»Jack. Nett, Sie zu sehen.«
   »Aber immer.« Vanderbilt grinste. »Liefern Sie denen eine schöne Show, Baby. Wenn keiner klatscht, strippen Sie. Mein Beifall ist Ihnen sicher.«
   Er fuhr sich über die schweißnasse Stirn, reckte augenzwinkernd einen Daumen und ließ sich neben Peak niedersinken. Li betrachtete ihn mit eingefrorenem Lächeln. Vanderbilt war Stellvertretender Direktor der CIA. Ein guter Mann, sehr gut sogar. Er würde der Behörde fehlen. Sie nahm sich vor, ihn hübsch langsam zu vernichten, wenn es so weit war. Noch hatte sie ein Stück Weg vor sich. Danach würde das fette Schwein quiekend auf der Straße liegen, wie brillant Jack Vanderbilt auch immer sein mochte.
   Der Raum füllte sich.
   Viele der Anwesenden kannten einander nicht, und die Einnahme der Plätze erfolgte schweigend. Li wartete geduldig, bis das Rascheln und Stühlerücken verklungen war. Sie spürte die allgemeine Anspannung. Die Stimmungslage eines jeden Einzelnen hätte sie beschreiben können, der Reihe nach, wie sie da saßen, nur durch einen kurzen Blick in die Augen. Li konnte in Seelen schauen, das hatte sie gelernt.
   Sie trat vor das Pult, lächelte und sagte: »Entspannen Sie sich.«
   Leises Murmeln durchlief die Reihen. Der eine oder andere schlug die Beine übereinander und lehnte sich steif zurück. Lediglich der gut aussehende norwegische Professor mit dem nachlässig drapierten Schal um den Hals hing beinahe gelangweilt in seinem Sitz. Hinter seiner Stirn schien ein anderer Film abzulaufen als in den Köpfen der Umsitzenden. Seine dunklen Augen ruhten auf Li. Sie versuchte, ihn einzuschätzen, aber Johanson blieb ihr verschlossen. Sie fragte sich, woran es lag. Der Mann hatte sein Haus verloren, er war mehr von der Katastrophe betroffen als irgendjemand sonst in diesem Raum. Er hätte deprimiert sein müssen, aber offenkundig war er es nicht. Es konnte nur einen Grund dafür geben. Johanson ging nicht davon aus, dass er heute etwas Neues erfahren würde. Er hatte seine eigene Theorie, und sie überwog Kummer und Verzweiflung. Entweder wusste er mehr als sie alle, oder er glaubte es zumindest.
   Sie würde den Norweger im Auge behalten.
   »Ich weiß, dass Sie unter enormem Druck stehen«, fuhr sie fort. »Und ich möchte Ihnen aufrichtig danken, dass Sie dieses Treffen möglich gemacht haben. Insbesondere den hier versammelten Wissenschaftlern möchte ich danken. Angesichts Ihrer Mitarbeit bin ich im Innersten sicher, dass wir die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit nun auch im Licht der Hoffnung betrachten dürfen. Sie geben uns Mut.«
   Li sprach die Worte ohne Pathos, freundlich und ruhig, und sah dabei jeden direkt an. Sie erfreute sich ungeteilter Aufmerksamkeit. Nur Vanderbilt entblößte seine Zähne und stocherte darin herum.
   »Viele von Ihnen werden sich fragen, warum wir dieses Treffen nicht im Pentagon abhalten, im Weißen Haus oder im kanadischen Regierungssitz. Nun, einerseits wollten wir Ihnen einen möglichst angenehmen Rahmen bieten. Die Vorzüge des Chateau Whistler sind legendär. Aber sein Hauptvorzug ist die Lage. Die Berge sind sicher. Die Küsten sind es nicht. Keine der küstennahen Städte Kanadas oder Amerikas, in denen man solche Treffen abhalten könnte, ist derzeit noch sicher.«
   Sie ließ ihren Blick über die Gesichter wandern.
   »Das ist der eine Grund. Der andere ist die Nähe zur Küste British Columbias. Wir haben es mit Verhaltensanomalien und Mutationen zu tun, es gibt einen Kontinentalhang mit Methanvorkommen … kurz, alles, was uns derzeit beschäftigt, kommt dort zusammen. Vom Chateau aus gelangen wir mit dem Helikopter in kürzester Zeit ans Meer und können eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen anfliegen, insbesondere das Nanaimo Institute. Schon vor Wochen haben wir im Chateau einen Stützpunkt eingerichtet, um das Verhalten der Meeressäuger zu beobachten. Angesichts der Entwicklungen in Europa haben wir uns entschlossen, den Stützpunkt zum Krisenzentrum für die ganze Welt auszubauen. Und das bestmögliche Krisenmanagement, ladies and gentlemen, sind Sie.«
   Sie ließ die Worte eine Weile wirken. Sie wollte, dass die Leute im Raum sich ihrer Bedeutung bewusst wurden. Es war gut, wenn sie ungeachtet der tragischen Begleitumstände einen gewissen Stolz entwickelten, einen Sinn fürs Elitäre. So widersinnig es klang — es half ihnen, nach draußen den Mund zu halten.
   »Der dritte Grund ist, dass wir hier ungestört sind. Das Chateau ist von den Medien vollkommen abgeschottet. Natürlich bleibt es nicht unbemerkt, wenn ein Hotel in exponierter Lage plötzlich dichtmacht und überall Militärhubschrauber kreisen. Aber es hat nie eine offizielle Verlautbarung gegeben, was wir hier oben eigentlich tun. Wenn man uns fragt, sprechen wir von einer Übung. Darüber kann man zwar eine Menge schreiben, aber nichts Konkretes, also schreibt man besser gar nichts.« Li machte eine Pause. »Man kann, man darf der Öffentlichkeit nicht alles offen legen. Panik wäre der Anfang vom Ende. Ruhe bewahren heißt, handlungsfähig zu bleiben. — Lassen Sie es mich ganz offen sagen: Das erste Opfer im Krieg ist immer die Wahrheit. Und wir sind im Krieg. In einem Krieg, den wir erst verstehen müssen, um ihn zu gewinnen. Dafür ist es erforderlich, eine Verpflichtung vor uns selber und der ganzen Menschheit einzugehen, was konkret heißt, dass Sie von nun an mit niemandem, nicht einmal mit Ihren engsten Familienangehörigen und Freunden, über Ihre Arbeit in diesem Stab sprechen dürfen. Jeder von Ihnen wird im Anschluss eine entsprechende Erklärung unterschreiben, deren Einhaltung wir überaus ernst nehmen. — Ich würde es begrüßen, wenn Sie etwaige Bedenken vor der Präsentation äußern. Denn natürlich ist jedem freigestellt, die Unterzeichnung einer solchen Erklärung abzulehnen. Niemandem erwächst daraus ein Nachteil. Aber dann sollte er jetzt den Raum verlassen und sich unverzüglich nach Hause fliegen lassen.«
   Innerlich schloss sie eine Wette mit sich ab. Niemand würde aufstehen und gehen. Aber eine Frage würde gestellt werden.
