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»Seinetwegen ist Licia gestorben«, sagte Greywolf tonlos.
Li nickte. Plötzlich veränderten sich ihre Gesichtszüge. »Jack«, sagte sie beinahe sanft. »Es tut mir Leid. Ich verspreche Ihnen, sie wird nicht umsonst gestorben sein.«
»Sterben ist immer umsonst«, erwiderte Greywolf tonlos. Er wandte sich ab. »Wo sind meine Delphine?«
Li marschierte mit ihren Männern hinaus auf den Pier. Peak war ein solcher Idiot. Warum hatte er seine Leute nicht von vorneherein mit Explosivgeschossen bewaffnet? Weil man so was nicht hätte voraussehen können? Blödsinn! Es war genau das, was sie vorausgesehen hatte. Einen Haufen Probleme. Sie hatte nicht gewusst, auf welche Weise sie auftreten würden, aber dass sie auftreten würden, war ihr klar gewesen. Sie hatte es gewusst, bevor die ersten Wissenschaftler im Chateau eingetroffen waren, und entsprechende Vorkehrungen getroffen.
Im Becken schwappten nur noch ein paar Pfützen. Der Anblick war verheerend. Direkt zu ihren Füßen, vier Meter tiefer, lag der Kadaver des Orcas. Wo der Kopf mit dem zähnestarrenden Maul gewesen war, breitete sich rötlicher Matsch aus. Ein Stück weiter sah sie die reglosen Körper einiger Soldaten. Von den Delphinen war bis auf drei nicht das Geringste zu entdecken. Wahrscheinlich hatten die anderen es in ihrer Panik vorgezogen, das Schiff zu verlassen, solange die Schleuse noch offen gestanden hatte.
»Das ist ja eine gewaltige Sauerei«, sagte sie.
Das gestaltlose Ding in der Mitte des Beckens rührte sich kaum noch. Es hatte einen fahlweißen Ton angenommen. An den Rändern, wo der letzte Rest Wasser die Masse umspülte, bildeten sich kurze Tentakel, die wie Nattern über den Boden krochen. Das Wesen starb. So unheimlich seine Fähigkeit war, die Form zu ändern und Fangarme über Wasser auszuwerfen, so aussichtslos schien seine Lage jetzt. Die Oberseite des Gallertbergs zeigte erste Auflösungserscheinungen. Wachsklare Flüssigkeit tropfte daran herab.
Li rief sich in Erinnerung, dass der gestrandete Koloss kein Einzelwesen war, sondern ein Konglomerat aus Abermilliarden Einzellern, die soeben ihren Zusammenhalt verloren. Rubin hatte Recht. Sie mussten so viel wie möglich davon in Sicherheit bringen. Je schneller sie handelten, desto größere Mengen des Kollektivs würden überleben.
Anawak gesellte sich wortlos an ihre Seite. Li suchte weiter das Becken ab. Roscovitz’ baumelnden Körper, genauer gesagt das, was davon übrig war, beachtete sie nicht. Aus den Augenwinkeln gewahrte sie eine Bewegung am Grund des Beckens, ging bis zum Ende des Piers und kletterte eine Stiege hinunter. Anawak folgte ihr. Irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, das sich nun ihren Blicken entzog. Sie schritt in respektvollem Abstand an dem Torso entlang, dem ein unangenehmer Geruch zu entströmen begann, als sie Anawak von der anderen Seite rufen hörte. Eilig lief sie um den Berg herum und stolperte fast über Browning.
Die Technikerin lag mit aufgerissenen Augen halb unter dem schmelzenden Wesen.
»Helfen Sie mir«, sagte Anawak.
Gemeinsam zogen sie die Frau unter der Masse hervor. Das Zeug löste sich nur zäh und widerwillig von ihren Beinen. Die Tote erschien Li ungewöhnlich schwer. Ihr Gesicht glänzte wie lackiert, und Li beugte sich darüber, um die Sache genauer in Augenschein zu nehmen.
Brownings Oberkörper richtete sich auf.
»Scheiße!«
Li sprang zurück und sah, wie Brownings Gesicht epileptisch zu zucken begann und Grimassen produzierte. Die Technikerin warf die Arme hoch, öffnete den Mund und kippte wieder zurück. Ihre Finger formten sich zu Krallen. Sie schlug mit den Beinen aus, bog den Rücken durch und schüttelte mehrmals hintereinander heftig den Kopf.
Unmöglich! Vollkommen unmöglich!
Li war hartgesotten, aber jetzt packte sie nacktes Entsetzen. Sie starrte auf den lebenden Leichnam, während Anawak mit sichtlichem Widerwillen neben Browning in die Hocke ging.
»Jude«, sagte er leise. »Das sollten Sie sich ansehen.«
Li überwand ihren Ekel und trat näher heran.
»Hier«, sagte Anawak.
Sie sah genauer hin. Der glänzende Überzug auf Brownings Gesicht begann abzutropfen, und plötzlich erkannte sie, was es war. Klumpige, schmelzende Stränge zogen sich über Schultern und Hals der Technikerin und verschwanden in ihren Ohren …
»Es ist eingedrungen«, flüsterte sie.
»Das Zeug versucht, sie zu übernehmen.« Anawak nickte. Er war grauweiß im Gesicht, für einen Inuk ein bemerkenswerter Farbwechsel. »Wahrscheinlich kriecht es überall rein und macht sich mit den Gegebenheiten vertraut. Aber Browning ist nun mal kein Wal. Ich schätze, ein bisschen Restelektrizität in ihrem Hirn reagiert auf den Übernahme-Versuch.« Er machte eine Pause. »Es wird jeden Moment vorbei sein.«
Li schwieg.
»Es steuert alle möglichen Hirnfunktionen an«, sagte Anawak. »Aber es begreift keinen Menschen.« Er richtete sich auf. »Browning ist tot, General. Was wir sehen, ist ein zu Ende gehendes Experiment.«
Skeptisch musterte Bohrmann die Anzüge in der kleinen Tauchstation. Silbrig glänzende Körperhüllen mit verglasten Helmen, Segmentgelenken und Greifzangen. Wie leblose Puppen hingen sie in einem großen, offenen Stahlcontainer und starrten ins Nichts.
»Ich dachte eigentlich nicht, dass wir zum Mond fliegen«, sagte er.
»Gäärraaad!« Frost lachte. »In vierhundert Metern Tiefe ist es ähnlich wie auf dem Mond. Du wolltest unbedingt mit, also beschwer dich nicht.«
Eigentlich hatte Frost van Maarten mit auf den Tauchgang nehmen wollen, aber Bohrmann hatte zu bedenken gegeben, dass der Holländer sich am besten mit den Systemen der Heerema auskannte und oben gebraucht wurde. Unausgesprochen gab er damit der Möglichkeit Ausdruck, dass es unten zu Schwierigkeiten kommen könnte.
»Außerdem«, hatte er angemerkt, »ist es mir nicht recht, euch da rumfuhrwerken zu sehen. Ihr mögt exzellente Taucher sein, aber den Blick für Hydrate habe immer noch ich.«
»Darum sollst du ja hier bleiben«, konterte Frost. »Du bist unser Hydratexperte. Wenn dir was passiert, haben wir keinen mehr.«
»Doch. Wir haben Erwin. Er kennt sich ebenso gut aus wie ich. Besser sogar.«
Inzwischen war Suess aus Kiel eingetroffen.
»Ein Tauchgang ist aber kein Spaziergang«, sagte van Maarten. »Haben Sie schon getaucht?«
»Diverse Male.«
»Ich meine, waren Sie richtig tief unten?«
Bohrmann zögerte. »Ich war auf 50 Meter. Konventionelles Flaschentauchen. Aber ich bin in ausgezeichneter Verfassung. — Und blöde bin ich auch nicht«, fügte er trotzig hinzu.
Frost dachte nach.
»Zwei kräftige Männer werden reichen«, sagte er. »Wir nehmen kleine Sprengladungen und …«
»Da geht’s schon los«, rief Bohrmann entsetzt. »Sprengladungen.«
»Okay, okay!« Frost hob die Hände. »Ich sehe, das wird nichts ohne dich. Du kommst mit. Aber wehe, du heulst mir die Ohren voll, wenn’s ungemütlich wird.«
Jetzt standen sie im Innern des backbordigen Pontons, 18 Meter unter der Wasseroberfläche. Die Pontons waren geflutet, aber van Maarten hatte einen kleinen Bereich ausgespart, der über Steigleitern mit der Plattform verbunden war. Von hier war auch der Roboter heruntergelassen worden. Weil van Maarten wusste, dass auch bemannte Tauchgänge nicht auszuschließen waren und sie in einigen Hundert Metern Tiefe stattfinden würden, hatte er sich mit konventionellem Tauchgerät gar nicht erst abgegeben und Anzüge bei Nuytco Research in Vancouver geordert, einem Unternehmen, das für bahnbrechende Innovationen bekannt war.
»Sehen schwer aus«, sagte Bohrmann.
»90 Kilogramm, vorwiegend Titanium.« Frost tätschelte einem der Helme beinahe liebevoll die verglaste Front. »Ein Exosuit ist ein schwerer Brocken, aber unter Wasser merkst du nichts davon. Du kannst nach Belieben rauf und runter. Der Anzug wird mit Sauerstoff gespeist und umhüllt dich komplett, es gibt also kein Ausperlen von Stickstoff im Blut. Damit sparst du dir die dämlichen Dekompressionspausen.«
»Er hat Flossen.«
»Genial, was? Statt zu sinken wie ein Stein, schwimmst du wie ein Froschmann.« Frost deutete auf die zahlreichen Gelenkringe. »Die Konstruktion ermöglicht dir noch in vierhundert Metern Tiefe volle Bewegungsfreiheit. Die Hände sind in Halbkugeln geschützt. Handschuhe waren nicht drin, zu empfindlich, aber beide Arme enden in einem computergesteuerten Greifsystem. Die Sensoren vermitteln eine Art künstlichen Tastsinn ins Innere. Du kannst dein Testament damit unterschreiben, so empfindlich reagieren sie.«
»Wie lange können wir unten bleiben?«
»48 Stunden«, sagte van Maarten. Als er Bohrmanns erschrockenen Gesichtsausdruck sah, grinste er. »Keine Angst, so lange werden Sie nicht brauchen.« Er deutete auf zwei torpedoförmige Roboter, jeder knapp einen Meter fünfzig Meter lang, mit Propeller und verglaster Spitze. Eine mehrere Meter lange Leine entsprang der Oberseite, die in einer Konsole mit Griff, Display und Tasten endete. »Das sind eure Trackhounds. Suchhunde, AUVs. Sie sind auf die Lichtinsel programmiert. Die Zielgenauigkeit beträgt wenige Zentimeter, also versucht nicht, euch zurechtzufinden, sondern lasst euch einfach ziehen. Die Dinger legen vier Knoten vor, ihr seid in drei Minuten unten.«
»Wie sicher ist die Programmierung?«, fragte Bohrmann skeptisch.
»Sehr sicher. Trackhounds haben diverse Sensoren zur Erfassung von Tauchtiefe und Eigenposition. Verfahren könnt ihr euch jedenfalls nicht, und wenn euch was in die Quere kommen sollte, weicht der Trackhound aus. Über die Bedienkonsole am Ende der Leine aktiviert ihr die Programmierung. Hinweg, Rückweg, ganz einfach. Die Taste mit der 0 startet den Propeller, ohne dass eine Programmierung wirksam wird. In diesem Fall könnt ihr den Trackhound mit dem Joystick darunter steuern, und das Hündchen läuft, wohin ihr wollt. — Noch Fragen?«
Bohrmann schüttelte den Kopf.
»Dann los.«
Van Maarten half ihnen in die Anzüge. Man stieg in den Exosuit durch eine Klappe im Rücken, auf der die beiden Sauerstofftanks montiert waren. Bohrmann kam sich vor wie ein Ritter in vollem Ornat, der auf dem Mond spazieren gehen will. Als sich der Anzug schloss, war er kurz von allen Geräuschen abgeschlossen, dann hörte er wieder etwas. Durch die große, gebogene Sichtfläche sah er Frost in seinem Anzug sprechen und vernahm dessen dröhnende Stimme im Helm. Auch die Außengeräusche drangen wieder an sein Ohr.
»Sprechfunk«, erklärte Frost, »ist besser als Rumwedeln mit den Händen. Kommst du mit den Greifern zurecht?«
Bohrmann bewegte die Finger in der Kugel. Die künstliche Zangenhand machte jede Bewegung mit.
»Ich denke schon.«
»Versuch die Konsole zu greifen, die van Maarten dir anreicht.«
Es klappte beim ersten Versuch. Bohrmann atmete auf. Wenn alles so einfach war wie die Bedienung dieser Greifzangen, konnten sie drei Kreuze machen.
