»Was ist mit denen, die sich ins Eis gefressen haben?«
   »Sie sind tot.«
   »Und wie tief kamen sie?«
   »Bis auf einen haben sich alle zur Gasblase durchgeschlagen.« Johanson sah Stone an, der ihn unter zusammengezogenen Brauen musterte. »Aber das lässt nur bedingt Rückschlüsse auf ihr Verhalten in freier Natur zu.
   Am Kontinentalhang sind die Hydratschichten über den Gasblasen dutzende bis hunderte von Metern dick. Die Schichten im Simulator messen eben mal zwei Meter. Bohrmann schätzt, dass keiner der Würmer tiefer als drei bis vier Meter kommen würde, aber das ist unter den gegebenen Umständen kaum zu verifizieren.«
   »Warum sterben die Würmer eigentlich?«, fragte Hvistendahl.
   »Sie brauchen Sauerstoff, und der wird in dem engen Loch knapp.«
   »Aber andere Würmer bohren sich doch auch in Böden«, warf Skaugen ein. Dann fügte er mit einem Grinsen hinzu: »Sie sehen, wir haben uns ein bisschen schlau gemacht, um nicht wie vollkommene Idioten vor Ihnen zu sitzen.«
   Johanson grinste zurück. Skaugen war nach seinem Geschmack. »Solche Tiere wühlen sich ins Sediment«, sagte er. »Und Sediment ist locker. Darin ist reichlich Sauerstoff vorhanden, und außerdem gräbt kaum ein Tier so tief. Methanhydrat dagegen ist, als ob Sie in Beton vorstoßen. Irgendwann werden Sie ersticken.«
   »Verstehe. Sind Ihnen sonst Tiere bekannt, die sich so verhalten?«
   »Selbstmordkandidaten?«
   »Ist es denn Selbstmord?«
   Johanson zuckte die Achseln. »Selbstmord setzt eine Absicht voraus. Würmer tragen sich nicht mit Absichten. Sie sind auf ihr Verhalten konditioniert.«
   »Gibt es überhaupt Tiere, die Suizid begehen?«
   »Klar gibt es Tiere, die so was tun«, sagte Stone. »Die verdammten Lemminge stürzen sich ins Meer.«
   »Tun sie nicht«, sagte Lund.
   »Natürlich tun sie das!«
   Lund legte ihm die Hand auf den Unterarm.
   »Du vergleichst Äpfel mit Birnen, Clifford. Man hat längere Zeit angenommen, Lemminge begingen kollektiven Suizid, weil es schick klang. Dann hat man sich die Sache nochmal näher angesehen und festgestellt, dass sie einfach bescheuert sind.«
   »Bescheuert?« Stone sah Johanson an. »Dr. Johanson, halten Sie es für eine gängige wissenschaftliche Erklärung, ein Tier als bescheuert zu bezeichnen?«
   »Sie sind bescheuert«, fuhr Lund ungerührt fort. »Wie auch Menschen bescheuert sind, wenn sie im Pulk auftreten. Die vorderen Lemminge sehen durchaus, dass da eine Klippe ist, aber von hinten wird gedrängelt wie bei einem Popkonzert. Sie schubsen einander so lange ins Meer, bis der Zug zur Ruhe gekommen ist.«
   Hvistendahl sagte: »Es gibt schon Tiere, die sich opfern. Altruismus ist das wohl.«
   »Ja, aber Altruismus ergibt immer einen Sinn«, erwiderte Johanson. »Bienen nehmen in Kauf, nach dem Stich zu sterben, weil der Stich dem Schutz des Volkes dient, beziehungsweise der Königin.«
   »Es lässt sich also keine irgend geartete Absicht im Verhalten der Würmer erkennen?«
   »Nein.«
   »Biologieunterricht«, seufzte Stone. »Du lieber Himmel! Ihr versucht aus diesen Würmern irgendwelche Monster zu machen, derentwegen man keine Fabrik auf den Meeresboden stellen kann. Das ist albern!«
   »Noch was«, sagte Johanson, ohne den Projektleiter zu beachten. »Geomar würde im Explorationsgebiet gern eigene Forschungen zu dem Thema betreiben. Natürlich im Schulterschluss mit Statoil.«
   »Interessant.« Skaugen beugte sich vor. »Wollen sie jemanden schicken?«
   »Ein Forschungsschiff. Die Sonne.«
   »Das ist nobel von ihnen, aber sie können ihre Forschungen von der Thorvaldson aus betreiben.«
   »Sie planen ohnehin eine Expedition. Außerdem ist die Sonne der Thorvaldson technisch voraus. Es geht ihnen hauptsächlich darum, einige Messergebnisse aus dem Tiefseesimulator zu überprüfen.«
   »Was für Messungen?«
   »Erhöhte Methankonzentrationen. Die Würmer haben durch ihre Bohrungen Gas freigesetzt, das ins Wasser gelangt ist. Außerdem möchten sie ein paar Zentner Hydrat ausbaggern. Samt Würmern. Sie wollen sich alles im größeren Maßstab ansehen.«
   Skaugen nickte und verschränkte die Finger.
   »Wir haben bis jetzt nur über Würmer gesprochen«, sagte er. »Haben Sie diese ominöse Videoaufnahme gesehen?«
   »Das Ding im Meer?«
   Skaugen lächelte dünn. »Das Ding? Klingt mir offen gestanden zu sehr nach Horrorstreifen. Was halten Sie davon?«
   »Ich weiß nicht, ob die Würmer und dieses … Wesen in Zusammenhang gebracht werden sollten.«
   »Und was denken Sie, was es ist?«
   »Keine Ahnung.«
   »Sie sind Biologe. Gibt es nicht irgendeine Antwort, die sich aufdrängt?«
   »Biolumineszenz. Tinas Nachbearbeitung des Materials lässt darauf schließen. Jedes größere bekannte Lebewesen fällt damit aus. Per se jedes Säugetier.«
   »Frau Lund erwähnte die Möglichkeit, wir hätten es mit einem Tiefseekalmar zu tun.«
   »Ja, das haben wir diskutiert«, sagte Johanson. »Aber es ist unwahrscheinlich. Körperfläche und Struktur lassen keinen derartigen Schluss zu. Außerdem vermuten wir die Architheuten in ganz anderen Regionen.«
   »Also was ist es dann?«
   »Ich weiß es nicht.«
   Schweigen breitete sich aus. Stone spielte nervös mit einem Kugelschreiber.
