Der Wissenschaftler stolperte und schlug der Länge nach hin.
   Das war’s dann, dachte Johanson.
   Vor ihnen wurde es dunkel. Kein Himmel war mehr zu sehen durch die Cockpitscheiben, nichts außer der Front der Welle. Sie füllte ihr Blickfeld nach allen Seiten aus, schob sich mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu. Sie hatten ihre Chance vertan. Alle Möglichkeiten waren zunichte. Ein senkrechter Aufstieg würde sie auf halber Höhe mit dem gigantischen Brecher kollidieren lassen. Flohen sie dicht über dem Boden landeinwärts, sparten sie zwar die Zeit für den Aufstieg, aber dennoch würde sie das Wasser einholen. Der Tsunami war auf alle Fälle schneller, und außerdem mussten sie den Bell zuvor wenden. Auch dafür reichten die verbleibenden Sekunden nicht.
   In einem Anflug von Distanziertheit fragte sich Johanson, wie er den Anblick der senkrechten Wasserfront ertrug, ohne darüber den Verstand zu verlieren. Dann holte ihn die Wirklichkeit wieder ein, als der Pilot das einzig Richtige tat, indem er den Helikopter zugleich rückwärts und in die Höhe steuerte. Die Nase des Bell senkte sich ab. Für die Dauer eines Augenblicks war der Erdboden durch die Cockpitscheiben zu sehen, aber sie stürzten nicht darauf zu, sondern bewegten sich in aufstrebendem Rückwärtsflug vom Boden und von der heranrasenden Welle weg. Der Bell heulte auf, als wolle das Getriebe explodieren. Johanson hatte nie geglaubt, dass ein Helikopter zu einem solchen Manöver fähig war — vielleicht hatte es nicht mal der Pilot geglaubt —, aber es funktionierte.
   Die kollabierende Welle geiferte ihnen nach wie ein hungriges Tier. Sie fegte über den Strand und begann, in sich zusammenzustürzen. Berge aus Gischt folgten dem Bell auf seiner irrwitzigen Flucht. Der Tsunami brüllte und kreischte. Im nächsten Moment erschütterte ein fürchterlicher Schlag den Helikopter, und Johanson wurde gegen die Seitenwand geschleudert, gleich neben die offene Tür. Wasser klatschte ihm ins Gesicht. Sein Kopf knallte gegen die Bordwand, und er sah dunkelrote Blitze. Seine Finger bekamen Metall zu fassen, eine Strebe, krallten sich daran fest. Stechender Schmerz durchraste ihn. Er vermochte nicht zu sagen, ob das schreckliche Brausen in seinen Ohren noch von der Welle herrührte oder schon aus seinem Kopf kam, ob sie stiegen oder fielen. Sein einziger Gedanke war, dass die Welle sie am Ende doch gekriegt hatte und dass sie nun zerschmettert würden, und er wartete auf das Ende.
   Dann klärte sich sein Blick. Die Kabine hing voller Sprühwasser. Zerfetzte graue Wolken trieben über dem Helikopter dahin.
   Sie hatten es geschafft.
   Sie waren entkommen. Sie waren nicht in den Tsunami gestürzt, sondern mit knapper Not über den Kamm gelangt.
   Der Helikopter stieg weiter, wobei er eine Kurve flog, sodass sie nun die Küste unter sich erkennen konnten. Aber es gab keine Küste mehr. Dort unten war nichts außer einer wilden Flut, die mit unverminderter Geschwindigkeit vorwärts drängte und das Land verschluckte. Die Station, die Fahrzeuge und der Wissenschaftler waren verschwunden. Weit entfernt zur Rechten, wo die Steilküste begann, explodierten glitzernde Gischtfontänen an den Klippen und schossen endlos empor in den Himmel, weit über die Flughöhe des Bell hinaus, als wollten sie sich mit den Wolken vereinen.
   Weaver rappelte sich hoch. Sie war über die Sitzbänke gestürzt, als der Wasserschwall den Bell getroffen hatte. Sie starrte hinaus und sagte immer wieder: »Oh Gott!«
   Der Pilot schwieg. Sein Gesicht war aschfahl, seine Kiefer mahlten.
   Aber er hatte es geschafft.
   Sie setzten der Welle nach. Die Wassermassen rasten schneller über den Untergrund dahin, als der Helikopter zu folgen vermochte. Eine Anhöhe kam in Sicht, und die Flut schoss darüber hinweg und ergoss sich schäumend in die dahinter liegende Ebene, kaum in ihrer Geschwindigkeit gebremst. Flach, wie das Gelände hier war, würde sie kilometerweit ins Landesinnere vordringen. Johanson sah die Ebene übersät mit weißen Flecken und erkannte, dass es Schafe waren, die in wilder Flucht davonstoben, und dann waren auch die Schafe verschwunden.
   Eine Küstenstadt, dachte er, wäre ausradiert worden.
   Nein, falsch. Sie wird ausradiert werden. Nicht nur eine. Annähernd jede Stadt, die an den Küsten der nördlichen Meere lag, würde im Mahlstrom versinken. Der Tsunami, wo immer er entstanden war, breitete sich in diesem Augenblick ringförmig aus, wie es der Natur von Impulswellen entsprach. Seine zerstörerische Wucht würde bis nach Norwegen reichen, bis nach Holland, Deutschland, Schottland und Island. Schockartig wurde ihm bewusst, welche Katastrophe sich da ereignete, und er krümmte sich, als habe ihm jemand ein glühendes Eisen in den Unterleib gestoßen.
   Ihm fiel ein, wer gerade in Sveggesundet war.
 
Sveggesundet, Norwegen
 
   Man konnte den Gebrüdern Hauffen einen gewissen Unterhaltungswert nicht absprechen, fand Lund. Sie taten weiß Gott alles, um sie zum Bleiben zu bewegen. Sie verstiegen sich sogar zu der Aussage, beide weit bessere Liebhaber zu sein als Kare Sverdrup, wobei sie einander in die Seiten stießen und zuzwinkerten, und Lund musste noch einen Schnaps mit ihnen trinken, bevor sie endlich einwilligten, sie ziehen zu lassen.
   Sie sah auf die Uhr. Wenn sie jetzt losginge, käme sie pünktlich ins Fiskehuset. So pünktlich, dass es fast schon peinlich war, fand sie plötzlich. Wer so pünktlich ist, hat’s nötig. Ein paar Minuten Verspätung würden sie womöglich souveräner dastehen lassen.
   Blöde Kuh.
