Anawak hatte nichts anderes erwartet. Der Krisenstab ließ sie am ausgestreckten Arm verhungern. Vielleicht gehörte das zum Spiel. Such dir dein Fressen selber. Aber wenn es so war, würden sie eben suchen. Nach dem Flugzeugabsturz hatte Delaware begonnen, das Internet zu durchforsten. Wenn schon die Mitarbeiter des landeseigenen Krisenstabs kurz gehalten wurden, was würde dann aus anderen Ländern an die Öffentlichkeit dringen? Wo hatte es sonst noch in der Welt Angriffe durch Wale gegeben? Falls überhaupt. Oder, wie George Frank gesagt hatte, der taayii hawil der Tla-o-qui-aht:
   Vielleicht sind gar nicht die Wale das Problem, Leon. Vielleicht sind sie nur der Teil des Problems, den wir sehen.
   Offenbar hatte Frank damit den Nagel auf den Kopf getroffen, wenngleich Anawak noch ratloser geworden war, nachdem Delaware ihm die Resultate ihrer ersten ausgiebigen Recherche vorgelegt hatte. Sie hatte in südamerikanischen Netzen gestöbert, in deutschen und skandinavischen, französischen und japanischen, sie war in Australien rumgesurft. Wie es aussah, machte man anderenorts ähnlich verstörende Erfahrungen mit Quallen.
   »Quallen?« Shoemaker hatte zu lachen begonnen. »Was tun sie? Springen sie gegen Schiffe?«
   Im ersten Moment hatte auch Anawak keinen Zusammenhang gesehen. Was sollte das für ein Problem sein, das sich in Gestalt von Walen und Quallen manifestierte? Womöglich wiesen Invasionen hoch giftiger Nesseltiere Schnittmengen mit Walattacken auf, die vordergründig verborgen blieben. Zwei Symptome desselben Problems. Eine Kumulation der Anomalien. Delaware stieß auf eine Stellungnahme costaricanischer Wissenschaftler, die der Vermutung Ausdruck gaben, es sei gar nicht die Portugiesische Galeere, die vor Südamerika ihr Unwesen treibe, sondern eine ähnliche, bislang unbekannte Art, noch gefährlicher, noch tödlicher.
   Und das war längst nicht alles.
   »Ungefähr zu der Zeit, als es hier mit den Walen losging, verschwanden vor Südamerika und Südafrika Schiffe«, resümierte Delaware. »Motorboote und Kutter. Man hat ein paar Trümmer gefunden, sonst nichts. Wenn du jetzt eins und eins zusammenzählst …«
   »Bekommst du einen Haufen Wale«, sagte Shoemaker. »Warum erfährt man so was hier nicht? Ist Kanada denn aus der Welt?«
   »Wir interessieren uns nun mal nicht sonderlich für die Probleme anderer Länder«, konstatierte Anawak. »Wir nicht, und die Vereinigten Staaten noch viel weniger.«
   »Es gab jedenfalls mehr Unglücke mit größeren Schiffen«, sagte Delaware, »als wir aus den Medien erfahren haben. Kollisionen, Explosionen, Untergänge. Und wisst ihr, was außerdem seltsam ist? Diese Epidemie in Frankreich. Irgendwelche Algen in Hummern haben sie ausgelöst, und jetzt breitet sich da in Windeseile ein Erreger aus, den sie nicht in den Griff bekommen. Ich glaube, auch andere Länder sind betroffen. Aber je mehr du nachforschst, desto verschwommener wird das Bild.«
   Mitunter rieb sich Anawak die Augen und dachte, dass sie drauf und dran waren, sich lächerlich zu machen. Sie wären nicht die Ersten, die des Amerikaners liebstem Kind nachhingen, der Verschwörungstheorie. Jeder vierte US-Bürger trug solche Hirngespinste mit sich herum. Es gab Theorien, Bill Clinton sei ein russischer Agent gewesen, und eine Menge Leute handelte mit Ufo-Geschichten. Alles blanker Unsinn. Welches Interesse sollte ein Staat haben, Ereignisse zu camouflieren, die Tausende von Menschen betrafen? Abgesehen davon, dass es schlicht unmöglich schien, so etwas überhaupt geheim zu halten.
   Auch Shoemaker gab seiner Skepsis Ausdruck: »Das ist nicht Roswell hier. Es sind keine grünen Männchen vom Himmel gefallen, und nirgendwo sind fliegende Untertassen versteckt. Wir haben zu viel Harrison Ford geguckt. Den ganzen Verschwörungskram gibt’s nur im Kino. Wenn heute irgendwo Wale auf Schiffe springen, weiß das morgen die ganze Welt, und was anderswo passiert, erfährst du auch.«
   »Dann pass mal auf«, sagte Delaware. »Tofino hat 1200 Einwohner und besteht im Wesentlichen aus drei Straßen. Trotzdem ist es unmöglich, dass jeder über jeden ständig Bescheid weiß. Richtig?«
   »Na und?«
   »Ein einziger Ort ist schon zu groß, dass du alles mitkriegst. Erst recht ein ganzer Planet.«
   »Binsenweisheit. Der Verstand des Menschen ist ein Eimer, der schnell überläuft.«
   »Ich meine, eine Regierung kann Nachrichten nicht immer zurückhalten. Aber man kann ihre Bedeutung schmälern. Du sorgst eben dafür, dass die Berichterstattung nicht so üppig ausfällt. Das geht. Dann bleibt das meiste ohnehin im eigenen Land, und den Rest findest du in Randnotizen wieder. Wahrscheinlich hat alles, was ich aus dem Internet gefischt habe, sogar in den hiesigen Zeitungen gestanden und ist im Fernsehen gekommen, und wir haben es einfach nicht mitgekriegt.«
   Shoemaker kniff die Augen zusammen.
   »So?«, sagte er unsicher.
   »Wie auch immer«, beschied Anawak. »Wir brauchen mehr Informationen.« Er stocherte mürrisch in seinen Rühreiern herum und schob sie über den Teller. »Das heißt, wir haben ja welche. Li hat welche. Ich bin sicher, sie weiß eine ganze Menge mehr als wir.«
   »Dann frag sie«, sagte Shoemaker.
   Anawak hob die Brauen. »Li?«
   »Warum denn nicht? Wenn du was wissen willst, geh fragen. Alles, was du dir einfangen kannst, ist ein Nein und was auf die Zähne, aber mal ehrlich — schlechter als jetzt kannst du doch gar nicht dastehen.«
   Anawak schwieg und grübelte vor sich hin.
   Er würde keine Auskunft bekommen. Ford bekam auch keine, und er fragte sich die Seele aus dem Leib.