   »Darf ich fragen«, nahm Johanson die Unterhaltung in bedächtigem Tonfall wieder auf, »welche Art von Fabrik Sie eigentlich planen?«
   Skaugen warf Lund einen Blick zu. Sie zuckte die Achseln.
   »Ich habe Sigur erzählt, dass wir eine Unterwasseranlage ins Auge fassen. Und dass wir noch nicht definitiv wissen, ob es wirklich eine werden wird.«
   »Kennen Sie sich mit so was aus?«, fragte Skaugen an Johanson gewandt.
   »Ich kenne Subsis«, sagte Johanson. »Seit neuestem.«
   Hvistendahl hob die Brauen.
   »Das ist ja schon mal eine ganze Menge. Sie entwickeln sich zum Fachmann, Dr. Johanson. Wenn Sie noch zwei-, dreimal mit uns zusammensitzen …«
   »Subsis ist eine Vorstufe«, blaffte Stone. »Wir sind viel weiter als Subsis. Wir kommen tiefer, und die Sicherheitssysteme sind über jeden Zweifel erhaben.«
   »Das neue System stammt von FMC Kongsberg, das ist ein technischer Entwickler für Tiefseelösungen«, erläuterte Skaugen. »Es ist eine Weiterentwicklung von Subsis. Dass wir so etwas installieren wollen, ist eigentlich keine Frage. Unschlüssig sind wir, ob die Pipelines zu einer der bestehenden Plattformen oder direkt an Land führen werden. Immerhin hätten wir enorme Entfernungen und Höhenunterschiede zu überwinden.«
   »Gibt es nicht auch eine dritte Möglichkeit?«, fragte Johanson. »Direkt über der Fabrik schwimmt ein Produktionsschiff?«
   »Ja, aber so oder so ruht die Förderstation auf dem Grund«, sagte Hvistendahl.
   »Wie gesagt, wir wissen die Risiken einzuschätzen«, fuhr Skaugen fort, »solange es definierte Risiken sind. Mit den Würmern kommen Faktoren ins Spiel, die wir nicht kennen und nicht erklären können. Es mag, wie Clifford meint, übertrieben sein, wenn wir unseren Zeitplan aufs Spiel setzen, bloß weil wir eine neue Spezies nicht einordnen können oder irgendwas Unbekanntes durchs Bild schwimmt. Aber solange es keine Gewissheit gibt, müssen wir alles daransetzen, welche zu erlangen. — Sie sollen uns diese Entscheidung nicht abnehmen, Dr. Johanson, dennoch: Was würden Sie an unserer Stelle tun?«
   Johanson fühlte sich unbehaglich. Stone starrte ihn mit unverhohlener Feindseligkeit an. Hvistendahl und Skaugen wirkten interessiert, und Lunds Gesichtsausdruck war bar jeder Regung.
   Wir hätten uns vorher abstimmen sollen, dachte er.
   Aber Lund hatte nicht auf eine Abstimmung gedrängt. Vielleicht war es ihr lieber so. Vielleicht wollte sie, dass er dem Projekt fürs Erste den Riegel vorschob.
   Oder auch nicht.
   Johanson legte die Hände vor sich auf den Tisch. »Ich würde die Station grundsätzlich bauen«, sagte er.
   Skaugen und Lund starrten ihn verblüfft an. Hvistendahl runzelte die Stirn, während sich Stone mit triumphierendem Gesichtsausdruck zurücklehnte.
   Johanson ließ einen Moment verstreichen, dann fügte er hinzu: »Ich würde sie bauen, aber erst, nachdem Geomar weitere Untersuchungen durchgeführt und grünes Licht gegeben hat. Über die Kreatur auf dem Video werden wir kaum Aufschluss erlangen. Nessie lässt grüßen. Ich bin auch nicht sicher, ob sie uns beschäftigen sollte. Entscheidend ist, welche Auswirkungen das massenhafte Auftreten einer unbekannten, Hydrat fressenden Spezies auf die Stabilität der Kontinentalhänge und etwaige Bohrungen hat. Solange das nicht geklärt ist, empfehle ich, das Projekt auf Eis zu legen.«
   Stone kniff die Lippen zusammen. Lund lächelte. Skaugen wechselte einen Blick mit Hvistendahl. Dann sah er Johanson in die Augen und nickte.
   »Ich danke Ihnen, Dr. Johanson. Danke für Ihre Zeit.«
   Später, als er den Koffer im Geländewagen verstaut hatte und einen letzten Rundgang durchs Haus machte, schellte es an seiner Tür.
   Er öffnete. Draußen stand Lund. Es hatte zu regnen begonnen, und die Haare klebten ihr am Kopf.
   »Das war gut«, sagte sie.
   »War es das?« Johanson trat zur Seite, um sie ins Innere zu lassen. Sie kam herein, strich sich die nassen Strähnen aus der Stirn und nickte.
   »Skaugen hatte seine Entscheidung im Grunde schon gefällt. Er wollte deinen Segen.«
   »Wer bin ich, die Projekte Statoils abzusegnen?«
   »Ich sagte schon, du genießt einen ausgezeichneten Ruf. Aber Skaugen geht es um mehr. Er wird sich verantworten müssen, und jeder, der für Statoil arbeitet oder sonst wie mit dem Konzern verknüpft ist, muss als parteiisch gelten. Er wollte jemanden, der keine Karten in der Sache hat, und du bist nun mal Herr über jegliches Gewürm und denkbar uninteressiert am Bau irgendwelcher Fabriken.«
   »Skaugen hat also das Projekt auf Eis gelegt?«
   »Bis zur Klärung der Situation durch Geomar.«
   »Donnerwetter!«
   »Er mag dich übrigens.«
   »Ich ihn auch.«
   »Ja. Statoil kann sich glücklich schätzen, Leute wie ihn in der zu Spitze haben.« Sie stand in seiner Diele und ließ die Arme hängen. Für jemanden, der normalerweise ständig in Bewegung und voller Zielstrebigkeit war, wirkte sie seltsam unentschlossen. Ihre Augen suchten den Raum ab. »Wo ist eigentlich dein Gepäck?«
   »Wieso?«
   »Wolltest du nicht zum See?«
   »Das Gepäck ist im Wagen. Du hattest Glück, ich stand im Begriff, das Haus zu verlassen.« Er musterte sie. »Kann ich noch was für dich tun, bevor ich mich der Einsamkeit ergebe? Und ich werde fahren! Keine weiteren Aufschübe.«
   »Ich wollte dich nicht aufhalten. Ich wollte dir erzählen, was Skaugen entschieden hat, und …«
   »Das ist nett von dir.«
   »Und dich fragen, ob dein Angebot noch gilt.«
   »Welches?«, fragte er, obschon ihm klar war, was sie meinte.