»Noch was. In Taillenhöhe siehst du ein rechteckiges Feld, einen flachen Schalter. Es ist ein POD.«
»Ein was?«
»Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen oder dich beunruhigen müsstest. Eine Sicherheitsmaßnahme. Wir werden kaum in die Situation kommen, aber falls doch, sage ich dir, wofür es gut ist. Um es einzuschalten, musst du einfach kräftig dagegenschlagen. Okay?«
»Was ist ein POD?«
»Eine Erleichterung beim Tauchen. Ich erklär’s dir irgendwann.«
»Ich wüsste wirklich gerne …«
»Später. Bist du bereit?«
»Bereit.«
Van Maarten öffnete den Schleusentunnel. Hellblaues, beleuchtetes Wasser schwappte zu ihren Füßen.
»Einfach reinfallen lassen«, sagte er. »Ich werfe den Trackhound hinterher. Wartet, bis ihr aus der Schleuse raus seid, dann schaltet eure Trackhounds ein.
Nacheinander, Frost zuerst.«
Bohrmann schob die Flossen über die Kante. Jede kleinste Bewegung in dem Anzug kam einem Kraftakt gleich. Er holte tief Luft und ließ sich nach vorn kippen. Wasser schlug ihm entgegen. Er vollführte einen Purzelbaum, sah die Lichter der Schleuse über sich hinweghuschen und gelangte wieder in aufrechte Position. Langsam sank er nach unten und aus dem Schleusentunnel hinaus ins Meer, wo er mitten in einem Fischschwarm landete. Glitzernde Leiber stoben zu Tausenden nach allen Seiten weg, fanden sich zu einer lebenden Spirale und ballten sich zusammen. Mehrmals hintereinander veränderte der Schwarm seine Form, streckte sich und floh. Bohrmann sah den Trackhound neben sich und sank tiefer. Über ihm leuchtete die Schleuse im dunklen Rumpf des Pontons. Er schlug mit den Flossen und stellte fest, dass er seine Position stabilisierte. Vom Gewicht des Anzugs war nichts mehr zu spüren. Eigentlich fühlte er sich ausgesprochen wohl. Ein tragbares Unterseeboot.
Frost folgte in einem Kokon aus Luftblasen. Er sank auf Bohrmanns Höhe hinab und sah ihn durch die Glasscheibe des Helms an. Erst jetzt registrierte Bohrmann, dass der Amerikaner auch im Exosuit seine Baseballkappe aufbehalten hatte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Frost.
»Wie R2-D2’s größerer Bruder.«
Frost lachte. Der Propeller seines Trackhounds begann sich zu drehen. Unvermittelt senkte der Roboter die Nase ab und zog den Vulkanologen in die Tiefe. Bohrmann betätigte die Programmierung. Es gab einen Ruck, und er kippte kopfüber. Schlagartig wurde es dunkler. Van Maarten hatte Recht. Es ging tatsächlich schnell. Schon nach kurzer Zeit herrschte schwärzeste Finsternis. Nichts war zu sehen außer dem diffusen Lichtschein, den die Hunde verstrahlten.
Zu seiner Überraschung bereitete ihm die Dunkelheit Unbehagen. Hunderte von Malen hatte er vor Bildschirmen gesessen und die Tauchgänge von Robotern überwacht, die in die Tiefen der Abyssale vorgestoßen waren oder noch weiter ins Benthos. Er war mit der Alvin, dem legendären Tauchboot, auf 4000 Meter gewesen. Dennoch war es etwas gänzlich anderes, in diesem Anzug zu stecken und von einem elektronischen Hund ins Ungewisse gezogen zu werden.
Hoffentlich war das Ding in seiner Hand richtig programmiert, sonst landete er Gott weiß wo.
Der Scheinwerfer beleuchtete Planktonregen. Steil ging es weiter abwärts. In Bohrmanns Helm erklang das elektronische Summen des Trackhounds. Weiter vorn bemerkte er ein filigranes Wesen, das mit trägen, pulsierenden Bewegungen durch die Nacht trieb. Es war von unglaublicher Schönheit, eine Tiefseemeduse, die einem Raumschiff gleich ringförmige Lichtsignale aussandte. Bohrmann hoffte, dass es keine Angstsignale vor irgendeinem größeren Ungetüm waren, das ihr folgte. Dann war die Qualle seinen Blicken entschwunden. Weitere Quallen in größerer Entfernung leuchteten auf, und plötzlich breitete sich direkt vor ihm eine weiße, blitzende Wolke aus. Er schrak zusammen. Aber die Wolke war weiß und nicht blau, und der Urheber biolumineszierte schwach, bevor er darin verschwand. Bohrmann wurde klar, was er da vor sich hatte. Es war ein Mastigotheutis, ein Tintenfisch, der für gewöhnlich erst in etwa 1000 Meter Tiefe vorkam. Dass er weiße Tinte gegen Eindringlinge verströmte, ergab Sinn — schwarze Tinte in schwärzester Dunkelheit war keine Hilfe.
Der Hund zog und zog.
Bohrmann suchte die Tiefe vor sich nach dem Schein der Lichtinsel ab, aber da war nichts als Schwärze, abgesehen von dem hellen Punkt, der Frost vorauseilte. Sofern er überhaupt eilte. Er hätte ebenso gut stillstehen können. Zwei stillstehende Lichter, seines und Frosts, in einem sternenlosen Weltraum.
»Stanley?«
»Was gibt’s?«
Die prompte Antwort beruhigte ihn.
»Wir müssten bald mal was sehen, oder?«
»Du bist ungeduldig, mein Freund. Schau auf dein Display. Das waren erst zweihundert Meter.«
»Oh. Klar, natürlich.«
Bohrmann traute sich nicht zu fragen, ob Frost der Programmierung des Trackhounds vertraute, also schwieg er und versuchte, seine aufkommende Nervosität zu unterdrücken. Er begann sich ein paar Medusen herbeizuwünschen, aber nichts ließ sich blicken. Der Roboter summte fleißig, und plötzlich änderte er spürbar die Richtung.
Da war etwas. Bohrmann sah genauer hin. In der Ferne dämmerte ein Lichtschein. Erst nur ahnbar, dann von diffus rechteckiger Form.
Tiefe Erleichterung durchströmte ihn. Brav, hätte er am liebsten gesagt. Braver Hund. Guter Hund.
Wie klein die Lichtinsel wirkte.
Während er noch darüber nachdachte, rückte sie näher, wurde heller und ließ Details erkennen, einzelne Spots, aufgereiht entlang des Gestänges. Sie trieben weiter darauf zu, und plötzlich hing die Insel riesig und strahlend über ihnen. Natürlich schwebten in Wirklichkeit sie über der Insel, aber der Flug kopfüber vertauschte Oben und Unten, sodass nun auch die Terrasse über ihren Köpfen hängend sichtbar wurde. Kurz war Frosts Gestalt auszumachen, ein Schatten, gezogen von einem Torpedo an der Leine, der dem lichtdurchströmten Fußballfeld entgegenstürzte. Alles lag deutlich vor ihnen. Die Hangterrasse, der Saugrüssel, dessen schwarzer Schlangenköper aus der Dunkelheit ragte, die Brocken, die seine Öffnung blockierten …
Das Gewimmel der Würmer.
»Schalt deinen Hund aus, bevor du in die Lichtorgel rasselst«, sagte Frost. »Die letzten paar Meter schwimmen wir.«
Bohrmann bewegte die Finger der freien Hand und versuchte, mit dem Greifer das Tastenfeld zu bedienen. Diesmal war er weniger geschickt. Er schaffte es nicht auf Anhieb und flog an Frost vorbei, der langsamer geworden war.
»He, Gärraad! Wo willst du hin, zum Teufel?«
Er probierte es erneut. Der Greifer rutschte ab, dann endlich gelang es ihm, den Hund zu stoppen. Bohrmann schlug mit den Flossen und brachte sich in waagerechte Position. Er war der Lichtinsel tatsächlich ziemlich nahe gekommen. Endlos erstreckte sie sich nach allen Seiten. Nach einigen Sekunden kehrte sein Sinn für Oben und Unten zurück, und Insel und Hang lagen unter ihm.
Mit gleichmäßigen Bewegungen schwamm er zu dem eingekeilten Schlauch und ließ sich daneben niedersinken. Die Lichtinsel schwebte jetzt etwa fünfzehn Meter über ihm. Sofort begannen die Würmer, über seine Flossen zu kriechen. Er musste sich zwingen, sie zu ignorieren. Sie konnten dem Material des Anzugs nicht das Geringste anhaben, und im Übrigen waren sie einfach nur ekelhaft. Keinem Lebewesen seiner Größe würde so ein Wurm je gefährlich werden.
Andererseits, was wusste man schon von Würmern, die es gar nicht hätte geben dürfen?
Der Trackhound war neben ihm zu Boden gesunken. Bohrmann parkte ihn auf einem Felsvorsprung und sah am Schlauch empor. Mannshohe Brocken aus schwarzem Lavagestein blockierten die Propeller der Motoren. Damit ließ sich fertig werden. Sorgen bereitete ihm der größere Keil, der den Rüssel gegen die Felswand drückte. Er mochte etwa vier Meter hoch sein. Bohrmann bezweifelte, ob sie ihn zu zweit bewegen konnten, auch wenn unter Wasser alles weniger wog und Lavagestein porös und leicht war.
Frost gesellte sich an seine Seite.
»Widerlich«, sagte er. »Überall die Söhne Luzifers.«
»Wer, bitte?«
»Gewürm! Gekreuch! Die biblischen Plagen. Na ja, Schwamm drüber. Ich schlage vor, wir nehmen uns die kleineren Brocken vor und schauen, wie weit wir kommen. — Van Maarten?«, rief er.
»Hier«, erklang blechern van Maartens Stimme. Bohrmann hatte völlig vergessen, dass sie auch mit der Heerema verbunden waren.
»Wir werden jetzt ein bisschen aufräumen. Als Erstes legen wir die Motoren frei. Vielleicht reicht das ja, und der Schlauch kann sich aus eigenem Antrieb befreien.«
»In Ordnung. — Geht’s Ihnen gut, Dr. Bohrmann?«
»Alles bestens.«
»Passt auf euch auf.«
Frost deutete auf ein annähernd rundes Stück Stein, welches das Drehgelenk eines der Propeller blockierte. »Damit fangen wir an.«
Sie machten sich daran, den Stein beiseite zu wälzen. Nachdem sie eine Weile daran gezerrt und gezogen hatten, rutschte er weg, gab das Motorengelenk frei und zerquetschte bei der Gelegenheit ein paar hundert Würmer unter sich.
»Yeah«, sagte Frost befriedigt.
Zwei weitere Brocken ließen sich auf die gleiche Weise verrücken. Der nächste Stein war größer, aber nach einiger Mühe kippte auch er schließlich zur Seite.
»Wie stark man doch unter Wasser ist«, freute sich Frost. »Jan, wir haben die Motoren bis auf einen frei. Sie sehen nicht beschädigt aus. Kannst du sie mal in den Gelenken drehen? Nicht einschalten, nur drehen!«
Es vergingen einige Sekunden, dann erklang ein schnurrendes Geräusch. Eine der Turbinen drehte sich in ihrem Gelenk hin und her. Gleich darauf bewegten sich auch die anderen.
»Sehr gut«, rief Frost. »Jetzt versucht’s mal. Werft die Dinger an.«
Sie brachten einige Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und den Schlauch und sahen zu, wie die Propeller starteten.
Der Schlauch ruckelte. Mehr geschah nicht.
»Fehlanzeige«, sagte van Maarten.
»Ja, das sehe ich selber.« Frost schaute missmutig drein. »Versucht es weiter. Dreht die Dinger in eine andere Richtung.«
Auch das funktionierte nicht, aber dafür begannen die Propeller Schlamm aufzuwirbeln. Vor ihren Augen wurde es trübe.
»Stopp!« Bohrmann wedelte mit seinen segmentierten Armen. »Aufhören da oben! Das hat keinen Zweck, ihr versaut uns nur die Sicht.«
Die Propeller kamen zur Ruhe. Die Schlammwolke verteilte sich und zog helle Schlieren. Vom unteren Schlauchende war kaum noch etwas zu erkennen.
»Na schön.« Frost öffnete eine flache Box seitlich des Exosuits und entnahm ihr zwei bleistiftgroße Gebilde. »Unser Problem ist der Riesenklotz da. Ich weiß, es wird dir nicht gefallen, Gärraad, aber wir müssen das Mistding wegsprengen.«
Bohrmanns Blick wanderte zu den Würmern, die den frei gesaugten Grund zunehmend wieder in Besitz nahmen.
»Das ist riskant«, sagte er.