   Andererseits war Shoemakers Idee gar nicht so dumm. Man konnte auch Fragen stellen, ohne dass es der Befragte merkte. Vielleicht wurde es einfach Zeit, sich die Antworten zu holen.
   Später, als Shoemaker gegangen war, legte ihm Delaware eine Ausgabe der Vancouver Sun auf den Tisch.
   »Ich wollte damit warten, bis Tom gegangen ist«, sagte sie.
   Anawak warf einen Blick auf die Titelseite. Es war die Ausgabe vom Vortag.
   »Hab ich gelesen.«
   »Komplett?«
   »Nein, nur das Wesentliche.«
   Delaware lächelte. Obwohl Anawak sich in den letzten Tagen nicht eben durch Höflichkeit und Rücksichtnahme, geschweige denn durch gute Laune ausgewiesen hatte, war sie wirklich nett zu ihm. Die Frage nach seiner Herkunft hatte sie seit ihrer Unterhaltung in der Station nicht wieder angeschnitten. »Dann lies das Unwesentliche.«
   Anawak drehte die Zeitung um. Sofort sah er, was sie meinte. Es war eine kleine Meldung, nur wenige Zeilen. Dazu ein Foto mit einer glücklichen Familie, Vater, Mutter und ein Junge, die dankbar zu einem sehr großen Mann aufsahen. Der Vater schüttelte dem Mann die Hand, und alle lachten in die Kamera.
   »Nicht zu fassen«, murmelte Anawak.
   »Du kannst es drehen und wenden, wie du willst«, sagte Delaware. Ihre Augen funkelten. Heute funkelten sie hinter gelben Gläsern, deren Ränder mit Kreuzen aus Strass verziert waren. »Aber ein solches Arschloch scheint er nicht zu sein.«
   Der kleine Bill Sheckley (5), der am 11. April als Letzter von Bord des sinkenden Ausflugsschiffs Lady Wexham gerettet worden war, kann wieder lachen. Heute holten ihn seine erleichterten Eltern aus dem Krankenhaus in Victoria ab, wo er eine Weile zur Beobachtung geblieben war. Bill hatte sich bei der Rettungsaktion eine gefährliche Unterkühlung und als Folge davon eine Lungenentzündung zugezogen. Dies sowie den Schock hat er nun offenbar verarbeitet. Heute bedankten sich seine Eltern vor allem bei Jack »Greywolf« O’Bannon, einem engagierten Naturschützer Vancouver Islands, der die Rettungsaktion geleitet und sich danach rührend um die Genesung des kleinen Bill gekümmert hatte. Der Held von Tofino, wie O’Bannon seitdem genannt wird, hat wohl nicht nur im Herzen des kleinen Jungen seinen Platz gefunden.
   Anawak klappte die Zeitung zusammen und warf sie auf den Frühstückstisch. »Shoemaker wäre ausgerastet«, sagte er.
   Eine Weile sagte niemand etwas. Anawak sah den langsam ziehenden Wolken zu und versuchte, seine Wut auf Greywolf anzufachen, aber diesmal klappte es nicht. Wut empfand er nur gegen die Leute, die seine und Fords Arbeit behinderten, gegen diese arrogante Soldatin und aus unerklärlichen Gründen gegen sich selber.
   Genau genommen gegen sich am meisten.
   »Was habt ihr eigentlich alle für ein Problem mit Greywolf?«, fragte Delaware schließlich.
   »Du hast doch gesehen, was er gemacht hat.«
   »Die Aktion, als sie mit Fischen schmissen? Gut, das ist eine Sache. Er übertreibt. Man könnte auch sagen, er hat ein Anliegen.«
   »Greywolfs Anliegen ist es, Stunk zu machen.« Anawak fuhr sich über die Augen. Obwohl es früher Vormittag war, fühlte er sich schon wieder müde und kraftlos.
   »Versteh mich nicht falsch«, sagte Delaware vorsichtig. »Aber der Mann hat mich aus dem Wasser gezogen, als ich schon dachte, das war’s gewesen mit der kleinen Licia. Ich bin vor zwei Tagen losgegangen, um ihn zu suchen. Zu Hause war er nicht. Er hockte am Tresen einer Kneipe in Ucluelet, also bin ich hin und habe … na ja, wie ich schon sagte: Ich habe mich bedankt.«
   »Und?«, fragte Anawak lustlos. »Was hat er gesagt?«
   »Er hatte es nicht erwartet.«
   Anawak sah sie an.
   »Er war ziemlich verblüfft«, fuhr Delaware fort. »Und erfreut. Dann wollte er wissen, wie es dir geht.«
   »Mir?«
   »Weißt du, was ich glaube?« Sie verschränkte die Arme auf der Tischplatte. »Ich denke, dass er wenig Freunde hat.«
   »Vielleicht sollte er sich mal fragen, warum.«
   »Und dass er dich mag.«
   »Licia, hör auf. Was soll das werden? Soll ich das Heulen kriegen und ihn heilig sprechen?«
   »Erzähl mir einfach was von ihm.«
   Großer Gott, warum?, dachte Anawak. Warum muss ich jetzt ausgerechnet über Greywolf erzählen? Können wir nicht über was Nettes sprechen? Irgendetwas wirklich Nettes und Erfreuliches, zum Beispiel …
   Er überlegte. Ihm fiel nichts ein.
   »Wir waren mal befreundet«, sagte er knapp.
   Er erwartete, Delaware mit einem Triumphschrei
   aufspringen zu sehen — Ha, ertappt, ich hatte Recht! —, aber sie nickte nur.
   »Er heißt Jack O’Bannon und stammt aus Port Townsend. Das liegt im Bundesstaat Washington. Sein Vater ist Ire und hat eine Halbindianerin geheiratet, eine Suquamish, glaube ich. — Jedenfalls, Jack hat in den USA alles Mögliche gemacht, er war Rausschmeißer, Lastwagenfahrer, Werbegrafiker und Leibwächter und schließlich Kampftaucher bei den US Navy SEALS. Dort fand er seine Berufung. Delphintrainer. Er machte das gut, aber dann stellten sie einen Herzfehler bei ihm fest. Nichts Wildes, bloß, die SEALS sind ein harter Haufen. Jack kam klar dort, er hat ein Regal voller Auszeichnungen zu Hause, aber das war’s dann mit der Navy.«
   »Was hat ihn nach Kanada verschlagen?«
   »Jack hatte immer schon ein Faible für Kanada. Anfangs hat er versucht, in Vancouvers Filmindustrie Fuß zu fassen. Er dachte, mit der Statur und dem Gesicht könnte er vielleicht Schauspieler werden, aber Jack ist hundert Prozent talentfrei. Eigentlich klappte überhaupt nichts in seinem Leben, weil er immer sofort die Nerven verlor und
   schon mal jemanden ins Krankenhaus prügelte.«
   »Oh«, machte Delaware.