   »Du hast vorgeschlagen, dass ich mitfahre.«
   Johanson lehnte sich gegen die Wand neben der Garderobe. Plötzlich sah er einen gewaltigen Berg Probleme auf sich zukommen.
   »Ich habe auch gefragt, was Kare dazu sagt.«
   Sie schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich muss niemanden um Erlaubnis fragen, wenn du das meinst.«
   »Nein, das meine ich nicht. Ich möchte nur nicht zu Missverständnissen beitragen.«
   »Du trägst zu gar nichts bei«, sagte sie trotzig. »Wenn ich mit zum See will, ist das einzig meine Entscheidung.«
   »Du weichst mir aus.«
   Wasser tropfte aus ihren Haaren und lief ihr übers Gesicht. »Warum hast du es dann überhaupt vorgeschlagen?«, fragte sie.
   Ja, warum, dachte Johanson.
   Weil ich es gerne hätte. Nur möglichst so, dass es nichts kaputtmacht. Er fühlte sich Kare Sverdrup gegenüber nicht im Mindesten verpflichtet. Aber Lunds plötzliche Bereitschaft, mit ihm zum See zu fahren, irritierte ihn. Vor Wochen noch hätte er sich keine Gedanken darüber gemacht. Sporadische Unternehmungen, Verabredungen zum Essen, all das war Teil ihres selbstironisch inszenierten Dauerflirts, ohne dass jemals etwas folgte. Das hier gehörte nicht zum Flirt.
   Mit einem Mal wusste er, was ihn störte. Im selben Moment wurde ihm auch klar, was Lund in den letzten Tagen so sehr beschäftigt haben musste.
   »Wenn ihr beide Ärger habt«, sagte er, »lass mich aus dem Spiel. Einverstanden? Du kannst mitkommen, aber ich bin nicht da, um Kare unter Druck zu setzen.«
   »Du interpretierst ein bisschen viel rein in die Sache.« Lund zuckte die Achseln. »Also gut. Vielleicht hast du Recht. Lassen wir’s.«
   »Ja.«
   »Besser so. Ich muss einfach ein bisschen nachdenken.«
   »Mach das.«
   Sie standen weiterhin unentschlossen in der Diele herum.
   »Also dann«, sagte Johanson. Er beugte sich vor, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schob sie sanft nach draußen auf die Straße. Dann schloss er die Haustüre hinter ihnen ab. Allmählich wurde es dämmrig. Es nieselte beständig. Er würde den größten Teil der Strecke im Dunkeln zurücklegen, aber es war ihm beinahe recht so. Er würde Sibelius’ Finlandia-Symphonie hören. Sibelius und die Dunkelheit. Das war gut.
   »Montag bist du wieder da?«, fragte Lund, während sie mit ihm zum Wagen ging.
   »Ich schätze, schon Sonntag Nachmittag.«
   »Wir können ja telefonieren.«
   »Sicher. Was hast du so vor?«
   Sie zuckte die Achseln. »Arbeit hätte ich genug.«
   Er verkniff sich eine weitere Frage nach Kare Sverdrup.
   Im selben Moment sagte Lund: »Kare ist übers Wochenende verreist. Zu seinen Eltern.«
   Johanson öffnete die Fahrertür und verharrte. »Du musst ja nicht immer nur arbeiten«, sagte er.
   Sie lächelte. »Nein. Natürlich nicht.«
   »Außerdem … könntest du gar nicht mitfahren. Du hast nichts dabei für ein Wochenende am See.«
   »Was braucht man denn?«
   »Gutes Schuhwerk vor allen Dingen. Und was Warmes zum Anziehen.«
   Lund sah an sich herunter. Sie trug Schnürstiefel mit dicken Sohlen. »Was braucht man noch?«, fragte sie. »Na ja. Wie gesagt, einen Pullover …« Johanson fuhr sich über den Bart »Einiges habe ich auch im Haus.«
   »Mhm. Weil man ja nie weiß.«
   »Richtig. Man weiß ja nie.«
   Er sah sie an. Dann musste er lachen.
   »Okay, Frau Kompliziert. Letzte Mitfahrgelegenheit.«
   »Ich und kompliziert?« Lund riss die Beifahrertür auf und grinste. »Das werden wir auf der Fahrt ausdiskutieren.«
   Als sie den unbefestigten Weg zur Hütte erreichten, war es bereits dunkel, und der Jeep rumpelte unter den Scherenschnitten der Bäume hindurch zum Ufer. Vor ihnen lag der See wie ein zweiter, in Wälder gebetteter Himmel. Die Oberfläche war voller Sterne, wo die Wolken sich auseinander geschoben hatten, während es unten in Trondheim wahrscheinlich immer noch regnete.
   Johanson brachte den Koffer ins Haus und trat neben Lund auf die Veranda. Die Bohlen knarrten leise. Jedes Mal aufs Neue fühlte er sich ergriffen von der Stille, die umso offenbarer wurde, weil sie voller Geräusche war: Rascheln, Zirpen und leises Knacken, der ferne Schrei eines Vogels, Bewegungen im Unterholz, Undeutbares. Eine kurze Verandatreppe führte auf eine Wiese, die zum Wasser hin sanft abfiel. Von dort erstreckte sich ein windschiefer Landungssteg. Das Boot am Ende, mit dem er manchmal zum Angeln hinausfuhr, lag reglos da.
   Lund sah hinaus. »Und das hast du alles für dich alleine?«, fragte sie.
   »Meistens.«
   Sie schwieg eine Weile. »Du musst ziemlich gut mit dir selber klarkommen, schätze ich.«
   Johanson lachte leise. »Wieso glaubst du das?«
   »Wenn du hier niemanden findest außer dich selber … ich meine, deine Gesellschaft muss dir angenehm sein.«
   »Oh ja. Ich kann hier draußen mit mir umspringen, wie ich will. Mich mögen, mich verabscheuen …«
   Sie wandte ihm den Kopf zu.
   »So was kommt vor? Dass du dich verabscheust?«
   »Selten. Und wenn, verabscheue ich mich dafür. Komm rein. Ich mache uns einen Risotto.«
   Sie gingen hinein.
   Johanson schnitt Zwiebeln in der kleinen Küche, dünstete sie in Olivenöl an und gab Riso di Carnaroli dazu, den venezianischen Risottoreis. Er wendete die Reiskörner mit einem Holzlöffel, bis sie sämtlich von Öl überzogen waren, goss kochenden Geflügelfond an und rührte weiter, damit die Masse nicht anbrannte. Zwischendurch schnitt er Steinpilze in Streifen, erhitzte sie in Butter und ließ sie auf kleiner Flamme brutzeln.