»Wir nehmen eine kleine Sprengladung. Ich schlage vor, wir platzieren sie an der Basis, da, wo sich der Keil in den Grund gebohrt hat. Wir reißen ihm sozusagen die Beine weg.«
Bohrmann stieß sich ab, schwebte einen Meter in die Höhe und auf den Keil zu. Um ihn herum wurde es schlammig und trübe. Er schaltete die Helmbeleuchtung ein und ließ sich in die Sedimentwolke sinken. Vorsichtig ging er in die Knie und brachte seinen Helm so dicht wie möglich an die Stelle, wo der Brocken im Untergrund steckte. Mit den Greifern fegte er die Würmer beiseite. Einige stülpten blitzartig ihren Hakenschlund aus und versuchten, sich in den künstlichen Gliedmaßen zu verbeißen. Bohrmann schüttelte sie ab und untersuchte die Sedimentstruktur. Er sah feine, schmutzig weiße Adern. Als er mit dem Greifer hineinstieß, zersplitterte das umliegende Gestein, und feine Blasen trudelten ihm entgegen.
»Nein«, sagte er. »Das ist keine gute Idee.«
»Hast du eine bessere?«
»Ja. Wir nehmen eine größere Ladung, suchen im unteren Drittel des Brockens nach Einkerbungen und Spalten und sprengen ihn dort auseinander. Mit etwas Glück kippt der obere Teil ab, und wir ziehen den Untergrund nicht in Mitleidenschaft.«
»In Ordnung.«
Frost kam zu ihm in die Wolke. Sie stiegen ein Stück auf. Die Sicht wurde besser. Systematisch begannen sie den Keil auf geeignete Stellen zu untersuchen. Schließlich fand Frost eine tiefe Kerbe und drückte etwas hinein, das wie festes, graues Knetgummi aussah. Dann steckte er ein bleistiftdünnes Stäbchen in die Masse.
»Das müsste reichen«, sagte er befriedigt. »Wird ordentlich prasseln. Wir sollten weit genug weg sein.«
Sie schalteten die Trackhounds ein und ließen sich von ihnen bis zum Rand der beleuchteten Zone ziehen, wo sich der Hang nach wenigen Metern in völliger Schwärze verlor. Der Partikelflug hielt sich in Grenzen, sodass die Lichtwellen kaum von Algen und anderen Schwebstoffen reflektiert wurden, dennoch geschah der Übergang abrupt. Licht verschwand unter Wasser in der Reihenfolge seiner Wellenlängen — zuerst Rot nach zwei bis drei Metern, dann Orange, schließlich Gelb. Jenseits von zehn Metern behaupteten sich nur noch Grün und Blau, bis Absorption und Streuung auch diesen Restbetrag geschluckt hatten. Ab da hörte die Welt auf zu existieren.
Bohrmann widerstrebte es, sich aus der relativen Sicherheit des beleuchteten Abschnitts ins absolute Nichtvorhandensein zu wagen. Erleichtert registrierte er, dass Frost keinen größeren Sicherheitsabstand für nötig hielt. Wo sich das Blau im tintigen Schwarz verlor, entdeckte er schemenhaft einen Spalt in der Wand. Vielleicht lag eine Höhle dahinter. Er stellte sich vor, wie dieses Gestein damals rot glühend herabgeflossen war, ein zäher Brei, der langsam erkaltete und zu bizarren Formen erstarrte. Unwillkürlich wurde ihm kalt in seiner Rüstung. Kalt von der Vorstellung, hier unten ein Leben verbringen zu müssen.
Er sah hinauf zur Lichtinsel. Um die weißen Scheinwerfer im Gestänge erstrahlte nichts als eine blaue Aura.
»Gut«, sagte Frost. »Bringen wir’s hinter uns.«
Er betätigte den Zünder.
Aus der Mitte des Keils platzte ein großer Schwall Luftblasen, vermischt mit Splittern und Staub. Es wummerte in Bohrmanns Helm. Ein dunkler Ring breitete sich aus, weitere Luftblasen folgten und trugen die Trümmerstücke nach allen Seiten davon.
Er hielt den Atem an.
Langsam, ganz langsam begann sich die obere Hälfte des Keils zu neigen.
»Yeah!«, schrie Frost. »Der Herr ist mein Zeuge!«
Immer schneller kippte der Keil, gezogen von seinem eigenen Gewicht. Er brach in der Mitte über die noch stehende Hälfte hinweg, schlug neben der Röhre auf und erzeugte eine neue, noch gewaltigere Sedimentwolke. Frost schaffte es, in seiner schweren Montur Sprünge zu vollführen und mit den Armen zu wedeln. Er sah aus wie Armstrong, der für Amerika über den Mond hüpfte.
»Halleluja! He, van Maarten! Mijnheer! Wir haben das Scheißding kleingekriegt. Los, versuchen Sie Ihr Glück.«
Bohrmann hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Erschütterung keine weiteren Abbruche nach sich ziehen würde. Im aufgewirbelten Schlamm hörte er die Motoren starten, und plötzlich bewegte sich der Schlauch. Er krümmte sich, dann hob sich der Schlund wie der Kopf eines gigantischen Wurms aus der Wolke und stieg langsam nach oben. Die Öffnung wandte sich in seine, dann in die entgegengesetzte Richtung, als erkunde das Ding sein Umfeld. Hätte Bohrmann nicht gewusst, was er da vor sich hatte, er wäre sich vorgekommen wie halb verspeist.
»Es klappt!«, schrie Frost.
»Ihr seid die Größten«, bemerkte van Maarten trocken.
»Das ist nichts Neues«, versicherte ihm Frost. »Schalten Sie ihn wieder ab, bevor er Gärraad und mich frisst. Wir sehen uns nochmal die Stelle an, wo er gelegen hat. Dann kommen wir hoch.«
Der Schlauch stieg ein weiteres Stück, ließ sein rundes Maul sinken und baumelte leblos im Licht. Frost schwamm los. Bohrmann folgte ihm. Sein Blick wanderte zur Insel und wieder zurück. Etwas irritierte ihn, ohne dass er zu sagen vermochte, was es war.
»Trübe Angelegenheit«, meinte Frost angesichts der Wolke. »Sieh mal nach dem Rechten, Gärraad. Du erkennst in der Brühe mehr als ich.«
Bohrmann schaltete den Scheinwerfer seines Trackhounds ein. Dann überlegte er es sich und schaltete ihn wieder aus.
Was war da? Spielten ihm seine Sinne einen Streich?
Sein Blick wanderte erneut zur Lichtinsel. Diesmal sah er länger hinauf. Es kam ihm vor, als verströmten die Strahler ein stärkeres Licht als zuvor, aber das war unmöglich. Sie hatten die ganze Zeit über ihre volle Leuchtkraft entfaltet.
Es waren nicht die Strahler. Es war die blaue Aura. Sie hatte sich vergrößert.
»Siehst du das?«, Bohrmann deutete mit dem Arm zur Insel. Frost folgte der Bewegung mit Blicken.
»Ich kann nichts …« Er stockte. »Na so was.«
»Das Licht«, sagte Bohrmann. »Das blaue Leuchten.«
»Ariel und Uriel«, flüsterte Frost. »Du hast Recht. Es breitet sich aus.«
Um die Insel hatte sich ein großer, dunkelblauer Hof gebildet. Entfernungen waren unter Wasser schwer einzuschätzen, zumal der Lichtbrechungsindex alles ein Viertel näher und ein Drittel größer erscheinen ließ, aber eindeutig lag die Quelle des blauen Leuchtens ein ganzes Stück hinter der Insel. Die Halogenlampen im Gestänge blendeten ihn. Dennoch war es Bohrmann, als sehe er Blitze zucken. Dann verlor das Blau plötzlich an Intensität, wurde schwächer und erlosch.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Bohrmann. »Ich denke, wir sollten aufsteigen.«
Frost antwortete nicht. Er starrte weiter auf die Insel.
»Stan? Hörst du? Wir sollten …«
»Nicht so hastig«, sagte Frost langsam. »Wir bekommen nämlich gerade Besuch.«
Er zeigte zum oberen Rand der Insel. Zwei längliche Schatten flitzten dort entlang. Blau beschienene Bäuche.
Im nächsten Moment waren sie verschwunden.
»Was war das?«
»Ganz ruhig, Junge. Schalt dein POD ein.«
Bohrmann drückte gegen den Sensor am Bauch des Exosuits.
»Ich wollte dich nicht beunruhigen«, sagte Frost. »Ich dachte, wenn ich dir erzähle, wozu es gut ist, wirst du vielleicht nervös und hältst ständig nur Ausschau nach …«
Weiter kam er nicht. Mitten aus dem Gestänge schossen zwei torpedoförmige Leiber hervor. Bohrmann sah bizarr geformte Köpfe. Die Tiere kamen geradewegs auf sie zu, mit unglaublicher Geschwindigkeit, die Kiefer vorgestülpt, die Mäuler weit offen. Wie eine Faust aus Eis schloss sich die Angst um sein Herz. Er stieß sich ab, trudelte nach hinten und hob schützend die Arme vor den Helm. Keine dieser Reaktionen ergab wirklich Sinn, aber soeben triumphierten die Instinkte der Frühzeit über seinen zivilisierten, hoch technisierten Geist. Sie befahlen ihm aufzuschreien, und Bohrmann gehorchte.
»Sie können dir nichts tun«, sagte Frost mit Nachdruck.
Dicht vor ihm drehten die Angreifer ab. Bohrmann schnappte nach Luft und kämpfte die Panik herunter. Frost schwamm mit schnellen Flossenschlägen an seine Seite.
»Wir haben das POD bereits getestet«, sagte er. »Es funktioniert.«
»Was zum Teufel ist denn ein POD?«
»Ein Protective Ocean Device. Der beste Schutz gegen Haie. Das POD baut ein elektrisches Feld auf, das dich wie ein Schutzwall umgibt. Sie kommen nicht näher als fünf Meter an dich heran.«
Bohrmann keuchte und versuchte, den Schock zu verwinden. Die Tiere waren in weitem Bogen hinter der Lichtinsel verschwunden.
»Die waren näher als fünf Meter«, sagte er.
»Nur beim ersten Mal. Jetzt haben sie ihre Lektion gelernt. Beruhige dich. Haie verfügen über hoch empfindliche elektrosensorische Organe. Das Feld überflutet sie mit Reizen und stört ihr Nervensystem. Es verursacht ihnen schmerzhafte Muskelkrämpfe. Wir haben Weißhaie und Tigerhaie mit Ködern angelockt und dann das POD aktiviert, und sie konnten das Feld nicht durchdringen.«
»Dr. Bohrmann? Stanley?« Van Maartens Stimme.
»Seid ihr okay?«
»Alles in Ordnung«, sagte Frost.
»POD hin, POD her, ihr solltet hoch kommen.«
Bohrmanns Augen suchten nervös die Lichtinsel ab. Was Frost ihm da erzählte, wusste er zum größten Teil. Haie besaßen im vorderen Bereich ihres Kopfes kleine Gruben, so genannte Lorenzinische Ampullen. Selbst schwächste elektrische Impulse nahmen sie damit wahr, wie sie durch Muskelbewegungen anderer Tiere erzeugt wurden. Er hatte nur nicht gewusst, dass es ein POD gab, mit dem man den elektrischen Sinn stören konnte.
»Das waren Hammerhaie«, sagte er.
»Große Hammerhaie, ja. Jeder um die vier Meter, schätze ich.«
»Scheiße.«
»Bei Hammerhaien funktioniert es besonders gut.« Frost kicherte. »Guck dir ihren Quadratschädel an. Sie haben mehr Lorenzinische Ampullen als jeder andere Hai.«
»Und jetzt?«
Er sah eine Bewegung. Aus dem Dunkel hinter der Insel kamen die beiden Haie erneut zum Vorschein. Bohrmann rührte sich nicht. Er beobachtete, wie die Tiere zum Angriff übergingen. Zielstrebig, ohne die typischen pendelnden Kopfbewegungen, mit denen Haie Duftspuren im Wasser folgten, stießen sie herab, um plötzlich abzustoppen, als seien sie gegen eine Mauer geschwommen. Ihre Mäuler verzerrten sich. Verwirrt schwammen sie ein Stück in die entgegengesetzte Richtung, dann kehrten sie zurück und begannen die Taucher nervös, aber in respektvollem Abstand zu umkreisen.
Es funktionierte tatsächlich.
Frost durfte mit seiner Einschätzung richtig liegen. Jedes der Exemplare maß gut und gern vier Meter. Der Körper war haitypisch. Hingegen wies ihr Kopf eine höchst eigentümliche Form auf, die den Tieren ihren Namen eingetragen hatte. Die Seiten waren zu abgeflachten Flügeln verlängert, an deren äußeren Enden sich Augen und Nasenöffnungen befanden. Die Vorderkante des Hammers war glatt und gerade wie ein Beil.
Langsam begann er sich besser zu fühlen. Wahrscheinlich hatte er sich wie ein Idiot verhalten. Er schätzte, dass die Tiere nicht mal in der Lage waren, dem Exosuit etwas anzuhaben.
Dennoch wollte er weg.
»Wie lange brauchen wir nach oben?«, fragte er.
