Vor ihm lag eine kopfsteingepflasterte Fläche, seitlich umstanden von Baracken. Dahinter schienen die Aufbauten eines riesigen Schiffes geradewegs aus dem Boden zu wachsen. Es war die Barrier Queen. Sie lag in einem Becken von gut und gerne 250 Metern Länge. Zu beiden Seiten erhoben sich Kräne auf Schienen. Starke Scheinwerfer bestrahlten das Gelände. Weit und breit war niemand zu sehen.
   Während er mit wachsamen Blicken über den erleuchteten Platz ging, fragte er sich, ob die Aktion nicht allzu überhastet war. Das Schiff lag seit Wochen auf dem Trockenen. Den Bewuchs hatte man vermutlich entfernt, mit allem, was darin versteckt gewesen war. Etwaige Reste in Ritzen und Spalten würden längst vertrocknet sein. Von dem Ding in den Muscheln wäre erst recht nichts übrig. Im Grunde wusste Anawak nicht so recht, was eine zweite Untersuchung der Barrier Queen zutage fördern sollte. Es war ein Versuch auf gut Glück, eine vage Hoffnung. Falls er irgendetwas fand, das für Nanaimo von Nutzen sein konnte, würde er es mitnehmen. Falls nicht, hatte er dem Abenteuer einen Abend geopfert.
   Das Ding vom Rumpf.
   Es war klein gewesen, höchstens so groß wie ein Rochen oder ein Tintenfisch. Der Organismus hatte einen Lichtblitz ausgesandt. Viele Meeresbewohner taten das, Kopffüßer, Medusen, Tiefseefische. Dennoch war Anawak überzeugt, diesem Blitzen wiederbegegnet zu sein, als er mit Ford die Aufnahmen des URA betrachtet hatte. Die leuchtende Wolke war ungleich größer als das Ding, aber was sich in ihrem Innern abspielte, erinnerte ihn auf frappierende Weise an sein Erlebnis unter dem Rumpf der Barrier Queen. Falls es sich wirklich um ein und dieselbe Lebensform handelte, wurde es allerdings erst richtig spannend. Denn das Zeug in den Köpfen der Wale, die Substanz vom Rumpf des Schiffes und das geflohene Wesen schienen identisch zu sein.
   Die Wale sind nur der Teil des Problems, den wir sehen.
   Er schaute sich mit erhöhter Wachsamkeit um und sah ein Stück abseits mehrere Geländewagen vor einer Baracke parken. Die Fenster des Gebäudes waren erleuchtet. Er blieb stehen. Es waren Militärfahrzeuge. Was tat das Militär hier? Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er mitten auf dem hell erleuchteten Platz stand, und er lief geduckt weiter. Erst am Rand des Trockendocks verharrte er. So sehr beschäftigte ihn das Vorhandensein der Militärfahrzeuge, dass er einige Sekunden lang in das Becken starrte, ohne recht zu begreifen, was er sah. Dann weiteten sich seine Augen vor Erstaunen. Er vergaß die Fahrzeuge und trat näher heran.
   Das Dock war geflutet.
   Die Barrier Queen lag keineswegs auf dem Trockenen. Wo man den Kiel auf den Pallen hätte sehen müssen, rippten sich winzige Wellen. Der Wasserspiegel lag mindestens acht bis zehn Meter über der Docksohle.
   Anawak ging in die Hocke und starrte auf das schwarze Wasser.
   Warum hatten sie es eingelassen? War die Reparatur des Ruders vollendet? Aber dann hätten sie die Barrier Queen ebenso gut raussetzen können.
   Er dachte nach.
   Und plötzlich wusste er, warum.
   Vor Erregung ließ er die Schultertasche so schnell heruntergleiten, dass sie geräuschvoll aufschlug. Erschrocken blickte er den verlassenen Pier entlang. Der Himmel verdüsterte sich zusehends. Flutlichter erstrahlten entlang des Docks in kaltem Weißgrün. Er lauschte auf Schritte, aber außer den Geräuschen der Stadt, die der Wind herüberwehte, war nichts zu hören.
   Jetzt, da er das geflutete Becken sah, kamen ihm plötzlich Zweifel, ob er nicht einen Fehler beging. Seine Verärgerung über die Geheimnistuerei des Krisenstabs hatte ihn hergeführt, aber wer war er, dessen Entscheidungen in Frage zu stellen? Es war eine Rambo-Aktion, die er hier durchzog, möglicherweise eine Nummer zu groß für ihn. Darüber hatte er zuvor nicht nachgedacht.
   Andererseits war er nun mal hier, und überhaupt — was sollte passieren? In zwanzig Minuten würde er ebenso unbemerkt verschwunden sein, wie er hergelangt war. Um einiges klüger.
   Anawak öffnete die Sporttasche. Sie hielt alles bereit. Er hatte die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, tauchen zu müssen. Hätte die Barrier Queen im Schwimmdock gelegen, wäre es sinnvoll gewesen, sich vom offenen Wasser her zu nähern. Aber so war es natürlich einfacher.
   So war es perfekt!
   Er entledigte sich seiner Jeans und der Oberbekleidung, holte Maske, Flossen und Stablampe hervor und einen Sammelbehälter, den er um seine Hüften schnallte. Die Messertasche am Bein komplettierte die Ausrüstung. Sauerstoff würde er nicht brauchen. Die Tasche verstaute er unter einem Poller. Die Ausrüstung unter den Arm geklemmt, eilte er am Becken entlang, bis er zu einer schmalen, abwärts führenden Steigleiter gelangte. Er warf einen letzten Blick über den Pier. Aus der Baracke drang unverändert Licht. Niemand war zu sehen. Schnell und geräuschlos lief er die Gitterstufen abwärts, streifte Maske und Flossen über und ließ sich ins Wasser gleiten.
   Schneidende Kälte fuhr ihm in die Knochen. Ohne Neoprenschutz musste er sich beeilen, aber er hatte ohnehin nicht vor, lange unten zu bleiben. Mit kräftigen Flossenschlägen, die Stablampe eingeschaltet, tauchte er ab und strebte dem Kiel zu. Das Wasser war um einiges klarer als bei seinem Tauchgang im Hafenbecken, und er sah den stählernen Rumpf deutlich vor sich. Das Licht der Lampe ließ den Anstrich kräftig rot aufleuchten. Er strich mit den Fingern über die Oberfläche, verharrte einen Moment, stieß sich ab und schwamm weiter.
