Bohrmann starrte ihn an.
   »Sie haben was?«
   »Er ist bereits gestoppt«, ließ sich Weaver vernehmen. »Vielleicht fließt er noch ein bisschen, aber er liegt in den letzten Zügen. Wenige Jahre, und die Welt kann sich bereitmachen für eine neue Eiszeit. In weniger als hundert Jahren wird es verflucht eisig auf der Erde werden.
   Vielleicht schon in fünfzig oder vierzig Jahren. Vielleicht noch früher.«
   »Augenblick mal«, rief Peak. »Das Methan würde die Erde aufheizen, so viel wissen wir auch. Die Atmosphäre könnte kippen. Aber wie passt das mit einer neuen Eiszeit zusammen, wenn der Golfstrom stoppt? Was soll denn dabei rauskommen, um Himmels willen? Ein Ausgleich des Schreckens?«
   Weaver sah ihn an.
   »Ich würde eher sagen, eine Potenzierung.«
   Hatte es zu Beginn den Anschein gehabt, als stehe Vanderbilt allein da mit seiner rigorosen Ablehnung, wandelte sich das Bild in der darauf folgenden Stunde. Das Gremium spaltete sich in zwei Lager, die erbittert aufeinander losgingen. Alles wurde wieder aufgerollt. Die ersten Anomalien. Die Anfänge der Walattacken. Die Umstände, unter denen die Würmer entdeckt worden waren. Es ging zu wie auf dem Rugbyfeld. Rhetorische Ellbogen kamen zum Einsatz, Argumente wurden einander zugespielt, abwechselnd preschten die Fraktionen vor, umflankten den Gegner mit immer neuen Aspekten und versuchten, ihn auszutricksen. Ein Unterton mischte sich hinein, der Anawak bekannt vorkam. Er warf die Frage auf, ob es sein dürfe, dass eine parallele Intelligenz dem Menschen seine Vorherrschaft streitig macht! Niemand sprach es offen aus. Aber Anawak, geschult im Disput über tierische Intelligenz, erspürte den tieferen Gehalt in jedem Wort. Aggression schwang mit. Johansons Theorie spaltete nicht die Wissenschaft, sondern das Selbstverständnis einer Gruppe von Experten, die zuallererst Menschen waren. Vanderbilt scharte Rubin, Frost, Roche, Shankar und den zunächst zögerlichen Peak um sich. Johanson erhielt Verstärkung von Li, Oliviera, Fenwick, Ford, Bohrmann und Anawak. Die Geheimdienstler und Diplomaten saßen eine Weile dabei, als vollziehe sich vor ihren Augen ein absurdes Theaterstück. Dann mischten sie sich nach und nach ein.
   Es war verblüffend.
   Ausgerechnet diese Leute, berufsmäßige Spione, erzkonservative Sicherheitsberater und Terrorismusexperten, schlugen sich fast sämtlich auf Johansons Seite. Einer von ihnen sagte: »Ich bin ein nüchtern denkender Mensch. Wenn ich etwas höre, das mir einleuchtet, glaube ich es erst mal. Wenn etwas dagegensteht, das mit Winkelzügen erzwungen werden muss, nur damit es ins Raster unserer Erfahrungen passt, glaube ich es nicht.«
   Als Erster desertierte Peak aus Vanderbilts kleiner Truppe. Dann folgten Frost, Shankar und Roche.
   Schließlich schlug Vanderbilt erschöpft eine Pause vor.
   Sie gingen nach draußen, wo ein Büffet mit Säften, Kaffee und Kuchen aufgebaut war. Weaver gesellte sich an Anawaks Seite.
   »Sie hatten die wenigsten Probleme mit Johansons Theorie«, stellte sie fest. »Wie kommt’s?«
   Anawak sah sie an und lächelte. »Kaffee?«
   »Gerne. Mit Milch.«
   Er goss zwei Tassen voll und reichte ihr die eine. Weaver war nur unwesentlich kleiner als er. Plötzlich fiel ihm auf, dass er sie mochte, obwohl sie bisher kaum miteinander gesprochen hatten. Er hatte sie vom ersten Moment an gemocht, als ihre Blicke sich vor dem Chateau getroffen hatten.