   Sie wartete.
   Jemand hob die Hand.
   Der Mann hieß Mick Rubin. Er stammte aus Manchester und war Biologe, ein Spezialist für Weichtiere.
   »Heißt das, wir können das Chateau nicht verlassen?«
   »Das Chateau ist kein Gefängnis«, sagte Li. »Sie können jederzeit gehen, wohin Sie wollen. Nur über Ihre Arbeit dürfen Sie nicht reden.«
   »Und wenn …« Rubin druckste herum.
   »Wenn Sie es doch tun?« Li setzte eine besorgte Miene auf. »Ich verstehe, dass Sie die Frage stellen müssen. Nun, wir würden jede Ihrer Äußerungen dementieren und sicherstellen, dass Sie die Erklärung kein weiteres Mal verletzen können.«
   »Und das … ähm … liegt in Ihrer Macht? Ich meine, Sie sind …«
   »Befugt? Den meisten von Ihnen dürfte bekannt sein, dass Deutschland vor drei Tagen eine Initiative ins Leben gerufen hat, um die aktuellen Vorfälle im Rahmen der Europäischen Union gemeinschaftlich zu untersuchen. Man hat sich darauf geeinigt, dem deutschen Innenminister den Vorsitz zu übertragen. Zugleich hat die NATO vorsorglich den Bündnisfall proklamiert. In Norwegen, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, Dänemark und auf den Färöern herrscht der Ausnahmezustand, teils national, teils in einzelnen Regionen. Auch Kanada und die USA kooperieren unter der Federführung der Vereinigten Staaten. Andere Länder würden sich gerne einbringen. Je nach Entwicklung der Weltlage ist nicht auszuschließen, dass die Vereinten Nationen demnächst eine Art Gesamtverantwortung übernehmen. Überall werden bestehende Regeln außer Kraft gesetzt und Kompetenzen neu verteilt. Angesichts der besonderen Situation — ja, wir sind befugt.«
   Rubin zupfte an seiner Unterlippe und nickte. Es kamen keine weiteren Fragen mehr.
   »Gut«, sagte Li. »Dann wollen wir beginnen. Major Peak, bitte.«
   Peak trat vor die Gruppe. Das Licht der Deckenbeleuchtung schimmerte auf seiner ebenholzfarbenen, wie poliert wirkenden Haut. Er drückte kurz den Sensor der Fernbedienung, und eine Satellitenaufnahme erschien auf dem Großbildschirm. Sie zeigte eine von Ortschaften gesäumte Küste aus beträchtlicher Höhe.
   »Vielleicht hat es woanders angefangen«, sagte er, »vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt. Aber wir sagen heute, es hat hier begonnen, in Peru. Der etwas größere Ort in der Mitte heißt Huanchaco.« Er leuchtete mit einem Laserpointer auf verschiedene Stellen im Meer. »Der Ort hat im Verlauf weniger Tage 22 Fischer verloren, und zwar bei ausnehmend schönem Wetter. Einige der Boote fand man später auf dem Meer treibend. Kurze Zeit später verschwanden auch Sportboote, Motoryachten und kleine Segelschiffe. Man stieß auf ein paar Trümmer. Wenn überhaupt.«
   Peak rief ein neues Bild auf.
   »Die Meere unterliegen ständiger Beobachtung«, fuhr er fort, »sie stecken voller Treibsonden und Roboter, die endlose Datenmengen funken über Strömungseigenschaften, Salzgehalt, Temperatur, Kohlendioxidgehalt und alles Mögliche sonst. Messstationen am Meeresgrund registrieren Wasser— und Stoffaustausch mit dem Sediment. Eine Flotte von Forschungsschiffen ist weltweit unterwegs, und wir haben Hunderte militärischer und ziviler Satelliten im All. Man sollte meinen, die Aufklärung von Schiffsverlusten stelle kein Problem dar, aber ganz so einfach ist es nicht. Unsere Weltraumspäher leiden nämlich wie alles, was Augen hat, unter dem berühmten blinden Fleck.«
   Die grafische Darstellung zeigte einen Teil der Erdoberfläche. Darüber hingen wie überdimensionale Insekten Satelliten unterschiedlicher Größe und Flughöhe.
   »Versuchen Sie gar nicht erst, im Gewirr der künstlichen Himmelskörper den Überblick zu behalten«, sagte Peak. »Es sind dreieinhalbtausend exorbitale Raumsonden wie Magellan oder Hubble nicht mit eingerechnet. Das meiste von dem, was da oben kreist, ist Schrott. Funktionstüchtig sind etwa 600 Objekte, auf die Sie teilweise Zugriff erhalten werden. Übrigens auch auf militärische Satelliten.«
   Den letzten Satz hörte sich Peak höchst ungern sagen. Er ließ den Laserpointer auf ein tonnenförmiges Objekt mit Sonnensegeln wandern.
   »Ein amerikanischer KH-12-Keyhole-Satellit, optische Bauweise. Liefert Ihnen bei Tag eine Auflösung von unter fünf Zentimetern. Kurz vor der individuellen Gesichtserkennung. Für Nachtaufnahmen zusätzlich mit Infrarot— und Multispektralsystemen ausgestattet, und leider völlig nutzlos bei Bewölkung.«
   Peak wies auf einen anderen Satelliten.
   »Viele Aufklärungssatelliten arbeiten darum mit Radar, beziehungsweise Mikrowellen. Für Radar sind Wolken kein Hindernis. Diese Satelliten fotografieren nicht, sondern modellieren die Welt zentimetergenau, indem sie deren Oberfläche abtasten und ein dreidimensionales Modell erstellen. — Aber auch hier gibt es wieder eine Achillesferse. Radarbilder bedürfen der Interpretation. Radar kennt keine Farben, blickt nicht durch Glas, seine Welt ist einzig die Form.«
   »Warum legt man die Technologien nicht zusammen?«, fragte Bohrmann.