   Lund sah fasziniert zu. Johanson wusste, dass sie nicht kochen konnte. Sie brachte die Geduld nicht auf. Er entkorkte eine Flasche Rotwein, dekantierte ihn und füllte zwei Gläser. Das übliche Procedere. Es funktionierte immer. Es wurde gegessen, getrunken, geredet, zusammengerückt. Es folgte, was eben folgte, wenn ein alternder Bohémien und eine junge Frau an einen einsamen, romantischen Ort fuhren.
   Verdammte Automatismen!
   Warum zum Teufel hatte sie mitkommen wollen?
   Er hätte einiges darum gegeben, den Dingen an diesem Abend einfach ihren Lauf zu lassen. Lund saß am Küchenblock, trug einen seiner Pullover und wirkte so entspannt wie seit langem nicht mehr. Ihre Gesichtszüge hatten etwas ungewohnt Weiches angenommen. Johanson war irritiert. Er hatte sich oft einzureden versucht, dass sie eigentlich nicht sein Typ war, zu hektisch, zu nordisch mit ihren glatten, weißblonden Haaren und Augenbrauen. Jetzt musste er sich eingestehen, dass nichts von alledem zutraf.
   Du hättest ein schönes, ruhiges Wochenende verbringen können, dachte er. Aber du wolltest es ja unbedingt kompliziert haben, Idiot.
   Sie aßen in der Küche. Lund wurde mit jedem Glas ausgelassener. Sie alberten herum und öffneten eine weitere Flasche.
   Um Mitternacht sagte Johanson: »Es ist nicht wirklich kalt draußen. Lust auf eine Bootstour?«
   Sie stützte das Kinn in die Hände und grinste ihn an. »Mit Schwimmen?«
   »Würde ich an deiner Stelle bleiben lassen. Vielleicht in ein bis zwei Monaten. Dann ist es hier wärmer. Nein, wir fahren in die Mitte des Sees, nehmen die Flasche mit und …«
   Er machte eine Pause.
   »Und?«
   »Gucken uns die Sterne an.«
   Ihre Blicke blieben aneinander hängen. Jeder auf seiner Seite des Küchenblocks, die Arme aufgestützt, sahen sie einander an, und Johanson fühlte, wie sein innerer Widerstand zusammenbrach. Er hörte sich Dinge sagen, die er nicht hatte sagen wollen, sah sich sämtliche Register ziehen und die notwendigen Hebel und Schalter betätigen, um die Maschinerie in Gang zu setzen. Er weckte Erwartungen, bestärkte sich und Lund darin, zu tun, weswegen man nun mal gemeinsam an einen verlassenen See fuhr, wünschte sie zurück nach Trondheim und zugleich in seine Arme, rückte ihr näher, bis er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte, verfluchte den Lauf des Geschicks und konnte es zugleich kaum erwarten.
   »Gut. Dann mal los.«
   Draußen war es windstill. Sie liefen den Steg entlang und sprangen ins Boot, Es geriet ins Schaukeln, und Johanson ergriff ihren Arm. Er hätte laut auflachen können! Wie im Film, schoss es ihm durch den Kopf. Wie in einem gottverdammten Kitschfilm mit Meg Ryan. Beim Stolpern kommt man sich näher. Du liebe Güte.
   Es war ein kleines Holzboot, das ihm der ehemalige Besitzer des Hauses mitverkauft hatte. Der Bug war überplankt, um Stauraum zu schaffen. Lund setzte sich im Schneidersitz darauf, während Johanson den Außenborder startete. Das Motorengeräusch störte den Frieden keineswegs. Es fügte sich harmonisch ein in die wundersam belebte Nacht der Wälder, ein Tuckern und tiefes Brummen wie von einer überdimensionalen Hummel.
   Während der kurzen Fahrt fiel kein Wort. Schließlich drosselte Johanson den Motor und stellte ihn aus. Sie trieben ein gutes Stück vom Haus entfernt. Er hatte die Verandabeleuchtung angelassen, und sie spiegelte sich im ufernahen Wasser als kräuseliger Streifen. Hier und da erklang leises Plätschern, wenn ein Fisch an die Oberfläche schoss, um nach Insekten zu schnappen. Johanson balancierte zu Lund hinüber, in der Rechten die halb volle Flasche. Das Boot schaukelte sacht.
   »Wenn du dich auf den Rücken legst«, sagte er, »gehört das Universum dir. Mit allem, was drin ist. Versuch’s.«
   Sie sah ihn an. Im Dunkeln leuchteten ihre Augen. »Hast du schon mal Sternschnuppen hier gesehen?«
   »Ja. Mehrfach.«
   »Und? Hast du dir was gewünscht?«
   »Dafür mangelt es mir an romantischer Substanz.« Er ließ sich neben ihr auf den Planken nieder. »Ich habe es einfach genossen.«
   Lund kicherte. »Du glaubst an gar nichts, was?«
   »Und du?«
   »Ich bin die Letzte, die an so was glaubt.«
   »Ich weiß. Dir macht man keine Freude mit Blumen oder Sternschnuppen. Kare wird seine liebe Not haben. Das Romantischste, was man dir schenken kann, ist wahrscheinlich eine Stabilitätsanalyse für meerestechnische Konstruktionen.«
   Lund sah ihn weiter an. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und ließ sich langsam nach hinten sinken. Ihr Pullover rutschte hoch und gab ihren Bauchnabel frei. »Glaubst du das wirklich?«
   Johanson stützte sich auf den Ellenbogen und betrachtete sie. »Nein. Nicht wirklich.«
   »Du glaubst, ich bin unromantisch.«
   »Ich glaube, du hast dir noch keine Gedanken darüber gemacht, wie Romantik funktioniert.«
   Wieder hefteten sich ihre Blicke aneinander.
   Lange.
   Zu lange.
   Er fand seine Finger in ihrem Haar wieder, fuhr langsam durch die Strähnen. Sie sah zu ihm hoch.
   »Vielleicht zeigst du es mir«, flüsterte sie.
   Johanson beugte sich hinab, bis zwischen ihren Lippen nur noch eine dünne Schicht erhitzter Luft vibrierte. Sie schlang einen Arm um seinen Nacken. Ihre Augen waren geschlossen.
   Küssen. Jetzt.