   Anawak fletschte die Zähne. »Tut mir Leid, wenn ich
   dein Denkmal ankratze. Ich hab mich nicht darum gerissen.«
   »Schon gut. Und dann?«
   »Dann?« Anawak goss sich ein Glas Orangensaft ein. »Dann kam er in den Knast. Kurz nur, er hat ja niemanden betrogen oder gelinkt. Es war sein schlagfertiges Temperament, das ihn reinbrachte. Als er wieder rauskam, war natürlich alles noch viel schwerer. Mittlerweile hatte er Bücher über Naturschutz und Wale gelesen und beschlossen, das müsse es jetzt sein. Warum auch nicht? Er ging also zu Davie, den er von einem Trip nach Ucluelet kannte, und fragte ihn, ob sie noch einen Skipper brauchten, und Davie sagte, wenn du keinen Ärger machst, klar, mit Kusshand, jederzeit! — Jack kann nämlich charmant sein, wenn er will.«
   Delaware nickte. »Aber er war nicht charmant.«
   »Eine Weile schon. Wir hatten plötzlich jede Menge weiblichen Zulauf. Alles lief bestens — bis zu dem Tag, wo
   er dann doch jemandem eine reingehauen hat.«
   »Doch nicht einem der Gäste?«
   »Du hast es erfasst.«
   »Au Backe.«
   »Tja. Davie wollte ihn feuern. Ich habe mit Engelszungen auf ihn eingeredet, Jack eine zweite Chance zu geben. Wir haben ihn also nicht rausgeworfen. Aber was macht dieser Idiot?« Da war sie wieder, die Wut auf Greywolf. »Drei Wochen später dieselbe Nummer. Da musste Davie ihn feuern. Was hättest du denn gemacht?«
   »Ich glaube, ich hätte ihn schon nach dem ersten Mal vor die Tür gesetzt«, sagte Delaware leise.
   »Um deine Zukunft muss ich mir wenigstens keine Sorgen machen«, spottete Anawak. »Jedenfalls, wenn du dich für jemanden stark machst, und er dankt es dir so, hat jede Sympathie irgendwann ein Ende.«
   Er stürzte den Orangensaft hinunter, verschluckte sich und hustete. Delaware langte hinüber und schlug ihm sacht auf den Rücken.
   »Danach ist er völlig durchgedreht«, keuchte er. »Jack hat ein zweites Problem, eines mit der Realität. Irgendwann in seinem Frust ist wohl der große Manitou über ihn gekommen und hat gesagt, ab heute heißt du Greywolf, und du schützt die Wale und alles, was da kreucht und fleucht, so ein verdammter Schwachsinn! Gehe hin und kämpfe. Klar, dass er sauer auf uns war, also hat er sich eingeredet, gegen uns kämpfen zu müssen, und zu allem Überfluss glaubt er auch noch, ich sei auf der falschen Seite und hätte es nur noch nicht gemerkt.« Anawak wurde immer zorniger. Sein Zorn wuchs ins Uferlose. »Er wirft alles durcheinander. Er hat keine Ahnung von Naturschutz und keine von den Indianern, denen er sich so zugehörig fühlt. Die Indianer lachen sich tot über ihn. Warst du bei ihm zu Hause? Ach nein, du hast ihn ja in der Kneipe aufgegabelt! Voller Indianerkitsch, die Bude. Ja. Sie lachen sich tot, bis auf diejenigen unter ihnen, die selber nichts drauf haben, Jugendliche, die rumhängen, Arbeitsverweigerer, Schläger und Säufer. Die finden ihn toll, und auch der Haufen weißer Althippies und Surfer, die es nicht abkönnen, dass ihnen die Touristen beim Faulenzen zusehen, schauen zu ihm auf, ehemalige Wildcamper, die jetzt nicht mehr überall hinscheißen und ihren Müll zurücklassen können. Greywolf hat den Abschaum zweier Kulturen um sich versammelt, Anarchisten und Versager, Aussteiger, Neoaktivisten gegen die Staatsgewalt, militante Umweltfreaks, die sie bei Greenpeace rausgeworfen haben, weil sie schlecht für deren Ruf waren, Indianer, die nicht mal bei ihren Stämmen erwünscht sind, kriminelles Gesindel. Den meisten dieser Strauchdiebe sind die Wale scheißegal, sie wollen ein bisschen randalieren und sich wichtig tun, nur Jack kriegt nichts davon mit und glaubt allen Ernstes, seine Seaguards seien eine Umweltorganisation. Er finanziert das Pack, stell dir das vor, indem er als Holzfäller und Bärenführer arbeitet und selber in einer Bruchbude lebt, dass du sie keinem Hund zumuten würdest! Das ist doch Scheiße! Warum lässt er zu, dass sich alle über ihn lustig machen? Warum wird jemand wie Jack zur tragischen Figur, he? Dieser Riesenarsch! Kannst du mir das sagen?«
   Anawak hielt inne und holte Atem. Hoch über ihm schrie ein Seevogel. Delaware bestrich ein Stück Brot mit Butter, kleckerte
   Marmelade drauf und schob es sich in den Mund. »Fein«, sagte sie. »Ich sehe, du magst ihn immer noch.«
   Der Name Ucluelet leitete sich ab aus der Nootka-Sprache und bedeutete so viel wie ›Sicherer Hafen‹. Ebenso wie Tofino lag Ucluelet geschützt in einer natürlichen Bucht, und ebenso war das kleine Fischerdorf mit den Jahren zu einem pittoresken Anziehungspunkt für Whale Watcher geworden, mit hübsch gestrichenen Holzhäusern, netten Kneipen und Restaurants.
   Greywolfs Behausung gehörte zum weniger vorzeigbaren Teil Ucluelets. Folgte man einem wurzelüberwucherten Pfad abseits der Hauptstraße, der breit genug für ein Auto und das Verderben eines jeden Stoßdämpfers war, fand man sich nach einigen hundert Metern auf einer Lichtung wieder, umstanden von uralten Riesenbäumen. Das Haus, eine unansehnliche Bruchbude mit einer angebauten, leer stehenden Stallung, lag mitten darauf. Es war vom Ort aus nicht zu sehen. Man musste den Weg schon kennen.