   Aber sie musste ja nicht ins Fiskehuset hetzen.
   Die beiden Alten bestanden auf einer Umarmung. Sie sei die Richtige für Kare, schworen sie, eine, die nicht reinspuckt, wenn guter Aquavit serviert wird. Lund musste diverse Komplimente, Witzeleien und gute Ratschläge über sich ergehen lassen, bis einer der beiden sie schließlich aus dem Keller nach oben brachte. Er öffnete ihr die Haustür, sah den schräg herniederprasselnden Regen und befand, ohne Schirm könne sie da nicht rausgehen. Vergebens bemühte sie sich, ihm klar zu machen, dass sie bei Regen grundsätzlich ohne Schirm nach draußen ging. Dass es zu ihrem Beruf gehörte, sich bei jedem Wetter im Freien herumzutreiben. Ebenso gut hätte sie sich mit dem Fußboden unterhalten können. Der Alte ging einen Schirm holen. Es folgte eine neuerliche Umarmung, dann endlich war sie der Fürsorge der Schnapsbrenner entkommen und stapfte durch den Regen zurück in Richtung Restaurant, den geschlossenen Schirm in der Rechten.
   Das kann ja heiter werden, dachte sie.
   Der Himmel war noch schwärzer geworden, und der Wind blies mit zunehmender Heftigkeit. Sie ging schneller. Hatte sie nicht eben noch vorgehabt, sich Zeit zu nehmen? Du kannst einfach nichts langsam machen, dachte sie. Johanson hat vollkommen Recht. Du lebst ständig auf Vollgas.
   Na, wenn schon. So war sie eben, und außerdem wollte sie jetzt endlich zu dem Mann, den sie beschlossen hatte zu lieben.
   Von irgendwoher erklang ein leises Signal. Sie blieb stehen. Das war ihr Handy! Er rief an! Verdammt, seit wann schellte es schon? Atemlos zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke herunter und fingerte im Innern nach dem Telefon. Wahrscheinlich hatte er schon mehrfach angerufen, aber in dem Keller dürfte sie kaum Empfang gehabt haben.
   Da war es. Sie zerrte es hervor und meldete sich in Erwartung, Kares Stimme zu hören. »Tina?« Sie stutzte. »Sigur. Oh, das ist … das ist schön, dass du anrufst, ich …« »Wo warst du denn, verdammt? Ich versuche die ganze Zeit, dich zu erreichen.« »Tut mir Leid, ich …« »Wo bist du jetzt?« »In Sveggesundet«, sagte sie zögernd. Seine Stimme klang atmosphärisch verzerrt, und offenbar sprach er gegen irgendein lautes Dröhnen an, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sie nie zuvor an ihm gehört hatte und das ihr Angst machte. »Ich gehe am Strand entlang, es ist ein widerliches Dreckswetter, aber du kennst mich ja …«
   »Hau ab!«
   »Was?«
   »Du sollst machen, dass du da wegkommst.«
   »Sigur! Bist du noch bei Trost?«
   »Jetzt, sofort.« Er redete weiter, atemlos. Die Worte prasselten auf sie ein wie der Regen, immer wieder gestört durch atmosphärisches Krachen und Rauschen, sodass sie erst glaubte, sich verhört zu haben. Dann begriff sie allmählich, was er ihr erzählte, und ihre Beine schienen sich für einen Moment in Gummi zu verwandeln.
   »Ich weiß nicht, wo das Epizentrum liegt«, plärrte sein Stimme. »Offenbar braucht die Welle länger bis zu euch, aber egal, dir bleibt keine Zeit. Hau ab, um Gottes willen, mach, dass du da wegkommst!«
   Sie starrte hinaus aufs Meer.
   Der Sturm trieb flockige Brandung vor sich her.
   »Tina?«, schrie Johanson.
   »Ich … okay.« Sie sog den Atem ein, pumpte ihre Lungen voll Luft. »Okay. Okay!«
   Sie warf den Schirm von sich und begann zu laufen.
   Durch den Regen konnte sie die Lichter der Restaurants erkennen, gelb und einladend. Kare, dachte sie. Wir müssen einen der Wagen nehmen, deinen oder meinen. Den Jeep hatte sie fünfhundert Meter oberhalb des Restaurants gelassen, aber Kare besaß einige Stellplätze neben dem Fiskehuset, wo für gewöhnlich auch sein Wagen stand. Während sie rannte, versuchte sie zu erkennen, ob er dort parkte. Regen lief ihr in die Augen, und sie wischte ihn zornig weg. Dann fiel ihr ein, dass sich die restauranteigenen Plätze auf der anderen Seite des Gebäudes befanden, die von hier nicht zu sehen waren, und sie lief noch schneller.
   In das Heulen des Windes und das Tosen der Brandung mischte sich ein neues Geräusch. Eine Art lautes Schlürfen.
   Ohne innezuhalten wandte sie den Kopf.
   Etwas Unvorstellbares geschah. Lund geriet ins Stolpern und konnte nicht anders, als stehen zu bleiben und zuzusehen, wie das Meer verschwand, als habe jemand irgendwo den Stöpsel gezogen. Eine Fläche schwarzen, zerklüfteten Untergrunds kam zum Vorschein, so weit das Auge reichte.
   Wie im Zeitraffer wich die See zurück.
   Dann hörte sie das Donnern.
   Sie blinzelte und wischte erneut Regenwasser aus ihren Augenwinkeln. Fern am Horizont manifestierte sich etwas Diffuses, Gewaltiges in dem Unwetter und nahm langsam Gestalt an. Zuerst glaubte sie, eine noch schwärzere Wolkenfront zöge dort auf. Doch die Front kam zu schnell näher, und ihre Oberkante war zu gerade.
   Lund machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten.
   Sie begann wieder zu rennen.
   Ohne Auto war sie verloren, das stand außer Frage. Erst hinter dem Ort, zum Festland hin, führte die Straße auf höheres Gelände. Sie atmete gleichmäßig und tief, um die aufkommende Panik zurückzudrängen, und spürte das Adrenalin in ihre Muskeln schießen. Sie hatte Kraft genug, um endlos weiterlaufen zu können, nur dass es ihr nichts nützen würde. Die Welle war auf alle Fälle schneller.