   »Ja«, sagte er. »Die Theorie ist durchdacht.«
   »Nur darum? Oder weil Sie sowieso an tierische Intelligenz glauben?« »Das tue ich nicht. Ich glaube an Intelligenz im Allgemeinen, aber auch, dass Tiere Tiere und Menschen Menschen sind. Wenn wir nachweisen könnten, dass Delphine ebenso intelligent sind wie wir, mit allen Konsequenzen, wären sie keine Tiere mehr.« »Und glauben Sie, dass es so ist?« Anawak schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass wir es nicht herausfinden werden, solange wir von der menschlichen Warte aus urteilen. — Halten Sie Menschen für intelligent, Miss Weaver?« Weaver lachte. »Ein Mensch ist intelligent. Viele Menschen sind eine dumpfe Horde.« Das gefiel ihm. »Sehen Sie?«, sagte er. »Genau das könnte man auch von …«
   »Dr. Anawak?« Ein Mann kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. Er gehörte zum Sicherheitspersonal. »Sie sind doch Dr. Anawak?«
   »Ja.«
   »Sie werden am Telefon verlangt.«
   Anawak runzelte die Brauen. Im Chateau war keiner von ihnen direkt erreichbar. Aber es gab eine Nummer, unter der Angehörige Nachrichten hinterlassen oder in dringenden Fällen anrufen konnten. Li hatte die Mitglieder des Stabs gebeten, sie sparsam zu verteilen.
   Shoemaker hatte die Nummer. Wer noch?
   »In der Halle«, sagte der Mann. »Oder möchten Sie das Gespräch auf Ihr Zimmer gestellt haben?« »Nein, ist schon okay. Ich komme mit.« »Bis gleich«, rief ihm Weaver nach.
   Er folgte dem Sicherheitsbeamten durch die Halle. In einem der Seitenschiffe war eine Reihe provisorischer Telefonkabinen errichtet worden.
   »Gleich die erste«, sagte der Mann. »Ich lasse den Anruf durchstellen. Es wird klingeln. Heben Sie einfach ab, dann sind Sie mit Tofino verbunden.«
   Tofino? Also Shoemaker.
   Anawak wartete. Es klingelte. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.
   »Ah, Leon«, erklang Shoemakers Stimme. »Tut mir wirklich Leid. Ich weiß, ich störe dich bei was Wichtigem, aber …«
   »Macht nichts, Tom. War ein schöner Abend gestern.«
   »Oh ja. Und … das hier ist auch wichtig. Es ist … ähm …« Shoemaker schien nach Worten zu ringen. Dann seufzte er leise. »Leon, ich muss dir was Trauriges sagen. Wir haben einen Anruf aus Cape Dorset erhalten.«
   Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war es Anawak, als ziehe ihm jemand den Boden unter den Füßen weg. Er wusste, was ihn erwartete. Er wusste es, bevor Shoemaker die Worte sagte:
   »Leon, dein Vater ist gestorben.«
   Er stand wie gelähmt in der Zelle.
   »Leon?«
   »Alles okay, ich …«
   Alles okay. Wie immer. Alles okay. Alles okay.
   Was sollte er tun?
   Nichts war okay!
 
Li
 
   »Außerirdische?«
   Der Präsident war merkwürdig gefasst.
   »Nein«, sagte Li zum wiederholten Male. »Keine Außerirdischen. Bewohner dieses Planeten. Konkurrenz, wenn Sie so wollen.«
   Die Offutt Airforce Base und das Chateau waren zusammengeschaltet. Außer dem Präsidenten nahmen in Offutt der Verteidigungsminister, der erste Sicherheitsberater, der Minister für Heimatschutz und die Außenministerin teil sowie der Direktor der CIA. Inzwischen bestand kein Zweifel mehr daran, dass Washington das Schicksal New Yorks teilen würde. Die Stadt wurde evakuiert. Das Kabinett war größtenteils nach Nebraska umgezogen. Erste Todesfälle unterstrichen die Dramatik der Situation, aber der Rückzug ins Landesinnere erfolgte geschlossen und weitgehend nach Plan. Diesmal war man besser vorbereitet.
   Im Chateau hatten sich Li, Vanderbilt und Peak versammelt. Li wusste, dass die in Offutt es hassten, dort herumsitzen zu müssen. Der CIA-Direktor vermisste sein Amtszimmer im sechsten Stock der Zentrale am Potomac. Insgeheim beneidete er seinen Direktor für Terrorismusbekämpfung, der sich schlicht geweigert hatte, seine Mitarbeiter zu evakuieren.
   »Bringen Sie Ihre Leute in Sicherheit«, hatte er dem Mann befohlen.
   »Das ist eine Krise, die von jemandem gesteuert wird«, war die Antwort gewesen. »Eine terroristische Krise. Die Leute im Global Response Center müssen an ihren Computern sitzen bleiben und arbeiten. Sie haben eine entscheidende Aufgabe zu erfüllen. Sie sind die Augen, mit denen wir den internationalen Terrorismus beobachten. Die können wir nicht evakuieren.«
   »Es sind biologische Killer, die New York angreifen«, hatte der CIA-Direktor erwidert. »Schauen Sie, was dort los ist. In Washington wird es nicht anders sein.«
   »Das Global Response Center wurde nicht ins Leben gerufen, um in einer solchen Situation das Weite zu suchen.«
   »Gut, aber Ihre Leute könnten sterben.«
   »Dann sterben sie eben.«
   Auch der Verteidigungsminister hätte die Lage lieber vom Schreibtisch seines wuchtigen Arbeitszimmers aus dirigiert, und der Präsident war ohnehin jemand, den man festbinden musste, damit er nicht den nächsten Jet kaperte und zurück zum Weißen Haus flog. Man konnte ihm vieles nachsagen, aber nicht, dass er feige war. Genau genommen war er so mutig, dass manche seiner Gegner den Verdacht hegten, er sei einfach zu ignorant, um Angst zu empfinden.