   Dass die Hütte alles andere als komfortabel war, wusste niemand besser als ihr einziger Bewohner. Sofern es das Wetter zuließ — und Greywolfs Ansicht nach begann schlechtes Wetter irgendwo zwischen einem Tornado und dem Ende der Welt —, hielt er sich draußen auf, zog durch die Wälder, führte Touristen zu Schwarzbären und nahm alle Arten von Gelegenheitsarbeiten an. Die Wahrscheinlichkeit, ihn hier anzutreffen, ging gegen null, selbst in der Nacht. Entweder schlief er in der freien Natur oder in den Zimmern erlebnishungriger Touristinnen, die überzeugt waren, den edlen Wilden abgeschleppt zu haben.
   Es war früher Nachmittag, als Anawak in Ucluelet eintraf. Er hatte den Plan gefasst, nach Nanaimo zu fahren und von dort die Fähre nach Vancouver zu nehmen. Aus verschiedenen Gründen zog er es vor, diesmal auf den Helikopter zu verzichten. Shoemaker, der sich in Ucluelet mit Davie treffen wollte, erklärte sich bereit, ihn zu fahren, womit er Anawak einen passenden Vorwand lieferte, dort Zwischenstation zu machen. Davie dachte in diesen Tagen laut über ausgedehnte Abenteuertouren nach: Wenn du den Leuten keine zwei Stunden auf See mehr bieten kannst, biete ihnen eine ordentliche Woche auf dem Land. Anawak hatte es abgelehnt, bei dem Gespräch dabei zu sein, in dessen Verlauf Davie und Shoemaker die Neuausrichtung des Unternehmens erörtern wollten. Er spürte, dass seine Zeit auf Vancouver Island zu Ende ging, wie immer sich die Dinge entwickeln mochten. Was hielt ihn schon wirklich? Was blieb, nachdem das Whale Watching eingestellt war? Eine Lähmung, die sich als Liebe zur Insel tarnte und für die sein schmerzendes Knie zum unliebsamen Symbol geworden war.
   Sinnlosigkeit.
   Jahre seines Lebens hatte er damit verbracht, sich abzulenken. Gut, es hatte ihm einen Doktortitel eingebracht und Anerkennung. Dennoch hatte er diese Zeit verloren. Nur, nicht richtig zu leben war eine Sache, den Tod vor Augen zu haben eine ganz andere, und zweimal wäre er in den vergangenen Wochen beinahe gestorben. Seit dem Absturz des Wasserflugzeugs war alles anders geworden. Anawak fühlte sich im Innersten bedroht. Ein Verfolger aus längst vergessen geglaubten Zeiten hatte seine Angst gewittert und seine Spur wieder aufgenommen. Ein frostiges Gespenst, das ihm eine letzte Chance bot, sein Leben in den Griff zu bekommen, und Einsamkeit und Elend bereithielt, sollte er scheitern. Die Botschaft war allzu deutlich:
   Durchbrich den Kreis. Der gute alte Psychologenspruch.
   Anawaks Weg führte ihn den wurzelbewachsenen Pfad hinauf, wie zufällig und ohne besondere Eile. Er war die Hauptstraße entlanggegangen und in allerletzter Sekunde abgebogen, als sei ihm unvermittelt die Idee gekommen. Nun stand er auf der Lichtung vor dem hässlichen kleinen Haus und fragte sich, was zum Teufel er hier eigentlich machte. Er stieg die wenigen Stufen zu der schäbigen Veranda empor und klopfte.
   Greywolf war nicht zu Hause.
   Einige Male ging er um das Haus herum. Auf unbestimmte Weise war er enttäuscht. Natürlich hätte er sich denken können, dass er niemanden antreffen würde. Er überlegte, ob er einfach wieder gehen solle. Vielleicht war es gut so. Immerhin hatte er einen Versuch gestartet, wenngleich einen erfolglosen.
   Aber er ging nicht. Das Bild eines Menschen mit Zahnschmerzen ging ihm plötzlich im Kopf herum, der beim Zahnarzt schellt und davonläuft, weil nicht unverzüglich geöffnet wird.
   Seine Schritte führten ihn zurück zur Haustür. Er streckte die Hand aus und drückte die Klinke hinunter. Mit leisem Knarren schwang die Tür ins Innere. Es war nicht ungewöhnlich in dieser Gegend, dass die Menschen ihre Häuser offen ließen. Eine Erinnerung durchfuhr ihn kalt. Auch anderswo lebte man so. Hatte man so gelebt. Einen Moment verharrte er in Unschlüssigkeit, dann trat er zögerlich ein.
   Er war ewig nicht mehr hier gewesen. Umso mehr erstaunte ihn, was er sah. In seiner Erinnerung hatte Greywolf in schmuddeligem Chaos gehaust. Stattdessen erblickte Anawak einen schlichten, aber behaglich eingerichteten Raum, an dessen Wänden indianische Masken und Wandteppiche hingen. Um einen niedrigen Holztisch standen geflochtene und bemalte Sessel. Indianische Decken zierten ein Sofa. Zwei Regale waren voll gestopft mit allen möglichen Gegenständen des täglichen Gebrauchs, aber auch mit hölzernen Rasseln, wie die Nootka sie bei Zeremonien und rituellen Gesängen benutzten. Einen Fernseher sah Anawak nicht. Zwei Kochplatten wiesen den Raum zugleich als Küche aus. Ein Durchgang führte in ein zweites Zimmer, in dem Greywolf schlief, wie Anawak sich erinnerte.
   Kurz war er versucht, sich dort umzusehen. Immer noch fragte er sich, was er hier eigentlich machte. Dieses Haus lockte ihn in eine Zeitschleife. Es warf ihn weiter zurück in die Vergangenheit, als ihm lieb sein konnte.
   Sein Blick blieb an einer großen Maske hängen. Sie schien den ganzen Raum zu überblicken.
   Die Maske sah ihn an.
   Er trat näher heran. Viele indianische Masken, die Gesichter zeigten, arbeiteten die Merkmale in symbolhafter Übertreibung heraus — riesige Augen, übermäßig geschwungene Brauen, schnabelartige Hakennasen.
   Diese hier war das getreue Abbild eines menschlichen Antlitzes. Sie zeigte das ruhige Gesicht eines jungen Mannes mit gerader Nase, vollen, geschwungenen Lippen und hoher, glatter Stirn. Die Haare wirkten verfilzt, schienen aber echt zu sein. Sah man davon ab, dass die Pupillen ausgeschnitten waren, um dem Träger das Hindurchgucken zu ermöglichen, wirkten die Augen mit den weiß bemalten Augäpfeln überraschend lebendig. Sie blickten ruhig und ernst, fast wie in Trance.
   Anawak stand reglos vor der Maske. Er kannte indianische Masken zuhauf. Die Stämme fertigten sie aus Zedernholz, Rinde und Leder. Man konnte sie kaufen, sie gehörten zum festen Repertoire des touristischen Angebots. Diese hier schlug aus der Art. Eine solche Maske fand man nicht in Touristenläden.