   Vor ihr gabelte sich der Weg, links ging es weiter zum Restaurant, rechts führte eine Abkürzung von der Küste hoch zu dem öffentlichen Platz, wo Johansons Jeep stand. Wenn sie jetzt dort hinauf lief, würde sie es bis zum Wagen schaffen. Dann die Straße hoch, über die Anhöhe, alles was der Motor hergab. Aber was würde aus Kare, wenn sie fuhr? Er wäre verloren. Nein, unmöglich, undenkbar, sie konnte nicht einfach verschwinden und ihn hier zurücklassen. Sie wollte nicht weg ohne ihn. Die beiden Alten in der Brennerei hatten gesagt, er sei auf direktem Weg ins Fiskehuset gefahren. Gut so, also war er dort, er war dort und wartete auf sie, und er verdiente nicht, allein gelassen zu werden. Sie verdiente nicht länger, allein zu sein. Kein Mensch verdiente es.
   Mit Riesensätzen lief sie an der Gabelung vorbei und weiter auf das erleuchtete Gebäude zu. Es war nun nicht mehr weit bis zum Fiskehuset. Sie hoffte inständig, dass sein Wagen dort stünde. Das Donnern kam jetzt sehr schnell näher, aber sie versuchte es zu ignorieren und sich nicht lahmen zu lassen von der Angst. Auch sie war schnell. Sie würde schneller sein als die verfluchte Welle, ihre Schnelligkeit würde für zwei reichen.
   Die Terrassentür des Restaurants flog auf. Jemand stürzte nach draußen und verharrte, den Blick aufs Meer gerichtet.
   Es war Kare.
   Sie begann seinen Namen zu rufen. Ihre Stimme verlor sich im Heulen des Windes und dem Donnern der herannahenden Welle. Sverdrup starrte hinaus aufs Meer, ohne zu reagieren. Er kam nicht einmal auf die Idee, in ihre Richtung zu schauen, so verzweifelt sie auch seinen Namen schrie.
   Dann lief er fort.
   Er verschwand auf der anderen Seite des Hauses. Lund stöhnte auf. Fassungslos hetzte sie weiter. Im nächsten Moment hörte sie schwach das Aufhusten eines Motors durch den Sturm herüberdringen. Sekunden später erschien Kares Wagen an der Rückseite des Restaurants und bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit die Straße hinauf und auf die Anhöhe zu.
   Ihr Herz drohte stillzustehen.
   Das konnte er nicht tun. Er konnte nicht ohne sie fahren.
   Er musste, musste sie doch gesehen haben!
   Er hatte sie nicht gesehen.
   Kare würde es schaffen. Vielleicht.
   Mutlosigkeit überkam sie. Sie lief weiter, nun nicht mehr zum Restaurant, sondern durch Gestrüpp und Steine hinauf zum Parkplatz. Nachdem sie die Weggabelung verpasst hatte, musste sie durch einen Streifen felsigen Geländes, und hier kam sie weniger schnell voran. Aber es war der einzige Weg, der ihr noch blieb. Ihre letzte Chance war der Jeep. Nach wenigen Metern gelangte sie an eine Absperrung, ein zwei Meter hohes Drahtgitter. Sie griff in die Maschen, zog sich hoch. Mit einem Satz war sie auf der anderen Seite. Wieder hatte sie wertvolle Sekunden verloren, während derer die Welle näher kam. Aber dafür sah sie plötzlich die schwarze Silhouette des Jeeps hinter Vorhängen aus Regen, und er war näher, als sie gedacht hatte, zum Greifen nahe.
   Sie lief noch schneller. Die Felsen endeten, gingen in Wiese über. Da war der Beton des Parkplatzes unter ihren Füßen. Gut so! Und dort der Wagen. Vielleicht hundert Meter noch. Weniger. Vielleicht fünfzig.
   Vierzig.
   Lauf, Tina. Lauf!
   Der Beton erbebte. In Lunds Ohren dröhnte und hämmert das Blut.
   Lauf!
   Ihre Hand glitt in die Jackentasche, umfasste den Autoschlüssel. Ihre Stiefelsohlen hämmerten einen gleichmäßigen Takt. Auf den letzten Metern rutschte sie aus, aber egal, sie war da, ihr Körper schlug gegen den Wagen, aufschließen, schnell!
   Sie spürte, wie ihr der Schlüssel entglitt.
   Nein, dachte sie, bitte nicht. Nicht das.
   Panisch fingerte sie danach, wirbelte herum. Oh Gott, wo war der verdammte Schlüssel, er musste hier liegen, irgendwo, bitte!
   Dunkelheit senkte sich herab.
   Langsam hob sie den Kopf und sah die Welle.
   Plötzlich hatte sie keine Eile mehr. Sie wusste, dass es zu spät war. Sie hatte schnell gelebt, sie würde schnell sterben. Sie hoffte wenigstens, dass es schnell ging. Manchmal hatte sie sich gefragt, wie es wäre zu sterben, was einem im Kopf herumgehen mochte, wenn man definitiv erkannte, dass es so weit war und kein Weg daran vorbeiführte. Der Tod würde sagen, ich bin da. Du hast fünf Sekunden, mach dir ein paar Gedanken, was immer du willst, wir sind heute großzügig, und wenn du möchtest, kannst du dein ganzes Leben nochmal Revue passieren lassen, die Zeit bekommst du. War es nicht so? Hieß es nicht, dass man erstaunlicherweise — in einem sich überschlagenden Auto etwa, im Angesicht eines abgefeuerten Projektils, im Verlauf eines tödlichen Sturzes — sein komplettes Leben an sich vorüberziehen sah, Bilder aus der Kindheit, die erste Liebe, eine Art Best of? Jeder sagte, dass es so war, also musste es stimmen.
   Aber das Einzige, was Lund empfand, war Angst, der Tod könne ihr wehtun und sie würde Schmerzen leiden müssen. Und dann fühlte sie eine gewisse Scham, dass sie so erbärmlich enden musste. Dass sie es verpatzt hatte. Das war alles. Kein inneres Hollywood. Keine großen Gedanken. Kein würdiger Abschluss.
   Vor ihren Augen krachte der Tsunami in Kares Sverdrups Restaurant, schlug es in Trümmer und fegte darüber hinweg.
   Die Wasserwand erreichte den Parkplatz.
   Sekunden später schoss sie die Anhöhe hinauf.
 
Der Schelf
 
   Als die Welle im Verlauf ihrer Ausbreitung das umliegende Festland erreichte, hatte sie auf dem Schelf bereits unvorstellbare Zerstörungen hinterlassen.