   Dabei war die Offutt Airforce Base wie ein zweiter Regierungssitz ausgestattet. Aber sie hatten dorthin fliehen müssen. Darin lag das Problem. Und darum, schätzte Li, nahmen sie die Hypothese von der intelligenten Macht im Meer spontan positiv auf. Vor menschlichen Gegnern zurückweichen zu müssen, denen man nichts entgegenzusetzen hatte als Ratlosigkeit, hätte eine unerträgliche Schmach für die Administration bedeutet. Johansons Theorie warf ein völlig neues Licht auf die Angelegenheit. Sie nahm rückwirkend den Druck von den Sicherheitsberatern, vom Verteidigungsministerium, vom Präsidenten.
   »Was halten Sie davon?«, fragte der Präsident in die Runde. »Ist so etwas möglich?«
   »Was ich persönlich für möglich halte und was nicht, spielt keine Rolle«, sagte der Verteidigungsminister barsch. »Die Experten sitzen im Chateau. Wenn sie zu einer solchen Schlussfolgerung gelangen, müssen wir sie ernst nehmen und fragen, was als Nächstes zu tun ist.«
   »Sie wollen das ernst nehmen?«, fragte Vanderbilt entgeistert. »Aliens? Grüne Männchen?«
   »Keine Außerirdischen«, wiederholte Li geduldig.
   »Wir werden ein ganz anderes Problem bekommen«, bemerkte die Außenministerin. »Nehmen wir an, die Theorie stimmt. Wie viel davon können wir der Öffentlichkeit zumuten?«
   »Was? Nichts!« Der CIA-Direktor schüttelte energisch den Kopf. »Wir hätten sofort ein weltweites Chaos.«
   »Das haben wir ohnehin.«
   »Trotzdem. Die Medien würden uns schlachten. Sie würden uns für verrückt erklären. Erstens werden sie uns nicht glauben, zweitens werden sie uns nicht glauben wollen. Die Existenz einer solchen Rasse würde die Bedeutung der Menschheit in Frage stellen.«
   »Das ist ein vorwiegend religiöses Problem«, winkte der Verteidigungsminister ab. »Politisch nicht relevant.«
   »Es gibt keine Politik mehr«, sagte Peak. »Nichts, was man losgelöst betrachten kann von Angst und Elend. Fahren Sie mal nach Manhattan. Machen Sie sich ein Bild. Was meinen Sie, was da gebetet wird von Leuten, die in ihrem Leben nie in einer Kirche gewesen sind.«
   Der Präsident richtete einen nachdenklichen Blick zur Decke. »Wir müssen uns fragen«, sagte er, »was Gottes Pläne in der Sache sind.«
   »Gott sitzt nicht in Ihrem Kabinett, Sir, wenn ich das anmerken darf«, sagte Vanderbilt. »Er ist auch nicht auf unserer Seite.«
   »Das ist kein guter Standpunkt, Jack«, sagte der Präsident mit zusammengezogenen Brauen.
   »Ich habe aufgehört, Standpunkte nach gut oder schlecht zu unterteilen, solange sie sinnvoll sind. Jeder hier ist offenbar der Meinung, an dieser Theorie sei was dran. Ich frage mich also, wer von uns bescheuert ist …«
   »Jack«, sagte der CIA-Direktor warnend.
   »… aber ich bin bereit einzugestehen, dass ich es bin. Trotzdem werde ich erst einlenken, wenn ich Beweise sehe. Wenn ich mit diesen Knilchen gesprochen habe, diesem Gezücht im Wasser. Bis dahin warne ich eindringlich davor, die Möglichkeit eines groß angelegten terroristischen Anschlags auszuschließen und unsere Wachsamkeit zu vernachlässigen.«
   Li legte ihm die Hand auf den Unterarm.
   »Jack, warum sollten Menschen einen solchen Weg wählen?«
   »Um Leute wie Sie glauben zu machen, E. T. hätte es auf uns abgesehen. Und es funktioniert. Zum Teufel, es funktioniert!«
   »Niemand hier ist naiv«, sagte der Sicherheitsberater ärgerlich. »Wir werden in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen, aber mal ehrlich, mit Ihrer Terrorismuspsychose kommen wir doch keinen Zoll weiter. Wir können ohne Ende nach durchgeknallten Mullahs oder schwerreichen Superverbrechern Ausschau halten, und derweil rutschen noch ein paar Hänge ab, und unsere Städte werden überspült, unschuldige Amerikaner sterben, also was ist eigentlich Ihr Vorschlag, Jack?«
   Vanderbilt verschränkte zornig die Arme über seinem Bauch. Er sah aus wie ein schmollender Buddha.