   »Sie stammt von den Pacheedaht.«
   Er fuhr herum. Greywolf stand direkt hinter ihm.
   »Für einen Möchtegernindianer bist du gut im Anschleichen«, sagte Anawak.
   »Danke.« Greywolf grinste. Er wirkte keineswegs verärgert über den ungebetenen Besucher. »Ich kann das Kompliment nicht zurückgeben. Für einen Totalindianer bist du die absolute Vollpfeife. Wahrscheinlich hätte ich dich abmurksen können, und es wäre dir nicht aufgefallen.«
   »Wie lange stehst du schon hinter mir?«
   »Ich bin gerade reingekommen. Ich spiele keine Spielchen, das müsstest du eigentlich wissen.« Greywolf trat einen Schritt zurück und musterte Leon, als falle ihm erst jetzt auf, dass er ihn nicht eingeladen hatte. »Bei der Gelegenheit, was willst du eigentlich?«
   Gute Frage, dachte Anawak. Unwillkürlich wandte er den Kopf wieder der Maske zu, als könne sie das Gespräch für ihn übernehmen.
   »Von den Pacheedaht, sagst du?«
   »Du kennst dich mal wieder nicht aus, wie?« Greywolf seufzte und schüttelte nachsichtig den Kopf. Schimmernde Wellen durchliefen sein langes Haar. »Die Pacheedaht …«
   »Ich weiß, wer die Pacheedaht sind«, sagte Anawak ärgerlich. Das Territorium des kleinen Nootka-Stammes lag im Süden Vancouver Islands, oberhalb von Victoria. »Mich interessiert die Maske. Sie sieht alt aus. Nicht wie der Krempel, den sie den Touristen verkaufen.«
   »Es ist eine Replik.« Greywolf trat neben ihn. Statt des speckigen Lederanzugs trug er Jeans und ein verwaschenes Hemd, dessen Karomuster nur noch zu erahnen war. Seine Finger strichen über die Konturen des Zederngesichts. »Es ist die Maske eines Vorfahren. Das Original verwahrt die Queesto-Familie in ihrem HuupuKanum. Soll ich dir erklären, was ein HuupuKanum ist?«
   »Nein.« Anawak kannte das Wort, aber tatsächlich wusste er nicht genau, was es bedeutete. Irgendetwas Rituelles. »Ein Geschenk?«
   »Ich habe sie selber gemacht«, sagte Greywolf. Er wandte sich ab und ging hinüber zu der Sitzgruppe.
   »Willst du was trinken?«
   Anawak starrte auf die Maske. »Du hast …«
   »Ich hab eine Menge Zeug geschnitzt in letzter Zeit. Neue Leidenschaft. Die Queestos hatten nichts dagegen, dass ich die Maske kopiere. — Willst du nun was trinken oder nicht?«
   Anawak wandte sich um.
   »Nein.«
   »Mhm. Also was führt dich her?«
   »Ich wollte mich bedanken.«
   Greywolf hob die Brauen. Er ließ sich auf der Kante des Sofas nieder und verharrte dort wie ein sprungbereites Tier. »Wofür?«
   »Ich verdanke dir mein Leben.«
   »Oh! Das. Ich dachte schon, es war dir nicht aufgefallen.« Greywolf zuckte die Achseln. »Gern geschehen. Sonst noch was?«
   Anawak stand hilflos im Raum. Davor hatte er sich nun wochenlang gedrückt, und jetzt war es vorbei. Danke, bitte. Im Grunde konnte er wieder gehen. Er hatte getan, was nötig war.
   »Was hast du denn zu trinken?«, fragte er stattdessen.
   »Kaltes Bier und Cola. Der Eisschrank hat letzte Woche den Geist aufgegeben. War ‘ne harte Zeit, aber jetzt funktioniert er wieder.«
   »Gut. Cola.«
   Plötzlich fiel Anawak auf, dass der Riese unsicher wirkte. Greywolf musterte ihn, als wisse er irgendwie nicht weiter. Er zeigte auf den kleinen Kühlschrank neben dem provisorischen Herd.
   »Bedien dich selber. Für mich ein Bier.«
   Anawak nickte. Er öffnete den Kühlschrank und förderte zwei Dosen zutage. Etwas steif setzte er sich Greywolf gegenüber in einen der Korbsessel, und sie tranken.
   Eine Weile sagte niemand etwas.
   »Und sonst, Leon?«
   »Ich …« Anawak drehte die Dose hin und her. Dann stellte er sie ab. »Hör zu, Jack, ich meine es ernst. Ich hätte längst herkommen sollen. Du hast mich aus dem Wasser gefischt, und … na ja, ich meine, du weißt, was ich von deinen Aktionen und deinem Indianergehabe halte. Ich kann nicht leugnen, dass ich eine Sauwut auf dich hatte. Aber das sind zwei Paar Schuhe. Ohne dich würden einige Leute nicht mehr leben. Das ist viel wichtiger, und … ich bin gekommen, um dir das zu sagen. Sie nennen dich den Held von Tofino, und ich schätze, in gewisser Weise bist du das auch.«
   »Du meinst es tatsächlich ernst?«
   »Ja.«
   Wieder verstrich längeres Schweigen.
   »Was du Indianergehabe nennst, Leon, ist etwas, woran ich glaube. Soll ich’s dir erklären?«
   Unter anderen Umständen wäre die Unterhaltung damit beendet gewesen. Anawak hätte sich entnervt verzogen, Greywolf hätte ihm irgendetwas Kränkendes hinterhergebrüllt. Nein, das war nicht ganz fair. Anawak hätte sich verzogen und dabei als Erstes etwas Kränkendes gesagt.
   »Schön.« Er seufzte. »Erklär’s mir.«
   Greywolf sah ihn lange an. »Ich habe ein Volk, zu dem ich gehöre. Ich habe mir eines erwählt.«
   »Oh, toll. Du hast dir eines erwählt.«
   »Ja.«
   »Und? Haben sie dich auch erwählt?«
   »Ich weiß es nicht.«
   »Du läufst rum wie die Jahrmarkt-Version deines Volkes, wenn ich das sagen darf. Wie eine Figur aus einem schlechten Western. Was sagt denn dein Volk dazu? Finden sie, du tust ihnen einen Gefallen?«
   »Es ist nicht meine Aufgabe, jemandem einen Gefallen zu tun.«
   »Doch. Wenn du zu einem Volk gehören willst, übernimmst du für dieses Volk Verantwortung. So ist das nun mal.«
   »Sie akzeptieren mich. Mehr will ich gar nicht.«
   »Sie lachen über dich, Jack!« Anawak beugte sich vor. »Begreifst du das nicht? Du hast einen Haufen Versager um dich versammelt. Darunter mögen ein paar Indianer sein, aber es sind solche, mit denen nicht mal die eigenen Leute was zu tun haben wollen. Das versteht kein Mensch. Ich versteh’s auch nicht. Du bist kein Indianer, du bist es gerade mal zu 25 Prozent, und der Rest ist weiß und zu allem Überfluss irisch. Warum fühlst du dich nicht den Iren zugehörig? Wenigstens der Name würde stimmen.«
   »Weil ich nun mal nicht will«, sagte Greywolf ruhig. »Kein Indianer läuft noch mit so einem Namen rum, wie du ihn dir zugelegt hast.«
   »Ich schon.«
   Müßig, dachte Anawak. Du bist gekommen, um dich zu bedanken, du hast dich bedankt, alles andere ist obsolet. Was sitzt du hier rum? Du solltest gehen.