   Ein Teil der Bohrplattformen und Pumpstationen, die man direkt an den Kontinentalrand gebaut hatte, war mit dem abrutschenden Hang in der Tiefe verschwunden. Das allein kostete innerhalb weniger Minuten Tausende von Menschen ihr Leben, aber es war nur ein Vorgeschmack dessen, was der Tsunami auf dem Schelf anrichtete. Wie bei einem Auffahrunfall türmten sich die nachdrängenden Wassermassen zu einer senkrechten Front übereinander, die umso höher wuchs, je flacher es wurde. Unter ihrem Aufprall knickten die Gestänge der Bohrplattformen, die nach Gerüstbauweise konstruiert waren, wie Streichhölzer ein. Im Verlauf von nicht einmal fünfzehn Minuten kenterten über achtzig Plattformen, weil sie der Belastung nicht standhielten. Dabei wurde ihnen weniger die Höhe der Wasserwand zum Verhängnis — Nordseebohrinseln waren darauf ausgerichtet, von einer knapp vierzig Meter hohen Welle unterlaufen zu werden, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen, was statistisch einmal in hundert Jahren erwartet wurde —, sondern das Zusammentreffen etlicher Faktoren.
   In gewöhnlichen Brechern waren schon zwölf Tonnen Druck pro Quadratmeter gemessen worden. Das reichte aus, um Hafendämme loszureißen und im Stadtzentrum wieder abzusetzen, kleinere Schiffe durch die Luft zu wirbeln und große Frachter und Tanker in zwei Teile zu zerschlagen. Es waren winderzeugte Wellen, die das zustande brachten. Ihre Aufprallenergie berechnete sich anders als die von Tsunamiwellen. Man konnte auch sagen, gegen eine Tsunamiwelle von gleicher Größe nahm sich selbst ein solcher Brecher lammfromm aus.
   Der Tsunami, den die Rutschung auslöste, erreichte auf dem mittleren Schelf Kammhöhen bis zu zwanzig Meter, aber damit ging er immer noch unter den Decks der Plattformen hindurch.
   Umso fataler war die Wucht, mit der er gegen die tragenden Konstruktionen schmetterte.
   Ölplattformen, ebenso wie Schiffe und überhaupt alles, was der langfristigen Einwirkung des Meeres unterworfen war, mussten einer definierten Beanspruchung standhalten, die in Jahren ausgedrückt wurde. Legte man die Vierzig-Meter-Welle zugrunde, die von Plattformkonstrukteuren einmal in hundert Jahren erwartet wurde, baute man die Plattform demnach so, dass sie mit der Welle fertig wurde. Einer nicht sehr vertrauenerweckenden Logik folgend erhielt die Plattform damit den Status einer 100-Jahre-Beanspruchung. Statistisch gesehen hatte sie den Belastungen von Wind und See nunmehr einhundert Jahre standzuhalten. Das hieß natürlich nicht, dass sie einhundert Jahre lang pausenlos Extremwellen verkraften konnte. Möglicherweise verkraftete sie aber trotz ihrer Klassifizierung nicht mal die eine große, weil Verschleiß selten das Resultat von Monsterwellen war und weit öfter Folge des alltäglichen Gezerres an der Konstruktion durch kleinere Wellen und Strömungen. Jeder technischen Konstruktion entstand auf diese Weise ziemlich schnell eine Achillesferse, ohne dass man in den meisten Fällen zu sagen vermochte, wo genau sie sich befand. Hatte eine solche Stelle im Verlauf der ersten zehn Jahre schon die Belastungen von fünfzig Jahren wegstecken müssen, konnte eine durchschnittliche Welle plötzlich zum Problem werden.
   Rechnerisch ließ sich die Nuss kaum knacken. Statistische Mittelwerte, wie sie für den Bau meerestechnischer Konstruktionen herangezogen wurden, trafen lediglich Aussagen über Idealbedingungen, nicht über die Realität. Durchschnittsbeanspruchungen mochten in den Büros und Köpfen der Konstrukteure Gültigkeit haben. Die Natur kannte keinen Durchschnitt, und sie hielt sich nicht an Statistiken. Sie war eine Aufeinanderfolge unkalkulierbarer Momentzustände und Extreme. Auf einem Gewässer wurden vielleicht durchschnittlich zehn Meter hohe Wellen nachgewiesen, aber wenn man dem einen Dreißig-Meter-Exemplar begegnete, das statistisch gar nicht existierte, half einem der Mittelwert wenig, und man starb.
   Als der Tsunami durch die Landschaft der Stahltürme fegte, überschritt er deren Beanspruchungsgrenze innerhalb eines Augenblicks.
   Träger brachen, Schweißnähte rissen auf, Deckaufbauten kippten ab. Vor allem auf der britischen Seite, wo man Stahlrohrgerüsten den Vorrang gab, zertrümmerte die Aufprallenergie der Welle nahezu jede Konstruktion oder fügte ihr erheblichen Schaden zu.
   Norwegen hatte sich schon Jahre zuvor auf Stahlbetonpfeiler spezialisiert. Hier fand der Tsunami weniger Angriffsfläche. Dennoch war das Desaster nicht minder gewaltig, denn die Welle schleuderte riesige Geschosse in die Fördertürme: Schiffe.
   Die meisten Schiffe waren Sturmwellen von 20 Metern Höhe theoretisch nicht gewachsen. Die Festigkeit von Schiffsrümpfen orientierte sich an einer statistischen Wellenhöhe von 16,5 Metern. In der Praxis sah es dann doch anders aus. Mitte der Neunziger hatten Monsterwellen oberhalb Schottlands ein hausgroßes Loch in den 3000-Tonnen-Tanker Mimosa geschmettert, aber das Schiff entkam. 2001 versenkte ein 35-Meter-Brecher vor Südafrika fast das Kreuzfahrtschiff MS Bremen, aber eben nur fast. Im selben Jahr war die Endeavour, ein Schiff von 90 Metern Länge, in Höhe der Falklands einem Phänomen zum Opfer gefallen, das die Wissenschaft als ›Drei Schwestern‹ kannte — drei dicht aufeinander folgende Wellen von je 30 Meter Höhe. Die Endeavour wurde schwer beschädigt, doch es gelang ihr, sich in den Hafen zu retten.