   Nach wenigen Metern verschwand die Bordwand unter dichtem Muschelbewuchs.
   Fasziniert paddelte er weiter. Der Kiel war unverändert dick verkrustet. Nachdem er rund die Hälfte der Distanz zum Bug zurückgelegt hatte, schien es ihm fast, als habe der Bewuchs sogar noch zugenommen. Das war es also. Sie hatten ihn überhaupt nicht entfernt. Sie erforschten das Zeug und alles, was noch darin stecken mochte, direkt am Schiff. Darum lag die Barrier Queen im Trockendock, weil man es im Gegensatz zu einem Schwimmdock hermetisch abriegeln konnte, sodass nichts ins Meer entwich, was nicht entweichen sollte. Sie hatten die Barrier Queen zu einem Laboratorium umfunktioniert. Und damit, was daran haftete und darin lebte, weiterleben konnte, hatten sie das Dock geflutet.
   Schlagartig wurde ihm nun auch klar, was die Militärfahrzeuge zu bedeuten hatten. Wenn Nanaimo als ziviles Institut aus der Sache raus war, konnte das nur eines bedeuten. Die Armee hatte die Forschungen an sich gerissen. Alles Weitere lief unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
   Anawak zögerte. Wieder meldeten sich Zweifel, ob er das Richtige tat. Noch war Zeit, sich davonzumachen. Dann verwarf er den Gedanken. Lange würde er nicht brauchen. Rasch zog er das Messer heraus und begann, Muscheln abzusäbeln. Er achtete darauf, die Schalen nicht zu beschädigen, löste die Tiere, indem er die Klinge behutsam unter den muskulösen Fuß schob und mit einem Ruck abhebelte, konzentriert und systematisch. Eine Muschel nach der anderen wanderte in die Sammelbox. Gut so. Oliviera würde ihm um den Hals fallen.
   Der Drang einzuatmen wurde übermächtig. Anawak steckte das Messer weg und tauchte auf, um Luft zu holen. Kühl drang sie in seine Lungen. Über ihm ragte dunkel und steil die Bordwand empor. Er atmete mehrmals kräftig durch. Als Nächstes würde er eine Stelle suchen, die jener glich, aus der ihm das aufblitzende Ding entgegengekommen war. Vielleicht verbargen sich ja noch weitere dieser Wesen im Bewuchs. Diesmal würde er vorbereitet sein.
   Als er eben wieder abtauchen wollte, vernahm er leise Schritte.
   Er drehte sich im Wasser und spähte die Wand des Beckens hoch. Zwei Gestalten gingen dort entlang, auf halber Strecke zwischen zwei Flutlichtmasten.
   Sie schauten nach unten.
   Lautlos ließ er sich unter die Oberfläche sinken. Vermutlich der Wachdienst. Oder zwei späte Arbeiter. Sicher gab es eine Menge Leute, die Grund hatten, um diese Zeit hier entlangzugehen. Er würde darauf zu achten haben, wenn er das Becken wieder verließ.
   Dann fiel ihm ein, dass sie den Schein seiner Lampe unter Wasser sehen konnten.
   Er schaltete sie aus. Dunkelheit umfing ihn.
   Wie dumm. Wo waren die beiden entlanggelaufen? Sie gingen in Richtung Heck. Vielleicht konnte er zum Bug schwimmen und seine Untersuchung dort fortsetzen. Mit gleichmäßigen Flossenschlägen machte er sich auf den Weg. Nach einer Weile kam er wieder hoch, drehte sich auf den Rücken und sog Luft in sich hinein, den Blick auf die Kaimauer gerichtet, aber niemand war zu sehen.
   Auf Höhe des Ankers ließ er sich wieder nach unten sinken. Seine Finger ertasteten vorsichtig die Bordwand. Auch hier bildeten die Muscheln bizarre Wucherungen. Er suchte nach einem Spalt oder größeren Vertiefungen, fand aber nichts Derartiges. Das Beste würde sein, die Box mit weiteren Muscheln zu füllen und schleunigst wieder zu verschwinden. In seiner Hast schnitt er die Tiere jetzt weniger sorgfältig ab. Seine Hände zitterten. Diese ganze Aktion war der Plan eines Dilettanten, das wurde ihm deutlich bewusst. Ihm war schrecklich kalt, seine Fingerspitzen hatten jedes Gefühl verloren.
   Seine Fingerspitzen …
   Plötzlich fiel ihm auf, dass er sie sehen konnte. Er schaute an sich hinab. Auch seine Arme und seine Beine. Sie leuchteten. Nein, das Wasser hatte zu leuchten begonnen. Es fluoreszierte in tiefdunklem Blau.
   Mein Gott, dachte Anawak.
   Im nächsten Moment blendete ihn grelles Licht. Instinktiv riss er die Arme hoch und schirmte seine Augen ab. Lichtblitze. Die Wolke. Was geschah mit ihm? Worauf hatte er sich bloß eingelassen?
   Aber es war kein Lichtblitz. Das grelle Licht blieb. Anawak erkannte, dass er von einem Unterwasserscheinwerfer angeleuchtet wurde. Weitere Scheinwerfer flammten entlang der Docksohle auf. Sie tauchten den Rumpf der Barrier Queen in harte Helligkeit. Deutlich sah er die furchigen, hügeligen Krusten aus Muscheln und erschauderte.
   Das galt ihm. Sie hatten ihn entdeckt!
   Einen Moment lang wusste er nicht, was er tun sollte. Aber es gab nur einen Weg. Er musste versuchen, zurück ans Heck zu gelangen, dorthin, wo die Stiege nach oben führte und wo seine Tasche auf ihn wartete. Mit klopfendem Herzen schnellte er vorbei an den grellen Lichtern. In seinen Ohren rauschte das Wasser. Die Luft wurde ihm knapp, aber er wollte nicht auftauchen, bevor er nicht die Stiege erreicht hatte.
   Da war sie, im Zickzack der Docksohle zustrebend.
   Seine Hände umklammerten das Geländer, und er zog sich hoch. Von oben hörte er lautes Rufen und das Getrampel laufender Füße. Hastig streifte er Flossen und Maske ab, klinkte die Stablampe an seinem Gürtel fest und schlich geduckt nach oben, bis er über den Rand schauen konnte.
   Drei Gewehrmündungen waren auf ihn gerichtet.