   Aber er ging nicht.
   »Okay, erklär mir bitte eines: Wenn du so viel Wert darauf legst, von deinem erwählten Volk akzeptiert zu werden, warum versuchst du dann nicht zur Abwechslung mal, authentisch zu sein?«
   »So wie du?«
   Anawak zuckte zurück.
   »Lassen wir mich aus dem Spiel.«
   »Wozu?«, bellte Greywolf angriffslustig. »Ich sehe eigentlich nicht ein, warum ich mir die Prügel abholen soll, die für dich bestimmt sind.«
   »Weil ich sie gerade austeile!«
   Plötzlich kam die Wut wieder in ihm hoch, stärker denn je. Aber diesmal hatte er keine Lust, sie mit nach Hause zu nehmen wie sonst, sie in sich einzuschließen, damit sie Geschwüre bilden konnte. Es war zu spät. Kein Rückzug. Er würde sich selber in die Augen blicken müssen, und er wusste, was das bedeutete. Mit jedem Sieg, den er über Greywolf errang, würde er sich selber eine Niederlage beifügen.
   Greywolf sah ihn unter gesenkten Lidern an. »Du bist nicht gekommen, um dich zu bedanken, Leon.«
   »Doch.«
   »Glaubst du? — Ja, du glaubst es tatsächlich. Aber du bist wegen was anderem hier.« Er verzog höhnisch die Mundwinkel und verschränkte die Arme. »Also, spuck’s aus. Was hast du Wichtiges zu sagen?«
   »Nur eines, Jack. Du kannst dich tausendmal Greywolf nennen, du bleibst, was du bist. Es gibt Regeln, nach denen die Indianer früher zu ihren Namen gelangten, und keine davon trifft auf dich zu. Du hast eine schöne Maske da hängen, aber sie ist kein Original. Eine Fälschung, genauso falsch wie dein Name. — Und noch was, deine dämliche Naturschutzorganisation, ebenfalls eine Fälschung.« Plötzlich sprudelte aus ihm heraus, was er gar nicht hatte sagen wollen. Nicht heute. Er war nicht hergekommen, um Greywolf zu beschimpfen, aber er konnte nicht verhindern, dass es geschah. »Dein Niveau sind Tagediebe und Halunken, die es sich auf deinen Schultern bequem machen. Merkst du nichts? Du erreichst nicht das Geringste. Deine Vorstellung vom Schutz der Wale ist kindisch. Erwähltes Volk, Blödsinn. Dein erwähltes Volk wird niemals Verständnis für deine Spinnereien aufbringen.«
   »Wenn du es sagst.«
   »Du weißt verdammt genau, dass dein erwähltes Volk wieder Wale jagt. Du willst das verhindern. Ehrenvoll, aber offenbar hast du deinen eigenen Leuten nicht zugehört. Du wendest dich gegen das Volk, das du angeblich …«
   »Quatsch, Leon. Es gibt unter den Makah reihenweise Leute, die meiner Meinung sind.«
   »Schon, aber …«
   »Stammesälteste, Leon! Nicht alle Indianer finden, dass eine ethnische Gruppe ihre Kultur durch rituelles Töten ausdrücken sollte. Sie sagen, die Makah sind ebenso Teil der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts wie alle anderen Bewohner Washingtons auch.«
   »Das Argument ist mir bekannt«, konterte Anawak geringschätzig. »Es stammt nicht von dir und irgendwelchen Stammesältesten, sondern aus einem Resümee der Sea Shepherd Conservation Society, einer Gesellschaft von Tierschützern, und zwar wörtlich. Du wartest nicht mal mit eigenen Argumenten auf, Jack. Mein Gott, kaum zu glauben. Du fälschst sogar deine Argumente!«
   »Tu ich nicht, ich …«
   »Außerdem«, fuhr ihm Anawak dazwischen, »ist es ja wohl mehr als lächerlich, ausgerechnet Davies aufs Korn zu nehmen.«
   »Ah! Wir kommen der Sache schon näher. Darum bist du hier.«
   »Du warst doch selber mal einer von uns, Jack. Hast du nichts gelernt? Erst Whale Watching hat den Menschen klar gemacht, dass Wale und Delphine lebend mehr wert sind als tot. Es hat den Blick der Welt auf ein Problem gelenkt, das sonst nie in diesem Ausmaß offenbar geworden wäre. Whale Watching ist Naturschutz! Fast zehn Millionen Menschen fahren mittlerweile jedes Jahr hinaus, um die Erfahrung zu machen, welch großartige Geschöpfe das sind. Selbst in Japan und Norwegen wächst der Widerstand gegen den Walfang, weil wir den Menschen diese Möglichkeit bieten. Kapierst du das, kriegst du das mit? Zehn Millionen Menschen, die Wale sonst nur aus dem Fernsehen kennen würden! Wenn überhaupt! Unsere wissenschaftliche Arbeit, die uns in die Lage versetzt, Wale in ihrem Lebensraum zu schützen, wäre nie möglich gewesen ohne Whale Watching.«
   »Hugh!«
   »Warum also wir? Warum bekämpfst du ausgerechnet uns? Weil du damals rausgeflogen bist?«
   »Ich bin nicht rausgeflogen. Ich bin gegangen!«
   »Du bist rausgeflogen!«, schrie Anawak. »Gefeuert, gehimmelt, abserviert. Du hast Mist gebaut, und Davie hat dich auf die Straße gesetzt. Dein beschissenes kleines Selbstbewusstsein hat das nicht verkraftet, genauso wenig, wie es Jack O’Bannon verkraftet, wenn man ihm die Haare schneidet und ihm die Lederklamotten und den läppischen Namen wegnimmt. Deine ganze Ideologie beruht auf Missverständnissen und Fälschungen, Jack. Alles an dir ist eine Fälschung. Du bist eine Null, ein Nichts. Du produzierst nur Scheiße! Du schadest dem Naturschutz, du schadest den Nootka, du bist nirgendwo zu Hause, nirgendwo heimisch, du bist kein Ire und kein Indianer, das ist dein verdammtes Problem, und es macht mich krank, dass wir uns damit herumschlagen müssen, als hätten wir keine anderen Sorgen!«
   »Leon …«, sagte Greywolf mit schmalen Lippen.