   Meist jedoch hörte man von Schiffen, die derartige Begegnungen hatten, nie wieder etwas. Denn das eigentlich Tückische an den Riesenwellen war das sogenannte ›Loch im Ozean‹ — die Wellenfront schob einen tiefen Trog, einen Abgrund vor sich her, in den das Schiff hineinsackte, Bug oder Heck voran. Lagen die Wellen weit genug auseinander, blieb im Allgemeinen ausreichend Zeit, um wieder hochzukommen und den nachfolgenden Wellenberg zu erklimmen. Bei kurzen Wellenlängen verhielt es sich anders. Das Schiff stürzte in den Trog, aber die Welle folgte zu dicht auf, und so fuhr es in die Wasserwand hinein, die es verschluckte und unter sich begrub. Aber selbst wenn ein Schiff es mit knapper Not aus dem Trog schaffte und sich wieder an den Aufstieg machte, konnte man nur bangen, dass die Welle nicht zu hoch oder zu steil war. Im Zweifel war sie jedoch beides, extrem steil und extrem hoch. Man versuchte das Unmögliche, nämlich eine senkrechte Fläche zu ersteigen. Dem fielen vor allem kleinere Schiffe zum Opfer, wenn die Welle höher als das Schiff lang war, aber auch Ozeanriesen schafften es oft nicht aus dem Tal und über den Kamm hinweg. Sie wurden von der Welle umgekippt und kenterten kopfüber.
   Solche Riesenwellen, die ihren Ursprung dem Zusammenspiel von Wind und Strömung verdankten, brachten es auf Geschwindigkeiten von fünfzig Stundenkilometern, selten mehr. Es reichte zur Totalkatastrophe, aber gegen die 20-Meter-Front des Tsunamis, der in diesen Minuten über den Schelf fegte, waren sie lahme Enten.
   Die meisten der Schlepper, Tanker und Fähren, die gerade das Pech hatten, auf der Nordsee unterwegs zu sein, wurden wie Spielzeug herumgeworfen. Einige krachten zusammen, andere wurden gegen die Betonpfosten der Plattformen geschmettert oder gegen die Verladebojen, an denen sie ankerten. Der Wucht des Aufpralls waren selbst Stahlbetonstützen nicht gewachsen. Viele der Kolosse begannen einzubrechen. Was standhielt, entging dennoch nicht der Zerstörung, als die kollidierenden, teils voll beladenen Schiffe explodierten und riesige Feuerwolken auf die Plattformen übergriffen. In Kettenreaktionen flogen ganze Landschaften aus Fördertürmen in die Luft. Brennende Trümmer wurden Hunderte von Metern weit geschleudert. Der Tsunami riss am Meeresgrund verankerte Plattformen los und kippte sie um. All das geschah nur Minuten, nachdem die kreisförmige Welle vom Zentrum der unterseeischen Rutschung losgerast war auf ihrem Weg zu den Küsten der umliegenden Landmassen.
   Jedes einzelne der Ereignisse verkörperte den Alptraum der Schifffahrt und der Offshore-Industrie schlechthin. Was an jenem Nachmittag auf der Nordsee geschah, war jedoch mehr als ein vereinzelter, wahr gewordener Alptraum.
   Es war die Apokalypse.
 
Die Küste
 
   Acht Minuten nach dem Absturz des Schelfs war der Tsunami gegen die Klippen der Färöer-Inseln geschlagen, vier Minuten später hatte er die Shetlands erreicht, weitere zwei Minuten später prallte er gegen das schottische Festland und den südwestlichen Buckel Norwegens.
   Um Norwegen als Ganzes zu überfluten, bedurfte es vermutlich jenes Kometen, von dem man annahm, dass er die Menschheit auslöschen würde, sollte er jemals ins Meer stürzen. Das Land war ein einziges Gebirge, gesäumt von einer Steilküste, an deren oberen Rand so schnell keine Welle schlug.
   Aber Norwegen lebte vom und auf dem Wasser, und die meisten der wichtigsten Städte lagen auf Meeresspiegelhöhe am Fuß der gewaltigen Gebirge. Von der See trennten sie lediglich kleine, flache Inseln, oder sie lagen auf den Inseln selber. Hafenstädte wie Egersund, Haugesund und Sandnes im Süden waren der heranrollenden Welle ebenso ausgeliefert wie Alesund und Kristiansund weiter nördlich und hunderte kleinerer Orte ringsum.
   Am schlimmsten erwischte es Stavanger.
   Wie sich ein Tsunami entwickelte, wenn er die Küste erreichte, hing von unterschiedlichsten Faktoren ab. Dazu gehörten Riffs, Flussmündungen, unterseeische Gebirge und Sandbänke, vorgelagerte Inseln oder schlicht die Neigung des Strandes. Alles konnte die Wirkung entweder abschwächen oder verstärken. Stavanger, das Zentrum der norwegischen Offshore-Industrie, Schlüsselstadt des Handels und der Schifffahrt, eine der ältesten, schönsten und reichsten Städte Norwegens, lag so gut wie ungeschützt direkt am Meer. Lediglich eine Reihe flacher Inselchen erstreckte sich oberhalb des Hafens, verbunden durch Brücken. Unmittelbar vor dem Eintreffen der Welle war eine Warnung der norwegischen Regierung an die Behörden der Stadt ergangen, die sofort über alle Radio-und Fernsehstationen und via Internet verbreitet wurde, aber es blieb lächerlich wenig Zeit. An eine Evakuierung war nicht mehr zu denken. Der Warnung folgte ein beispielloses Durcheinander in den Straßen. Niemand konnte sich recht vorstellen, was da auf Stavanger zukam. Anders als in den Anrainerstaaten des Pazifiks, die seit Menschengedenken mit Tsunamis lebten, gab es im Atlantikraum, in Europa und im Mittelmeer keine Warncenter. Während das PTWS, das Pacific Tsunami Warning System, mit Hauptsitz auf Hawaii in über zwanzig Pazifikstaaten vertreten war, zu denen von Alaska über Japan und Australien bis Chile und Peru so ziemlich jede Küstennation gehörte, wusste man in einem Land wie Norwegen nicht das Geringste über Tsunamis. Nicht zuletzt darum verstrichen die letzten Minuten Stavangers in ratlosem Entsetzen.
   Die Welle brach über die Stadt herein, ohne dass jemand rechtzeitig hinausgefunden hatte. Noch während sie die Pfeiler der Inselbrücken knickte, wuchs sie weiter an. Unmittelbar vor der Stadt türmte sich der Tsunami zu seinen ganzen dreißig Metern Höhe auf, aber aufgrund seiner extremen Wellenlänge brach er nicht sofort, sondern knallte senkrecht gegen die Hafenbefestigungen, schlug Kais und Gebäude in Stücke und raste weiter stadteinwärts. Die Altstadt mit ihren historischen Holzhäusern aus dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert wurde dem Erdboden gleichgemacht. Im Vagen, dem alten Hafenbecken, staute sich die Welle und fiel über die Innenstadt her. In Stavangers ältestem Gebäude, der anglo-normannischen Domkirche, schlugen die Fluten zuerst sämtliche Fenster aus, bevor sie die Mauern zum Einsturz brachten, und auch diese Trümmer trugen sie mit sich fort. Was immer im Weg stand, wurde mit der Wucht eines Raketenangriffs hinweggefegt. Nicht nur das Wasser zerstörte die Stadt, sondern auch mitgeführter Schlamm, tonnenschwere Steine, Schiffe und Autos, die wie Geschosse einschlugen.