   In der Baracke gab man Anawak eine Decke. Er hatte versucht, den Soldaten zu erklären, dass er Mitglied des Wissenschaftlichen Krisen-Stabs sei, aber sie hörten ihm überhaupt nicht zu. Ihre Aufgabe bestand darin, ihn dingfest zu machen. Nachdem er offensichtlich keinen Widerstand leistete und auch nicht zu fliehen versuchte, hatten sie ihn in die Baracke getrieben, wo noch mehr Soldaten waren und ein diensthabender Offizier, der ihn mit Fragen löcherte. Anawak wusste, dass es zwecklos war, irgendwelche Geschichten zu erzählen. Sie würden ihn ohnehin nicht laufen lassen. Also erzählte er, wer er war und warum er hier war — kurz, die Wahrheit.
   Der Offizier hörte nachdenklich zu. »Können Sie sich ausweisen?«, fragte er.
   Anawak schüttelte den Kopf. »Meine Papiere sind in meiner Tasche, und die steht draußen. Ich könnte sie holen.«
   »Sagen Sie uns einfach, wo die Tasche ist.«
   Er beschrieb den Soldaten, wo er die Sporttasche abgestellt hatte. Fünf Minuten später hielt der Offizier seinen Ausweis in Händen und studierte ihn aufmerksam.
   »Falls Ihre Papiere nicht gefälscht sind, heißen Sie Leon Anawak, wohnhaft in Vancouver …«
   »Nichts anderes erzähle ich die ganze Zeit.«
   »Erzählt wird vieles. Wollen Sie einen Kaffee? Sie sehen ziemlich durchgefroren aus.«
   »Ich bin ziemlich durchgefroren.«
   Der Offizier stand von seinem Schreibtisch auf, ging zu einem Automaten und drückte auf eine Taste. Ein Pappbecher fiel unten heraus und füllte sich mit dampfender Flüssigkeit. Anawak trank in kleinen Schlucken und fühlte ein bisschen Wärme in seinen klammen Körper zurückkehren.
   »Ich weiß nicht, was ich von Ihrer Geschichte halten soll«, sagte der Offizier, während er langsam um ihn herumwanderte. »Wenn Sie zum Krisenstab gehören, warum haben Sie dann kein offizielles Ersuchen eingereicht?«
   »Fragen Sie das Ihre Vorgesetzten. Ich versuche seit Wochen, Kontakt mit Inglewood aufzunehmen.«
   Der Offizier legte die Stirn in Falten.
   »Sie sind freier Mitarbeiter des Stabs?«
   »Ja.«
   »Verstehe.«
   Anawak sah sich um. Er vermutete, dass der mit Resopalstühlen und schäbigen Tischen möblierte Raum als Pausenraum für die Dockarbeiter diente. Jetzt war er offenbar umfunktioniert worden zu einer provisorischen Kommandostelle.
   Er hatte die ganze Sachlage vollkommen falsch eingeschätzt.
   »Und jetzt?«, fragte er.
   »Jetzt?« Der Offizier setzte sich ihm gegenüber und verschränkte die Finger. »Ich muss Sie bitten, vorerst hier zu bleiben. Der Fall ist nicht so einfach. Sie befinden sich auf militärischem Sperrgebiet.«
   »Nirgendwo steht ein Schild, wenn ich das anmerken darf.«
   »Ein Schild mit der Genehmigung einzudringen steht hier ebenso wenig, Dr. Anawak.«
   Anawak nickte. Was sollte er sich beschweren? Es war eine Schnapsidee gewesen. Oder auch nicht, immerhin wusste er nun, dass die Armee an der Sache arbeitete, dass sie die Organismen am Rumpf studierte und am Leben erhielt. Die Muscheln, die er für Oliviera gesammelt hatte, würden Nanaimo wohl kaum erreichen, sofern die Verantwortlichen weiterhin mauerten.
   Der Offizier zog ein Funkgerät vom Gürtel und führte ein kurzes Gespräch. »Sie haben wirklich Glück«, sagte er dann. »Es wird jemand kommen, um sich mit Ihnen zu befassen.«
   »Warum nehmen Sie nicht einfach meine Personalien auf und lassen mich gehen?«
   »So einfach ist das nicht.«
   »Ich habe nichts Unrechtmäßiges getan«, sagte Anawak. Es klang nicht sonderlich überzeugend, nicht mal in seinen eigenen Ohren.
   Der Offizier lächelte. »Auch für Mitglieder eines Krisenstabs gelten die Regeln des Hausfriedensbruchs. Im zivilrechtlichen Sinne.«
   Er ging hinaus. Anawak blieb zusammen mit den übrigen Soldaten in der Baracke. Sie sprachen nicht mit ihm, behielten ihn aber im Auge. Allmählich wurde ihm wieder warm vom Kaffee und vom Ärger darüber, es verpatzt zu haben. Er hatte sich angestellt wie der letzte Idiot. Der einzige Trost war die Aussicht auf ein paar Informationen, wenn wer auch immer eintraf, um sich mit ihm ›zu befassen‹.
   Eine halbe Stunde verstrich in untätigem Warten. Dann hörte er einen Helikopter näher kommen. Er wandte den Kopf und schaute aus dem Fenster, das zum Hafenbecken hinausging. Licht strömte ins Innere der Baracke. Ein starker Scheinwerfer schwebte dicht über dem Wasser. Kurz schwoll das Knattern der Rotoren ohrenbetäubend an, als der Helikopter das Gebäude überflog und tiefer ging. Das Knattern verwandelte sich in rhythmisches Flappen. Die Maschine war gelandet.
   Anawak seufzte. Jetzt würde er alles ein zweites Mal erzählen müssen. Wer er war, was er hier zu suchen hatte.
   Über den gepflasterten Platz näherten sich Schritte. Gesprächsfetzen klangen auf. Zwei Soldaten traten ein. Ihnen folgte der Offizier.
   »Sie haben Besuch, Dr. Anawak.«
   Er ging einen Schritt zur Seite. Eine weitere Person erschien als Schattenriss im erleuchteten Türrahmen. Anawak erkannte sie sofort. Kurz verharrte sie dort, als wolle sie sich einen Überblick verschaffen. Dann kam sie langsam näher, bis sie dicht vor ihm stand. Anawak sah in wasserblaue Augen. Zwei Aquamarine in einem asiatischen Gesicht.
   »Guten Abend«, sagte eine leise, kultivierte Stimme.
   Es war General Commander Judith Li.