   »Es macht mich krank, dich so zu sehen.«
   Greywolf stand auf. »Leon, halt den Mund. Es reicht.«
   »Es reicht noch lange nicht. Zum Teufel, du könntest so viel Sinnvolles tun, du bist ein Berg voller Muskeln, blöde bist du auch nicht, also was …«
   »Leon, halt endlich die Schnauze!«
   Greywolf kam um den Tisch auf ihn zu, mit Riesenschritten, die Fäuste geballt. Anawak sah zu ihm hoch. Er fragte sich, ob ihn schon der erste Schlag ins Reich der Träume befördern würde. Greywolf hatte dem Touristen damals den Kiefer gebrochen. Ganz sicher würde ihn seine vorlaute Klappe ein paar Zähne kosten.
   Aber Greywolf schlug nicht zu. Stattdessen stemmte er beide Hände auf die Lehnen von Anawaks Sessel und beugte sich über ihn. »Du willst wissen, warum ich mir dieses Leben ausgesucht habe? Willst du’s wirklich wissen?«
   Anawak starrte ihn an. »Nur zu.«
   »Nein, das willst du nämlich nicht, du selbstgerechtes kleines Arschloch.«
   »Doch. Du hast nur nichts zu sagen.«
   »Du …« Greywolfs Kiefer mahlten. »Verdammter Idiot. Ja, ich bin unter anderem auch Ire, aber in Irland war ich nie. Meine Mutter ist zur Hälfte Suquamish. Sie ist weder von den einheimischen Weißen noch von den Indianern richtig akzeptiert worden, also hat sie einen Einwanderer geheiratet, und der wurde auch von keinem akzeptiert.«
   »Rührend. Das hast du mir schon mal erzählt. Erzähl mir was Neues.«
   »Nein, ich werde dir einfach die Wahrheit erzählen, und du hörst gefälligst zu! Du hast Recht, ich werde kein Indianer, wenn ich wie einer rumlaufe. Ich würde aber auch kein Ire, wenn ich anfinge, literweise Guinness zu saufen, und ein stinknormaler weißer Amerikaner schon gar nicht, bloß weil wir in unserer Familie auch so was haben. Ich bin nicht authentisch. Ich gehöre nirgendwo richtig dazu, und weißt du was? Ich — kann — es — verdammt — nochmal — nicht — ändern!«
   Seine Augen blitzten. »Du müsstest nur den Arsch hochkriegen und könntest was ändern. Du müsstest einfach nur deine Geschichte umdrehen. Ich hatte nie die Möglichkeit, meine Geschichte umzudrehen.«
   »Schwachsinn!«
   »Oh, sicher, ich hätte mich benehmen und was Anständiges lernen können. Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Niemand fragt danach, woraus du zusammengesetzt bist, wenn du Erfolg hast, aber ich hatte keinen. Es gibt ethnisch Zusammengeflickte, die haben das Beste aus allen Welten mitbekommen. Die sind überall zu Hause. Meine Eltern sind einfache, verunsicherte Leute. Sie haben es nie verstanden, ihrem Sohn so etwas wie Selbstbewusstsein und Zugehörigkeit zu vermitteln. Sie fühlten sich entwurzelt und missverstanden, und ich habe das Schlechteste aus allen Welten mitbekommen! Alles ist misslungen, und das Einzige, was geklappt hat, ist auch misslungen!«
   »Ach ja. Die Navy. Deine Delphine.«
   Greywolf nickte grimmig.
   »Die Navy war gut. Ich war der beste Trainer, den sie jemals hatten, und da hat keiner blöde Fragen gestellt. Aber kaum war ich draußen, ging es wieder los. Meine Mutter trieb meinen Vater mit indianischen Bräuchen zum Wahnsinn und er sie mit seinem ständigen Heimweh nach Mayo. Jeder versuchte sich irgendwie zu behaupten. Ich glaube, sie wollten nicht mal stolz darauf sein, irgendwoher zu kommen, sie wollten überhaupt nur irgendwoher kommen und sagen fuck!, ich bin kein Bastard! Das hier ist meine Heimat, hey, hier bin ich zu Hause!«
   »Das waren ihre Probleme. Du hättest sie nicht zu deinen machen müssen.«
   »Ach ja?«
   »Mann, Jack! Du stehst vor mir wie ein Schrank und behauptest, von den Konflikten deiner Eltern dermaßen traumatisiert zu sein, dass du nichts auf die Reihe kriegst?« Anawak schnaubte zornig. »Was macht es für einen Unterschied, ob du Indianer, Halbindianer oder sonst was bist? Niemand ist für seine innere Heimat verantwortlich außer er selber, seine Eltern nicht, keiner.«
   Greywolf schwieg überrascht. Dann stahl sich Genugtuung in seine Augen, und Anawak wusste, dass er soeben verloren hatte. Es hatte so kommen müssen.
   »Von wem reden wir hier eigentlich?«, fragte Greywolf mit maliziösem Lächeln.
   Anawak schwieg. Er sah zur Seite.
   Greywolf richtete sich langsam auf. Das Lächeln verschwand von seinen Zügen. Plötzlich sah er verbraucht und müde aus. Er ging hinüber zu der Maske und blieb davor stehen.
   »Okay, vielleicht bin ich ein Idiot«, sagte er leise.
   »Mach dir nichts draus.« Anawak fuhr sich über die Augen. »Wir sind beide Idioten.«
   »Du bist der größere von uns beiden. Diese Maske hier stammt aus dem HuupaKanum von Chief Jones. Du hast keine Ahnung, was das ist, stimmt’s? Ich sag’s dir. Ein HuupuKanum ist eine Box. Ein Aufbewahrungsort für Masken und Kopfschmuck, Zeremoniengegenstände und so weiter. Aber das ist nicht alles. Im HuupuKanum liegen die vererbten Rechte der hawiih und chaachaabat, der Chiefs. Das Huupu-Kanum dokumentiert ihr Territorium, ihre historische Identität, ihre vererbten Rechte. Es sagt den anderen, wer du bist und woher du kommst.« Er drehte sich um. »Jemand wie ich könnte nie in den Besitz eines HuupuKanum gelangen. Du schon. Du könntest stolz sein. Aber du verleugnest alles, was du bist und woher du stammst. Ich soll Verantwortung tragen für das Volk, dem ich mich zugehörig fühle. Du bist einem Volk zugehörig und hast es verlassen! Du wirfst mir vor, nicht authentisch zu sein. Ich konnte es nie sein, aber ich versuche mir ein Stück Authentizität zu erkämpfen. Du hingegen bist authentisch. Aber du willst nicht sein, was du bist, und bist nicht, was du sein willst. Du sagst mir, ich sehe aus wie aus einem schlechten Western, aber es ist wenigstens ein Bekenntnis zu irgendeiner Art von Leben. Du zuckst ja schon zusammen, wenn dich bloß jemand fragt, ob du ein Makah bist.«
   »Woher weißt du …?« Delaware. Natürlich. Sie war hier gewesen.