»Wenige Minuten mit dem Trackhound. Nicht länger als runter. Wir schwimmen über die Lichtinsel. Dort schalten wir die Programmierung ein und lassen uns hoch ziehen.«
»In Ordnung.«
»Nicht vorher einschalten, hörst du? Sonst rasselst du mir noch in die Beleuchtung!«
»Okay.«
»Geht’s dir gut?«
»Ja, verdammt! Alles bestens. Wie lange hält der Schutz?«
»Das POD holt locker vier Stunden aus dem Akku.« Frost stieg mit gleichmäßigen Flossenschlägen nach oben, die Konsole des Trackhounds im Greifer des rechten Arms. Bohrmann folgte ihm.
»Tja, ihr Lieben«, sagte Frost. »Wir müssen euch leider verlassen.«
Die Haie nahmen die Verfolgung auf. Sie versuchten, näher heranzukommen. Ihre Körper zuckten, die Mäuler verzerrten sich. Frost lachte und paddelte weiter auf die Lichtinsel zu. Seine Silhouette hing klein und bläulich vor der riesigen, leuchtenden Fläche, die Konturen überstrahlt. Weiß und Blau, die Farben der Tiefe.
Bohrmann dachte an die blaue Wolke, die sie in der Ferne gesehen hatten.
Natürlich!
Plötzlich fiel sie ihm wieder ein. Vor lauter Schreck hatte er völlig vergessen, dass sie sich unmittelbar vor dem Erscheinen der Haie gebildet hatte. Dasselbe Phänomen war für die Veränderung der Wale verantwortlich gewesen und wahrscheinlich für eine ganze Reihe weiterer Anomalien und Katastrophen. Wenn das stimmte, hatten sie es nicht mit gewöhnlichen Haien zu tun.
Warum waren die Tiere überhaupt hier? Haie hörten ausgezeichnet. Vielleicht hatte sie der Krach angelockt. Aber warum griffen sie an? Weder er noch Frost sonderten irgendwelche Düfte ab. Sie passten nicht ins Beuteschema. Überhaupt waren Haiattacken auf Menschen im tiefen Wasser äußerst selten.
Sie näherten sich dem oberen Rand der Insel.
»Stan? Mit den beiden ist irgendwas nicht in Ordnung.«
»Sie können dir nichts tun.«
»Trotzdem.«
Einer der Haie drehte seinen flachen, breiten Kopf und schwamm ein Stück abseits.
»Obwohl, ganz Unrecht hast du nicht«, sinnierte Frost. »Was mich stutzig macht, ist die Tiefe. Große Hammerhaie sind nie tiefer als 80 Meter beobachtet worden. Ich frage mich, was sie hier …«
Der Hai drehte um. Einen Moment stand er still, den Kopf leicht angehoben, den Rücken nach oben gewölbt, die klassische Drohstellung. Dann schlug er mehrmals heftig mit dem Schwanz und raste pfeilgerade auf Frost zu. Der Vulkanologe war so überrascht, dass er nicht einmal den Versuch einer Abwehr unternahm. Das Tier bäumte sich kurz und heftig auf, dann schwamm es in das Feld und rammte Frost mit der Breitseite seines Körpers.
Frost drehte sich wie ein Kreisel um seine Achse, Arme und Beine gespreizt.
»He!« Die Konsole entfiel seinem Greifer. »Was zum Donnerwetter …«
Über dem Gestänge tauchte wie aus dem Nichts ein dritter Körper auf. Er schnellte über die obere Reihe der Scheinwerfer mit unheimlicher Eleganz. Dunkel, hohe Rückenflosse, hammerförmiger Kopf.
»Stan!«, schrie Bohrmann.
Der Neuankömmling war riesig, weit größer als die beiden anderen Haie. Sein Hammer klappte nach oben, als er die Zahnreihen vorstülpte und den Rachen weit aufriss. Er packte Frosts rechten Oberarm und begann daran zu rütteln.
»Scheiße«, zeterte Frost. »Was ist das denn für ein Vieh? Ausgeburt der Hölle! Lässt du mich wohl los, du …«
Der Hammerhai schüttelte wild seinen großen, eckigen Kopf, wobei er mit der Schwanzflosse gegensteuerte. Er musste zwischen sechs und sieben Meter messen. Frost wurde hin-und hergewirbelt wie ein Blatt. Sein gepanzerter Arm war bis zur Schulter im Maul des Hais verschwunden.
»Hau ab!«, schrie er.
»Um Gottes willen, Stan«, rief van Maarten. »Schlag ihm auf die Kiemen. Versuch, seine Augen zu erreichen.«
Natürlich, dachte Bohrmann. Oben sehen sie zu. Sie sehen alles!
Er hatte sich mitunter gefragt, wie es wäre, einem solchen Riesen zu begegnen, von ihm angegriffen zu werden oder mitzuerleben, wie jemand anderer angegriffen wurde. Die Vorstellung versagte an der Wirklichkeit. Weder war Bohrmann ausgesprochen mutig noch besonders ängstlich. Manche fanden, er sei ein Abenteurer. Sich selber hätte er als couragiert beschrieben, als jemanden, der Risiken nicht scheute, aber auch nicht herausforderte. Aber wie immer die Charakterisierung in der Vergangenheit ausgefallen war, nichts davon galt mehr in diesem Moment, angesichts des kolossalen Angreifers.
Bohrmann floh nicht, er schwamm darauf zu.
Einer der kleineren Haie näherte sich ihm von der Seite. Seine Augen zuckten, die Kiefer blähten sich krampfartig. Offenbar kostete es ihn große Überwindung, in das elektrische Feld zu schwimmen. Dennoch beschleunigte er und rempelte Bohrmann an.
Es war, als kollidiere man mit einem heranrasenden Auto.
Bohrmann wurde auf die Seite geschleudert. Er trieb auf die Lichtinsel zu. Sein einziger Gedanke war, dass er die Konsole nicht loslassen durfte, ganz gleich, was passierte. Der Trackhound war seine Rückfahrkarte. Ohne die Kursprogrammierung würde er in der Dunkelheit umherirren, bis seine Sauerstof fres erven verbraucht waren. Sofern er lange genug lebte.
Plötzlicher Wasserdruck erfasste ihn und drückte ihn in die Tiefe. Der Schwanz des großen Hais peitschte über ihn hinweg. Bohrmann versuchte, die Kontrolle über seine Bewegungen zurückzuerlangen, und sah die beiden kleineren Haie gemeinsam herankommen. Ihre Kiefer schnappten auf und zu. Sie waren der Lichtinsel nun so nahe, dass im ozeanischen Blau ihre natürliche Färbung zu sehen war. Über dem weißlichen Bauch spannte sich ein bronzefarbener Rücken. Zahnfleisch und Racheninneres leuchteten rosaorange wie frisch aufgeschnittenes Lachsfleisch, bestückt mit den charakteristischen dreieckigen Dolchen im Oberkiefer und spitzeren Fangzähnen unten. Fünf hintereinander liegende, stahlharte Reihen, bereit, alles zu zerkleinern, was zwischen sie geriet.
»Gäärrraaad!«, schrie Frost.
Bohrmann sah gegen das Licht der Halogenleuchten, wie Frost mit dem freien Greifer auf den Kopf des großen Hammerhais einschlug. Dann plötzlich riss der Hai mit einer einzigen Kopfbewegung den gepanzerten Arm des Exosuit aus der Schulterhalterung und schleuderte ihn von sich. Sauerstoff wirbelte in dicken Blasen aus der Öffnung hervor. Die Kiefer klappten auseinander, schlossen sich um Frosts ungeschützten Arm und bissen ihn unterhalb des Schultergelenks ab.
Eine Wolke von Blut breitete sich dunkel aus, vermischt mit Blasen. Unglaublich viel Blut, das von den peitschenden Bewegungen des Hais sofort verteilt wurde. Frost schrie keine Worte mehr, nur noch unartikuliert und schrill, dann wurde ein Gurgeln daraus, als das Meerwasser in seinen Anzug schoss und ihn ausfüllte. Das Schreien verstummte. Die kleineren Haie verloren augenblicklich das Interesse an Bohrmann. Was immer sie steuerte, kurzzeitig übernahm der natürliche Fressrausch das Kommando über ihr Verhalten. Sie stürzten sich in den schäumenden Wirbel, verbissen sich im leblosen Körper des Vulkanologen, wirbelten ihn herum und versuchten, die Panzerung zu durchbeißen.
Auch van Maartens schrie, überlagert von Störgeräuschen.
Bohrmanns Gedanken überschlugen sich. Er fühlte den lähmenden Schock. Zugleich arbeitete ein Teil seines Verstandes glasklar und sagte ihm, dass er nicht auf die Instinkte der Tiere vertrauen durfte. Ihre Kraft und Fresslust wurden manipuliert. Es ging nicht ums Fressen. Der Instinkt brach sich Bahn, aber dem Zeug, das in ihren Köpfen sitzen musste, war einzig daran gelegen, die Menschen hier unten zu töten.
Er musste zurück zur Felswand.
Sein linker Greifer schlug gegen das Tastenfeld der Konsole. Wenn er jetzt den falschen Schalter erwischte, würde er die Programmierung aktivieren, die ihn rauf zur Heerema brachte. Dann wäre er verloren, nachdem das POD-Feld die Haie nicht mehr abhielt. Aber er drückte die richtige Taste. Der Propeller schnurrte los. Hastig bewegte er den Joystick so, dass ihn der Hund von der Lichtinsel weg— und auf die Felswand zuzog. Er spürte die Beschleunigung, doch im Gegensatz zum Abstieg, als ihm der kleine Roboter wendig und schnell vorgekommen war, schien er nun unerträglich langsam dahinzudümpeln.
Bohrmann schlug mit den Flossen und glitt ins Blaue, der Terrasse entgegen. Es gab nicht viel, was man in einer solchen Situation tun konnte, aber eine der Regeln für Taucher besagte, dass Felsen Rückendeckung gaben. Bohrmann trieb auf die schwarze Lavawand zu. Unmittelbar davor drehte er bei und starrte hoch zur Lichtinsel. Die Blutwolke hatte sich ausgebreitet, zuckende Schwänze und Flossen darin, schäumende Wirbel. Teile von Frosts Anzug sanken herab. Der Anblick war grauenhaft, aber was ihn wirklich entsetzte, war nicht das Gemetzel selber. Es war die Tatsache, dass nur noch zwei Haie daran beteiligt waren.
Der große fehlte.
Lähmende Furcht überkam Bohrmann. Er schaltete den Propeller aus und schaute sich um.
Der große Hammerhai stieß aus der Sedimentwolke hervor, das Maul weit gedehnt. Mit atemberaubender Geschwindigkeit glitt er heran. Diesmal setzte Bohrmanns Verstand aus. Er verfing sich in der Frage, ob er den Trackhound wieder einschalten sollte oder nicht, da prallte der keilförmige Kopf auch schon mit Gewalt gegen ihn. Der Aufprall schleuderte Bohrmann gegen die Felswand. Mit hohlem Krachen landete er auf dem Gestein. Der Hai schwamm weiter, beschrieb einen engen Bogen und kehrte im Tempo eines Rennwagens zurück. Bohrmann schrie auf. Die Welt verwandelte sich in einen Abgrund aus Rachen und Zähnen, dann verschwand seine komplette linke Seite in dem klaffenden Maul, von der Schulter bis zur Hüfte.
Das war’s, dachte er.
Ohne innezuhalten, glitt der Hai über den Hang und schob ihn durchs Wasser. Es rauschte und dröhnte in seinen Kopfhörern. Auf der Titaniumhülle des Exosuits knirschten vernehmlich die Zähne. Der Kopf des Hais pendelte hin und her, sodass der Helm mehrfach gegen den Felsen schlug und daran entlangschrammte. Alles drehte sich. Die Titaniumlegierung war robust genug, solche Schläge eine Zeit lang wegzustecken, aber dafür knallte Bohrmanns Kopf im Innern gegen die Innenseiten, dass ihm Hören und Sehen verging. Er war absolut hilflos, sein Schicksal besiegelt. Er würde zersäbelt und zerlegt werden. Sein Leben war keinen Atemzug mehr wert.
Und genau diese Hilflosigkeit entfachte seine Wut.
Noch atmete er.
Noch konnte er sich wehren!
Über ihm erstreckte sich die gerade Kontur der Hammers. Die Kopfbreite des Hais bemaß sich auf über ein Viertel seiner Körperlänge, sodass die seitlichen Auswölbungen weit auseinander standen. Bohrmann sah nur die Kante, kein Auge und kein Nasenloch. Er begann, mit der Konsole darauf einzuprügeln. Damit schien er keinen großen Eindruck auf das Tier zu machen. Der Hai stieß ihn weiter voran, der Lichtgrenze zu, dort, wo sie die Explosion abgewartet hatten. Wenn sie einmal im schwarzen Wasser waren, würde er das Tier nicht einmal mehr sehen können.