   »Das geschieht, aber es ist aufwändig und selten. Im Grunde führt es uns zum Hauptproblem der ganzen Satellitenüberwachung. Um wenigstens einen Tag lang ein gesamtes Land abzudecken oder einen bestimmten Meeressektor, braucht man schon mehrere kooperierende Systeme, die in der Lage sind, große Flächen zu scannen. Sobald Sie auf detailscharfe Bilder einer eng gesteckten Region aus sind, müssen Sie Momentaufnahmen in Kauf nehmen. Satelliten befinden sich in Umlaufbahnen. Die meisten brauchen rund 90 Minuten, bis sie wieder über derselben Stelle stehen.«
   »Es gibt doch eine ganze Reihe von Satelliten, die immer über derselben Stelle stehen«, meldete sich ein finnischer Diplomat. »Könnten wir nicht welche davon über den kritischen Gebieten postieren?«
   »Zu hoch. Geostationäre Satelliten sind nur stabil in einer Höhe von exakt 35888 Kilometer. Das kleinste Detail, das Sie von dort erkennen, misst acht Kilometer. Sie würden nicht mal sehen, wenn Helgoland im Meer versinkt.« Peak machte eine Pause und fuhr fort: »Aber nachdem wir ahnten, wonach wir Ausschau halten müssen, begannen wir unsere Systeme entsprechend auszurichten.«
   Sie sahen eine Wasseroberfläche aus geringer Höhe. Sonnenlicht fiel schräg auf die Wellen und verlieh dem Meer die Oberflächenstruktur geriffelten Glases, mit kleinen Schiffen und winzigen, länglichen Gebilden darauf. Bei näherem Hinsehen erwiesen sie sich als bastfarbene Boote, auf denen jeweils eine Person hockte.
   »Ein Zoom von KH-12«, sagte Peak. »Das Schelfgebiet vor Huanchaco. An diesem Tag verschwanden mehrere Fischer. Die Reflektionen halten sich wegen der frühen Tageszeit in Grenzen, und das ist gut so, denn auf diese Weise konnten wir das hier abbilden.«
   Das nächste Bild zeigte auf weiter Fläche eine silbrige Aufhellung. Darüber hingen verloren zwei der bastfarbenen Boote.
   »Fische. Ein riesiger Schwarm. Sie schwimmen etwa drei Meter unter der Wasseroberfläche, also können wir sie sehen. Das Problem mit Meerwasser ist, dass es elektromagnetische Wellen kaum oder gar nicht leitet, aber unsere optischen Systeme schauen wenigstens ein Stück hinein, wenn das Wasser klar ist. Das Wärmebild eines Wals erfassen wir mit Infrarot noch bis in 30 Meter Tiefe. Darum hat das Militär den Infrarotbereich so lieb, weil er getauchte U-Boote sichtbar macht.«
   »Was sind das für Fische?«, rief eine junge schwarzhaarige Frau. Ihr Namensschild wies sie als Ökologin des Ministeriums für Umweltschutz aus Reykjavik aus. »Goldmakrelen?«
   »Vielleicht. Möglicherweise auch südamerikanische Sardinen.«
   »Es müssen Millionen sein. Erstaunlich. Meines Wissens ist vor Südamerika alles hoffnungslos überfischt.«
   »Sie haben Recht«, sagte Peak. »Auch dass wir diese Schwärme vielfach dort vorfinden, wo Schwimmer, Taucher oder kleine Fischerboote verschwinden, bereitet uns Kopfzerbrechen. Augenblicklich sprechen wir von Schwarmanomalien. Vor drei Monaten beispielsweise hat ein Heringsschwarm vor Norwegen einen 19 Meter langen Trawler versenkt.«
   »Davon habe ich gehört«, sagte die Ökologin. »Das Schiff hieß Steinholm, richtig?«
   Peak nickte. »Die Tiere gerieten ins Netz und schwammen unter dem Trawler hindurch, als die Besatzung ihren Fang gerade an Bord holen wollte. Das Schiff legte sich quer. Die Mannschaft versuchte die Leinen zu kappen, aber es half nichts. Sie mussten die Steinholm verlassen. Innerhalb von zehn Minuten war sie gesunken.«
   »Wir hatten wenig später einen ähnlichen Fall vor Island«, sagte die Ökologin nachdenklich. »Zwei Seeleute ertranken.«
   »Ich weiß. Alles kuriose Einzelfälle, sollte man meinen. Aber wenn wir die Einzelfälle weltweit zusammenrechnen, haben Fischschwärme in den letzten Wochen mehr Boote versenkt als je zuvor. Die einen sagen, Zufall. Die Schwärme kämpfen um ihr Überleben. Andere schauen auf den immer gleichen Ablauf und erkennen eine Art Strategie. Wir schließen nicht aus, dass sich die Tiere fangen lassen, weil sie die Schiffe zum Kentern bringen wollen.«
   »Das ist doch Blödsinn!«, rief ein Vertreter Russlands ungläubig. »Seit wann haben Fische einen Willen?«
   »Seit sie Trawler versenken«, erwiderte Peak knapp. »Im Atlantik tun sie das. Im Pazifik scheinen sie hingegen gelernt zu haben, die Netze zu umschwimmen. Wir haben nicht die geringste Vorstellung davon, wie sie das machen. Es legt den Schluss nahe, dass der Schwarm einen kognitiven Prozess durchläuft und plötzlich weiß, was ein Treibnetz oder ein Ringwadennetz ist und was es mit ihm tut. Aber selbst wenn etwas seine Lernfähigkeit derart heraufgesetzt hätte, mussten die Tiere außerdem einen Blick für die Abmessungen bekommen haben.«
   »Kein Fisch, kein Schwarm sieht ein Netz mit einer Öffnung von 110 Metern Höhe und 140 Metern Breite.«
   »Dennoch scheinen sie die Netze zu erkennen. Die Fischereiflotten jedenfalls beklagen gewaltige Einbußen. Die ganze Nahrungsmittelindustrie ist betroffen.« Peak räusperte sich. »Der zweite Grund für das Verschwinden von Schiffen und Menschen ist hinreichend bekannt. Aber es dauerte eine Weile, bis KH-12 einen solchen Vorgang dokumentieren konnte.«
   Anawak starrte auf den Bildschirm. Er wusste, was kam. Er hatte die Bilder schon gesehen und selber Material beigesteuert, aber sie schnürten ihm jedes Mal aufs Neue die Kehle zu.
   Er dachte an Susan Stringer.
   Die Aufnahmen waren so dicht aufeinander geschossen worden, dass sie fast wie eine Filmsequenz abliefen. Auf dem offenen Meer trieb eine Segelyacht von schätzungsweise zwölf Metern Länge. Es war windstill, die See spiegelglatt, das Segel eingeholt. Im Heck saßen zwei Männer, auf dem Vorderdeck lagen Frauen in der Sonne.