   »Ich habe da einen Vorschlag herausgehört«, sagte Li langsam.
   »Nämlich?«
   »Mit den Knilchen zu reden. Kontakt aufzunehmen.«
   Der Präsident legte die Fingerspitzen aufeinander. Dann sagte er bedächtig: »Dies ist eine Prüfung. Eine Prüfung für die menschliche Rasse. Vielleicht hat Gott diesen Planeten für zwei Rassen bestimmt. Vielleicht hat aber die Bibel Recht, wenn sie vom Tier spricht, das aus dem Meer steigt. Gott sagt, macht euch die Erde untenan, und er hat es nicht zu irgendwelchen Wesen im Meer gesagt.«
   »Nein, absolut nicht«, murmelte Vanderbilt. »Er hat es zu den Amerikanern gesagt.«
   »Vielleicht ist dies der Kampf gegen das Böse, die oft vorausgesagte große Schlacht.« Der Präsident richtete sich ein Stück auf. »Und wir sind auserkoren, sie zu schlagen und zu gewinnen.«
   »Vielleicht«, griff Li den Gedanken auf, »wird, wer diese Schlacht gewinnt, die Welt gewinnen.«
   Peak sah sie von der Seite her an und schwieg.
   »Wir sollten Johansons Theorie offen mit den Regierungen der NATO-Staaten und der EU erörtern«, schlug die Außenministerin vor. »Dann sollten wir die Vereinten Nationen einbeziehen.«
   »Und ihnen zugleich klar machen, dass sie kaum in der Lage sein werden, eine solche Operation durchzuführen«, sagte Li schnell. »Ich meine, nutzen wir ruhig das Knowhow und die Kreativität ihrer besten Köpfe. Ich schlage vor, auch befreundete arabische und asiatische Staaten einzubinden. Das macht auf alle Fälle einen guten Eindruck. Aber zugleich wird es Zeit, dass wir die Gelegenheit wahrnehmen, uns an die Spitze der Weltengemeinschaft zu stellen. — Dies ist kein Meteoriteneinschlag, der uns alle vorn Angesicht der Erde fegen wird. Es ist eine schreckliche Bedrohung, derer wir Herr werden können, wenn wir jetzt keinen Fehler machen.«
   »Greifen Ihre Gegenmaßnahmen?«, fragte der Sicherheitsberater.
   »Überall auf der Welt laufen die Forschungen nach einem Immunstoff auf Hochtouren. Wir versuchen, etwas gegen das Eindringen der Krabben und gegen die Angriffe durch Wale zu unternehmen und diese Würmer einzufangen, was sich schwierig gestaltet. Wir tun eine ganze Menge, um die Risiken einzudämmen, aber es wird nicht reichen, wenn wir weiter konventionell verfahren. Der Stopp des Golfstroms verdammt uns zur Hilflosigkeit. Der Methan-GAU ist nicht aufzuhalten. Selbst wenn es uns gelingt, Millionen dieser Würmer aus dem Meer zu fischen, können wir nicht sehen, wo sie sich angesiedelt haben, und es werden neue kommen. Nachdem es unmöglich geworden ist, Roboter, Sonden und Tauchboote nach unten zu schicken, sind wir blind geworden. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was da unten vorgeht. Heute Nachmittag hörte ich, dass wir vor der Georges Bank zwei riesige Schleppnetze verloren haben. Zu drei Trawlern, die in Höhe des Laurentiusgrabens unterwegs waren, um den Grund abzuweiden, haben wir jeden Kontakt verloren. Suchflugzeuge sind unterwegs, aber das ist schwieriges Terrain. Östlich davon liegen die Bänke von Neufundland. Eine Zone permanenten Nebels, und seit zwei Tagen tobt dort ein ziemlicher Sturm.« Sie machte eine Pause. »Das sind zwei Beispiele von tausenden. Fast alle Meldungen spiegeln unser Versagen wider. Die Drohnenaufklärung arbeitet gut, mehrfach konnten wir Krabbenheere mit Flammenwerfern eindämmen, aber dafür kommen sie dann anderswo rausgekrochen. Wir müssen einsehen, dass wir auf dem Meer wenig zu melden haben. Es war schon wenig genug, als von dort noch keine Gefahr ausging, aber jetzt …«
   »Und die Sonarattacken?«
   »Wir setzen sie fort, aber sie versprechen keinen wirklichen Erfolg. Es funktioniert nur, wenn wir die Tiere töten. Die Wale fliehen nicht vor dem Lärm, wie es jedes Tier tun würde, das seine Instinkte beisammen hat. Ich schätze, dass sie fürchterlich leiden, aber sie sind fremdgesteuert. Der Terror geht weiter.«