Li nickte. Plötzlich veränderten sich ihre Gesichtszüge. »Jack«, sagte sie beinahe sanft. »Es tut mir Leid. Ich verspreche Ihnen, sie wird nicht umsonst gestorben sein.«
»Sterben ist immer umsonst«, erwiderte Greywolf tonlos. Er wandte sich ab. »Wo sind meine Delphine?«
Li marschierte mit ihren Männern hinaus auf den Pier. Peak war ein solcher Idiot. Warum hatte er seine Leute nicht von vorneherein mit Explosivgeschossen bewaffnet? Weil man so was nicht hätte voraussehen können? Blödsinn! Es war genau das, was sie vorausgesehen hatte. Einen Haufen Probleme. Sie hatte nicht gewusst, auf welche Weise sie auftreten würden, aber dass sie auftreten würden, war ihr klar gewesen. Sie hatte es gewusst, bevor die ersten Wissenschaftler im Chateau eingetroffen waren, und entsprechende Vorkehrungen getroffen.
Im Becken schwappten nur noch ein paar Pfützen. Der Anblick war verheerend. Direkt zu ihren Füßen, vier Meter tiefer, lag der Kadaver des Orcas. Wo der Kopf mit dem zähnestarrenden Maul gewesen war, breitete sich rötlicher Matsch aus. Ein Stück weiter sah sie die reglosen Körper einiger Soldaten. Von den Delphinen war bis auf drei nicht das Geringste zu entdecken. Wahrscheinlich hatten die anderen es in ihrer Panik vorgezogen, das Schiff zu verlassen, solange die Schleuse noch offen gestanden hatte.
»Das ist ja eine gewaltige Sauerei«, sagte sie.
Das gestaltlose Ding in der Mitte des Beckens rührte sich kaum noch. Es hatte einen fahlweißen Ton angenommen. An den Rändern, wo der letzte Rest Wasser die Masse umspülte, bildeten sich kurze Tentakel, die wie Nattern über den Boden krochen. Das Wesen starb. So unheimlich seine Fähigkeit war, die Form zu ändern und Fangarme über Wasser auszuwerfen, so aussichtslos schien seine Lage jetzt. Die Oberseite des Gallertbergs zeigte erste Auflösungserscheinungen. Wachsklare Flüssigkeit tropfte daran herab.
Li rief sich in Erinnerung, dass der gestrandete Koloss kein Einzelwesen war, sondern ein Konglomerat aus Abermilliarden Einzellern, die soeben ihren Zusammenhalt verloren. Rubin hatte Recht. Sie mussten so viel wie möglich davon in Sicherheit bringen. Je schneller sie handelten, desto größere Mengen des Kollektivs würden überleben.
Anawak gesellte sich wortlos an ihre Seite. Li suchte weiter das Becken ab. Roscovitz’ baumelnden Körper, genauer gesagt das, was davon übrig war, beachtete sie nicht. Aus den Augenwinkeln gewahrte sie eine Bewegung am Grund des Beckens, ging bis zum Ende des Piers und kletterte eine Stiege hinunter. Anawak folgte ihr. Irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, das sich nun ihren Blicken entzog. Sie schritt in respektvollem Abstand an dem Torso entlang, dem ein unangenehmer Geruch zu entströmen begann, als sie Anawak von der anderen Seite rufen hörte. Eilig lief sie um den Berg herum und stolperte fast über Browning.
Die Technikerin lag mit aufgerissenen Augen halb unter dem schmelzenden Wesen.
»Helfen Sie mir«, sagte Anawak.
Gemeinsam zogen sie die Frau unter der Masse hervor. Das Zeug löste sich nur zäh und widerwillig von ihren Beinen. Die Tote erschien Li ungewöhnlich schwer. Ihr Gesicht glänzte wie lackiert, und Li beugte sich darüber, um die Sache genauer in Augenschein zu nehmen.
Brownings Oberkörper richtete sich auf.
»Scheiße!«
Li sprang zurück und sah, wie Brownings Gesicht epileptisch zu zucken begann und Grimassen produzierte. Die Technikerin warf die Arme hoch, öffnete den Mund und kippte wieder zurück. Ihre Finger formten sich zu Krallen. Sie schlug mit den Beinen aus, bog den Rücken durch und schüttelte mehrmals hintereinander heftig den Kopf.
Unmöglich! Vollkommen unmöglich!
Li war hartgesotten, aber jetzt packte sie nacktes Entsetzen. Sie starrte auf den lebenden Leichnam, während Anawak mit sichtlichem Widerwillen neben Browning in die Hocke ging.
»Jude«, sagte er leise. »Das sollten Sie sich ansehen.«
Li überwand ihren Ekel und trat näher heran.
»Hier«, sagte Anawak.
Sie sah genauer hin. Der glänzende Überzug auf Brownings Gesicht begann abzutropfen, und plötzlich erkannte sie, was es war. Klumpige, schmelzende Stränge zogen sich über Schultern und Hals der Technikerin und verschwanden in ihren Ohren …
»Es ist eingedrungen«, flüsterte sie.
»Das Zeug versucht, sie zu übernehmen.« Anawak nickte. Er war grauweiß im Gesicht, für einen Inuk ein bemerkenswerter Farbwechsel. »Wahrscheinlich kriecht es überall rein und macht sich mit den Gegebenheiten vertraut. Aber Browning ist nun mal kein Wal. Ich schätze, ein bisschen Restelektrizität in ihrem Hirn reagiert auf den Übernahme-Versuch.« Er machte eine Pause. »Es wird jeden Moment vorbei sein.«
Li schwieg.
»Es steuert alle möglichen Hirnfunktionen an«, sagte Anawak. »Aber es begreift keinen Menschen.« Er richtete sich auf. »Browning ist tot, General. Was wir sehen, ist ein zu Ende gehendes Experiment.«
Heerema, vor La Palma, Kanaren
Skeptisch musterte Bohrmann die Anzüge in der kleinen Tauchstation. Silbrig glänzende Körperhüllen mit verglasten Helmen, Segmentgelenken und Greifzangen. Wie leblose Puppen hingen sie in einem großen, offenen Stahlcontainer und starrten ins Nichts.
»Ich dachte eigentlich nicht, dass wir zum Mond fliegen«, sagte er.
»Gäärraaad!« Frost lachte. »In vierhundert Metern Tiefe ist es ähnlich wie auf dem Mond. Du wolltest unbedingt mit, also beschwer dich nicht.«
Eigentlich hatte Frost van Maarten mit auf den Tauchgang nehmen wollen, aber Bohrmann hatte zu bedenken gegeben, dass der Holländer sich am besten mit den Systemen der Heerema auskannte und oben gebraucht wurde. Unausgesprochen gab er damit der Möglichkeit Ausdruck, dass es unten zu Schwierigkeiten kommen könnte.
»Außerdem«, hatte er angemerkt, »ist es mir nicht recht, euch da rumfuhrwerken zu sehen. Ihr mögt exzellente Taucher sein, aber den Blick für Hydrate habe immer noch ich.«
»Darum sollst du ja hier bleiben«, konterte Frost. »Du bist unser Hydratexperte. Wenn dir was passiert, haben wir keinen mehr.«
»Doch. Wir haben Erwin. Er kennt sich ebenso gut aus wie ich. Besser sogar.«
Inzwischen war Suess aus Kiel eingetroffen.
»Ein Tauchgang ist aber kein Spaziergang«, sagte van Maarten. »Haben Sie schon getaucht?«
»Diverse Male.«
»Ich meine, waren Sie richtig tief unten?«
Bohrmann zögerte. »Ich war auf 50 Meter. Konventionelles Flaschentauchen. Aber ich bin in ausgezeichneter Verfassung. — Und blöde bin ich auch nicht«, fügte er trotzig hinzu.
Frost dachte nach.
»Zwei kräftige Männer werden reichen«, sagte er. »Wir nehmen kleine Sprengladungen und …«
»Da geht’s schon los«, rief Bohrmann entsetzt. »Sprengladungen.«
»Okay, okay!« Frost hob die Hände. »Ich sehe, das wird nichts ohne dich. Du kommst mit. Aber wehe, du heulst mir die Ohren voll, wenn’s ungemütlich wird.«
Jetzt standen sie im Innern des backbordigen Pontons, 18 Meter unter der Wasseroberfläche. Die Pontons waren geflutet, aber van Maarten hatte einen kleinen Bereich ausgespart, der über Steigleitern mit der Plattform verbunden war. Von hier war auch der Roboter heruntergelassen worden. Weil van Maarten wusste, dass auch bemannte Tauchgänge nicht auszuschließen waren und sie in einigen Hundert Metern Tiefe stattfinden würden, hatte er sich mit konventionellem Tauchgerät gar nicht erst abgegeben und Anzüge bei Nuytco Research in Vancouver geordert, einem Unternehmen, das für bahnbrechende Innovationen bekannt war.
»Sehen schwer aus«, sagte Bohrmann.
»90 Kilogramm, vorwiegend Titanium.« Frost tätschelte einem der Helme beinahe liebevoll die verglaste Front. »Ein Exosuit ist ein schwerer Brocken, aber unter Wasser merkst du nichts davon. Du kannst nach Belieben rauf und runter. Der Anzug wird mit Sauerstoff gespeist und umhüllt dich komplett, es gibt also kein Ausperlen von Stickstoff im Blut. Damit sparst du dir die dämlichen Dekompressionspausen.«
»Er hat Flossen.«
»Genial, was? Statt zu sinken wie ein Stein, schwimmst du wie ein Froschmann.« Frost deutete auf die zahlreichen Gelenkringe. »Die Konstruktion ermöglicht dir noch in vierhundert Metern Tiefe volle Bewegungsfreiheit. Die Hände sind in Halbkugeln geschützt. Handschuhe waren nicht drin, zu empfindlich, aber beide Arme enden in einem computergesteuerten Greifsystem. Die Sensoren vermitteln eine Art künstlichen Tastsinn ins Innere. Du kannst dein Testament damit unterschreiben, so empfindlich reagieren sie.«
»Wie lange können wir unten bleiben?«
»48 Stunden«, sagte van Maarten. Als er Bohrmanns erschrockenen Gesichtsausdruck sah, grinste er. »Keine Angst, so lange werden Sie nicht brauchen.« Er deutete auf zwei torpedoförmige Roboter, jeder knapp einen Meter fünfzig Meter lang, mit Propeller und verglaster Spitze. Eine mehrere Meter lange Leine entsprang der Oberseite, die in einer Konsole mit Griff, Display und Tasten endete. »Das sind eure Trackhounds. Suchhunde, AUVs. Sie sind auf die Lichtinsel programmiert. Die Zielgenauigkeit beträgt wenige Zentimeter, also versucht nicht, euch zurechtzufinden, sondern lasst euch einfach ziehen. Die Dinger legen vier Knoten vor, ihr seid in drei Minuten unten.«
»Wie sicher ist die Programmierung?«, fragte Bohrmann skeptisch.
»Sehr sicher. Trackhounds haben diverse Sensoren zur Erfassung von Tauchtiefe und Eigenposition. Verfahren könnt ihr euch jedenfalls nicht, und wenn euch was in die Quere kommen sollte, weicht der Trackhound aus. Über die Bedienkonsole am Ende der Leine aktiviert ihr die Programmierung. Hinweg, Rückweg, ganz einfach. Die Taste mit der 0 startet den Propeller, ohne dass eine Programmierung wirksam wird. In diesem Fall könnt ihr den Trackhound mit dem Joystick darunter steuern, und das Hündchen läuft, wohin ihr wollt. — Noch Fragen?«
Bohrmann schüttelte den Kopf.
»Dann los.«
Van Maarten half ihnen in die Anzüge. Man stieg in den Exosuit durch eine Klappe im Rücken, auf der die beiden Sauerstofftanks montiert waren. Bohrmann kam sich vor wie ein Ritter in vollem Ornat, der auf dem Mond spazieren gehen will. Als sich der Anzug schloss, war er kurz von allen Geräuschen abgeschlossen, dann hörte er wieder etwas. Durch die große, gebogene Sichtfläche sah er Frost in seinem Anzug sprechen und vernahm dessen dröhnende Stimme im Helm. Auch die Außengeräusche drangen wieder an sein Ohr.
»Sprechfunk«, erklärte Frost, »ist besser als Rumwedeln mit den Händen. Kommst du mit den Greifern zurecht?«
Bohrmann bewegte die Finger in der Kugel. Die künstliche Zangenhand machte jede Bewegung mit.
»Ich denke schon.«
»Versuch die Konsole zu greifen, die van Maarten dir anreicht.«
Es klappte beim ersten Versuch. Bohrmann atmete auf. Wenn alles so einfach war wie die Bedienung dieser Greifzangen, konnten sie drei Kreuze machen.