   Etwas Großes, Massiges schwamm dicht neben dem Boot vorbei, jede Einzelheit des riesigen Körpers war deutlich zu erkennen. Es war ein ausgewachsener Buckelwal. Zwei weitere folgten. Ihre Rücken durchbrachen die Wasseroberfläche, und einer der Männer stand auf und zeigte hinaus. Vorn hoben die Frauen die Köpfe.
   »Jetzt«, sagte Peak.
   Die Wale passierten das Boot. Backbord erschien etwas im tiefen Blau und gelangte näher an die Oberfläche. Es war ein weiterer Wal, der senkrecht nach oben schoss. Er stieg aus dem Wasser, die Flipper weit abgespreizt. Die Leute auf dem Boot wandten die Köpfe, verharrten gebannt.
   Der Körper kippte.
   Er schlug quer über das Segelboot und zerschmetterte es in zwei Teile. Trümmer wirbelten umher. Wie Puppen flogen die Menschen durch die Luft. Anawak sah den Mast brechen, dann sprang ein zweiter Wal auf das Wrack. Im Nu hatte sich die Idylle in ein aufgewühltes Inferno verwandelt. Das Boot sank. Bruchstücke trieben verloren in einem sich ausbreitenden Ring aus marmorierter Gischt. Von den Menschen war nichts mehr zu sehen.
   »Die wenigsten hier haben solche Attacken unmittelbar erlebt«, sagte Peak. »Darum die Demonstration. Mittlerweile beschränken sich die Angriffe nicht länger auf Kanada und die Vereinigten Staaten, sondern haben weltweit einen erheblichen Teil der Kleinschifffahrt lahm gelegt.«
   Anawak schloss die Augen.
   Wie musste es von oben ausgesehen haben, als die DHC-2 mit dem Buckelwal kollidiert war? Gab es auch darüber eine geisterhafte Chronik? Er hatte nicht den Mut aufgebracht, danach zu fragen. Die Vorstellung, dass ein teilnahmsloses, gläsernes Auge alles mit angesehen hatte, erschien ihm unerträglich.
   Wie als Antwort auf seine Gedanken sagte Peak:
   »Diese Art der Dokumentation mag Ihnen zynisch erscheinen, ladies and gentlemen. Aber wir sind keine Voyeure. Wo es uns möglich war, haben wir uns um sofortige Hilfe bemüht.« Er hob den Blick vom Bildschirm seines Laptops. Seine Augen waren ausdruckslos. »Leider kommt man in solchen Fällen grundsätzlich zu spät.«
   Peak war klar, dass er sich soeben auf dünnes Eis begab. Er deutete an, dass man nach Unglücksfällen Ausschau gehalten hatte, was die Frage aufwarf, warum man nicht bemüht gewesen war, sie zu verhindern.
   »Stellen wir uns die Ausbreitung der Attacken nach Art einer Epidemie vor«, sagte er, »dann hat diese Epidemie vor Vancouver Island begonnen. Die ersten nachgewiesenen Fälle ereigneten sich vor Tofino. Vielfach — so unwahrscheinlich es klingt — sind strategische Allianzen zu beobachten. Grauwale, Buckelwale, auch Finnwale, Pottwale und andere Großwale, greifen die Boote an. Die kleineren, schnelleren Orcas erledigen dann die im Wasser treibenden Menschen.«
   Der norwegische Professor hob die Hand.
   »Was bringt Sie zu der Annahme, es handele sich um eine Epidemie?«
   »Wir sagen nicht, dass es eine Epidemie ist, Dr. Johanson«, erwiderte Peak. »Sondern dass die Art der Ausbreitung epidemieartig zu verlaufen scheint. Von Tofino binnen weniger Stunden bis hinunter zur Baja California und hoch nach Alaska.«
   »Ich bin nicht sicher, dass sich da etwas ausbreitete.«
   »Augenscheinlich doch.«
   Johanson schüttelte den Kopf. »Worauf ich hinaus will, ist, dass uns diese Augenscheinlichkeit zu falschen Schlüssen verleiten könnte.«
   »Dr. Johanson«, sagte Peak geduldig, »wenn Sie dem Verlauf meiner Ausführungen mehr Zeit einräumen würden …«
   »Wäre es nicht möglich«, fuhr Johanson unbeirrt fort, »dass wir es mit einem zeitgleichen Vorgehen zu tun haben, das lediglich ein bisschen unsauber koordiniert war?«
   Peak sah ihn an.
   »Ja«, sagte er widerwillig. »Das wäre möglich.«
   Sie hatte es gewusst. Johanson bewegte seine eigene Theorie. Und Peak, der es nicht mochte, wenn Offiziere von Zivilisten unterbrochen wurden, hatte sich ärgern müssen.
   Li war amüsiert.
   Sie schlug die Beine übereinander, lehnte sich zurück und empfing einen fragenden Blick von Vanderbilt. Der CIA-Mann schien anzunehmen, sie habe Johanson im Vorfeld einiges erzählt. Sie sah zurück, schüttelte den Kopf und lauschte weiterhin Peaks Ausführungen.
   »Wir wissen«, sagte Peak gerade, »dass es sich bei den aggressiven Walen ausschließlich um Non-Residents handelt. Residents gehören sozusagen zum festen Repertoire einer Lokalität. Transients hingegen wandern über große Strecken, so wie Grauwale und Buckelwale, oder sie treiben sich auf hoher See herum wie Offshore-Orcas. Wir haben daraus — mit einiger Vorsicht — eine Theorie entwickelt: dass die Ursache für die Verhaltensänderung der Tiere weiter draußen zu finden ist, im offenen Meer.«
   Eine Weltkarte erschien. Sie zeigte, wo Angriffe durch Wale bekundet waren. Eine rote Schraffierung zog sich von Alaska bis Kap Horn. Weitere Gebiete erstreckten sich beiderseits des afrikanischen Kontinents und entlang Australiens. Dann verschwand die Karte und machte einer anderen Platz. Auch hier waren Küstenbereiche farbig unterlegt.
   »Insgesamt nimmt die Zahl meeresbewohnender Arten, deren Verhalten sich gezielt gegen den Menschen richtet, dramatisch zu. Vor Australien kumulieren Angriffe durch Haie, ebenso vor Südafrika. Niemand geht noch schwimmen oder fischen. Hainetze, die für gewöhnlich ausreichen, um die Tiere fern zu halten, hängen in Fetzen, ohne dass jemand verlässlich sagen könnte, was sie zerstört. Unsere optischen Systeme tragen wenig zur Aufklärung bei, und was Tauchroboter angeht, sind die Länder der Dritten Welt technisch unterrepräsentiert.«
   »An eine Häufung von Zufällen glauben Sie nicht?«, fragte ein deutscher Diplomat.