   »Da Sie von Planung sprechen, Jude«, sagte der Verteidigungsminister. »Erkennen Sie eine Strategie hinter alldem?«
   »Ich denke schon. Fünfstufig und verzahnt. Schritt eins ist die Vertreibung des Menschen von der Meeresoberfläche und aus den Meerestiefen. — Schritt zwei gipfelt in der Vernichtung und Vertreibung der Küstenpopulationen. Siehe Nordeuropa. — Schritt drei umfasst die Vernichtung unserer Infrastruktur. Ebenfalls Nordeuropa, wo die Offshore-Industrie empfindlich getroffen wurde. Das Lahmlegen des Fischfangs wird uns zudem ein gewaltiges Ernährungsproblem bescheren, speziell der Dritten Welt. — Schritt vier, Vernichtung der Stützpfeiler unserer Zivilisation, der Großstädte, durch Tsunamis, bakteriologische Vergiftung, Zurückdrängen der Bevölkerung ins Landesinnere. — Und schließlich der fünfte und letzte Schritt: Das Klima kippt, die Erde wird für Menschen unbewohnbar. Sie vereist oder ertrinkt, wird aufgeheizt oder abgekühlt oder beides — das wissen wir noch nicht im Einzelnen.«
   Eine Weile herrschte beklommenes Schweigen.
   »Aber wird die Erde dann nicht auch unbewohnbar für die gesamte Tierwelt?«, fragte der Sicherheitsberater.
   »An der Oberfläche — ja. Oder sagen wir, ein großer Teil der Tierwelt dürfte dabei hopsgehen. Aber ich habe mir sagen lassen, so was sei vor 55 Millionen Jahren schon mal passiert, und im Endeffekt hat es nur dazu geführt, dass eine Menge Tiere und Pflanzen ausstarben und Platz für neue Arten machten. Ich denke, diese Wesen werden sich sehr genau überlegt haben, wie sie selber eine solche Katastrophe unbeschadet überstehen.«
   »Eine derartige Vernichtungsschlacht, das ist …« Der Minister für Heimatschutz rang nach Worten. »Das ist unverhältnismäßig, unmenschlich …«
   »Es sind keine Menschen«, sagte Li geduldig.
   »Aber wie können wir sie dann stoppen?«
   »Indem wir herausfinden, wer sie sind«, sagte Vanderbilt.
   Li wandte ihm den Kopf zu. »Höre ich da späte Einsicht?«
   »Mein Standpunkt bleibt derselbe«, sagte Vanderbilt gleichmütig. »Erkenne den Zweck einer Handlung, und du weißt, wer sie vollbringt. In diesem Fall gestehe ich zu, dass Ihre Fünf-Stufen-Strategie augenblicklich die einleuchtendste ist. Also müssen wir den nächsten Schritt gehen. Wer sind sie, wo sind sie, wie denken sie?«
   »Was kann man gegen sie tun«, fügte der Verteidigungsminister hinzu.
   »Das Böse«, sagte der Präsident mit stark zusammen gekniffenen Lidern. »Wie kann man das Böse besiegen?«
   »Reden wir mit ihnen«, sagte Li.
   »Kontaktaufnahme?«
   »Man kann auch mit dem Teufel verhandeln. Ich sehe augenblicklich keinen anderen Weg. Johanson vertritt die These, dass sie uns auf Trab halten, um uns daran zu hindern, Lösungen zu finden. So viel Zeit dürfen wir ihnen nicht geben. Noch sind wir handlungsfähig, also sollten wir sie suchen und Kontakt aufnehmen. — Dann schlagen wir zu.«
   »Gegen Tiefseewesen?« Der Minister für Heimatschutz schüttelte den Kopf. »Du lieber Himmel.«
   »Sind wir eigentlich alle der Ansicht, dass an der Theorie was dran ist?«, fragte der CIA-Direktor in die Runde. »Ich meine, wir reden darüber, als seien sämtliche Zweifel ausgeräumt. Wollen wir uns ernsthaft auf den Gedanken einlassen, dass wir die Erde mit einer zweiten intelligenten Rasse teilen?«
   »Es gibt nur eine göttliche Rasse«, betonte der Präsident entschieden. »Und das ist die Menschheit. Wie intelligent diese Lebensform im Meer ist, steht auf einem anderen Blatt. Ob sie das Recht hat, diesen Planeten ebenso zu beanspruchen wie wir, darf zutiefst bezweifelt werden. Die Schöpfungsgeschichte sieht solche Wesen nicht vor. Die Erde ist die Welt der Menschen, sie wurde für die Menschen geschaffen, und Gottes Plan ist unser Plan. — Aber dass eine fremdartige Lebensform für all dies verantwortlich ist, scheint mir akzeptabel.«
