu finden," fragte ich
erschьttert, "den Sie suchen? - Kann es nicht sein, daЯ er in einem fernen
Land lebt, vielleicht gar nicht auf Erden ist?"
"Davon weiЯ ich nichts"; sagte sie einfach, "ich kann nur warten. Wenn
er durch Zeit und Raum von mir getrennt ist, - was ich nicht glaube, weshalb
wдre ich dann hier im Getto angebunden? - oder durch die Klьfte
gegenseitigen Nichterkennens - und ich finde ihn nicht, dann hat mein Leben
keinen Zweck gehabt und war das gedankenlose Spiel eines idiotischen Dдmons.
- Aber, bitte, bitte, reden wir nicht mehr davon," flehte sie, "wenn man den
Gedanken nur ausspricht, bekommt er schon einen hдЯlichen, irdischen
Beigeschmack, und ich mцchte nicht -"
Sie brach plцtzlich ab.
"Was mцchten Sie nicht, Mirjam?"
Sie hob die Hand. Stand rasch auf und sagte:
"Sie bekommen Besuch, Herr Pernath!"
Seidenkleider raschelten auf dem Gang.
Ungestьmes Klopfen. Dann:
Angelina!
Mirjam wollte gehen; ich hielt sie zurьck:
"Darf ich vorstellen: die Tochter eines lieben Freundes - Frau Grдfin
-"
"Nicht einmal vorfahren kann man mehr. Ьberall das Pflaster
aufgerissen. Wann werden Sie einmal in eine menschenwьrdige Gegend siedeln,
Meister Pernath? DrauЯen schmilzt der Schnee und der Himmel jubelt, daЯ es
einem die Brust zersprengt, und Sie hocken hier in Ihrer Tropfsteingrotte
wie ein alter Frosch, - - ьbrigens wissen Sie, daЯ ich gestern bei meinem
Juwelier war und er gesagt hat: Sie seien der grцЯte Kьnstler, der feinste
Gemmenschneider, den es heute gibt, wenn nicht einer der grцЯten, die je
gelebt haben?!" - Angelina plauderte wie ein Wasserfall, und ich war
verzaubert. Sah nur mehr ihre strahlenden, blauen Augen, die kleinen FьЯe in
den winzigen Lackstiefeln, sah das kapriziцse Gesicht aus dem Wust von
Pelzwerk leuchten und die rosigen Ohrlдppchen.
Sie lieЯ sich kaum Zeit auszuatmen.
"An der Ecke steht mein Wagen. Ich hatte schon Angst, Sie nicht zu
Hause zu treffen. Sie haben doch hoffentlich noch nicht zu Mittag gegessen?
Wir fahren zuerst - ja, wohin fahren wir zuerst? Wir fahren zuerst einmal -
warten Sie - - ja: vielleicht in den Baumgarten, oder kurz: irgendwohin ins
Freie, wo man so recht das Keimen und heimliche Sprossen in der Luft ahnt.
Kommen Sie, kommen Sie, nehmen Sie Ihren Hut; und dann essen Sie bei mir, -
und dann schwдtzen wir bis abends. Nehmen Sie doch Ihren Hut! Worauf warten
Sie denn? - Eine warme, ganz weiche Decke ist unten: da wickeln wir uns ein
bis an die Ohren und kuscheln uns zusammen, bis uns siedheiЯ wird."
Was sollte ich nur sagen?! "Soeben habe ich mit der Tochter meines
Freundes eine Spazierfahrt verabredet - -"
Mirjam hatte sich bereits hastig von Angelina verabschiedet, noch ehe
ich aussprechen konnte.
Ich begleitete sie bis vor die Tьr, obschon sie mich freundlich
abwehren wollte.
"Hцren Sie mich an, Mirjam, ich kann es Ihnen hier auf der Treppe nicht
so sagen, wie ich an Ihnen hдnge - - und daЯ ich tausendmal lieber mit Ihnen
- -"
"Sie dьrfen die Dame nicht warten lassen, Herr Pernath," drдngte sie,
"adieu und viel Vergnьgen!"
Sie sagte es voll Herzlichkeit und unverstellt und echt, aber ich sah,
daЯ der Glanz in ihren Augen erloschen war.
Sie eilte die Treppe hinunter, und das Leid schnьrte mir die Kehle
zusammen.
Mir war, als hдtte ich eine Welt verloren.
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Wie im Rausch saЯ ich an Angelinas Seite. Wir fuhren in rasendem Trab
durch die menschenьberfьllten StraЯen.
Eine Brandung des Lebens rings um mich, daЯ ich, halb betдubt, nur noch
die kleinen Lichtflecke in dem Bilde, das an mir vorьberhuschte,
unterscheiden konnte: blitzende Juwelen in Ohrringen und Muffketten, blanke
Zylinderhьte, weiЯe Damenhandschuhe, einen Pudel mit rosa Halsschleife, der
klдffend in die Rдder beiЯen wollte, schдumende Rappen, die uns
entgegensausten in silbernen Geschirren, ein Ladenfenster, drin schimmernde
Schalen voll Perlschnьren und funkelnden Geschmeiden, - Seidenglanz um
schlanke Mдdchenhьften.