   Tausend Geräusche und Gedanken flatterten durch Johansons Hirn, verdichteten sich zu einem Wirbel und zerrten an seiner Konzentration. Immer noch verharrten sie beide in angespannter Stellung, als müsse erst jemand ein Zeichen geben, ein Signal, eine Genehmigung, hier bitte, in doppelter Ausfertigung, eine für Sie, eine für Sie. Sie dürfen die Braut jetzt küssen, Sie dürfen jetzt leidenschaftlich werden, wirklich leidenschaftlich. Das sah schon nicht schlecht aus, aber jetzt glauben Sie bitte dran!
   Seien Sie leidenschaftlich, Mann!
   Was ist los?, dachte Johanson. Was stimmt hier nicht?
   Er spürte Lunds Körperwärme, nahm ihren Duft in sich auf, und es war ein köstlicher, wunderbarer, einladender Duft.
   Aber es war, als sei er im falschen Haus. Nicht an ihn erging diese Einladung.
   »Es funktioniert nicht«, sagte Lund im selben Moment.
   Einen Atemzug lang, auf der Kippe zwischen Kapitulation und trotzigem Beharren, fühlte sich Johanson, als sei er in eiskaltes Wasser gefallen. Dann verging der kurze Schmerz. Etwas erlosch. Der Rest von Glut verflüchtigte sich in der klaren Luft über dem See und machte ungeheurer Erleichterung Platz.
   »Du hast Recht«, sagte er.
   Sie lösten sich voneinander, langsam, widerstrebend, als hätten ihre Körper noch nicht begriffen, was die Köpfe längst ausgehandelt hatten. Johanson sah die Frage in ihren Augen, die sie wahrscheinlich auch in seinen las: Wie viel haben wir vermasselt? Kaputtgemacht? Für immer versaut?
   »Alles okay?«, fragte er.
   Lund antwortete nicht. Er setzte sich vor sie hin, mit dem Rücken zur Bootswand. Dann fiel ihm auf, dass er die Flasche noch umklammert hielt, und er reichte sie ihr.
   »Offenbar«, sagte er, »ist unsere Freundschaft zu stark für die Liebe.«
   Er wusste, dass es platt und pathetisch klang, aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Sie begann zu kichern, nervös zuerst, dann offensichtlich erleichtert. Griff nach der Flasche, nahm einen langen Schluck und lachte laut auf. Fuhr sich durchs Gesicht, als wollte sie dieses laute, unpassende Lachen wegwischen, aber es drang weiterhin dumpf zwischen ihren Fingern hindurch, und Johanson lachte schließlich mit.
   »Puh«, machte sie.
   Dann schwiegen sie eine ganze Weile.
   »Bist du sauer?«, fragte sie schließlich leise.
   »Nein. Du?«
   »Ich … nein, ich bin nicht sauer. Überhaupt nicht. Es ist nur …« Sie stockte. »Es ist alles so wirr. Auf der Thorvaldson, weißt du, der Abend in deiner Kabine. Eine Minute länger, und … ich meine, es hätte passieren können, aber heute …«
   Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und trank.
   »Nein«, sagte er. »Seien wir ehrlich, es wäre ebenso ausgegangen. Ganz genauso wie gerade.«
   »Woran liegt’s?«
   »Du liebst ihn.«
   Lund schlang die Arme um ihre Knie. »Kare?«
   »Wen sonst?«
   Sie starrte vor sich hin, eine ganze Zeit lang, und Johanson formte die Lippen wieder um den Flaschenhals, weil es nicht seine Aufgabe war, Tina Lund ihre Gefühle zu erklären.
   »Ich dachte, ich kann dem entkommen, Sigur.«
   Pause. Wenn sie eine Antwort erwartet, dachte er, wird sie lange warten müssen. Sie wird es von selber kapieren müssen.
   »Wir waren immer mal wieder so weit, du und ich«, sagte sie nach einer Weile. »Keiner von uns wollte sich binden, eigentlich ideale Voraussetzungen. — Aber wir haben die Option nie eingelöst. — Ich hatte zu keiner Zeit das Gefühl, es muss jetzt unbedingt sein, ich … ich war nie in dich verliebt. Ich wollte nie verliebt sein. Aber die Vorstellung, dass es irgendwann passiert, hatte ihren Reiz. Jeder lebt weiter sein Leben, keine Verpflichtung, keine Bindung. Ich war sogar überzeugt, dass es bald passieren würde, ich fand, dass es fällig war! — Und plötzlich kommt Kare daher, und ich denke: Mein Gott, das ist verbindlich! Alles oder nichts. Liebe ist verbindlich, und das hier ist …«
   »Das ist Liebe.«
   »Ich dachte eher, es ist was anderes. Wie Grippe. Ich konnte mich nicht mehr vernünftig auf meinen Job konzentrieren, ich war in Gedanken ständig woanders, ich hatte einfach das Gefühl, mir wird der Boden unter den Füßen weggezogen, und das passt nicht in mein Leben, das bin nicht ich.«
   »Und da hast du gedacht, bevor du die Kontrolle verlierst, löst du endlich die Option ein.«
   »Du bist ja doch sauer!«
   »Ich bin nicht sauer. Ich verstehe dich. Ich war auch nie in dich verliebt.« Er überlegte. »Begehrt habe ich dich. Übrigens erst richtig, seit du mit Kare zusammen bist. Aber ich bin ein alter Jäger, ich glaube, es war einfach ärgerlich, dass mir da einer die Beute streitig machte, es hat mich gefuchst und in meiner Eitelkeit gekränkt …« Er lachte leise. »Kennst du diesen wunderbaren Film mit Cher und Nicolas Cage? Mondsüchtig. Jemand fragt, warum wollen Männer mit Frauen schlafen? Und die Antwort ist: Weil sie Angst vor dem Tod haben. Mhm. Wie komme ich jetzt darauf?«
   »Weil alles mit Angst zu tun hat. Angst vor dem Alleinsein, Angst davor, nicht gefragt zu sein — aber schlimmer ist die Angst, wählen zu können und dich falsch zu entscheiden. So, dass du aus der Nummer nicht mehr rauskommst. Du und ich, wir würden nie etwas anderes als ein Verhältnis haben, und mit Kare … mit Kare könnte ich nie etwas anderes haben als eine Beziehung. Es brauchte nicht viel, dass mir das klar wurde. Du willst jemanden, den du eigentlich gar nicht kennst, du willst ihn um jeden Preis. Du bekommst ihn aber nur, wenn du sein Leben mitkaufst. Und plötzlich wirst du misstrauisch.«
   »Es könnte sich als Fehler herausstellen.«
   Sie nickte.