   »Nochmal«, wollte die Außenministerin wissen. »Was sagen wir der Welt?« »Es ist zu früh, der Welt etwas zu sagen.« »Sie wird Fragen haben.«
   »Erfinden Sie Antworten. Dafür sind Sie Diplomatin. Wenn wir der Welt damit kommen, im Meer wohne eine zweite Menschheit, wird sie schon am Schock eingehen.«
   »Übrigens«, sagte der CIA-Direktor an Li gewandt. »Wie sollen wir diese kranken Hirne im Ozean überhaupt nennen?«
   Li lächelte. »Johanson hatte einen Vorschlag: Yrr.«
   »Yrr?«
   »Y und zwei r. Es ist ein zufälliger Name. Das Resultat unbewusster Fingerarbeit auf dem Laptop.«
   »Albern.«
   »Er meint, der Name sei so gut wie jeder andere, und da gebe ich ihm Recht. Ich finde, wir sollten sie Yrr nennen.«
   »Gut, Li.« Der Präsident nickte. »Wir werden sehen, was an dieser Theorie dran ist. Wir müssen alle Optionen in Erwägung ziehen, alle Möglichkeiten. Aber wenn wir am Ende wirklich feststellen, dass wir eine Schlacht gegen Wesen zu schlagen haben, die wir meinethalben Yrr nennen wollen, werden wir eben die Yrr besiegen. Dann gibt es Krieg gegen die Yrr.« Er sah in die Runde. »Dies ist eine Chance. Eine sehr große Chance. Ich will, dass sie genutzt wird.«
   »Mit Gottes Hilfe«, sagte Li.
   »Amen«, nuschelte Vanderbilt.
 
Weaver
 
   Zu den Vorzügen des Chateaus in Zeiten der Belagerung gehörte, dass alles durchgehend geöffnet hatte. Niemand hier ging den Gewohnheiten der üblichen Gästeschaft nach. Li hatte geltend gemacht, dass insbesondere die Wissenschaftler Tag und Nacht würden arbeiten müssen und möglicherweise morgens um vier Lust auf T-Bone-Steak bekämen. Als Folge gab es rund um die Uhr warme Mahlzeiten, Restaurants, Bar und Aufenthaltsräume waren besetzt, und sämtliche Sportanlagen inklusive Sauna und Schwimmbad hatten vierundzwanzig Stunden geöffnet.
   Weaver hatte eine halbe Stunde lang im Pool ihre Bahnen gezogen. Mittlerweile war es nach eins. Barfuß und mit nassen Haaren, in einen weichen Bademantel gehüllt, durchquerte sie die Lobby zu den Aufzügen, als sie aus dem Augenwinkel Leon Anawak bemerkte. Er saß am Tresen der Hotelbar, ein Platz, wo er ihrer Meinung nach am allerwenigsten hinpasste. Verloren hockte er vor einer unangetasteten Cola und einer Schale Erdnüsse, pickte alle paar Sekunden eine heraus, sah sie an und ließ sie zurückfallen.
   Sie zögerte.
   Seit der abgebrochenen Unterhaltung vom Vormittag hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht wollte er ungestört sein. Immer noch herrschte Geschäftigkeit in der Halle und den angrenzenden Räumen, nur die Bar war nahezu leer. In einer Ecke saßen zwei Männer in dunklen Anzügen, in gedämpfte Unterhaltung vertieft. Ein Stück weiter starrte eine Frau im Drillich konzentriert in ihren Laptop. Leise Westcoastmusik wob die Szene in Belanglosigkeit.
   Anawak sah nicht eben glücklich aus.
   Während sie noch überlegte, ihre Suite aufzusuchen, betrat sie schon die Bar. Ihre Füße patschten leicht auf dem Parkett. Sie ging ans Ende des Tresens, wo er saß, und sagte:
   »Hi.«
   Anawak drehte den Kopf. Sein Blick war vollkommen leer.
   Unwillkürlich blieb sie stehen. Man konnte die Intimsphäre eines Menschen schneller verletzen, als es einem auffiel, und dann hatte man für alle Zeiten den Ruf weg, aufdringlich zu sein. Sie lehnte sich gegen den Tresen und zog den Bademantel enger um die Schultern. Zwei Barhocker standen zwischen ihnen.
   »Hi«, sagte Anawak. Sein Blick flackerte. Erst jetzt schien er sie richtig wahrzunehmen.
   Sie lächelte.