 

3. Mai

Thorvaldson, norwegischer Kontinentalhang
 
   Clifford Stone war im schottischen Aberdeen zur Welt gekommen, als zweites von drei Kindern. Vom ersten Lebensjahr an ging ihm alles Niedliche ab. Er war klein, schmächtig und auf unkindliche Weise hässlich. Seine Familie begegnete ihm mit Distanz, als sei er ein Unfall, eine peinliche Panne, die umso weniger offenbar wird, je weniger man sie thematisiert. Clifford wurde keine Verantwortung übertragen wie dem Erstgeborenen, und er wurde nicht verhätschelt wie seine jüngere Schwester. Man konnte auch nicht eben sagen, dass er schlecht behandelt wurde, im Grunde fehlte es ihm an nichts.
   Bis auf Wärme und Aufmerksamkeit.
   Nie erlebte er das Gefühl, anderen in irgendetwas voraus zu sein.
   Er fand keine Freunde als Kind und kein Mädchen, als er älter wurde und mit achtzehn seine Haare ausfielen. Nicht einmal der Umstand, dass er mit einem glänzenden Abitur aufwartete, schien tatsächlich jemanden zu interessieren. Mit einiger Verblüffung überreichte ihm sein Kursleiter das Abschlusszeugnis, als nehme er den unscheinbaren Jungen mit den fordernden schwarzen Augen erstmalig wahr. Es war ein sehr gutes Zeugnis, also nickte er Stone freundlich zu, lächelte kurz und vergaß das schmale Gesicht im selben Moment.
   Stone studierte Ingenieurwissenschaften und erwies sich als hoch begabt. Endlich — über Nacht — wurde ihm die Anerkennung zuteil, nach der er sich immer gesehnt hatte. Aber sie blieb beschränkt auf seine berufliche Existenz. Der private Stone verblasste zusehends — weniger, weil niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte, sondern weil er sich selber keine private Existenz gestattete. Der Gedanke an Privatheit machte ihm Angst. Privatheit bedeutete zurückzufallen in die Nichtbeachtung. Während Clifford Stone, der Ingenieur, mit seinem messerscharfen Verstand Karriere bei Statoil machte, begann er den kahlen Mann, der abends allein nach Hause ging, für seine Ängste zu verachten, bis er ihm schließlich jegliches Existenzrecht absprach.
   Der Konzern wurde sein Leben, seine Familie, seine Erfüllung, weil er Stone etwas vermittelte, das er zu Hause nie erfahren hatte. Das Gefühl, anderen voraus zu sein. Vorn zu liegen. Es war ein berauschendes und zugleich quälendes Empfinden, eine ständige Hetze. Mit der Zeit begann die Sucht nach dem ultimativen Vorsprung Stone auf eine Weise zu beherrschen, dass er sich an keinem seiner Erfolge wirklich freuen konnte, weil er gar nicht wusste, wie man Erfolge feierte oder mit wem. Hatte er ein Ziel erreicht, war er unfähig zu verweilen. Wie besessen hastete er sich selber voraus. Zu verweilen hätte möglicherweise bedeutet, einen Blick auf einen schmalen Jungen mit seltsam erwachsenen Zügen werfen zu müssen, der so lange ignoriert worden war, dass er sich am Ende selber ignorierte. Und nichts fürchtete Stone mehr als den Blick in die dunklen, fordernden Augen.
   Vor einigen Jahren hatte Statoil ein Ressort eingerichtet, das sich ausschließlich mit der Erprobung neuer Technologien befasste. Sehr schnell erkannte Stone, welche Chancen in der baldigen Umrüstung auf autonome Förderfabriken lagen. Nachdem er der Konzernspitze eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet hatte, übertrug man ihm schließlich den Bau einer Fabrik auf dem Grund der Tiefsee, die von der renommierten norwegischen Technologiefirma FMC Kongsberg entwickelt worden war. Es gab zu dieser Zeit schon eine ganze Reihe unterseeischer Fabriken, aber der Kongsberg-Prototyp war ein völlig neuartiges System, enorm kostensparend und geeignet, die Offshore-Förderung zu revolutionieren. Der Bau geschah mit Wissen und Billigung der norwegischen Regierung, dennoch fand er offiziell nie statt. Stone wusste, dass die praktische Inbetriebnahme streng genommen zu früh erfolgte. Besonders Greenpeace hätte auf einer Reihe zusätzlicher Tests bestanden. Tests, die Monate und Jahre in Anspruch genommen hätten. Das Misstrauen war verständlich, immerhin lag die Ölförderung in der Statistik menschlichen und moralischen Versagens ganz weit vorn. Kaum ein Interessengeflecht, das den Planeten überzog, schnürte ihm zugleich so sehr den Atem ab wie die sogenannten vitalen Ansprüche der Mineralölkonzerne. Also blieb das Projekt geheim. Selbst als Kongsberg die Fabrik als Konzeptstudie im Internet vorstellte, wurde nicht publik, dass Statoil sie längst in Betrieb genommen hatte. Am Grund der Tiefsee arbeitete ein Phantom, das seinen Erbauern nur darum nicht den Schlaf raubte, weil es einwandfrei funktionierte.
   Nichts anderes hatte Stone erwartet. Nach endlosen Testreihen war er tatsächlich überzeugt gewesen, jedes Risiko ausgeschlossen zu haben. Was hätten zusätzliche Tests gebracht? Allenfalls hätten sie einer Mentalität des Zögerns Genüge getan, die er in den Strukturen des staatlich geführten Konzerns zu erspüren glaubte und die er verachtete wie alles und jeden, der zögerte. Außerdem schlossen zwei Faktoren jedes weitere Warten kategorisch aus. Faktor eins war Stones erwitterte Chance, als technologischer Wegbereiter Einzug in die geräumigeren Büros des Management Boards zu halten. Faktor zwei war, dass der Ölkrieg trotz Instrumentalisierung internationaler Politik und bewaffneter Eingriffe in die Herrschaftsverhältnisse souveräner Staaten für alle Seiten verloren zu gehen drohte. Am Ende spielte es keine Rolle, wann der letzte Tropfen Öl floss, sondern wann die Förderung ins Stadium der Unwirtschaftlichkeit wechselte. Die typische Ertragsentwicklung einer Quelle folgte nun mal brav der Physik. Nach dem ersten Anbohren schoss das Öl unter Hochdruck heraus und sprudelte oft jahrzehntelang weiter. Mit der Zeit jedoch verringerte sich der Druck. Die Erde schien das Öl nicht länger herausrücken zu wollen, sie hielt es durch kapillarischen Druck in winzigen Poren fest, und was anfangs von selber ausgetreten war, musste nun mit einer Menge Aufwand herausgespült werden. Das kostete Unsummen. Die Fördermenge sank rapide, lange bevor das Lager erschöpft war. Wie viel auch immer noch da unten sein mochte — sobald der Aufwand zur Gewinnung dieses Öls mehr Energie verschlang, als es lieferte, ließ man es besser in der Erde.