»Noch was. In Taillenhöhe siehst du ein rechteckiges Feld, einen flachen Schalter. Es ist ein POD.«
»Ein was?«
»Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen oder dich beunruhigen müsstest. Eine Sicherheitsmaßnahme. Wir werden kaum in die Situation kommen, aber falls doch, sage ich dir, wofür es gut ist. Um es einzuschalten, musst du einfach kräftig dagegenschlagen. Okay?«
»Was ist ein POD?«
»Eine Erleichterung beim Tauchen. Ich erklär’s dir irgendwann.«
»Ich wüsste wirklich gerne …«
»Später. Bist du bereit?«
»Bereit.«
Van Maarten öffnete den Schleusentunnel. Hellblaues, beleuchtetes Wasser schwappte zu ihren Füßen.
»Einfach reinfallen lassen«, sagte er. »Ich werfe den Trackhound hinterher. Wartet, bis ihr aus der Schleuse raus seid, dann schaltet eure Trackhounds ein.
Nacheinander, Frost zuerst.«
Bohrmann schob die Flossen über die Kante. Jede kleinste Bewegung in dem Anzug kam einem Kraftakt gleich. Er holte tief Luft und ließ sich nach vorn kippen. Wasser schlug ihm entgegen. Er vollführte einen Purzelbaum, sah die Lichter der Schleuse über sich hinweghuschen und gelangte wieder in aufrechte Position. Langsam sank er nach unten und aus dem Schleusentunnel hinaus ins Meer, wo er mitten in einem Fischschwarm landete. Glitzernde Leiber stoben zu Tausenden nach allen Seiten weg, fanden sich zu einer lebenden Spirale und ballten sich zusammen. Mehrmals hintereinander veränderte der Schwarm seine Form, streckte sich und floh. Bohrmann sah den Trackhound neben sich und sank tiefer. Über ihm leuchtete die Schleuse im dunklen Rumpf des Pontons. Er schlug mit den Flossen und stellte fest, dass er seine Position stabilisierte. Vom Gewicht des Anzugs war nichts mehr zu spüren. Eigentlich fühlte er sich ausgesprochen wohl. Ein tragbares Unterseeboot.
Frost folgte in einem Kokon aus Luftblasen. Er sank auf Bohrmanns Höhe hinab und sah ihn durch die Glasscheibe des Helms an. Erst jetzt registrierte Bohrmann, dass der Amerikaner auch im Exosuit seine Baseballkappe aufbehalten hatte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Frost.
»Wie R2-D2’s größerer Bruder.«
Frost lachte. Der Propeller seines Trackhounds begann sich zu drehen. Unvermittelt senkte der Roboter die Nase ab und zog den Vulkanologen in die Tiefe. Bohrmann betätigte die Programmierung. Es gab einen Ruck, und er kippte kopfüber. Schlagartig wurde es dunkler. Van Maarten hatte Recht. Es ging tatsächlich schnell. Schon nach kurzer Zeit herrschte schwärzeste Finsternis. Nichts war zu sehen außer dem diffusen Lichtschein, den die Hunde verstrahlten.
Zu seiner Überraschung bereitete ihm die Dunkelheit Unbehagen. Hunderte von Malen hatte er vor Bildschirmen gesessen und die Tauchgänge von Robotern überwacht, die in die Tiefen der Abyssale vorgestoßen waren oder noch weiter ins Benthos. Er war mit der Alvin, dem legendären Tauchboot, auf 4000 Meter gewesen. Dennoch war es etwas gänzlich anderes, in diesem Anzug zu stecken und von einem elektronischen Hund ins Ungewisse gezogen zu werden.
Hoffentlich war das Ding in seiner Hand richtig programmiert, sonst landete er Gott weiß wo.
Der Scheinwerfer beleuchtete Planktonregen. Steil ging es weiter abwärts. In Bohrmanns Helm erklang das elektronische Summen des Trackhounds. Weiter vorn bemerkte er ein filigranes Wesen, das mit trägen, pulsierenden Bewegungen durch die Nacht trieb. Es war von unglaublicher Schönheit, eine Tiefseemeduse, die einem Raumschiff gleich ringförmige Lichtsignale aussandte. Bohrmann hoffte, dass es keine Angstsignale vor irgendeinem größeren Ungetüm waren, das ihr folgte. Dann war die Qualle seinen Blicken entschwunden. Weitere Quallen in größerer Entfernung leuchteten auf, und plötzlich breitete sich direkt vor ihm eine weiße, blitzende Wolke aus. Er schrak zusammen. Aber die Wolke war weiß und nicht blau, und der Urheber biolumineszierte schwach, bevor er darin verschwand. Bohrmann wurde klar, was er da vor sich hatte. Es war ein Mastigotheutis, ein Tintenfisch, der für gewöhnlich erst in etwa 1000 Meter Tiefe vorkam. Dass er weiße Tinte gegen Eindringlinge verströmte, ergab Sinn — schwarze Tinte in schwärzester Dunkelheit war keine Hilfe.
Der Hund zog und zog.
Bohrmann suchte die Tiefe vor sich nach dem Schein der Lichtinsel ab, aber da war nichts als Schwärze, abgesehen von dem hellen Punkt, der Frost vorauseilte. Sofern er überhaupt eilte. Er hätte ebenso gut stillstehen können. Zwei stillstehende Lichter, seines und Frosts, in einem sternenlosen Weltraum.
»Stanley?«
»Was gibt’s?«
Die prompte Antwort beruhigte ihn.
»Wir müssten bald mal was sehen, oder?«
»Du bist ungeduldig, mein Freund. Schau auf dein Display. Das waren erst zweihundert Meter.«
»Oh. Klar, natürlich.«
Bohrmann traute sich nicht zu fragen, ob Frost der Programmierung des Trackhounds vertraute, also schwieg er und versuchte, seine aufkommende Nervosität zu unterdrücken. Er begann sich ein paar Medusen herbeizuwünschen, aber nichts ließ sich blicken. Der Roboter summte fleißig, und plötzlich änderte er spürbar die Richtung.
Da war etwas. Bohrmann sah genauer hin. In der Ferne dämmerte ein Lichtschein. Erst nur ahnbar, dann von diffus rechteckiger Form.
Tiefe Erleichterung durchströmte ihn. Brav, hätte er am liebsten gesagt. Braver Hund. Guter Hund.
Wie klein die Lichtinsel wirkte.
Während er noch darüber nachdachte, rückte sie näher, wurde heller und ließ Details erkennen, einzelne Spots, aufgereiht entlang des Gestänges. Sie trieben weiter darauf zu, und plötzlich hing die Insel riesig und strahlend über ihnen. Natürlich schwebten in Wirklichkeit sie über der Insel, aber der Flug kopfüber vertauschte Oben und Unten, sodass nun auch die Terrasse über ihren Köpfen hängend sichtbar wurde. Kurz war Frosts Gestalt auszumachen, ein Schatten, gezogen von einem Torpedo an der Leine, der dem lichtdurchströmten Fußballfeld entgegenstürzte. Alles lag deutlich vor ihnen. Die Hangterrasse, der Saugrüssel, dessen schwarzer Schlangenköper aus der Dunkelheit ragte, die Brocken, die seine Öffnung blockierten …
Das Gewimmel der Würmer.
»Schalt deinen Hund aus, bevor du in die Lichtorgel rasselst«, sagte Frost. »Die letzten paar Meter schwimmen wir.«
Bohrmann bewegte die Finger der freien Hand und versuchte, mit dem Greifer das Tastenfeld zu bedienen. Diesmal war er weniger geschickt. Er schaffte es nicht auf Anhieb und flog an Frost vorbei, der langsamer geworden war.
»He, Gärraad! Wo willst du hin, zum Teufel?«
Er probierte es erneut. Der Greifer rutschte ab, dann endlich gelang es ihm, den Hund zu stoppen. Bohrmann schlug mit den Flossen und brachte sich in waagerechte Position. Er war der Lichtinsel tatsächlich ziemlich nahe gekommen. Endlos erstreckte sie sich nach allen Seiten. Nach einigen Sekunden kehrte sein Sinn für Oben und Unten zurück, und Insel und Hang lagen unter ihm.
Mit gleichmäßigen Bewegungen schwamm er zu dem eingekeilten Schlauch und ließ sich daneben niedersinken. Die Lichtinsel schwebte jetzt etwa fünfzehn Meter über ihm. Sofort begannen die Würmer, über seine Flossen zu kriechen. Er musste sich zwingen, sie zu ignorieren. Sie konnten dem Material des Anzugs nicht das Geringste anhaben, und im Übrigen waren sie einfach nur ekelhaft. Keinem Lebewesen seiner Größe würde so ein Wurm je gefährlich werden.
Andererseits, was wusste man schon von Würmern, die es gar nicht hätte geben dürfen?
Der Trackhound war neben ihm zu Boden gesunken. Bohrmann parkte ihn auf einem Felsvorsprung und sah am Schlauch empor. Mannshohe Brocken aus schwarzem Lavagestein blockierten die Propeller der Motoren. Damit ließ sich fertig werden. Sorgen bereitete ihm der größere Keil, der den Rüssel gegen die Felswand drückte. Er mochte etwa vier Meter hoch sein. Bohrmann bezweifelte, ob sie ihn zu zweit bewegen konnten, auch wenn unter Wasser alles weniger wog und Lavagestein porös und leicht war.
Frost gesellte sich an seine Seite.
»Widerlich«, sagte er. »Überall die Söhne Luzifers.«
»Wer, bitte?«
»Gewürm! Gekreuch! Die biblischen Plagen. Na ja, Schwamm drüber. Ich schlage vor, wir nehmen uns die kleineren Brocken vor und schauen, wie weit wir kommen. — Van Maarten?«, rief er.
»Hier«, erklang blechern van Maartens Stimme. Bohrmann hatte völlig vergessen, dass sie auch mit der Heerema verbunden waren.
»Wir werden jetzt ein bisschen aufräumen. Als Erstes legen wir die Motoren frei. Vielleicht reicht das ja, und der Schlauch kann sich aus eigenem Antrieb befreien.«
»In Ordnung. — Geht’s Ihnen gut, Dr. Bohrmann?«
»Alles bestens.«
»Passt auf euch auf.«
Frost deutete auf ein annähernd rundes Stück Stein, welches das Drehgelenk eines der Propeller blockierte. »Damit fangen wir an.«
Sie machten sich daran, den Stein beiseite zu wälzen. Nachdem sie eine Weile daran gezerrt und gezogen hatten, rutschte er weg, gab das Motorengelenk frei und zerquetschte bei der Gelegenheit ein paar hundert Würmer unter sich.
»Yeah«, sagte Frost befriedigt.
Zwei weitere Brocken ließen sich auf die gleiche Weise verrücken. Der nächste Stein war größer, aber nach einiger Mühe kippte auch er schließlich zur Seite.
»Wie stark man doch unter Wasser ist«, freute sich Frost. »Jan, wir haben die Motoren bis auf einen frei. Sie sehen nicht beschädigt aus. Kannst du sie mal in den Gelenken drehen? Nicht einschalten, nur drehen!«
Es vergingen einige Sekunden, dann erklang ein schnurrendes Geräusch. Eine der Turbinen drehte sich in ihrem Gelenk hin und her. Gleich darauf bewegten sich auch die anderen.
»Sehr gut«, rief Frost. »Jetzt versucht’s mal. Werft die Dinger an.«
Sie brachten einige Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und den Schlauch und sahen zu, wie die Propeller starteten.
Der Schlauch ruckelte. Mehr geschah nicht.
»Fehlanzeige«, sagte van Maarten.
»Ja, das sehe ich selber.« Frost schaute missmutig drein. »Versucht es weiter. Dreht die Dinger in eine andere Richtung.«
Auch das funktionierte nicht, aber dafür begannen die Propeller Schlamm aufzuwirbeln. Vor ihren Augen wurde es trübe.
»Stopp!« Bohrmann wedelte mit seinen segmentierten Armen. »Aufhören da oben! Das hat keinen Zweck, ihr versaut uns nur die Sicht.«
Die Propeller kamen zur Ruhe. Die Schlammwolke verteilte sich und zog helle Schlieren. Vom unteren Schlauchende war kaum noch etwas zu erkennen.
»Na schön.« Frost öffnete eine flache Box seitlich des Exosuits und entnahm ihr zwei bleistiftgroße Gebilde. »Unser Problem ist der Riesenklotz da. Ich weiß, es wird dir nicht gefallen, Gärraad, aber wir müssen das Mistding wegsprengen.«
Bohrmanns Blick wanderte zu den Würmern, die den frei gesaugten Grund zunehmend wieder in Besitz nahmen.
»Das ist riskant«, sagte er.