   »Was … ähm, machen Sie?« Blöde Frage. Was machte er? Er saß an einer Theke und spielte mit Erdnüssen rum. »Sie waren plötzlich verschwunden heute Morgen.«
   »Ja. Tut mir Leid.«
   »Nein, muss es nicht«, sagte sie eilig. »Ich meine, ich wollte nicht stören, es ist nur, dass ich Sie hier sitzen sah und dachte …«
   Irgendetwas stimmte nicht. Am besten, sie machte sich schleunigst wieder davon.
   Anawak schien vollständig aus seiner Starre zu erwachen. Er griff nach seinem Glas, hob es hoch und stellte es wieder ab. Sein Blick fiel auf den Barhocker neben ihm.
   »Lust, was zu trinken?«, fragte er.
   »Störe ich Sie wirklich nicht?«
   »Nein, überhaupt nicht.« Er zögerte. »Ich heiße übrigens Leon. Wir sollten uns duzen, oder?«
   »Gut, dann … Ich heiße Karen, und … Baileys auf Eis, bitte.«
   Anawak winkte den Barmann heran und gab die Bestellung auf. Sie trat näher, ohne sich zu setzen. Tropfen kalten Wassers liefen aus ihren Haaren den Hals hinunter und sammelten sich zwischen ihren Brüsten.
   Im Allgemeinen hatte sie keine Probleme damit, halb nackt herumzulaufen, aber plötzlich fühlte sie sich unbehaglich.
   Sie sollte austrinken und schnell wieder verschwinden.
   »Und wie geht’s dir?«, fragte sie, während sie an der cremigen Flüssigkeit nippte.
   Anawak legte die Stirn in Falten. »Ich weiß es nicht.«
   »Du weißt es nicht?«
   »Nein.« Er griff nach einer Erdnuss, legte sie vor sich hin und schnippte sie weg. »Mein Vater ist gestorben.«
   Ach du Scheiße.
   Sie hatte es gewusst. Sie hätte nicht hineingehen sollen. Jetzt stand sie hier und trank Baileys mit jemandem, der sich dermaßen ostentativ ans hintere Ende der Bar verzogen hatte, dass er ebenso gut ein Schild hätte aufstellen können mit dem Hinweis, sich fern zu halten.
   »Woran?«, fragte sie vorsichtig.
   »Keine Ahnung.«
   »Die Ärzte wissen es noch nicht?«
   »Ich weiß es noch nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich es wissen will.«
   Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich bin heute Nachmittag durch die Wälder gelaufen. Stundenlang. Manchmal geschlichen, dann wieder gerannt wie ein Wahnsinniger. Auf der Suche nach einer … Empfindung. Ich dachte, es muss doch irgendeinen Gefühlszustand geben, der zur Situation passt, aber ich habe mir die ganze Zeit über nur selber Leid getan.« Er sah sie an. »Kennst du das? Wo immer du gerade bist, willst du sofort wieder weg. Alles scheint dich zu bedrängen, und plötzlich merkst du, dass es gar nicht an dir selber liegt. Du bist es nicht, der weg will. Es sind die Orte, die dich loswerden wollen. Sie scheinen dich abzustoßen, dir zu sagen, dass du da nicht hingehörst. Aber keiner erklärt dir, wo du hingehörst, und du rennst und rennst …«
   »Klingt komisch.« Sie dachte darüber nach. »Ich kenne so was Ähnliches vom Betrunkensein. Wenn du dermaßen voll bist, dass dir in jeder Lage kotzübel wird, egal wie du dich drehst und legst und wendest.« Sie stockte. »Entschuldige. Dumme Antwort.«
   »Nein, gar nicht! Du hast Recht. Dir geht’s erst besser, wenn du gekotzt hast. Genau so fühle ich mich. Ich müsste wahrscheinlich kotzen, aber ich weiß nicht, wie.«
   Sie fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases. Die Musik dudelte unablässig vor sich hin. »Hattest du kein gutes Verhältnis zu deinem Vater?« »Ich hatte gar kein Verhältnis zu ihm.«
   »Tatsächlich?« Weaver runzelte die Stirn. »Gibt es das? Kann man gar kein Verhältnis zu jemandem haben, den man kennt?«
   Anawak zuckte die Achseln.
   »Und du?«, fragte er. »Was machen deine Eltern?«
   »Sie sind tot.«
   »Das … oh. Das tut mir Leid.«
   »Schon in Ordnung. Ist ja nichts dabei. Ich meine, Menschen sterben, auch Eltern. Meine sind gestorben, als ich zehn war. Tauchunfall vor Australien. Ich war im Hotel, als es passierte. Starke Bodenströmung. Eine Weile ist alles ruhig, und plötzlich wirst du fortgerissen und ins offene Meer gezogen. An sich waren sie vorsichtig und erfahren, aber … na ja.« Sie zuckte die Achseln. »Das Meer ist immer anders.«
   »Hat man sie gefunden?«, fragte Anawak leise.