   »Warst du eigentlich je mit einem zusammen?«, fragte er. »So richtig, meine ich.«
   »Einmal«, erwiderte sie. »Ist schon was her.«
   »Dein Erster?«
   »Mhm.«
   »Was ist passiert?«
   »Es ist unoriginell, was passierte. Wirklich. Ich würde gerne mit was Wuchtigem aufwarten, aber Tatsache ist, dass er irgendwann Schluss machte und ich das heulende Elend bekam.«
   »Und danach?«
   Sie stützte das Kinn auf. Wie sie dort im Mondlicht saß, eine kleine, steile Falte zwischen den Brauen, sah sie wunderbar aus. Dennoch empfand Johanson nicht die Spur des Bedauerns. Weder, dass sie es versucht hatten, noch, wie es ausgegangen war.
   »Danach war ich jedes Mal diejenige, die es beendet hat.«
   »Racheengel.«
   »Quatsch. Nein, manchmal gingen mir die Kerle einfach auf die Nerven. Zu langsam, zu lieb, zu begriffsstutzig. Manchmal bin ich auch einfach weggelaufen, um mich in Sicherheit zu bringen, bevor … Du weißt ja, ich bin schnell.«
   »Lass uns kein schönes Haus bauen, denn es könnte ein Sturm kommen und es zerstören.«
   Lund verzog die Mundwinkel. »Ist mir zu elegisch.«
   »Mag sein. Aber es passt.«
   »Ja, passen tut’s schon.« Sie runzelte die Stirn. »Es gibt auch noch die andere Möglichkeit. Du baust das Haus, und bevor es jemand zerstören kann, zerstörst du es selber.«
   »Kare, das Haus.«
   »Ja. Kare, das Haus.«
   Irgendwo begann eine Grille zu zirpen. Ein ganzes Stück entfernt antwortete eine zweite.
   »Beinahe wäre es dir gelungen«, sagte Johanson. »Wenn wir heute miteinander geschlafen hätten, hättest du Grund genug gehabt, Kare den Laufpass zu geben.«
   Sie erwiderte nichts.
   »Glaubst du, du hättest dich selber dermaßen übertölpeln können?«
   »Ich hätte mir halt gesagt, dass es weit mehr meinem Lebensstil entspricht, mit dir ein Verhältnis zu haben, als eine Beziehung einzugehen, die mich auf Dauer lahm legt.
   Mit dir ins Bett zu gehen hätte das irgendwie … bestätigt.«
   »Du hättest dir die Bestätigung sozusagen ervögelt.«
   »Nein.« Sie funkelte ihn zornig an. »Ich war scharf auf dich, ob du’s glaubst oder nicht.«
   »Schon gut.«
   »Du bist kein Fluchthelfer, wenn du das meinst. Ich habe dich nicht einfach so …«
   »Schon gut, schon gut!« Johanson hob die Hände. »Du bist eben verliebt.«
   »Ja«, sagte sie mürrisch.
   »Nicht so widerwillig. Sag’s nochmal.«
   »Ja. Jaha!«
   »Schon besser.« Er grinste. »Und jetzt, wo wir dich von innen nach außen gekrempelt und gesehen haben, was du für ein Angsthase bist, sollten wir vielleicht den Rest der Flasche auf Kare leeren.«
   Sie grinste schiefmäulig zurück. »Ich weiß es nicht.«
   »Du bist dir immer noch nicht sicher?«
   »Mal mehr, mal weniger. Ich bin … durcheinander.«
   Johanson ließ die Flasche abwechselnd von einer Hand in die andere wandern. Dann sagte er:
   »Ich habe auch mal ein Haus niedergerissen, Tina. Ist Jahre her. Die Bewohner waren noch drin. Sie haben einigen Schaden genommen, aber später sind sie drüber weggekommen. — Einer von beiden jedenfalls. Ich weiß bis heute nicht, ob es richtig war.«
   »Wer war der andere Bewohner?«, fragte Lund.
   »Meine Frau.«
   Sie zog die Brauen hoch. »Du warst verheiratet?«
   »Ja.«
   »Davon hast du nie was erzählt.«
   »Ich habe manches nicht erzählt. Ich finde es ganz erquicklich, Dinge nicht zu erzählen.«
   »Was ist passiert?«
   »Was halt passiert.« Er zuckte die Achseln. »Du lässt dich wieder scheiden.«
   »Warum?«
   »Das ist es ja. Es gab keinen besonderen Grund. Keine bühnenreifen Dramen, keine fliegenden Teller. Nur das Gefühl, es könnte zu eng werden. Und in Wahrheit die Angst, es könnte … mich abhängig machen. Ich sah eine Familie auf mich zukommen, Kinder und einen sabbernden Köter im Vorgarten, ich sah mich Verantwortung übernehmen, und die Kinder und der Hund und die Verantwortung machten die Liebe Stück für Stück zunichte … Ich hielt es damals für sehr vernünftig, mich zu trennen.«
   »Und heute?«
   »Heute denke ich manchmal, dass es der vielleicht einzige Fehler war, den ich in meinem Leben gemacht habe.« Er sah versonnen aufs Wasser hinaus. Dann straffte er sich und hob die Flasche. »In diesem Sinne: Cheerio!
   Was immer du tun willst, tu es.«
   »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, flüsterte sie.
   »Lass dich nicht von der Angst einholen. Du hast Recht, du bist schnell. Sei schneller als die Angst.« Er sah sie an. »Ich war es damals nicht Alles, was du ohne Angst entscheidest, entscheidest du richtig.«
   Lund lächelte. Dann beugte sie sich vor und griff nach der Flasche.
   Erstaunlicherweise, wie Johanson fand, blieben sie dann doch das ganze Wochenende zusammen am See. In der Nacht ihrer verpatzten Romanze hatte er vermutet, sie werde tags drauf zurück nach Trondheim fahren wollen, aber so war es nicht. Etwas hatte sich geklärt. Dem ewigen Flirt war die Grundlage entzogen. Sie unternahmen Spaziergänge, schwatzten und lachten, verbannten die Welt samt allen Universitäten, Bohrinseln und Würmern aus ihren Köpfen, und Johanson kochte die besten Spaghetti Bolognese seines Lebens.
   Es war eines der schönsten Wochenenden am See, an die er sich erinnern konnte.
   Am Sonntagabend fuhren sie zurück. Johanson setzte Lund vor ihrer Haustür ab. Sie gaben sich einen Kuss im Schutz der Stadt, flüchtig und freundschaftlich. Für die Dauer einiger Herzschläge, als Johanson wenig später sein Haus in der Kirkegata betrat, empfand er zum ersten Mal seit Jahren wieder den Unterschied zwischen allein und einsam. Er ließ das Gefühl in der Diele zurück. Bis dorthin durften Selbstzweifel und Schwermut mitkommen. Keinen Schritt weiter.