   Peak schüttelte den Kopf.
   »Das Erste, was Sie in der Navy lernen, Sir, ist, die Gefahr durch Haie richtig einzuschätzen. Die Tiere sind gefährlich, aber nicht grundsätzlich aggressiv. Wir schmecken ihnen nicht mal sonderlich. Die meisten Haie spucken einen Arm oder ein Bein sofort wieder aus.«
   »Wie tröstlich«, murmelte Johanson.
   »Aber diverse Arten scheinen ihre Meinung über den Wohlgeschmack von Menschenfleisch geändert zu haben. Innerhalb weniger Wochen hat sich die Zahl der Haiattacken verzehnfacht. Tausende von Blauhaien, eigentlich Hochseebewohner, dringen in Schelfregionen vor. Mako-, Weiß— und Hammerhaie treten rudelartig auf wie Wölfe, fallen über ein Küstengebiet her und richten innerhalb kürzester Zeit gewaltigen Schaden an.«
   »Schaden?«, fragte ein französischer Abgeordneter mit starkem Akzent. »Was heißt das? Todesfälle?«
   Was sonst, du Idiot, schien Peak zu denken.
   »Ja, Todesfälle«, sagte er. »Sie greifen auch Boote an.«
   »Mon Dieu! Was kann ein Hai gegen ein Boot ausrichten?«
   »Täuschen Sie sich nicht!« Peak lächelte dünn. »Ein ausgewachsener Weißhai ist durchaus in der Lage, ein kleines Boot durch Rammen oder Bisse zu versenken. Haiangriffe auf Flöße mit Schiffbrüchigen sind belegt. Wenn mehrere Tiere zugleich beteiligt sind, besteht kaum Hoffnung, den Angriff zu überleben.«
   Er zeigte das Bild eines hübsch aussehenden kleinen Kraken, dessen Oberfläche mit leuchtend blauen Ringen überzogen war.
   »Des Weiteren: Hapalochlaene Maculosa. Der Blaugefleckte Oktopus, 20 Zentimeter lang. Australien, Neuguinea, Salomonen. Eines der giftigsten Tiere der Welt. Injiziert beim Biss toxische Enzyme in die Wunde. Man merkt kaum etwas davon, aber nach zwei Stunden ist man mausetot.« Die Fotoserie setzte sich mit teils bizarr anmutenden Lebewesen fort. »Steinfische, Petermännchen, Drachenköpfe, Feuerwürmer, Kegelschnecken — es gibt jede Menge giftiger Tiere in den Meeren. In den meisten Fällen dienen die Toxide der Verteidigung. Über die Unfallhäufigkeit liegen mehr oder weniger aussagekräftige Erhebungen vor. Bei vielen der Tiere ist die Statistik allerdings nach oben geschnellt, und es gibt dafür einen simplen Grund: Arten, die sich vorher tarnten und versteckten, haben begonnen, uns anzugreifen.«
   Roche beugte sich zu Johanson hinüber. »Ob etwas, das einen Hai verändert, auch einen Krebs verändern kann?«, hörte Li ihn flüstern. »Was meinen Sie?« Johanson wandte ihm den Kopf zu. »Darauf können Sie Gift nehmen.«
   Peak berichtete von den unermesslich großen Quallenschwärmen, die sich zu einer wahren Invasion ausgewachsen hatten und Südamerika, Australien und Indonesien bedrohten. Johanson lauschte mit halb geschlossenen Augen. Die Portugiesische Galeere löste neuerdings einen toxischen Schock aus, der binnen Sekunden tötete.
   »Der Einfachheit halber unterteilen wir die Vorgänge in drei Kategorien«, sagte Peak. »Verhaltensänderungen, Mutationen, Umweltkatastrophen. Sie bedingen einander. Bis jetzt haben wir über anormales Verhalten gesprochen. Bei den Quallen scheinen vorwiegend Mutationen aufzutreten. Seewespen konnten immer schon navigieren, aber neuerdings sind sie zu wahren Meistern avanciert. Man gewinnt den Eindruck von Patrouillen. Es scheint, als wollten sie ganze Gebiete von jeder menschlichen Anwesenheit säubern, ohne dass man viel gegen sie ausrichten könnte. Der Tauchtourismus ist praktisch zum Erliegen gekommen, aber am schlimmsten leiden die Fischer.«
   Ein Fabrikschiff erschien von der Sorte, die den Fang gleich an Bord zu Konserven verarbeitete.
   »Das ist die Anthanea. Vor vierzehn Tagen zog die Mannschaft eine Riesenladung chironex flecken an Bord — Seewespen. Besser gesagt etwas, wovon wir glauben, dass es chironex ist oder gewesen sein könnte. Es war ein Fehler, den Fang nicht augenblicklich wieder ins Meer zu entlassen. Stattdessen öffneten sie die Netze, was zur Folge hatte, dass sich mehrere Tonnen pures Gift auf Deck entluden. Einige Arbeiter starben sofort, andere später, als sich die meterlangen, haardünnen Tentakel über das Schiff verteilten. An dem Tag hat es geregnet. Das Wasser trug die Bestandteile der Quallen überallhin. Keiner kann sagen, wie das Gift schließlich ins Trinkwasser gelangte, jedenfalls wurde die Anthanea praktisch entvölkert. Seitdem ist man vorsichtiger und hält spezielle Schutzkleidung bereit, aber es ändert nichts am grundsätzlichen Übel. In weiten Teilen der Welt fangen die Flotten jetzt keinen Fisch mehr, sondern Gift.«
   Sie fangen keinen Fisch mehr, weil keiner mehr da ist, dachte Johanson. Das hättest du der Ordnung halber erwähnen sollen, Peak. Auch wenn es nicht der eigentliche Grund für das ist, was geschieht.
   Oder vielleicht doch?
   Natürlich war es der Grund. Einer von zahllosen.
   Er dachte an die Würmer.
   Mutierte Organismen, die plötzlich zu wissen schienen, was sie taten. Sah niemand, was vor sich ging? Sie erlebten die Symptome einer Krankheit, deren Erreger in allem steckte und in nichts offenkundig wurde, eine meisterliche Camouflage. Der Mensch hatte das Meer bis auf ein paar kümmerliche Reste leer gefischt, und jetzt hatten die verbliebenen Schwärme gelernt, den Todesfallen aus dem Weg zu gehen, während an ihrer statt Armeen giftbewehrter Soldaten dem maroden Fischereigewerbe den Rest gaben.