   Hierin lag einer der Gründe, warum sich die Energieexperten am Ende des zweiten Jahrtausends so fulminant verschätzt hatten, als sie die fossilen Reserven auf Jahrzehnte für gesichert erklärten. Genau genommen hatten sie zwar Recht. Die Erde war ölgetränkt. Aber entweder kam man nicht dran, oder der Ertrag stand in keinem Verhältnis zum Aufwand.
   Dieses Dilemma hatte Anfang des dritten Jahrtausends zu einer gespenstischen Situation geführt. Die OPEC, in den achtziger Jahren totgesagt, feierte eine zombiehafte Renaissance. — Nicht weil sie das Dilemma löste, sondern einfach, weil sie über die größeren Reserven verfügte. Den Nordseestaaten, die sich von der OPEC nicht die Preise diktieren lassen wollten, blieb damit nur, die Kosten der Förderung drastisch zu senken und ansonsten der Tiefsee mit vollautomatisierten Systemen auf den Leib zu rücken. Die Tiefsee quittierte das neu erwachte Interesse ihrerseits mit einer ganzen Reihe von Problemen, angefangen bei den extremen Druck— und Temperaturverhältnissen, verhieß jedoch demjenigen, der sie löste, ein zweites Eldorado. Nicht in alle Ewigkeit zwar, aber lange genug für eine Branche, die davon lebte, dass die Welt in suchtartiger Abhängigkeit von Öl und Gas stehen geblieben war.
   Stone, dessen ganzes Leben bestimmt war von der Sehnsucht, vorn zu liegen, hatte damals eine Expertise verfasst, die Entwicklung des Prototyps forciert und den Bau empfohlen, und Statoil war ihm gefolgt. Über Nacht fand er seinen Kompetenzspielraum und seinen Kreditrahmen großzügig erweitert. Er pflegte glänzende Kontakte zu den Entwicklungsfirmen und schaffte es, dass man den Wünschen und Befindlichkeiten von Statoil dort Vorrang einräumte. Die ganze Zeit hindurch war ihm bewusst, auf welch schmalem Grat er sich bewegte. Solange niemand dem Konzern am Zeug flicken konnte, war er den Vorständen ein willkommener Conquistador. Im Falle größerer Erklärungsnotstände würde man ihn fallen lassen. Der beste Mann war immer auch der beste Schuldige. Stone wusste, dass er schleunigst einen Vorstandssessel ansteuern musste, bevor jemand auf die Idee kam, ihn zu opfern. Stand sein Name erst einmal für Innovation und Profit, würden sich ihm alle Türen öffnen. Es war dann nur die Frage, durch welche er zu gehen geruhte.
   So jedenfalls hatte er sich die Sache gedacht.
   Und jetzt saß er auf diesem verdammten Schiff.
   Er wusste nicht, worüber er sich mehr ärgern sollte. Über Skaugen, der ihn verraten hatte, oder über sich selber. Hatte er die Spielregeln nicht in Kauf genommen? Worüber regte er sich auf? Es war geschehen. Der ungünstigste aller Fälle war eingetreten. Jeder brachte sich in Sicherheit. Skaugen wusste nur zu gut, dass die desaströsen Vorgänge am Hang früher oder später an die Öffentlichkeit gelangen würden. Niemand konnte sich sein Schweigen noch lange leisten, wenn er nicht riskieren wollte, bloßgestellt zu werden. Statoils Umfrage unter den Konzernen hatte eine Entwicklung in Gang gesetzt, die nicht mehr zu stoppen war. Jeder setzte nun jeden unter Druck. Keine konspirativen Absprachen waren noch möglich mit einer drohenden Umweltkatastrophe vor Augen. Es ging einzig darum, wer in dieser verfahrenen Situation am elegantesten die Kurve kriegte und wen man dafür schlachtete.
   Stone kochte vor Zorn. Er hätte kotzen können, als Skaugen sich als Gutmensch aufgespielt hatte. Dabei war Finn Skaugen der Schlimmste von allen. Sein Spiel war weit perfider als alles, was sich ein Clifford Stone in seinen schwärzesten Momenten auszudenken vermochte. Was hatte er denn schon verbrochen? Natürlich hatte er sich im erweiterten Handlungsrahmen bewegt, aber warum denn? Weil man ihm diesen Rahmen zugebilligt hatte! Lächerlich, er hatte ihn ja nicht mal richtig ausgenutzt. Ein unbekannter Wurm, na und? Selbstverständlich hatte er das idiotische Gutachten ›vergessen‹. Kein Wurm hatte je die Seefahrt gefährdet oder eine Bedrohung für Bohrinseln dargestellt. Inmitten Milliarden planktonischer Lebewesen kreuzten täglich tausende von Schiffen. Blieben die etwa im Hafen angesichts einer neuen Art Ruderfußkrebs, wie man sie ständig entdeckte?
   Dann die Sache mit den Hydraten. Zum Totlachen. Die Gasaustritte hatten absolut im grünen Bereich gelegen.
   Aber was wäre passiert, wenn er dieses Gutachten vorgelegt hätte? Verfluchte Bürokraten, die in allem, was heiß serviert wurde, so lange herumstocherten, bis kalte Matsche übrig blieb. Sie hätten den Bau verzögert, für nichts und wieder nichts.
   Das System trägt Schuld, dachte Stone grimmig. Allen voran Skaugen mit seiner widerlichen Bigotterie. Das Vorstandspack, das einem grinsend auf die Schulter schlug und sagte, klasse, Kumpel, mach weiter so, aber lass dich nicht erwischen, denn dann sind wir’s nicht gewesen, sie trugen Schuld an Stones unverdientem Elend. Und Tina Lund, auch sie war schuld, sie hatte sich bei Skaugen eingeschleimt, um den Job zu bekommen, wahrscheinlich ließ sie sich ficken von dem Arschloch! Ja, so musste es sein. Hätte sie je mit ihm gevögelt, mit Stone? Verfluchte Schlampe. Sogar Dank hatte er heucheln müssen dafür, dass die blöde Kuh sich für ihn eingesetzt und Skaugen ihm die Chance gegeben hatte, seine verloren gegangene Fabrik wiederzufinden. Und was man von dieser Chance zu halten hatte, war ebenfalls klar. Es war keine Chance, sondern eine Falle. Alle, alle hatten ihn verraten!