   »Mach ihr bloß keinen Vorwurf«, sagte Greywolf. »Dich zu fragen, hat sie sich kein zweites Mal getraut.«
   »Was hast du ihr erzählt?«
   »Nichts. Du verdammter Feigling. Du willst mir was von Verantwortung erzählen? Du kommst hierher und wagst es, mir diese Scheiße aufzutischen, dass nicht die Eltern für deine innere Heimat zuständig sind, sondern nur du selber? Ausgerechnet du? Leon, ich führe vielleicht ein lächerliches Leben, aber du … du bist doch schon tot.«
   Anawak saß da und ließ die letzten Worte Revue passieren. »Ja«, sagte er langsam. »Du hast Recht.«
   »Ich habe Recht?«
   Anawak erhob sich. »Ja. Ich danke dir nochmals für die Lebensrettung. Du hast Recht.«
   »Hey, warte mal.« Greywolf zwinkerte nervös. »Was … was hast du denn jetzt vor?«
   »Ich gehe.«
   »So? Hm. Na ja, Leon, ich … also, dass du schon tot bist, habe ich nicht so … verdammt, ich wollte dich nicht verletzen, ich … Zum Teufel, steh hier nicht rum, setz dich wieder hin!«
   »Wozu?«
   »Deine … deine Cola! Du hast sie nicht ausgetrunken.«
   Anawak zuckte ergeben die Achseln. Er setzte sich wieder, nahm die Dose und trank. Greywolf sah ihm zu, kam zu ihm herüber und ließ sich wieder auf dem Sofa nieder.
   »Was war eigentlich mit diesem kleinen Jungen?«, fragte Anawak. »Scheint dich ja schwer ins Herz geschlossen zu haben.«
   »Den wir vom Schiff geholt haben?«
   »Ja.«
   »Was schon? Er hatte Angst. Ich hab mich um ihn gekümmert.«
   »Einfach so?«
   »Klar.«
   Anawak lächelte. »Ich hatte eher den Eindruck, du willst um jeden Preis in die Zeitung.«
   Einen Moment lang wirkte Greywolf verärgert. Dann grinste er zurück. »Klar wollte ich in die Zeitung. Ich fand’s geil, in der Zeitung zu stehen. Das eine schließt das andere ja nicht aus.«
   »Der Held von Tofino.«
   »Na und? Es war klasse, der Held von Tofino zu sein! Wildfremde Leute haben mir auf die Schulter gehauen. Nicht jeder macht durch bahnbrechende Tests mit Meeressäugern von sich reden. Man nimmt, was man kriegt.«
   Anawak nuckelte den letzten Rest aus seiner Dose. »Und wie geht’s deiner … ähm, Organisation?«
   »Den Seaguards?«
   »Ja.«
   »Aus die Maus. Nachdem die eine Hälfte bei dem Walangriff ums Leben gekommen ist, hat sich die andere in alle Winde zerstreut.« Greywolf zog die Stirn in Falten. Er sah aus, als horche er in sich hinein. Dann ruhte sein Blick wieder auf Anawak. »Weißt du, Leon, was das Problem unserer Zeit ist? Die Menschen verlieren ihre Bedeutung. Jeder ist ersetzbar. Es gibt keine Ideale mehr, und ohne Ideale gibt es nichts, was uns größer macht, als wir sind. Jeder sucht verzweifelt nach dem Beweis, dass die Welt mit ihm ein bisschen anders ist als ohne ihn. — Ich habe was für diesen Jungen getan. Vielleicht war es sinnvoll. Vielleicht gibt es mir ein bisschen Bedeutung.«
   Anawak nickte langsam. »Ja. Das tut es bestimmt.«
 
Hafengelände, Vancouver
 
   Wenige Stunden nach seinem Besuch bei Greywolf blickte Anawak im verschwindenden Tageslicht den Pier entlang.
   Menschenleer.
   Wie alle Welthäfen war auch Vancouver Harbour ein autarker Kosmos von gewaltigen Ausmaßen, in dem es an nichts zu fehlen schien — bis auf Übersichtlichkeit.
   Hinter ihm lagen die aufgetürmten, eckigen Kistengebirge des Containerhafens, in unwirkliche Farben getaucht. Löschkräne zeichneten sich schwarz gegen das Silberblau des Abendhimmels ab. Die Silhouetten von Autofrachtern erhoben sich wie riesige Schuhkartons, dazwischen Containerschiffe, Massengutfrachter und elegante weiße Kühlschiffe. Zu Anawaks Rechten reihten sich Lagerhallen aneinander. Ein Stück weiter sah er Schläuche, Bleche und Hydraulikteile übereinander liegen. Hier begannen auf weiter Fläche die Trockendocks, und noch weiter draußen lagen die Schwimmdocks. Eine Brise trieb den Geruch von Farbe herüber.
   Offenbar kam er der Sache näher.
   Ohne Auto war man hier verloren. Anawak hatte ein paar Leute fragen müssen und eine ganze Weile falsch gefragt, weil er das Objekt seiner Suche schlecht nennen konnte. Sie hatten ihm beschrieben, wo die Schwimmdocks lagen, weil er davon ausging, es dort zu finden. Im Hafen von Vancouver standen Docks aller Größen zur Verfügung, bis hin zum zweitgrößten Schwimmdock der Welt, das über 50000 Tonnen hob. Aber zu seiner Überraschung, als er gezwungenermaßen konkreter wurde, schickte man ihn zu den Trockendocks, jenen künstlichen Hafenbecken, die durch Schleusen abgedichtet wurden, bevor man das Wasser nach draußen pumpte. Nach zweimaligem Verfahren sah er sich endlich am Ziel. Er parkte den Wagen im Schatten eines lang gestreckten Kontorgebäudes, wuchtete die prall gefüllte Sporttasche über die Schulter und wanderte entlang der Gitterabsperrung, bis er ein spaltbreit offenes Rolltor fand. Dort schlüpfte er ins Innere.