   Inzwischen hatte sich die vertikale Wand in einen Berg aus tosender Gischt verwandelt. Der Tsunami wälzte sich nun weniger schnell durch die Straßen, dafür chaotisch turbulent. In der Gischt wurde Luft eingeschlossen und beim Aufprall komprimiert, was einen Druck von über fünfzehn Bar erzeugte, genug, um Panzerplatten zu zerbeulen. Das Wasser knickte Bäume wie Streichhölzer. Sie wurden Teil des Bombardements. Keine Minute, nachdem die Welle auf die ersten Befestigungen geprallt war, waren die kompletten Hafenanlagen vernichtet und die dahinter liegenden Viertel zerstört. Noch während die Wassermassen durch die Straßen schossen, erschütterten die ersten Explosionen die Stadt.
   Für die Menschen in Stavanger gab es nicht die geringste Überlebenschance. Wer versuchte, vor der Wasserwand davonzulaufen, die plötzlich in den Himmel ragte, rannte vergeblich. Die überwiegende Anzahl der Opfer wurde erschlagen. Das Wasser war wie Beton. Man spürte nichts. Kaum anders erging es denen, die wie durch ein Wunder den Aufprall überlebten, um dann gegen Häuser geschmettert oder zwischen Trümmerteilen zermalmt zu werden. Paradoxerweise ertrank so gut wie niemand, sah man von jenen ab, die in den zulaufenden Kellern gefangen waren. Selbst dort wurden die meisten schon durch die Wucht der hereinströmenden Wassermassen getötet oder erstickten im zusätzlich eindringenden Schlamm. Wer schließlich ertrank, starb einen schrecklichen, aber wenigstens schnellen Tod. Kaum einer von ihnen registrierte, was mit ihm geschah. Von jeder Sauerstoffzufuhr abgeschnitten, trieben die Körper der Eingeschlossenen im lichtlosen, wenige Grad kalten Wasser. Das Herz begann unregelmäßig zu schlagen, transportierte weniger Blut und kam schließlich zum Stillstand, während sich der Metabolismus extrem verlangsamte. Dadurch lebte das Gehirn noch eine Weile weiter. Erst zehn bis zwanzig Minuten später erlosch die letzte elektrische Aktivität, und der endgültige Tod trat ein.
   Nach weiteren zwei Minuten hatte die Gischt die Vororte Stavangers erreicht. Je großräumiger sie sich verteilte, desto flacher wurde die brodelnde Flut. Immer noch nahm ihre Geschwindigkeit ab. Das Wasser tobte und spritzte durch die Straßen, und wer hineingeriet, war hoffnungslos verloren, aber dafür hielten die meisten Häuser dem Druck fürs Erste stand. Wer sich deswegen in Sicherheit wähnte, freute sich dennoch zu früh. Denn der Tsunami verbreitete seinen Schrecken nicht nur bei der Ankunft.
   Fast noch schlimmer war es, wenn er ging.
   Knut Olsen und seine Familie erlebten den Rückzug der Welle in Trondheim, wo der Tsunami wenige Minuten später eingetroffen war.
   Im Gegensatz zu Stavanger, das sich wie auf dem Präsentierteller darbot, lag Trondheim geschützt im Trondheimfjord. Flankiert von größeren Inseln und zudem abgeschirmt von einer Landzunge, führte der Fjord fast vierzig Kilometer ins Landesinnere, bevor er sich zu einem breiten Becken öffnete, an dessen östlichem Rand die Stadt erbaut war. Viele norwegische Städte und Ortschaften lagen am Innenrand oder am Ende von Fjorden auf Wasserhöhe. Wer einen Blick auf die Landkarte warf, musste zu dem Schluss gelangen, dass selbst die Wucht einer Dreißig-Meter-Welle nicht ausreichen würde, um Trondheim ernsthaft zu gefährden.
   Doch gerade die Fjorde erwiesen sich als Todesfallen.
   Geriet ein Tsunami in Meerengen und trichterförmige Buchten, wurden die Wassermassen nicht mehr nur von unten gestaut, sondern plötzlich auch von beiden Seiten. Zigtausend Tonnen Wasser quetschten sich durch einen engen Kanal. Die Wirkung war verheerend. Im Sognefjord nördlich von Bergen, der zwar lang, aber schmal war, eingebettet in steile Felswände, stieg die Wellenhöhe ein weiteres Mal dramatisch an. Die meisten Ortschaften längs dieses Fjords lagen oberhalb der Klippen auf den Plateaus. Bis zu ihnen spritzte das Wasser, aber größere Schäden blieben aus. Anders am Ende des fast hundert Kilometer langen Fjords, wo auf einer flachen Halbinsel mehrere Kleinstädte und Dörfer beieinander lagen. Die Welle radierte sie aus und wurde erst vom dahinter liegenden Steilgebirge gestoppt. Dabei schlug die Gischt bis in eine Höhe von zweihundert Metern und rasierte jeglichen Pflanzenbewuchs ab, bevor die Wassermassen in sich zusammenstürzten und sich in den angrenzenden Flüssen weiter fortpflanzten.
   Der Trondheimfjord war breiter als der Sognefjord, und seine Wände waren weniger hoch. Weil er zudem nach hinten breiter wurde, konnten sich die Fluten besser verteilen. Dennoch war der Wasserberg, der Trondheim erreichte, noch hoch genug, um über den Hafen hinwegzufegen und einen Teil der Altstadt zu zerstören. Die Nidelva schoss über die Ufer und drängte in die Viertel Bakklandet und Mollenberg. Gischtlawinen mähten die alten Häuser nieder. In der Kirkegata fiel fast jedes Haus dem einströmenden Wasser zum Opfer, auch das von Sigur Johanson. Seine hübsche Fassade wurde eingedrückt, die Holzverkleidung zersplitterte, das Dach stürzte in die zusammenbrechende Front. Die Trümmer wurden fortgespült, nunmehr Teil der schäumenden Welle, die erst an den Grundmauern der NTNU ihre Kraft und Energie verlor, in wilden Wirbeln zum Stillstand kam und zurückzufließen begann.