   Aber er würde es ihnen zeigen. Clifford Stone war noch lange nicht erledigt. Was immer mit der Fabrik geschehen war, er würde es herausfinden und in Ordnung bringen. Dann erst würde man sehen, wer bei wem Leichen im Keller hatte.
   Er selber würde der Sache auf den Grund gehen.
   Höchstpersönlich!
   Die Thorvaldson hatte den Standort der Fabrik inzwischen mit dem Fächersonar gescannt. Die Anlage blieb verschwunden. Wo sie gestanden hatte, schien die Morphologie des Meeresbodens eine andere geworden zu sein. Dort unten klaffte ein Graben, den es vor wenigen Tagen noch nicht gegeben hatte. Stone konnte nicht leugnen, dass ihm beim Gedanken an die Tiefe ebenso mulmig wurde wie der Besatzung und dem technischen Team. Aber er verdrängte die Angst. Er dachte nur an seine Tauchfahrt und wie er den Schleier am Ende lüften würde.
   Clifford Stone. Unerschrocken. Ein Mann der Tat!
   Auf dem Achterdeck der Thorvaldson wartete das Tauchboot darauf, ihn nach unten zu bringen, in neunhundert Meter Tiefe. Natürlich hätte er zuerst den Roboter auf Erkundung schicken sollen. Jean-Jacques Alban und jeder an Bord hatte ihm dringend dazu geraten.
   Victor verfügte über ausgezeichnete Kameras, einen hoch sensiblen Greifarm und alle Instrumente, die für eine schnelle Datenauswertung vonnöten waren. Aber es machte mehr Eindruck, wenn er selber ging. Man würde im Konzern begreifen, dass ein Clifford Stone kein Freund halber Sachen war. Außerdem teilte er Albans Ansicht nicht. Auf der Sonne hatte er sich mit Gerhard Bohrmann über Reisen in bemannten Tauchbooten unterhalten. Bohrmann war mit der legendären Alvin vor Oregon runtergegangen. Seine Augen hatten etwas Verträumtes bekommen, als er davon erzählt hatte. Er hatte gesagt: »Ich habe tausende von Videoaufzeichnungen gesehen. Aufzeichnungen von Robotern, allesamt sehr beeindruckend. Aber selber da drin zu sitzen, selber unten zu sein, diese Dreidimensionalität — ich hätte nie gedacht, dass es so sein würde. Es ist unvergleichlich.«
   Und dass keine Maschine Sinnesorgane und Intuition des Menschen je vollständig würde ersetzen können, hatte er auch gesagt. Stone lächelte grimmig. Diesmal war er am Zug. Er hatte klug gehandelt. Das Tauchboot war über seine ausgezeichneten Kontakte schnell zu beschaffen gewesen. Es war ein DR 1002, ein Deep Rover der amerikanischen Deep Ocean Engineering, und gehörte zu den kleinen und leichten Booten einer völlig neuen Generation. Auf wuchtigen Kufen, denen zwei mehrgelenkige Greifarme entwuchsen, ruhte eine vollkommen transparente Kugel. Im Innern waren zwei bequem aussehende Sitze mit seitlich angeordneten Bedienungselementen untergebracht. Stone war sehr zufrieden mit seiner Wahl, als er neben das Deep Rover trat. Es war an die Trossen des Auslegers gekoppelt und aufgebockt, sodass man durch die Bodenluke ins Innere kriechen konnte. Der Pilot, ein vierschrötiger pensionierter Marineflieger, den alle Eddie nannten, hockte bereits im Innenraum und checkte die Instrumente. Wie üblich, bevor ein Tauchboot zu Wasser gelassen wurde, wimmelte es auf dem Achterdeck von Matrosen, Technikern und Wissenschaftlern. Stone sah sich suchend um, erblickte Alban und pfiff ihn heran.
   »Wo ist der Fotograf?«, rief er ungeduldig. »Und der Kerl mit der Kamera?«
   »Keine Ahnung«, sagte Alban im Näherkommen. »Den Kameramann habe ich vorhin irgendwo rumschleichen sehen.«
   »Dann soll er gefälligst herschleichen«, blaffte Stone. »Wir gehen nicht runter, ohne das hier dokumentiert zu haben.«
   Alban runzelte die Stirn und sah hinaus aufs Meer. Der Tag war dunstig, mit schlechter Sicht.
   »Es stinkt«, sagte er.
   Stone zuckte die Achseln. »Das liegt am Methan.«
   »Es wird schlimmer.«
   Tatsächlich lag ein schwefeliger Geruch über dem Meer.
   Es musste eine Menge Gas dort unten freigesetzt worden sein, dass es oben derart übel roch. Sie alle hatten gesehen, was am Hang los war, sie hatten die Würmer gesehen und die aufsteigenden Blasen. Niemand konnte oder wollte sich eine Vorstellung davon machen, was am Ende dieser Entwicklung stand, aber es war eindeutig kein gutes Zeichen, wenn das ganze Meer roch, als hätte jemand eine Wagenladung Stinkbomben platzen lassen.
   »Das kriegt sich alles wieder ein«, sagte Stone.
   Alban sah ihn an. »Hören Sie, Stone, ich würde das an Ihrer Stelle bleiben lassen.«
   »Was?«
   »Den Tauchgang.«
   »Ach Blödsinn!« Stone sah sich zornig um. »Wo ist jetzt dieser verdammte Fotograf?«
   »Es ist zu riskant.«
   »Quatsch.«
   »Außerdem fällt das Barometer. Es fällt ins Bodenlose.
   Wir bekommen Sturm.« »Sturm ist unerheblich für Tauchboote, muss ich Ihnen das erst erklären? Wir gehen runter und basta.«
   »Stone, Sie Idiot! Warum machen Sie das?«
   »Weil wir so einen besseren und schnelleren Überblick gewinnen«, belehrte ihn Stone. »Herrgott, Jean, seien Sie nicht so eine verdammte Memme. Nichts kriegt die Kiste da klein, schon gar nicht ein paar Würmer. Das Boot kommt vier Kilometer tief …«
   »In viertausend Metern kollabiert die Hülle«, berichtigte ihn Alban trocken. »Und zugelassen ist das Boot bis tausend.«
   »Das weiß ich selber. Na und? Wir wollen auf neunhundert gehen, wer redet denn von viertausend? Was soll denn überhaupt passieren, um Himmels willen?«
   »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich der Meeresboden unter uns verändert hat und dass immer mehr Gas in die Wassersäule gelangt. Das Sonar kann die Fabrik nicht orten, wir haben nicht die geringste Vorstellung davon, was da unten los ist.«
   »Vielleicht ist was abgerutscht. Oder eingebrochen. Im schlimmsten Fall ist unsere Fabrik ein Stück weggesackt.