»Wir nehmen eine kleine Sprengladung. Ich schlage vor, wir platzieren sie an der Basis, da, wo sich der Keil in den Grund gebohrt hat. Wir reißen ihm sozusagen die Beine weg.«
Bohrmann stieß sich ab, schwebte einen Meter in die Höhe und auf den Keil zu. Um ihn herum wurde es schlammig und trübe. Er schaltete die Helmbeleuchtung ein und ließ sich in die Sedimentwolke sinken. Vorsichtig ging er in die Knie und brachte seinen Helm so dicht wie möglich an die Stelle, wo der Brocken im Untergrund steckte. Mit den Greifern fegte er die Würmer beiseite. Einige stülpten blitzartig ihren Hakenschlund aus und versuchten, sich in den künstlichen Gliedmaßen zu verbeißen. Bohrmann schüttelte sie ab und untersuchte die Sedimentstruktur. Er sah feine, schmutzig weiße Adern. Als er mit dem Greifer hineinstieß, zersplitterte das umliegende Gestein, und feine Blasen trudelten ihm entgegen.
»Nein«, sagte er. »Das ist keine gute Idee.«
»Hast du eine bessere?«
»Ja. Wir nehmen eine größere Ladung, suchen im unteren Drittel des Brockens nach Einkerbungen und Spalten und sprengen ihn dort auseinander. Mit etwas Glück kippt der obere Teil ab, und wir ziehen den Untergrund nicht in Mitleidenschaft.«
»In Ordnung.«
Frost kam zu ihm in die Wolke. Sie stiegen ein Stück auf. Die Sicht wurde besser. Systematisch begannen sie den Keil auf geeignete Stellen zu untersuchen. Schließlich fand Frost eine tiefe Kerbe und drückte etwas hinein, das wie festes, graues Knetgummi aussah. Dann steckte er ein bleistiftdünnes Stäbchen in die Masse.
»Das müsste reichen«, sagte er befriedigt. »Wird ordentlich prasseln. Wir sollten weit genug weg sein.«
Sie schalteten die Trackhounds ein und ließen sich von ihnen bis zum Rand der beleuchteten Zone ziehen, wo sich der Hang nach wenigen Metern in völliger Schwärze verlor. Der Partikelflug hielt sich in Grenzen, sodass die Lichtwellen kaum von Algen und anderen Schwebstoffen reflektiert wurden, dennoch geschah der Übergang abrupt. Licht verschwand unter Wasser in der Reihenfolge seiner Wellenlängen — zuerst Rot nach zwei bis drei Metern, dann Orange, schließlich Gelb. Jenseits von zehn Metern behaupteten sich nur noch Grün und Blau, bis Absorption und Streuung auch diesen Restbetrag geschluckt hatten. Ab da hörte die Welt auf zu existieren.
Bohrmann widerstrebte es, sich aus der relativen Sicherheit des beleuchteten Abschnitts ins absolute Nichtvorhandensein zu wagen. Erleichtert registrierte er, dass Frost keinen größeren Sicherheitsabstand für nötig hielt. Wo sich das Blau im tintigen Schwarz verlor, entdeckte er schemenhaft einen Spalt in der Wand. Vielleicht lag eine Höhle dahinter. Er stellte sich vor, wie dieses Gestein damals rot glühend herabgeflossen war, ein zäher Brei, der langsam erkaltete und zu bizarren Formen erstarrte. Unwillkürlich wurde ihm kalt in seiner Rüstung. Kalt von der Vorstellung, hier unten ein Leben verbringen zu müssen.
Er sah hinauf zur Lichtinsel. Um die weißen Scheinwerfer im Gestänge erstrahlte nichts als eine blaue Aura.
»Gut«, sagte Frost. »Bringen wir’s hinter uns.«
Er betätigte den Zünder.
Aus der Mitte des Keils platzte ein großer Schwall Luftblasen, vermischt mit Splittern und Staub. Es wummerte in Bohrmanns Helm. Ein dunkler Ring breitete sich aus, weitere Luftblasen folgten und trugen die Trümmerstücke nach allen Seiten davon.
Er hielt den Atem an.
Langsam, ganz langsam begann sich die obere Hälfte des Keils zu neigen.
»Yeah!«, schrie Frost. »Der Herr ist mein Zeuge!«
Immer schneller kippte der Keil, gezogen von seinem eigenen Gewicht. Er brach in der Mitte über die noch stehende Hälfte hinweg, schlug neben der Röhre auf und erzeugte eine neue, noch gewaltigere Sedimentwolke. Frost schaffte es, in seiner schweren Montur Sprünge zu vollführen und mit den Armen zu wedeln. Er sah aus wie Armstrong, der für Amerika über den Mond hüpfte.
»Halleluja! He, van Maarten! Mijnheer! Wir haben das Scheißding kleingekriegt. Los, versuchen Sie Ihr Glück.«
Bohrmann hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Erschütterung keine weiteren Abbruche nach sich ziehen würde. Im aufgewirbelten Schlamm hörte er die Motoren starten, und plötzlich bewegte sich der Schlauch. Er krümmte sich, dann hob sich der Schlund wie der Kopf eines gigantischen Wurms aus der Wolke und stieg langsam nach oben. Die Öffnung wandte sich in seine, dann in die entgegengesetzte Richtung, als erkunde das Ding sein Umfeld. Hätte Bohrmann nicht gewusst, was er da vor sich hatte, er wäre sich vorgekommen wie halb verspeist.
»Es klappt!«, schrie Frost.
»Ihr seid die Größten«, bemerkte van Maarten trocken.
»Das ist nichts Neues«, versicherte ihm Frost. »Schalten Sie ihn wieder ab, bevor er Gärraad und mich frisst. Wir sehen uns nochmal die Stelle an, wo er gelegen hat. Dann kommen wir hoch.«
Der Schlauch stieg ein weiteres Stück, ließ sein rundes Maul sinken und baumelte leblos im Licht. Frost schwamm los. Bohrmann folgte ihm. Sein Blick wanderte zur Insel und wieder zurück. Etwas irritierte ihn, ohne dass er zu sagen vermochte, was es war.
»Trübe Angelegenheit«, meinte Frost angesichts der Wolke. »Sieh mal nach dem Rechten, Gärraad. Du erkennst in der Brühe mehr als ich.«
Bohrmann schaltete den Scheinwerfer seines Trackhounds ein. Dann überlegte er es sich und schaltete ihn wieder aus.
Was war da? Spielten ihm seine Sinne einen Streich?
Sein Blick wanderte erneut zur Lichtinsel. Diesmal sah er länger hinauf. Es kam ihm vor, als verströmten die Strahler ein stärkeres Licht als zuvor, aber das war unmöglich. Sie hatten die ganze Zeit über ihre volle Leuchtkraft entfaltet.
Es waren nicht die Strahler. Es war die blaue Aura. Sie hatte sich vergrößert.
»Siehst du das?«, Bohrmann deutete mit dem Arm zur Insel. Frost folgte der Bewegung mit Blicken.
»Ich kann nichts …« Er stockte. »Na so was.«
»Das Licht«, sagte Bohrmann. »Das blaue Leuchten.«
»Ariel und Uriel«, flüsterte Frost. »Du hast Recht. Es breitet sich aus.«
Um die Insel hatte sich ein großer, dunkelblauer Hof gebildet. Entfernungen waren unter Wasser schwer einzuschätzen, zumal der Lichtbrechungsindex alles ein Viertel näher und ein Drittel größer erscheinen ließ, aber eindeutig lag die Quelle des blauen Leuchtens ein ganzes Stück hinter der Insel. Die Halogenlampen im Gestänge blendeten ihn. Dennoch war es Bohrmann, als sehe er Blitze zucken. Dann verlor das Blau plötzlich an Intensität, wurde schwächer und erlosch.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Bohrmann. »Ich denke, wir sollten aufsteigen.«
Frost antwortete nicht. Er starrte weiter auf die Insel.
»Stan? Hörst du? Wir sollten …«
»Nicht so hastig«, sagte Frost langsam. »Wir bekommen nämlich gerade Besuch.«
Er zeigte zum oberen Rand der Insel. Zwei längliche Schatten flitzten dort entlang. Blau beschienene Bäuche.
Im nächsten Moment waren sie verschwunden.
»Was war das?«
»Ganz ruhig, Junge. Schalt dein POD ein.«
Bohrmann drückte gegen den Sensor am Bauch des Exosuits.
»Ich wollte dich nicht beunruhigen«, sagte Frost. »Ich dachte, wenn ich dir erzähle, wozu es gut ist, wirst du vielleicht nervös und hältst ständig nur Ausschau nach …«
Weiter kam er nicht. Mitten aus dem Gestänge schossen zwei torpedoförmige Leiber hervor. Bohrmann sah bizarr geformte Köpfe. Die Tiere kamen geradewegs auf sie zu, mit unglaublicher Geschwindigkeit, die Kiefer vorgestülpt, die Mäuler weit offen. Wie eine Faust aus Eis schloss sich die Angst um sein Herz. Er stieß sich ab, trudelte nach hinten und hob schützend die Arme vor den Helm. Keine dieser Reaktionen ergab wirklich Sinn, aber soeben triumphierten die Instinkte der Frühzeit über seinen zivilisierten, hoch technisierten Geist. Sie befahlen ihm aufzuschreien, und Bohrmann gehorchte.
»Sie können dir nichts tun«, sagte Frost mit Nachdruck.
Dicht vor ihm drehten die Angreifer ab. Bohrmann schnappte nach Luft und kämpfte die Panik herunter. Frost schwamm mit schnellen Flossenschlägen an seine Seite.
»Wir haben das POD bereits getestet«, sagte er. »Es funktioniert.«
»Was zum Teufel ist denn ein POD?«
»Ein Protective Ocean Device. Der beste Schutz gegen Haie. Das POD baut ein elektrisches Feld auf, das dich wie ein Schutzwall umgibt. Sie kommen nicht näher als fünf Meter an dich heran.«
Bohrmann keuchte und versuchte, den Schock zu verwinden. Die Tiere waren in weitem Bogen hinter der Lichtinsel verschwunden.
»Die waren näher als fünf Meter«, sagte er.
»Nur beim ersten Mal. Jetzt haben sie ihre Lektion gelernt. Beruhige dich. Haie verfügen über hoch empfindliche elektrosensorische Organe. Das Feld überflutet sie mit Reizen und stört ihr Nervensystem. Es verursacht ihnen schmerzhafte Muskelkrämpfe. Wir haben Weißhaie und Tigerhaie mit Ködern angelockt und dann das POD aktiviert, und sie konnten das Feld nicht durchdringen.«
»Dr. Bohrmann? Stanley?« Van Maartens Stimme.
»Seid ihr okay?«
»Alles in Ordnung«, sagte Frost.
»POD hin, POD her, ihr solltet hoch kommen.«
Bohrmanns Augen suchten nervös die Lichtinsel ab. Was Frost ihm da erzählte, wusste er zum größten Teil. Haie besaßen im vorderen Bereich ihres Kopfes kleine Gruben, so genannte Lorenzinische Ampullen. Selbst schwächste elektrische Impulse nahmen sie damit wahr, wie sie durch Muskelbewegungen anderer Tiere erzeugt wurden. Er hatte nur nicht gewusst, dass es ein POD gab, mit dem man den elektrischen Sinn stören konnte.
»Das waren Hammerhaie«, sagte er.
»Große Hammerhaie, ja. Jeder um die vier Meter, schätze ich.«
»Scheiße.«
»Bei Hammerhaien funktioniert es besonders gut.« Frost kicherte. »Guck dir ihren Quadratschädel an. Sie haben mehr Lorenzinische Ampullen als jeder andere Hai.«
»Und jetzt?«
Er sah eine Bewegung. Aus dem Dunkel hinter der Insel kamen die beiden Haie erneut zum Vorschein. Bohrmann rührte sich nicht. Er beobachtete, wie die Tiere zum Angriff übergingen. Zielstrebig, ohne die typischen pendelnden Kopfbewegungen, mit denen Haie Duftspuren im Wasser folgten, stießen sie herab, um plötzlich abzustoppen, als seien sie gegen eine Mauer geschwommen. Ihre Mäuler verzerrten sich. Verwirrt schwammen sie ein Stück in die entgegengesetzte Richtung, dann kehrten sie zurück und begannen die Taucher nervös, aber in respektvollem Abstand zu umkreisen.
Es funktionierte tatsächlich.
Frost durfte mit seiner Einschätzung richtig liegen. Jedes der Exemplare maß gut und gern vier Meter. Der Körper war haitypisch. Hingegen wies ihr Kopf eine höchst eigentümliche Form auf, die den Tieren ihren Namen eingetragen hatte. Die Seiten waren zu abgeflachten Flügeln verlängert, an deren äußeren Enden sich Augen und Nasenöffnungen befanden. Die Vorderkante des Hammers war glatt und gerade wie ein Beil.
Langsam begann er sich besser zu fühlen. Wahrscheinlich hatte er sich wie ein Idiot verhalten. Er schätzte, dass die Tiere nicht mal in der Lage waren, dem Exosuit etwas anzuhaben.
Dennoch wollte er weg.
»Wie lange brauchen wir nach oben?«, fragte er.