   Die Olsens wohnten in einer Straße hinter der Kirkegata. Ihr Haus, aus Holz gebaut wie das von Johanson, hielt dem Ansturm des Tsunamis stand. Es zitterte und wankte. In der Wohnung kippten Möbel um, Geschirr ging zu Bruch, und der Boden der vorderen Zimmer neigte sich. Die Kinder gerieten in Panik. Olsen schrie seiner Frau zu, sie in den hinteren Bereich des Hauses zu bringen. Er wusste im Grunde nicht, was das Beste war, aber er dachte, wenn das Wasser von vorn gegen das Haus geschlagen war, müsse es im rückwärtigen Teil vielleicht sicherer sein. Während seine Familie dorthin flüchtete, wagte er sich atemlos an eines der vorderen Fenster, um hinauszusehen. Der Holzboden unter seinen Füßen bog sich weiter und knackte vernehmlich, ohne jedoch einzubrechen. Olsen klammerte sich an den Fensterrahmen, entschlossen, sofort nach hinten zu laufen, wenn eine weitere Welle auf das Haus zurollen sollte. Fassungslos blickte er auf die zerstörte Stadt, sah Bäume, Autos und Menschen in den Wasserwirbeln treiben, hörte Schreie und das Bersten in sich zusammenbrechender Mauern. Dann erschütterten mehrere Explosionen die Luft, und am Hafen stiegen schwarzrote Wolken empor.
   Es war das Grauenhafteste, was er je gesehen hatte. Dennoch verdrängte er den Schock zugunsten des einen Gedankens, seine Familie zu schützen. Was immer noch auf sie zukommen mochte, entscheidend war, dass seine Kinder und seine Frau überlebten.
   Und er selber, wenn möglich.
   Aber wie es schien, kam die Flut zum Stillstand.
   Olsen schaute noch eine Weile nach draußen, dann ging er vorsichtig ins Hinterhaus. Sofort wurde er mit Fragen bestürmt. Er sah in die angstgeweiteten Augen seiner Kinder und hob beruhigend die Hand, obwohl ihm schrecklich zumute war. Er sagte, dass wohl alles vorbei sei, und sie sollten sich keine Sorgen machen. Natürlich war nichts in Ordnung, gar nichts. Sie mussten irgendwie aus dem Haus gelangen. Ihm kam die Idee, über die Dächer zu flüchten, dorthin, wo das Wasser nicht hingelangt war. Seine Frau fand, er habe zu viele Filme von Hitchcock gesehen. Sie fragte ihn, wie er sich das mit vier Kindern vorstelle. Olsen wusste keine Antwort. Sie schlug vor, einfach abzuwarten. Etwas Besseres fiel ihm auch nicht ein, also stimmte er zu und ging wieder nach vorn zum Fenster.
   Als er diesmal hinaussah, bemerkte er, dass sich die Flut zurückzog. Immer schneller strebten die Wassermassen dem Fjord zu.
   Wir haben es überstanden, dachte er.
   Er beugte sich weiter vor. Im selben Moment ging ein Ruck durch das Haus. Olsen grub seine Finger in den Rahmen. Der Boden splitterte. Er wollte zurückspringen, aber da war nichts mehr. Ein riesiges Loch klaffte im Wohnzimmerboden. Regen schlug herein. Olsen kippte nach vorn. Zuerst dachte er, es habe ihn aus dem Fenster gerissen. Dann wurde ihm klar, dass sich die komplette vordere Hauswand ablöste, als sei sie eine schlecht aufgeklebte Pappe, und sich der Flut zuneigte.
   Er schrie aus Leibeskräften.
   Die Menschen auf Hawaii, die seit Generationen mit dem Ungeheuer lebten, wussten sehr genau, was sein Rückzug bedeutete. Die abfließenden Wassermassen erzeugten einen gewaltigen Sog, der alles, was noch stand oder sich zu halten versuchte, ins Meer spülte. Alles riss das Wasser mit sich fort. Menschen, die den ersten Akt der Katastrophe überlebt hatten, starben jetzt, und ihr Sterben verlief weit grausamer als das in der heranrasenden Welle. Es ging einher mit dem aussichtslosen Überlebenskampf in der brausenden Strömung, mit dem Anschwimmen gegen den unerbittlichen Sog, mit dem Nachlassen der Kräfte. Die Muskeln erlahmten. Man wurde von herumwirbelnden Gegenständen getroffen, Knochen brachen. In verzweifelter Gegenwehr klammerte man sich irgendwo fest, wurde losgerissen und trieb weiter davon zwischen Schlamm und Trümmern.
   Das Ungeheuer aus dem Meer kam an Land, um zu fressen, und wenn es sich zurückzog, nahm es seine Beute mit.
   All dies hatte Olsen nicht gewusst, als die Hauswand in den Mahlstrom kippte, aber es wurde ihm schlagartig klar, und darum schrie er. Er schrie um sein Leben. Er wusste, dass er nun sterben würde. Während er fiel, dröhnten weitere Explosionen vom Hafen, als demolierte Schiffe und Ölanlagen in die Luft flogen. Nahezu jedes elektrische System der Stadt war ausgefallen, Kurzschlüsse folgten dicht auf dicht. Vielleicht würde er schon darum sterben, weil das Wasser unter Starkstrom stand.
   Er dachte an seine Familie. An seine Kinder. Seine Frau.
   Dann dachte er kurz an Sigur Johanson und seine merkwürdigen Theorien, und er spürte eine rasende Wut in sich aufsteigen. Johanson war schuld. Er hatte ihm etwas verschwiegen. Etwas, das sie hätte retten können. Irgendetwas hatte der verdammte Hurensohn gewusst!
   Dann dachte er nichts mehr. Nur noch: Du bist tot.
   Mit ohrenbetäubendem Prasseln landete die Hauswand in einem großen Baum, der erstaunlicherweise noch stand. Olsen wurde kopfüber aus dem Fensterrahmen geschleudert. Seine Hände griffen ins Leere, bekamen etwas zu fassen. Blätter und Rinde. Unter sich sah er die schlammige Flut dahinbrausen. Er klammerte sich an den Ast, schwang zappelnd in der Luft und begann, sich hochzuziehen. Von oben regneten Teile des Giebels herab, Planken und Verputz. Sie verfehlten ihn knapp. Das dahinschießende Wasser riss große Teile der Fassade weg. Was einmal die Vorderfront seines Hauses gewesen war, verformte sich, splitterte und brach kreischend auseinander. In panischer Angst versuchte Olsen, näher an den Stamm zu gelangen. Seitlich unter ihm entsprang ein dickerer Ast, den er erreichen konnte. Vielleicht würde er seine Füße darauf stellen können. Er spürte, wie der riesige Baum ächzte und wankte, und hangelte sich keuchend vorwärts.