   So was kommt vor.«
   »Ja. Vielleicht.«
   »Also, wo ist das Problem?«
   »Das Problem ist, dass ein Roboter es ebenso täte«, sagte Alban genervt. »Aber Sie wollen ja unbedingt den Helden spielen.«
   Stone zeigte mit zwei Fingern auf seine Augen. »Damit kann ich immer noch am besten einschätzen, was los ist. Verstehen Sie? Direkt vor Ort. So löst man Probleme, man geht hin und packt sie an.«
   »Gut. Okay.«
   »Also, wann gehen wir runter?« Stone sah auf die Uhr. »Ah, in einer halben Stunde. Nein, zwanzig Minuten. Wunderbar.«
   Er winkte Eddie im Innern des Tauchboots zu. Der Pilot hob kurz die Hand und widmete sich wieder der Konsole. Stone grinste.
   »Was wollen Sie überhaupt? Wir haben den besten Piloten, den wir bekommen konnten. Und notfalls steuere ich das Ding selber.«
   Alban schwieg.
   »Also wäre das geklärt. Schön. Ich will nochmal den Tauchplan durchgehen. Bin in meiner Kabine, wenn was ist. Und bitte, Jean — holen Sie endlich diese verdammten Filmleute her. Holen Sie sie her, sofern sie nicht über Bord gefallen sind.«
 
Trondheim, Norwegen
 
   »Rasierwasser«, überlegte Johanson.
   Konnte es sein, dass ihm das Rasierwasser ausgegangen war? Unmöglich. Er war Sigur Johanson, der Lagerist der schönen Dinge. Wein und Kosmetika gingen nicht einfach aus. Irgendwo musste er noch eine Flasche von dem Kiton Eau de Toilette haben.
   Ungeduldig ging er zurück ins Bad und durchstöberte den Spiegelschrank. Er wusste, dass er allmählich das Haus verlassen sollte. Der Helikopter wartete auf dem Landeplatz des Forschungszentrums, um ihn zu dem Treffen mit Karen Weaver zu bringen. Aber für jemanden, der Wert auf inszenierte Schlampigkeit legte, gestaltete sich das Packen eines Koffers ungleich schwerer als für einen ordentlichen Menschen. Ordentliche Menschen verschraubten sich nicht in derlei Abstrusitäten, wie man möglichst gekonnt den Farbton des Jacketts verfehlte.
   Hinter zwei Dosen Haarwachs wurde er fündig.
   Er packte die Flasche in den Kulturbeutel, quetschte ihn zusammen mit einem Gedichtband von Walt Whitman und einem Buch über Portwein in die Reisetasche und ließ die Scharniere zuschnappen. Es war eine teure Tasche im Stil des Handgepäcks, wie sie der Londoner Adel für Landpartien zu benutzen pflegte — Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Die Lederschlaufen waren handgenäht, und dass der Griff ein wenig abgewetzt aussah, fand entschieden Johansons Beifall.
   Der fünfte Tag!
   Hatte er die CD eingepackt? Er hatte eine gebrannt mit den Daten, die seine wundersame Idee vom höheren Plan dokumentierten. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, sie mit der Journalistin zu besprechen. Er sah noch einmal nach.
   Da war sie, begraben unter Hemden und Socken.
   Mit federnden Schritten verließ er sein Haus in der Kirkegata und stieg in den Geländewagen auf der anderen Seite der Straße. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich seit dem frühen Morgen aufgekratzt, erfüllt von beinahe hysterischem Tatendrang. Kurz bevor er den Motor startete, wanderte sein Blick noch einmal über die Fassade seines Hauses. Die Rechte mit dem Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger verharrte unmittelbar vor dem Zündschloss.
   Plötzlich wusste er, was ihn umtrieb.
   Er versuchte sich abzulenken. Aktionismus gegen Nachdenken. Pfeifen im Walde. Trali, trala, ist irgendwas?
   Feuchter Dunst lag über Trondheim, der alle Konturen verwischte. Selbst sein Haus auf der anderen Straßenseite erschien ihm flächiger als sonst. Es sah beinahe aus wie ein Gemälde.
   Was geschah mit den Dingen, die man liebte?
   Warum hatte er so oft stundenlang vor den Bildern van Goghs gestanden und einen Frieden in sich gefühlt, als wären sie nicht von einem verzweifelten Paranoiker gemalt worden, sondern von einem restlos glücklichen Menschen?
   Weil nichts die Impression zerstören konnte.
   Natürlich konnte ein Bild vernichtet werden. Aber solange es existierte, war der in Öl gebannte Augenblick endgültig. Die Sonnenblumen würden nie verwelken. Auf die Zugbrücke von Langlois bei Arles würden keine Bomben fallen. Nichts konnte das gemalte Motiv seiner Verbindlichkeit berauben, auch wenn man es überpinselte. Das Original darunter blieb erhalten. Was schrecklich war, blieb schrecklich, was schön war, würde seine Schönheit nie verlieren. Selbst dem Porträt des Mannes mit den scharfen Gesichtszügen und dem weißen Verband über dem Ohr, der den Betrachter aus tief liegenden Augen ansah, war etwas wohltuend Verlässliches zu Eigen, weil er zumindest im Bild nicht noch unglücklicher werden konnte, weil er nicht einmal altern konnte. Er verkörperte den ewigen Augenblick. Er hatte gesiegt. Am Ende hatte er über die Schinder und Ignoranten triumphiert, er hatte sie kraft seines Pinsels und seines Genies einfach ausgetrickst.
   Johanson betrachtete sein Haus.
   Warum kann es nicht einfach so bleiben, dachte er. Wenn es doch ein Bild wäre, und ich mit in dem Bild.
   Aber er lebte nicht in einem Bild und nicht in einer Galerie, in der sich die Schauplätze seines Lebens abschreiten ließen. Das Haus am See, es hätte ein weiteres wunderbares Bild abgegeben, daneben ein Porträt von seiner geschiedenen Frau und weitere von den Frauen, die er gekannt hatte, und welche von seinen Freunden und natürlich eines von Tina Lund. Gerne auch Arm in Arm mit Kare Sverdrup. Ja, warum nicht? Ein Bild, in dem Tina zur Ruhe kam, für alle Zeiten. Er hätte ihr Ruhe und Seelenfrieden gegönnt.