   Das Meer tötete den Menschen.
   Und du hast Tina Lund getötet, dachte Johanson nüchtern. Du hast sie darin bestärkt, Kare Sverdrup nicht aufzugeben. Auf dich hat sie gehört, sonst wäre sie nicht nach Sveggesundet gefahren.
   War er schuld?
   Wie hätte er wissen sollen, was geschehen würde? In Stavanger wäre Lund vermutlich auch gestorben. Was, wenn er ihr geraten hätte, die nächste Maschine nach Hawaii zu nehmen oder nach Florenz? Würde er dann jetzt hier sitzen und sich etwas darauf einbilden, Tina Lund gerettet zu haben?
   Jeder von ihnen kämpfte gegen seinen persönlichen Dämon. Bohrmann quälte sich mit der Vorstellung, er hätte die Welt früher warnen sollen. Sicher hätte er das. Aber vor was? Vor einer Vermutung? Vor einem ominösen Zeitpunkt? Sie hatten auf Hochtouren daran gearbeitet, Gewissheit zu erlangen. Am Ende waren sie nicht schnell genug gewesen, aber sie hatten es immerhin versucht. Traf Bohrmann eine Schuld?
   Und Statoil? Finn Skaugen war tot. Er hatte sich am Hafen Stavangers aufgehalten, als die Welle kam. Mittlerweile sah Johanson den Ölmanager in einem anderen Licht. Skaugen war ein Manipulator gewesen. Er hatte sich darin gefallen, das gute Gewissen einer bösen Branche zu verkörpern, aber hatte er die richtigen Schritte unternommen? Auch Clifford Stone war der Katastrophe zum Opfer gefallen, aber war er wirklich das berechnende Monster gewesen, als das Skaugen ihn gebrandmarkt hatte?
   Würmer, Quallen, Wale, Haie.
   Intelligente Fische. Allianzen. Strategien.
   Johanson dachte an sein zerstörtes Haus in Trondheim. Seltsamerweise bedrückte ihn der Umstand, es verloren zu haben, wenig. Sein wahres Zuhause lag woanders, am Rand des Spiegels, der bei klarer Nacht das Universum in sich trug. Dort hatte er sich selbst erblickt und sich ein Refugium des Schönen und Wahrhaftigen geschaffen. Die Hütte war seine ureigene Schöpfung, die Verkörperung seiner selbst. Sie barg, was in einem Mietshaus niemals hätte heimisch werden können. Er war nicht mehr dort gewesen seit dem Wochenende mit Tina.
   Hatte sich auch dort etwas verändert?
   Der See war ein friedliches Gewässer. Dennoch machte ihm der Gedanke zu schaffen. Er würde hinfahren und nachsehen müssen, sobald es ging. Ganz gleich, wie viel Arbeit auf ihn zukam.
   Peak rief ein neues Bild auf.
   Ein Hummer. Nein, Reste eines Hummers. Das Tier sah aus, als sei es explodiert.
   »Hollywood würde es den Boten des Grauens nennen«, sagte Peak mit schiefem Grinsen. »In diesem Fall trifft die Bezeichnung den Nagel auf den Kopf. In Mitteleuropa breitet sich eine Epidemie aus, deren Ursache in Tieren wie diesem steckt. Wir verdanken es Dr. Roche, dass der blinde Passagier weitgehend identifiziert ist. Der Gattung nach handelt es sich um eine einzellige Alge namens Pfiesteria piscicida. Eine von rund 60 bekannten Dinoflagellaten-Spezies, die als toxisch gelten. Pfiesteria ist unter den Killeralgen die schlimmste. Wir haben an der Ostküste der Vereinigten Staaten, insbesondere in den Küstengewässern North Carolinas, schon vor Jahren verheerende Erfahrungen damit gemacht, als Pfiesteria Milliarden Fische tötete. Ihre Kadaver trieben zu Schwärmen an der Wasseroberfläche, mit offenen, angefressenen Wunden. Für die Fischer ein wirtschaftliches Desaster, aber auch ein gesundheitliches. Viele klagten über Bewusstseinsstörungen, bekamen blutige Geschwüre an Armen und Beinen und mussten ihren Job aufgeben. Wissenschaftler, die Pfiesteria untersuchten, erlitten nachhaltige Gesundheitsschäden.«
   Er ließ eine kurze Pause verstreichen. »1990 reinigte ein Erforscher der Alge, Howard Glasgow, in einem speziell dafür eingerichteten Labor der Universität von North Carolina Aquarien, als plötzlich etwas höchst Absonderliches mit ihm geschah. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, aber sein Körper bewegte sich wie in Zeitlupe. Die Glieder versagten den Dienst. Seine Erkrankung war das erste Indiz dafür, dass Pfiesteria-Toxine auch in die Luft gelangen können, also verfrachtete Glasgow die Organismen in ein gesichertes Labor. Dummerweise hatten Bauarbeiter dort einen Lüftungsschacht verkehrt eingebaut und direkt mit Glasgows Büro verbunden. Er atmete die giftige Luft sechs Monate lang ein, ohne es zu wissen. Seine Kopfschmerzen wurden so stark, dass er kaum in der Lage war zu arbeiten. Sein Gleichgewichtssinn setzte aus. Leber und Nieren begannen sich zu zersetzen. Wenn er mit jemandem telefonierte, wusste er fünf Minuten später nichts mehr davon. Er irrte in der Stadt herum und fand nicht mehr nach Hause, vergaß seine Telefonnummer und seinen Namen. Für die meisten stand fest, dass er entweder an einem Hirntumor litt oder an Alzheimer, aber Glasgow wollte nichts davon hören. Schließlich ließ er sich an der Duke University verschiedenen Tests unterziehen, die in der Tat etwas völlig anderes ergaben — sein Nervensystem war über Monate hinweg einem chemischen Angriff ausgesetzt gewesen. Andere Forscher, die mit Pfiesteria in Kontakt gerieten, erkrankten später an Lungenentzündung und chronischer Bronchitis. Und alle verloren langsam, aber sicher ihr Gedächtnis. Sie verloren es an einen Organismus, der nicht zu begreifen ist.«
   Peak präsentierte eine Reihe elektronenmikroskopischer Aufnahmen. Sie zeigten unterschiedliche Lebensformen. Manche sahen aus wie Amöben mit sternförmigen Auswüchsen, andere glichen schuppigen oder haarigen Kugeln, wieder andere Hamburgern, zwischen deren Hälften sich spiralige Tentakel wanden.