»Wenige Minuten mit dem Trackhound. Nicht länger als runter. Wir schwimmen über die Lichtinsel. Dort schalten wir die Programmierung ein und lassen uns hoch ziehen.«
»In Ordnung.«
»Nicht vorher einschalten, hörst du? Sonst rasselst du mir noch in die Beleuchtung!«
»Okay.«
»Geht’s dir gut?«
»Ja, verdammt! Alles bestens. Wie lange hält der Schutz?«
»Das POD holt locker vier Stunden aus dem Akku.« Frost stieg mit gleichmäßigen Flossenschlägen nach oben, die Konsole des Trackhounds im Greifer des rechten Arms. Bohrmann folgte ihm.
»Tja, ihr Lieben«, sagte Frost. »Wir müssen euch leider verlassen.«
Die Haie nahmen die Verfolgung auf. Sie versuchten, näher heranzukommen. Ihre Körper zuckten, die Mäuler verzerrten sich. Frost lachte und paddelte weiter auf die Lichtinsel zu. Seine Silhouette hing klein und bläulich vor der riesigen, leuchtenden Fläche, die Konturen überstrahlt. Weiß und Blau, die Farben der Tiefe.
Bohrmann dachte an die blaue Wolke, die sie in der Ferne gesehen hatten.
Natürlich!
Plötzlich fiel sie ihm wieder ein. Vor lauter Schreck hatte er völlig vergessen, dass sie sich unmittelbar vor dem Erscheinen der Haie gebildet hatte. Dasselbe Phänomen war für die Veränderung der Wale verantwortlich gewesen und wahrscheinlich für eine ganze Reihe weiterer Anomalien und Katastrophen. Wenn das stimmte, hatten sie es nicht mit gewöhnlichen Haien zu tun.
Warum waren die Tiere überhaupt hier? Haie hörten ausgezeichnet. Vielleicht hatte sie der Krach angelockt. Aber warum griffen sie an? Weder er noch Frost sonderten irgendwelche Düfte ab. Sie passten nicht ins Beuteschema. Überhaupt waren Haiattacken auf Menschen im tiefen Wasser äußerst selten.
Sie näherten sich dem oberen Rand der Insel.
»Stan? Mit den beiden ist irgendwas nicht in Ordnung.«
»Sie können dir nichts tun.«
»Trotzdem.«
Einer der Haie drehte seinen flachen, breiten Kopf und schwamm ein Stück abseits.
»Obwohl, ganz Unrecht hast du nicht«, sinnierte Frost. »Was mich stutzig macht, ist die Tiefe. Große Hammerhaie sind nie tiefer als 80 Meter beobachtet worden. Ich frage mich, was sie hier …«
Der Hai drehte um. Einen Moment stand er still, den Kopf leicht angehoben, den Rücken nach oben gewölbt, die klassische Drohstellung. Dann schlug er mehrmals heftig mit dem Schwanz und raste pfeilgerade auf Frost zu. Der Vulkanologe war so überrascht, dass er nicht einmal den Versuch einer Abwehr unternahm. Das Tier bäumte sich kurz und heftig auf, dann schwamm es in das Feld und rammte Frost mit der Breitseite seines Körpers.
Frost drehte sich wie ein Kreisel um seine Achse, Arme und Beine gespreizt.
»He!« Die Konsole entfiel seinem Greifer. »Was zum Donnerwetter …«
Über dem Gestänge tauchte wie aus dem Nichts ein dritter Körper auf. Er schnellte über die obere Reihe der Scheinwerfer mit unheimlicher Eleganz. Dunkel, hohe Rückenflosse, hammerförmiger Kopf.
»Stan!«, schrie Bohrmann.
Der Neuankömmling war riesig, weit größer als die beiden anderen Haie. Sein Hammer klappte nach oben, als er die Zahnreihen vorstülpte und den Rachen weit aufriss. Er packte Frosts rechten Oberarm und begann daran zu rütteln.
»Scheiße«, zeterte Frost. »Was ist das denn für ein Vieh? Ausgeburt der Hölle! Lässt du mich wohl los, du …«
Der Hammerhai schüttelte wild seinen großen, eckigen Kopf, wobei er mit der Schwanzflosse gegensteuerte. Er musste zwischen sechs und sieben Meter messen. Frost wurde hin-und hergewirbelt wie ein Blatt. Sein gepanzerter Arm war bis zur Schulter im Maul des Hais verschwunden.
»Hau ab!«, schrie er.
»Um Gottes willen, Stan«, rief van Maarten. »Schlag ihm auf die Kiemen. Versuch, seine Augen zu erreichen.«
Natürlich, dachte Bohrmann. Oben sehen sie zu. Sie sehen alles!
Er hatte sich mitunter gefragt, wie es wäre, einem solchen Riesen zu begegnen, von ihm angegriffen zu werden oder mitzuerleben, wie jemand anderer angegriffen wurde. Die Vorstellung versagte an der Wirklichkeit. Weder war Bohrmann ausgesprochen mutig noch besonders ängstlich. Manche fanden, er sei ein Abenteurer. Sich selber hätte er als couragiert beschrieben, als jemanden, der Risiken nicht scheute, aber auch nicht herausforderte. Aber wie immer die Charakterisierung in der Vergangenheit ausgefallen war, nichts davon galt mehr in diesem Moment, angesichts des kolossalen Angreifers.
Bohrmann floh nicht, er schwamm darauf zu.
Einer der kleineren Haie näherte sich ihm von der Seite. Seine Augen zuckten, die Kiefer blähten sich krampfartig. Offenbar kostete es ihn große Überwindung, in das elektrische Feld zu schwimmen. Dennoch beschleunigte er und rempelte Bohrmann an.
Es war, als kollidiere man mit einem heranrasenden Auto.
Bohrmann wurde auf die Seite geschleudert. Er trieb auf die Lichtinsel zu. Sein einziger Gedanke war, dass er die Konsole nicht loslassen durfte, ganz gleich, was passierte. Der Trackhound war seine Rückfahrkarte. Ohne die Kursprogrammierung würde er in der Dunkelheit umherirren, bis seine Sauerstof fres erven verbraucht waren. Sofern er lange genug lebte.
Plötzlicher Wasserdruck erfasste ihn und drückte ihn in die Tiefe. Der Schwanz des großen Hais peitschte über ihn hinweg. Bohrmann versuchte, die Kontrolle über seine Bewegungen zurückzuerlangen, und sah die beiden kleineren Haie gemeinsam herankommen. Ihre Kiefer schnappten auf und zu. Sie waren der Lichtinsel nun so nahe, dass im ozeanischen Blau ihre natürliche Färbung zu sehen war. Über dem weißlichen Bauch spannte sich ein bronzefarbener Rücken. Zahnfleisch und Racheninneres leuchteten rosaorange wie frisch aufgeschnittenes Lachsfleisch, bestückt mit den charakteristischen dreieckigen Dolchen im Oberkiefer und spitzeren Fangzähnen unten. Fünf hintereinander liegende, stahlharte Reihen, bereit, alles zu zerkleinern, was zwischen sie geriet.
»Gäärrraaad!«, schrie Frost.
Bohrmann sah gegen das Licht der Halogenleuchten, wie Frost mit dem freien Greifer auf den Kopf des großen Hammerhais einschlug. Dann plötzlich riss der Hai mit einer einzigen Kopfbewegung den gepanzerten Arm des Exosuit aus der Schulterhalterung und schleuderte ihn von sich. Sauerstoff wirbelte in dicken Blasen aus der Öffnung hervor. Die Kiefer klappten auseinander, schlossen sich um Frosts ungeschützten Arm und bissen ihn unterhalb des Schultergelenks ab.
Eine Wolke von Blut breitete sich dunkel aus, vermischt mit Blasen. Unglaublich viel Blut, das von den peitschenden Bewegungen des Hais sofort verteilt wurde. Frost schrie keine Worte mehr, nur noch unartikuliert und schrill, dann wurde ein Gurgeln daraus, als das Meerwasser in seinen Anzug schoss und ihn ausfüllte. Das Schreien verstummte. Die kleineren Haie verloren augenblicklich das Interesse an Bohrmann. Was immer sie steuerte, kurzzeitig übernahm der natürliche Fressrausch das Kommando über ihr Verhalten. Sie stürzten sich in den schäumenden Wirbel, verbissen sich im leblosen Körper des Vulkanologen, wirbelten ihn herum und versuchten, die Panzerung zu durchbeißen.
Auch van Maartens schrie, überlagert von Störgeräuschen.
Bohrmanns Gedanken überschlugen sich. Er fühlte den lähmenden Schock. Zugleich arbeitete ein Teil seines Verstandes glasklar und sagte ihm, dass er nicht auf die Instinkte der Tiere vertrauen durfte. Ihre Kraft und Fresslust wurden manipuliert. Es ging nicht ums Fressen. Der Instinkt brach sich Bahn, aber dem Zeug, das in ihren Köpfen sitzen musste, war einzig daran gelegen, die Menschen hier unten zu töten.
Er musste zurück zur Felswand.
Sein linker Greifer schlug gegen das Tastenfeld der Konsole. Wenn er jetzt den falschen Schalter erwischte, würde er die Programmierung aktivieren, die ihn rauf zur Heerema brachte. Dann wäre er verloren, nachdem das POD-Feld die Haie nicht mehr abhielt. Aber er drückte die richtige Taste. Der Propeller schnurrte los. Hastig bewegte er den Joystick so, dass ihn der Hund von der Lichtinsel weg— und auf die Felswand zuzog. Er spürte die Beschleunigung, doch im Gegensatz zum Abstieg, als ihm der kleine Roboter wendig und schnell vorgekommen war, schien er nun unerträglich langsam dahinzudümpeln.
Bohrmann schlug mit den Flossen und glitt ins Blaue, der Terrasse entgegen. Es gab nicht viel, was man in einer solchen Situation tun konnte, aber eine der Regeln für Taucher besagte, dass Felsen Rückendeckung gaben. Bohrmann trieb auf die schwarze Lavawand zu. Unmittelbar davor drehte er bei und starrte hoch zur Lichtinsel. Die Blutwolke hatte sich ausgebreitet, zuckende Schwänze und Flossen darin, schäumende Wirbel. Teile von Frosts Anzug sanken herab. Der Anblick war grauenhaft, aber was ihn wirklich entsetzte, war nicht das Gemetzel selber. Es war die Tatsache, dass nur noch zwei Haie daran beteiligt waren.
Der große fehlte.
Lähmende Furcht überkam Bohrmann. Er schaltete den Propeller aus und schaute sich um.
Der große Hammerhai stieß aus der Sedimentwolke hervor, das Maul weit gedehnt. Mit atemberaubender Geschwindigkeit glitt er heran. Diesmal setzte Bohrmanns Verstand aus. Er verfing sich in der Frage, ob er den Trackhound wieder einschalten sollte oder nicht, da prallte der keilförmige Kopf auch schon mit Gewalt gegen ihn. Der Aufprall schleuderte Bohrmann gegen die Felswand. Mit hohlem Krachen landete er auf dem Gestein. Der Hai schwamm weiter, beschrieb einen engen Bogen und kehrte im Tempo eines Rennwagens zurück. Bohrmann schrie auf. Die Welt verwandelte sich in einen Abgrund aus Rachen und Zähnen, dann verschwand seine komplette linke Seite in dem klaffenden Maul, von der Schulter bis zur Hüfte.
Das war’s, dachte er.
Ohne innezuhalten, glitt der Hai über den Hang und schob ihn durchs Wasser. Es rauschte und dröhnte in seinen Kopfhörern. Auf der Titaniumhülle des Exosuits knirschten vernehmlich die Zähne. Der Kopf des Hais pendelte hin und her, sodass der Helm mehrfach gegen den Felsen schlug und daran entlangschrammte. Alles drehte sich. Die Titaniumlegierung war robust genug, solche Schläge eine Zeit lang wegzustecken, aber dafür knallte Bohrmanns Kopf im Innern gegen die Innenseiten, dass ihm Hören und Sehen verging. Er war absolut hilflos, sein Schicksal besiegelt. Er würde zersäbelt und zerlegt werden. Sein Leben war keinen Atemzug mehr wert.
Und genau diese Hilflosigkeit entfachte seine Wut.
Noch atmete er.
Noch konnte er sich wehren!
Über ihm erstreckte sich die gerade Kontur der Hammers. Die Kopfbreite des Hais bemaß sich auf über ein Viertel seiner Körperlänge, sodass die seitlichen Auswölbungen weit auseinander standen. Bohrmann sah nur die Kante, kein Auge und kein Nasenloch. Er begann, mit der Konsole darauf einzuprügeln. Damit schien er keinen großen Eindruck auf das Tier zu machen. Der Hai stieß ihn weiter voran, der Lichtgrenze zu, dort, wo sie die Explosion abgewartet hatten. Wenn sie einmal im schwarzen Wasser waren, würde er das Tier nicht einmal mehr sehen können.