   Krachend stürzten die letzten Reste der Hauswand, Laub und Äste mit sich reißend, in die Flut. Ein Ruck fuhr durch Olsens Ast. Seine Finger glitten ab. Plötzlich hing er nur noch an einer Hand. Er schaute zwischen seinen Füßen hindurch und fühlte seine Kraft erlahmen. Wenn er jetzt stürzte, wäre sein Schicksal besiegelt. Mühsam drehte er den Kopf und versuchte, einen Blick auf sein Haus zu erhaschen, beziehungsweise auf das, was davon noch übrig war.
   Bitte, dachte er. Lass sie nicht tot sein.
   Das Haus stand noch.
   Und dann sah er seine Frau.
   Sie hatte sich auf Hände und Knie niedergelassen, war bis zur Kante gekrochen und sah zu ihm herüber. In ihren Zügen lag eine grimmige Entschlossenheit, als wolle sie sich im nächsten Moment ins Wasser stürzen, um ihm zur Hilfe zu kommen. Natürlich konnte sie ihm kein bisschen helfen, aber sie war da, und sie rief seinen Namen. Ihre Stimme klang fest und beinahe zornig, als solle er endlich seinen verdammten Arsch in Sicherheit bringen und nach Hause kommen, wo man auf ihn wartete.
   Olsen sah sie einen Moment lang einfach nur an.
   Dann spannte er die Muskeln. Seine freie Hand langte nach oben, packte zu. Er krallte die Finger ins Holz und begann, weiter vorzurücken, bis seine Füße direkt über dem dicken Ast schwebten. Langsam ließ er sich darauf nieder. Jetzt hatte er festen Halt. Er stand. Ein Zucken durchlief seine Schultern. Er löste die Finger, umschlang den Stamm, fühlte die Not des Baumes, sich zu halten in der Flut, drückte sein Gesicht gegen die Rinde und sah weiter hinüber zu seiner Frau.
   Es dauerte endlos. Der Baum hielt stand, und auch das Haus.
   Als das Wasser seinen Tribut ins Meer gezogen hatte, stieg er endlich zitternd hinab in die Wüste aus Trümmern und Schlamm. Er half seiner Frau und seinen Kindern, das Haus zu verlassen. Sie nahmen das Nötigste mit, Kreditkarten, Geld, Papiere und einige hastig zusammengesuchte persönliche Erinnerungen, die sie in zwei Rucksäcke packten. Olsens Auto war irgendwo in der Flut verschwunden. Sie würden laufen müssen, aber alles war besser, als hier zu bleiben.
   Schweigend verließen sie ihre zerstörte Straße, liefen auf die andere Seite des Flusses und fort von Trondheim.
 
Fiasko
 
   Die Welle breitete sich weiter aus.
   Sie überflutete die Ostküste Großbritanniens und den dänischen Westen. Auf der Höhe von Edinburgh und Kopenhagen wurde der Schelf extrem flach. Unvermittelt erhob sich dort die Doggerbank, ein Relikt aus der Zeit, als Teile der Nordsee noch trockenes Land waren. Die Doggerbank war lange Zeit eine Insel gewesen, auf der sich zahlreiche Tiere vor den immer höher auflaufenden Fluten zusammengedrängt hatten, bis sie schließlich ertranken. Jetzt lag die Bank dreizehn Meter unter dem Meeresspiegel, und sie staute die heranrollende Welle zu neuer Höhe.
   Südlich der Doggerbank standen Plattformen dicht an dicht, insbesondere entlang der britischen Südostküste und oberhalb Belgiens und der Niederlande. Die Welle wütete hier noch schlimmer als im nördlichen Teil, jedoch bremste die zerklüftete Struktur des Schelfs mit ihren Sandbänken, Spalten und Graten den Tsunami ab. Die friesischen Inseln wurden vollständig überflutet, verringerten die Energie der Welle aber um ein Weiteres, sodass sie Holland, Belgien und Norddeutschland mit verminderter Wucht traf. Nur noch knapp einhundert Stundenkilometer schnell erreichte die Wasserwand schließlich Den Haag und Amsterdam und zerstörte große Teile der seenahen Gebiete. Hamburg und Bremen erlebten ein rabiates Hochwasser. Sie lagen weiter im Landesinnern, dafür waren die Mündungen von Elbe und Weser kaum geschützt. Der Tsunami wälzte sich die Flussläufe entlang und überschwemmte das Umland, bevor er die Hansestädte erreichte. Selbst in London schwoll kurzzeitig die Themse an, trat über die Ufer und ließ Schiffe in Brücken krachen.
   Die Ausläufer der Flut schossen durch die Straße von Dover und waren noch in der Normandie und an der bretonischen Küste zu spüren. Nur die Ostsee mit Kopenhagen und Kiel entging dem Fiasko. Zwar rollte auch hier schwere See heran, aber wo Skagerrak und Kattegat ineinander flossen, verwirbelte der Tsunami und brach in sich zusammen. Dafür schlug die Welle im hohen Norden gegen die Küste Islands und erreichte noch Grönland und Spitzbergen.
   Die Olsens hatten unmittelbar nach der Katastrophe höheres Gelände aufgesucht. Knut Olsen vermochte später nicht zu sagen, warum sie so gehandelt hatten. Es war seine Idee gewesen. Möglicherweise besaß er dunkle Erinnerungen an einen Film über Tsunamis oder einen Bericht, den er irgendwann gelesen hatte. Vielleicht war es einfach nur Intuition. Aber ihre Flucht rettete der Familie das Leben.
   Die meisten Menschen, die das Kommen und Gehen eines Tsunamis überlebten, starben dennoch. Sie kehrten nach der ersten Welle zurück in ihre Dörfer und Häuser, um nachzusehen, was übrig war. Aber Tsunamis breiteten sich in mehreren aufeinander folgenden Wellen aus. Den extrem großen Wellenlängen war es zuzuschreiben, dass der nächste Wasserberg erst eintraf, wenn man die Katastrophe schon überstanden glaubte.