   »Das alles ist Pfiesteria«, sagte Peak. »Die Alge verändert innerhalb von Minuten ihr Aussehen, sie kann auf das Zehnfache anwachsen, sich in Zysten verpuppen, daraus hervorbrechen und von einem harmlosen Einzeller zu einer hochtoxischen Zoospore mutieren. Bis zu vierundzwanzig verschiedene Formen nimmt Pfiesteria an, und jedes Mal verändert sie dabei ihre Eigenschaften. Mittlerweile ist es gelungen, die Toxide zu isolieren. Dr. Roche und sein Team arbeiten auf Hochtouren an der Entschlüsselung, allerdings haben sie es schwerer als die Forscher hierzulande. Das Wesen, das in die Kanalisation gelangte, scheint nämlich gar nicht Pfiesteria piscicida zu sein, sondern eine ungleich gefährlichere Abart. Pfiesteria piscicida heißt in wörtlicher Übersetzung Fisch fressende Pfiesterie. Dr. Roche hat das von ihm entdeckte Exemplar Pfiesteria homicida getauft — Menschen fressende Pfiesterie.«
   Peak erläuterte die Schwierigkeiten, der Alge Herr zu werden. Der neue Organismus schien es darauf anzulegen, sich in Zyklen explosionsartig zu vermehren. Einmal in den Wasserkreislauf geraten, wurde man ihn nicht wieder los. Er sickerte ins Erdreich und sonderte sein Gift ab, das kaum herauszufiltern war. Genau hier lag das Problem. Viele der Opfer wurden von Pfiesteria regelrecht angefressen. Sie bekamen schwärende Wunden am ganzen Körper, die nicht verheilten, sondern sich entzündeten und vereiterten. Aber schlimmer war das Gift. So verzweifelt die Behörden bemüht waren, Kanäle und Wasserleitungen zu reinigen, konnten sie doch nicht verhindern, dass sich der Organismus woanders wieder ausbreitete. Man versuchte ihm mit Hitze und Säuren beizukommen, mit chemischen Keulen, aber natürlich konnte der Sinn solcher Aktionen nicht darin bestehen, ein Übel durch das andere zu ersetzen.
   Von alldem zeigte sich Pfiesteria homicida weitestgehend unbeeindruckt.
   Pfiesteria piscicida hatte das Nervensystem geschädigt. Die neue Art attackierte es mit einer Aggressivität, dass man binnen Stunden gelähmt war, ins Koma fiel und starb. Nur wenige Menschen schienen resistent zu sein. Nachdem Roche den toxischen Code bislang nicht hatte entschlüsseln können, hoffte man auf die Dekodierung dieser Resistenz, doch dem Team lief die Zeit davon. Die Übertragung der Krankheit schien sich jeder Eindämmung entzogen zu haben.
   »Die Alge ist in einem Trojanischen Pferd gekommen«, sagte Peak. »Im Innern von Schalentieren. In Trojanischen Hummern, wenn Sie so wollen, oder besser gesagt in etwas, das nach Hummer aussah. Ganz offenbar lebten die Tiere, als sie gefangen wurden, nur dass ihr Fleisch einer gallertigen Substanz gewichen war. Eingekapselt darin lagerten Kolonien von Pfiesteria. Die Europäische Union hat den Fang und die Ausfuhr von Schalentieren mittlerweile verboten. Im Augenblick beschränken sich Erkrankungen und Todesfälle auf Frankreich, Spanien, Belgien, Holland und Deutschland. Die letzte mir vorliegende Zahl spricht von 14000 Toten. Auf dem amerikanischen Kontinent scheinen Hummer noch Hummer zu sein, aber auch wir erwägen, den Verkauf von Schalentieren zu untersagen.«
   »Schrecklich«, flüsterte Rubin. »Woher kommen diese Algen?«
   Roche drehte sich zu ihm um.
   »Menschen haben sie gemacht«, sagte er. »Die amerikanische Schweinemast an der Ostküste spült Unmengen von Gülle direkt in die Gewässer, und Pfiesterien gedeihen prächtig in überdüngtem Wasser. Sie nähren sich von Phosphaten und Nitraten, die mit Tierfäkalien auf Feldern ausgebracht werden und in die Flüsse gelangen. Oder von Industrieabwässern. Was wundern wir uns, dass sich die Biester in der Kanalisation von Großstädten wohl fühlen, wo alles gesättigt ist mit organischen Stoffen? Wir erschaffen die Pfiesterien dieser Welt. Wir erfinden sie nicht, aber wir gestatten ihnen, sich in Monster zu verwandeln.« Roche machte eine Pause und sah wieder Peak an. »Wenn die Ostsee umkippt und alle Fische darin sterben, wie es in den letzten Jahren der Fall war, hat das seinen Grund in der dänischen Schweinemast. Die Gülle bringt Algen dazu, sich explosionsartig zu vermehren. Die Algen binden den Sauerstoff, und die Fische sterben. Toxische Algen tun noch einiges mehr, und keine Gegend scheint vor ihnen sicher. Jetzt haben wir die schlimmste von allen mitten unter uns.«
   »Aber warum hat man nicht schon früher etwas dagegen unternommen?«, fragte Rubin.
   »Früher?« Roche lachte. »Man hat früher etwas dagegen unternommen, mein Freund. Man hat es versucht. Wo leben Sie? Statt ernsthafte Studien zu treiben, wurden die Forscher ausgelacht und erhielten Morddrohungen. Erst vor wenigen Jahren ist aufgeflogen, dass die Umweltbehörde von North Carolina die Vorfälle um Pfiesteria bewusst vertuscht hatte, mit Rücksicht auf einflussreiche politische Repräsentanten, die zufälligerweise selber Schweinezüchter sind. Natürlich sollten wir uns fragen, welcher Irre uns mit Pfiesterien verseuchte Hummer schickt. — Aber es ändert nichts daran, dass wir die Geburtshelfer der Katastrophe sind. Auf irgendeine Weise sind wir das immer.«
   »Diese Muscheln besitzen alle Eigenschaften typischer Zebramuscheln. Aber sie können etwas, das gewöhnliche Zebramuscheln nicht können. Nämlich navigieren.«
   Peak war bei Schiffsunglücken angelangt. Nachdem sich die Konferenz durch Pfiesteria- Bilanzen gequält hatte, präsentierte er nun Statistiken, die nicht weniger niederschmetternd waren. Über eine Weltkarte zog sich ein Geflecht farbiger Linien.