Der scharfe Wind, der uns ins Gesicht schnitt, lieЯ mich die Wдrme von
Angelinas Kцrper doppelt sinnverwirrend empfinden.
Die Schutzleute an den Kreuzungen sprangen respektvoll zur Seite, wenn
wir an ihnen vorьberjagten.
Dann ging's im Schritt ьber das Quai, das eine einzige Wagenreihe war,
an der eingestьrzten steinernen Brьcke vorbei, umstaut vom Gewьhl gaffender
Gesichter.
Ich blickte kaum hin: - das kleinste Wort aus dem Munde Angelinas, ihre
Wimpern, das eilige Spiel ihrer Lippen, - alles, alles war mir unendlich
viel wichtiger, als zuzusehen, wie die Felstrьmmer dort unten den
antaumelnden Eisschollen die Schultern entgegenstemmten. -
Parkwege. Dann - gestampfte, elastische Erde. Dann Laubrascheln unter
den Hufen der Pferde, nasse Luft, blдtterlose Baumriesen voll von
Krдhennestern, totes Wiesengrьn mit weiЯlichen Inseln schwindenden Schnees,
alles zog an mir vorbei wie getrдumt.
Nur mit ein paar kurzen Worten, fast gleichgьltig, kam Angelina auf Dr.
Savioli zu sprechen.
"Jetzt, wo die Gefahr vorьber ist", sagte sie mit entzьckender,
kindlicher Unbefangenheit, "und ich weiЯ, daЯ es ihm auch wieder besser
geht, kommt mir alles das, was ich mitgemacht habe, so grдЯlich langweilig
vor. - Ich will mich endlich einmal wieder freuen, die Augen zumachen und
untertauchen in dem glitzernden Schaum des Lebens. Ich glaube, alle Frauen
sind so. Sie gestehen es bloЯ nicht ein. Oder sie sind so dumm, daЯ sie es
selbst nicht wissen. Meinen Sie nicht auch?" Sie hцrte gar nicht hin, was
ich darauf antwortete. "Ьbrigens sind mir die Frauen vollstдndig
uninteressant. Sie dьrfen es natьrlich nicht als Schmeichelei auffassen:
aber - wahrhaftig, die bloЯe Nдhe eines sympathischen Mannes ist mir im
kleinen Finger lieber als das anregendste Gesprдch mit einer noch so
gescheiten Frau. Es ist ja schlieЯlich doch alles dummes Zeug, was man da
zusammenschwдtzt. - Hцchstens: das biЯchen Putz - na und! Die Moden wechseln
ja nicht gar so hдufig. - - Nicht wahr, ich bin leichtsinnig?", fragte sie
plцtzlich kokett, daЯ ich mich, bestrickt von ihrem Reiz, zusammennehmen
muЯte, nicht ihr Kцpfchen zwischen meine Hдnde zu nehmen und sie in den
Nacken zu kьssen, - "sagen Sie, daЯ ich leichtsinnig bin!"
Sie schmiegte sich noch dichter an und hдngte sich in mich ein.
Wir fuhren aus der Allee heraus an Bosketts entlang mit
strohumwickelten Zierstauden, die aussahen in ihren Hьllen wie Rьmpfe von
Ungeheuern mit abgehauenen Gliedern und Hдuptern.
Leute saЯen auf Bдnken in der Sonne und blickten hinter uns drein und
steckten die Kцpfe zusammen.
Wir schwiegen eine Weile und hingen unseren Gedanken nach. Wie war
Angelina doch so vollstдndig anders, als sie bisher in meiner Einbildung
gelebt hatte! - Als sei sie erst heute fьr mich in die Gegenwart gerьckt!
War das wirklich dieselbe Frau, die ich damals in der Domkirche
getrцstet hatte?
Ich konnte den Blick nicht wenden von ihrem halboffenen Mund.
Sie sprach noch immer kein Wort. Schien im Geiste ein Bild zu sehen.
Der Wagen bog ьber eine feuchte Wiese.
Es roch nach erwachender Erde.
"Wissen Sie, - - Frau - -?"
"Nennen Sie mich doch Angelina", unterbrach sie mich leise.
"Wissen Sie, Angelina, daЯ - daЯ ich heute die ganze Nacht von Ihnen
getrдumt habe?", stieЯ ich gepreЯt hervor.
Sie machte eine kleine rasche Bewegung, als wolle sie ihren Arm aus
meinem ziehen, und sah mich groЯ an. "Merkwьrdig! Und ich von Ihnen! - Und
in diesem Moment habe ich dasselbe gedacht."
Wieder stockte das Gesprдch, und beide errieten wir, daЯ wir auch
dasselbe getrдumt hatten.
Ich fьhlte es an dem Beben ihres Blutes. Ihr Arm zitterte kaum merklich
an meiner Brust. Sie blickte krampfhaft von mir weg aus dem Wagen hinaus. -
- -
Langsam zog ich ihre Hand an meine Lippen, streifte den weiЯen,
duftenden Handschuh zurьck, hцrte, wie ihr Atem heftig wurde, und preЯte
toll vor Liebe meine Zдhne in ihren Handballen.
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- - Stunden spдter ging ich wie ein Trunkener durch den Abendnebel
hinab der Stadt zu. Planlos wдhlte ich die StraЯen und ging lange, ohne es
zu wissen, im Kreise herum.