   Mit einem Mal befiel ihn dumpfe Verlustangst.
   Da draußen verändert sich die Welt, dachte er. Sie schließt sich gegen uns zusammen. An einem geheimen Ort ist etwas vereinbart worden, und wir waren nicht dabei. Die Menschen waren nicht dabei.
   Ein so schönes Haus. So friedlich.
   Er ließ den Motor an und fuhr los.
 
Kiel, Deutschland
 
   Erwin Suess betrat, Yvonne Mirbach im Gefolge, Bohrmanns Büro. »Ruf diesen Johanson an«, sagte er. »Sofort.«
   Bohrmann hob den Kopf. Er kannte den Geomar-Direktor lange genug, um zu sehen, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste. Etwas, das Suess zutiefst bestürzte.
   »Was ist los?«, fragte er, obschon er es ahnte.
   Mirbach zog einen Stuhl heran und setzte sich.
   »Wir haben den Computer sämtliche Szenarien durchrechnen lassen. Der Kollaps wird eher erfolgen, als wir dachten.«
   Bohrmann runzelte die Stirn. »Letztes Mal waren wir nicht sicher, ob es überhaupt zu einem Kollaps kommen wird.«
   »Ich fürchte doch«, sagte Suess.
   »Die Bakterien-Konsortien?«
   »Ja.«
   Bohrmann lehnte sich zurück und fühlte, wie sich seine Stirn mit kaltem Schweiß bedeckte. Es kann nicht sein, dachte er. Das sind doch nur Bakterien, mikroskopisch kleine Lebewesen. Plötzlich begann er zu denken wie ein Kind. Wie kann etwas so Winziges einen Eisdeckel von über hundert Metern Dicke zerstören? Es geht nicht. Was soll eine Mikrobe ausrichten auf tausenden von Quadratkilometern Meeresboden? Gar nichts. Es ist nicht vorstellbar. Es ist nicht real. Es findet nicht statt. Sie wussten wenig über Konsortien. Fest stand, dass sich in der Tiefsee Mikroorganismen verschiedener Arten zu Symbiosen zusammenschlossen. Schwefelbakterien verbündeten sich mit Archäen, urtümlichen Einzellern, die zu den ältesten Lebensformen überhaupt gehörten. Die Symbiose war extrem erfolgreich. Vor wenigen Jahren erst hatte man die ersten Konsortien auf den Oberflächen von Methanhydraten aufgespürt. Die Schwefelbakterien verwerteten mit Hilfe von Sauerstoff, was sie von den Archäen erhielten, nämlich Wasserstoff, Kohlendioxid und verschiedene Kohlenwasserstoffe. Denn diese Stoffe schieden die Archäen aus, wenn sie sich an ihrer Leibspeise gütlich taten.
   An Methan.
   Gewissermaßen lebten damit auch die Schwefelbakterien vom Methan, nur dass sie selber nicht drankamen. Denn das meiste Methan lagerte im sauerstofffreien Sediment, und Schwefelbakterien konnten ohne Sauerstoff nicht leben. Aber Archäen konnten es. Sie waren in der Lage, Methan ohne Sauerstoff zu knacken, noch kilometertief unter der Erdoberfläche. Man schätzte, dass sie jährlich 300 Millionen Tonnen des marinen Methans umsetzten, möglicherweise zum Wohle des Weltklimas, denn aufgespaltenes Methan konnte nicht als Treibhausgas in die Atmosphäre entweichen. So gesehen waren sie beinahe eine Art Umweltpolizei.
   Zumindest, solange sie sich auf weiter Fläche verteilten.
   Aber sie lebten auch in Symbiose mit Würmern. Und dieser seltsame Wurm mit seinen monströsen Kiefern war voll gepackt mit Konsortien von Schwefelbakterien und Archäen. Sie lebten in ihm und auf ihm. Mit jedem Meter, den er sich ins Hydrat bohrte, brachte er die Mikroorganismen tiefer hinein, und sie begannen, das Eis von innen zu zersetzen. Wie Krebs. Irgendwann verendeten die Würmer, dann die Schwefelbakterien, aber die Archäen fraßen sich unbeirrt nach allen Seiten weiter durch das Eis hindurch zum freien Gas. Sie verwandelten das vormals kompakte Hydrat in eine poröse, brüchige Masse, und das Gas trat aus.
   Die Würmer können das Hydrat nicht destabilisieren, hörte Bohrmann sich sagen.
   Richtig. Aber es war auch gar nicht ihre Aufgabe. Die Würmer erfüllten nur den Zweck, ihre Archäenfracht ins Eis zu schaffen. Wie Omnibusse: Methanhydrat, fünf Meter Tiefe, alles aussteigen, an die Arbeit.
   Warum haben wir das nie erwogen, dachte Bohrmann. Temperaturschwankungen des Meerwassers, Verringerung des hydrostatischen Drucks, Erdbeben, all das gehörte zum Schreckensrepertoire der Hydratforschung. Nur über Bakterien hatte kaum jemand ernsthaft nachgedacht, obwohl bekannt war, was sie taten. Kein Mensch hätte im Traum das Szenario einer solchen Invasion entwickelt. Niemand hätte die Existenz eines Wurmes für denkbar gehalten, der sich als methanotropher Selbstmörder herausstellte. Seine Vielzahl, seine Ausdehnung auf einen kompletten Kontinentalhang, absurd, unerklärlich! Die Armee der Archäen, getrieben von ihrem fatalen Appetit, in ihrer Masse faktisch unmöglich!
   Und dann dachte er wieder: Wie um alles in der Welt sind diese Tiere dahin gekommen? Warum sind sie da? Was hat sie hingebracht?
   Oder wer?
   »Das Problem«, sagte Mirbach, »ist, dass unsere erste Simulation weitgehend auf linearen Gleichungen fußte. Aber die Wirklichkeit verläuft nicht linear. Wir haben es mit teils exponenziellen und weitgehend chaotischen Entwicklungen zu tun. Das Eis bricht auseinander, das Gas darunter sprudelt unter Hochdruck hervor und reißt ganze Brocken mit sich. Meeresboden stürzt ein, sodass der Zeitpunkt des Zusammenbruchs rasend schnell …«