   »Die Hauptverkehrswege der Handelsschifffahrt«, erläuterte Peak die Grafik. »Ausschlaggebend für den Verlauf ist die Verteilung transportierter Güter. In der Regel werden Rohstoffe immer in den Norden verschifft. Australien exportiert Bauxit, Kuwait Öl und Südamerika Eisenerz. Alles wandert über Entfernungen von bis zu 11000 Seemeilen nach Europa und Japan, damit in Stuttgart, Detroit, Paris und Tokio Autos, Elektrogeräte und Maschinen entstehen. Und die wandern in Containerfrachtern wieder zurück nach Australien, Kuwait oder Südamerika. Fast ein Viertel des gesamten Welthandels wird im pazifisch-asiatischen Raum abgewickelt, das entspricht einem Warenwert von 500 Milliarden US-Dollar. Unwesentlich weniger ist es im Atlantik. — Die Hauptballungszentren des Seeverkehrs sehen Sie dunkel markiert. Die amerikanische Ostküste mit Schwerpunkt New York, der europäische Norden mit Ärmelkanal, Nordsee und Ostsee bis hinauf zu den baltischen Republiken, das gesamte Mittelmeer, insbesondere die Riviera. Den europäischen Meeren kommt eine zentrale Bedeutung für den Welthandel zu, das Mittelmeer dient außerdem als Seeweg von der nordamerikanischen Ostküste durch den Suezkanal nach Südostasien. Nicht zu vergessen die japanischen Inseln und der Persische Golf! Im Kommen ist das Chinesische Meer, es zählt neben der Nordsee zu den dichtbefahrensten Gewässern der Erde. Um die Abläufe des Welthandels auf den Meeren zu verstehen, muss man dieses Netzwerk verstanden haben. Man muss wissen, was es für die eine Seite des Globus bedeutet, wenn auf der anderen ein Containerfrachter sinkt, welche Produktionswege unterbrochen werden, wie viele Arbeitsplätze gefährdet sind, wen es die Existenz oder das Leben kostet und wer vom Unglück profitieren könnte. Der Flugverkehr hat die Passagierschifffahrt abgelöst, aber der Welthandel hängt am Meer. Nichts kann den Wasserweg ersetzen.«
   Peak machte eine Pause.
   »Vor diesem Hintergrund ein paar Zahlen. 2000 Schiffe täglich drängen sich durch die Malakkastraße und ihre angrenzenden Meerengen, fast 20000 Schiffe aller Größen durchqueren im Jahr den Suezkanal. Das ergibt jeweils 15 Prozent des Welthandels. 300 Schiffe kreuzen am Tag im englischen Kanal, um ins meistbefahrene Meer der Welt zu gelangen, in die Nordsee. Rund 44000 Schiffe pro Jahr verbinden Hongkong mit der Welt. Zigtausend Frachter, Tanker und Fähren bewegen sich jährlich über den Globus, von Fischereiflotten, Kuttern, Segelyachten und Sportbooten ganz zu schweigen. Millionen Schiffsbewegungen verzeichnen die Ozeane, Randmeere, Kanäle und Meerengen. Angesichts dessen mag es übertrieben erscheinen, vom gelegentlichen Untergang eines Supertankers oder Containerfrachters auf eine ernsthafte Krise der Seeschifffahrt zu schließen. So leicht lässt sich niemand davon abschrecken, noch den letzten Rosthaufen mit Öl zu füllen und auf Fahrt zu schicken. — Nebenbei, die meisten der rund 7000 Öltanker weltweit befinden sich in einem miserablen Zustand. Über die Hälfte davon tut seit mehr als 20 Jahren Dienst, viele der Supertanker kann man getrost als schrottreif bezeichnen. Da wird einiges in Kauf genommen. Die Katastrophe ist potenziell, aber geläufig. Man beginnt zu rechnen: Könnte es gut gehen? Man kennt die Faktoren, das Ganze wird zum Glücksspiel. Wenn ein 300 Meter langer Tanker in ein Wellental gerät, wird er in der Mitte um bis zu einem Meter durchgebogen, das zermürbt jede Konstruktion. Der Tanker fährt trotzdem, weil man sich den Ausgang der Fahrt schönrechnet.« Peak lächelte dünn. »Wenn aber völlig unerklärliche Phänomene zu Unglücksfällen führen, ist die Rechnerei dahin. Das Risiko wird unkalkulierbar. Eine ganz eigenartige Psychologie kommt ins Spiel. Wir nennen sie die Hai-Psychose. Nie weiß man, wo der Hai gerade ist, wen er als Nächstes fressen könnte, also reicht ein Exemplar, um tausende Urlauber daran zu hindern, ins Wasser zu gehen. Statistisch wäre es dem einen Menschenfresser unmöglich, dem Tourismus erkennbaren Schaden zuzufügen. Praktisch bringt er ihn zum Erliegen.
   — Jetzt stellen Sie sich eine Handelsschifffahrt vor, die innerhalb weniger Wochen viermal so viele Havarien zu beklagen hat wie je zuvor, ohne dass es als Folge bekannter Ursachen geschieht. Beängstigende Phänomene, für die es keine Erklärung gibt, reißen selbst Schiffe in den Abgrund, die sich nachweislich in ausgezeichnetem Zustand befanden. Nie weiß man, wen es treffen wird und wo, und was man im Vorfeld tun kann, um sich zu schützen. Man spricht nicht mehr von Durchrostung, Sturmschäden oder Navigationsfehlern — man spricht davon, gar nicht erst hinauszufahren.«
   Auf diesem Weg war Peak zu den Muscheln gelangt. Sie prangten übergroß auf dem Bildschirm. Peak deutete auf einen faserigen Auswuchs, der zwischen den gestreiften Schalen herausragte.
   »Mit diesem Fuß, dem Byssus, setzt sich die Zebramuschel gewöhnlich fest, je nachdem, wohin die Strömung sie trägt. Genauer gesagt besteht der Byssus aus einem Bündel klebriger Proteinfäden. Die neuen Muscheln haben diese Fäden zu einer Art Propeller weiterentwickelt. Das Prinzip erinnert flüchtig an die Fortbewegungsweise von Pfiesteria piscicida. Konvergenzen sind aus der Natur bekannt, aber sie vollziehen sich über Jahrtausende und Jahrmillionen. Diese Muscheln sind entweder bislang nicht in Erscheinung getreten, oder sie haben sich die neuen Fähigkeiten über Nacht zugelegt. Das spräche für eine rapide Mutation, denn in vielerlei Hinsicht sind es immer noch Zebramuscheln, nur dass sie sehr genau zu wissen scheinen, wo sie hinwollen. Beispielsweise blieben die Seekästen der Barrier Queen frei, aber das Ruder war gleichmäßig bedeckt.«