   Er brachte den Koffer ins Schlafzimmer. Auch hier stand ein Fernseher, ebenso wie im Wohnraum. Johanson schaltete ihn ein und zappte so lange durch alle Kanäle, bis er die Aufzeichnung eines Konzerts aus der Royal Albert Hall erwischte. Kiri Te Kanawa sang Arien aus La Traviata. Johanson begann auszupacken, summte leise mit und machte sich unentschlossene Gedanken über die Natur seines obligatorischen Gutenachtdrinks.
   Nach einer Weile erklang keine Musik mehr.
   Über einigen Schwierigkeiten beim Falten eines Hemdes registrierte er nicht gleich, dass das Konzert zu Ende gegangen war. Er kämpfte mit einem widerspenstigen Ärmel, während im Hintergrund Nachrichten liefen.
   »… aus Chile bekannt geworden. Ob das Verschwinden der norwegischen Familie in Zusammenhang mit ähnlichen Vorfällen steht, die sich offenbar zur gleichen Zeit an den Küsten Perus und Argentiniens ereignet haben, wurde nicht bestätigt. Auch dort waren in den vergangenen Wochen mehrfach Fischerboote verschwunden oder später treibend gesichtet worden. Von den Besatzungen fehlt bis zur Stunde jede Spur. Die fünfköpfige Familie war bei ruhiger See und schönem Wetter an Bord eines Fischtrawlers zum Hochseeangeln hinausgefahren.«
   Ärmel rechts falten, nach innen klappen. Was war das da gerade gewesen im Fernsehen?
   »Costa Rica verzeichnet derweil eine Qualleninvasion ungewohnten Ausmaßes. Tausende sogenannter Staatsquallen der Gattung Portugiesische Galeere sind unter anderem dicht in Küstennähe aufgetaucht. Wie verlautet, kamen inzwischen vierzehn Menschen durch Begegnungen mit den hochgiftigen Tieren ums Leben, zahlreiche wurden verletzt, darunter auch zwei Engländer und ein Deutscher. Eine nicht bekannte Anzahl von Personen wird noch vermisst. Das costaricanische Fremdenverkehrsamt kündigte Krisensitzungen an, wies jedoch Meldungen, wonach die Strände für Touristen geschlossen werden sollen, zurück. Im Augenblick bestehe keine unmittelbare Gefahr für den Badebetrieb.«
   Johanson stand reglos da, den Ärmel in der Hand.
   »Diese Arschlöcher«, murmelte er. »Vierzehn Tote. Sie hätten längst alles abriegeln müssen.«
   »Auch vor der australischen Küste haben Schwärme von Quallen für Beunruhigung gesorgt. Insbesondere soll es sich dabei um Seewespen handeln, die ebenfalls als hochgiftig gelten. Die örtlichen Behörden warnen eindringlich davor, schwimmen zu gehen. In den letzten einhundert Jahren starben in Australien siebzig Menschen an den Folgen von Seewespengift, das sind mehr Tote als durch Haiattacken. — Schwere Unglücksfälle auf See mit Todesfolge sind unterdessen aus Westkanada bekannt geworden. Die genaue Ursache für den Untergang mehrerer Touristenschiffe ist bislang nicht bekannt. Möglicherweise fuhren die Schiffe aufgrund eines Navigationsversagens ineinander.«
   Johanson drehte sich um. Die Nachrichtensprecherin legte soeben ein Blatt aus der Hand und sah mit leerem Lächeln auf.
   »Und jetzt weitere Nachrichten vom Tage in unserem Überblick.«
   Portugiesische Galeeren, dachte Johanson.
   Er erinnerte sich an eine Frau auf Bali, die keuchend im Sand gelegen hatte, von Krämpfen geschüttelt. Er selber war mit dem Ding nicht in Berührung gekommen. Auch die Frau hatte die Galeere nicht berührt. Sie hatte beim Strandspaziergang etwas aus dem seichten Uferwasser gefischt mit einem Stock. Etwas, das ihr seltsam und von eigentümlicher Schönheit erschienen war, ein ätherisches, dahintreibendes Segel. Weil sie vorsichtig war, hatte sie darauf geachtet, Abstand zu wahren. Einige Male hatte sie es hin— und hergewendet, bis es mit Sand paniert seine Attraktivität und seinen Reiz verloren hatte, und dann war ihr dieser dumme Fehler unterlaufen …
   Portugiesische Galeeren gehörten zu den Staatsquallen, einer Spezies die der Wissenschaft immer noch Rätsel aufgab. Genau genommen war die Galeere nicht einmal eine klassische Qualle, sondern eine schwimmende Kolonie aus einer Vielzahl winziger Einzeltiere, Hunderte und Tausende Polypen mit unterschiedlichsten Aufgaben.
   Ihr blau oder purpurn schillerndes Gallertsegel, das gasgefüllt aus dem Wasser ragte, ermöglichte es der Kolonie, wie eine Yacht vor dem Wind zu segeln. Was unterhalb des Segels lag, sah man nicht.
   Aber man spürte es, sobald man hineingeriet.
   Denn Galeeren zogen einen Vorhang aus Tentakeln hinter sich her, die bis zu fünfzig Meter lang wurden, bestückt mit hunderttausenden winziger, fühlerbesetzter Nesselzellen. Aufbau und Funktion dieser Zellen stellten eine Meisterleistung der Evolution dar, ein hocheffizientes Waffenarsenal. Jede Zelle barg in ihrem Innern eine Kapsel mit einem zusammengerollten Schlauch, der in einer harpunengleichen Spitze mündete, nach innen gestülpt wie der Finger eines Handschuhs. Die leichteste Berührung setzte einen Vorgang von atemberaubender Präzision in Gang. Im Moment, da der Fühler den Kontakt registrierte, entrollte sich der Schlauch und schoss mit einem Druck von siebzig platzenden Autoreifen hervor. Tausende der widerhakenbesetzten Harpunen durchschlugen die Körperwand des Opfers wie subkutane Spritzen und injizierten ein Gemisch aus verschiedenen Eiweißen und Proteinen, das gleichzeitig Blutkörperchen und Nervenzellen angriff. Die Folge war eine sofortige Kontraktion der Muskulatur. Schmerzen wie von glühendem Metall, das sich ins Fleisch bohrte, Schockzustand, Atemstillstand, dann Herzversagen. Sofern man das Glück hatte, sich in Ufernähe zu befinden und sofort geborgen zu werden, überlebte man den Kontakt. Taucher und Schwimmer, die weiter draußen ins Gewirr der treibenden Tentakel gerieten, hatten kaum eine Chance.
   Der Frau auf Bali war nichts weiter geschehen, als dass ihr Zeh den Stock berührt hatte, an dem etwas von dem Nesselgift haftete. Selbst diese geringe Menge hatte ausgereicht, um sie die Begegnung nie wieder vergessen zu lassen. Dennoch war die Portugiesische Galeere harmlos, verglichen mit der Würfelqualle Chironex fleckeri, der australischen Seewespe.
   Die Natur hatte sich in der Evolutionsgeschichte zu beeindruckenden Leistungen der Giftmischerei aufgeschwungen. Im Falle der Seewespe hatte sie ihr Meisterstück abgeliefert. Das Gift eines einzigen Tiers reichte aus, um zweihundertfünfzig Menschen zu töten. Der hochwirksame Nervenblocker rief augenblickliche Bewusstlosigkeit hervor. Die meisten Opfer starben gleichzeitig durch Herzversagen und Ertrinken, innerhalb von Minuten und oft nur Sekunden.
   All das schoss Johanson durch den Kopf, als er den Fernseher anstarrte.
   Da verkaufte jemand die Leute für dumm. Vierzehn Todesopfer zuzüglich Verletzte in wenigen Wochen, hatte es das je vor einer Küste gegeben? Durch eine einzige Quallenart? Und was hatte diese andere Geschichte zu bedeuten, das Verschwinden von Schiffen?
   Portugiesische Galeeren vor Südamerika. Seewespen vor Australien. Borstenwurminvasionen vor Norwegen.
   Das muss nichts heißen, dachte er. Quallen traten häufig in Schwärmen auf, überall auf der Welt. Kein Hochsommer ohne Quallenplage. Würmer waren etwas völlig anderes.
   Er verräumte die letzten Kleidungsstücke, schaltete den Fernseher aus und ging ins Wohnzimmer, um eine CD einzulegen oder zu lesen.
   Aber Johanson legte keine CD ein, und er griff auch nach keinem Buch. Vielmehr ging er eine Weile hin und her, trat ans Fenster und sah hinaus auf die von Laternen erleuchtete Straße.
   Es war so friedlich gewesen am See.
   Es war friedlich in der Kirkegata.
   Wenn es zu friedlich wurde, war im Allgemeinen irgendetwas nicht in Ordnung.
   Blödsinn, dachte Johanson. Was hat die Kirkegata mit alldem zu tun?
   Er schüttete sich einen Grappa ein, nippte daran und versuchte, an etwas anderes zu denken als an die Nachrichtensendung.
   Jemand fiel ihm ein, den man anrufen könnte.
   Knut Olsen. Er arbeitete wie Johanson als Biologe an der NTNU. Johanson erinnerte sich, dass er eine Menge von Quallen, Korallen und Seeanemonen verstand. Außerdem konnte er Olsen fragen, was es mit den verschwundenen Booten auf sich hatte.
   Olsen meldete sich nach dem dritten Schellen.
   »Hast du schon geschlafen?«, fragte Johanson.
   »Die Kinder haben mich wach gehalten«, sagte Olsen. »Marie hatte Geburtstag, sie ist fünf geworden. Wie war’s am See?«
   Olsen war ein stets gut gelaunter Familienmensch, der ein bürgerlich dermaßen korrektes Leben führte, dass es Johanson grauste. Sie unternahmen privat nie etwas zusammen, sah man von Mittagspausen ab. Aber Olsen war ein guter Kerl und hatte Humor. Er musste Humor haben. Anders konnte es Johansons Ansicht nach kaum zu ertragen in mit fünf Kindern und Dutzenden omnipräsenter Verwandter.
   »Du solltest endlich mal mitkommen«, schlug er vor. Es war eine Floskel. Ebenso gut hätte er sagen können, du solltest endlich mal deinen Wagen in die Luft sprengen oder zwei deiner Kinder verkaufen.
   »Klar«, sagte Olsen. »Irgendwann gerne.«
   »Hast du die Nachrichten gesehen?«
   Eine kurze Pause entstand.
   »Du meinst wegen der Quallen?«
   »Bingo! Ich dachte mir, dass es dich beschäftigt. Was ist da los?«
   »Was soll los sein? Invasionen kommen immer vor. Frösche, Heuschrecken, Quallen …«
   »Ich meine speziell Portugiesische Galeeren und Seewespen.«
   »Das ist ungewöhnlich.«
   »Bist du sicher?«
   »Es ist ungewöhnlich, dass es die beiden gefährlichsten Quallenarten der Welt betrifft. Und das, was sie in den Nachrichten erzählen, klingt einfach sonderbar.«
   »Siebzig Tote in einhundert Jahren«, warf Johanson ein.
   »Blödsinn.« Olsen schnaubte geringschätzig.
   »Weniger?«
   »Mehr! Viel mehr, an die neunzig, wenn du den Golf von Bengalen und die Philippinen hinzurechnest, und von der Dunkelziffer wollen wir gar nicht erst reden. Natürlich hat Australien seit ewigen Zeiten Probleme mit dem Schleimzeug, gerade mit Seewespen. Sie laichen nördlich von Rockhampton in Flussmündungen. Fast alle Unfälle passieren im seichten Wasser. Innerhalb von drei Minuten bist du tot.«
   »Stimmt die Jahreszeit?«
   »Für Australien, ja. Oktober bis Mai. In Europa gehen einem die Biester immer dann auf den Sack, wenn es so heiß wird, dass du am Strand verreckst. Wir waren im vergangenen Jahr auf Menorca, und die Kinder kriegten sich kaum ein, weil tonnenweise Velella rumlag …«
   »Was lag rum?«
   »Velella velella. Segelquallen. Ganz hübsch, wenn sie nicht gerade in der Sonne vor sich hinstinken. Violette kleine Dinger. Der ganze Strand war lila, die haben sie mit Schaufeln und Harken in hunderte von Säcken gepackt, du machst dir keine Vorstellung, und im Meer schwammen ständig neue. Du weißt, ich bin ein Quallenfan, aber selbst mir war’s irgendwann zu viel. Ich hatte von morgens bis abends das Geplärre in den Ohren. Jedenfalls, in Europa haben wir die Quallenplage im August oder September, aber down under ist es natürlich umgekehrt. Was da vor Australien passiert, ist schon seltsam.«