   »Nein.«
   »Und du? Wie bist du damit zurechtgekommen?«
   »Eine Zeit lang war es ziemlich hart. Ich hatte eine wunderbare Kindheit, weißt du. Wir sind ständig nur gereist. Sie waren beide Lehrer und fasziniert vom Wasser. Alles haben wir gemacht, Segeln auf den Malediven, Tauchen im Roten Meer, Höhlentauchen in Yucatan. Sogar vor Schottland und Island sind wir runter. Natürlich blieben sie näher an der Oberfläche, wenn ich dabei war, aber ich hab trotzdem alles gesehen. Nur auf die gefährlichen Tauchgänge haben sie mich nicht mitgenommen. — Und den einen haben sie dann auch nicht überlebt.« Sie lächelte. »Aber du siehst ja, es ist noch was aus mir geworden.«
   »Ja.« Er lächelte zurück. »Nicht zu übersehen.«
   Es war ein trauriges, hilfloses Lächeln. Eine Weile sah er sie einfach nur an. Dann rutschte er von seinem Hocker. »Ich glaube, ich sollte es mal mit Schlafen versuchen. Morgen fliege ich zur Beerdigung.« Er zögerte. »Also, gute Nacht und … danke.«
   »Wofür?«
   Danach saß sie vor ihrem halb ausgetrunkenen Baileys und dachte an ihre Eltern und an den Tag, als die Leute von der Hotelleitung gekommen waren und die Managerin ihr gesagt hatte, sie müsse jetzt ganz tapfer sein. Tapferes, kleines Mädchen. Starke, kleine Karen.
   Sie ließ den Likör im Glas hm— und herschwappen. Wie hart es gewesen war, hatte sie Anawak nicht erzählt. Nichts davon, wie ihre Großmutter sie zu sich genommen hatte, ein verstörtes, verängstigtes Kind, das seine Trauer in Wut umsetzte, sodass die alte Frau nicht mit ihr fertig wurde. Wie sich ihre Leistungen in der Schule rapide verschlechterten, zeitgleich mit ihrem Umgang. Nichts vom ständigen Ausreißen und Herumziehen, von den ersten Joints und den härteren Sachen, von der Zeit als Punk auf der Straße und wie es war, ständig betrunken oder bekifft zu sein und mit jedem zu schlafen, der nicht Nein sagte. Und Nein gesagt hatte eigentlich keiner. Dann kleinere Diebstähle, Schulverweis, eine schlampig durchgeführte Abtreibung, härtere Drogen, Autoknacken, Jugendamt. Ein halbes Jahr im Heim für schwer Erziehbare. Den Körper voller Piercings. Glatze und Narben. Seelisch und körperlich ein Schlachtfeld.
   Tatsächlich hatte der Unfall ihrer Liebe zum Meer keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Mehr denn je übte es eine dunkle Faszination auf sie aus, schien sie zu rufen, hinab zum Grund, wo ihre Eltern warteten. So heftig lockte die See, dass sie eines Nachts per Anhalter nach Brighton gefahren und weit hinausgeschwommen war, und als das ölig schwarze, mondbeschienene Wasser die Lichter des Badeorts beinahe verschluckte, hatte sie sich langsam unter die Oberfläche sinken lassen und versucht zu ertrinken.
   Aber man ertrank nicht so einfach.
   Sie hatte in der Lichtlosigkeit des Kanals gehangen, mit angehaltenem Atem, und ihre Herzschläge gezählt, bis sie in den Ohren dröhnten. Anstatt ihre Lebenskraft in sich aufzunehmen, hatte das Meer sie ihr gezeigt: so stark, dieses Herz! So trotzig dagegen anschlagend, dass sie sich der kalten Umarmung ergeben wollte, und plötzlich hatte der Atemreflex eingesetzt und sie gezwungen, Wasser in ihre Lungen aufzunehmen. Was nun geschah, davon hatte sie ihren Vater oft genug reden hören. Schaum würde sich in der Lunge bilden, das filigrane Netzwerk aus Bläschen in sich zusammenfallen, akuter Sauerstoffmangel zum Tod führen. Zwei Minuten bis zum Krampfstadium des Zwerchfells, keine Atmung mehr möglich. Fünf Minuten bis zum Herztod.
   Sie war nach oben geschossen und aufgetaucht aus dem Alptraum, der mit ihrem zehnten Lebensjahr begonnen hatte und mit ihrem sechzehnten endete, unmittelbar neben einem Kutter. Man brachte sie mit einer schweren Unterkühlung ins Krankenhaus, wo sie genügend Zeit fand, Mut und Entschlossenheit in einen Plan zu binden. Nach ihrer Entlassung betrachtete sie ihren Körper eine Stunde lang im Spiegel und beschloss, ihn nie wieder so sehen zu wollen. Sie entfernte die Piercings, hörte auf, ihren Schädel zu rasieren, versuchte zehn Liegestütze und brach zusammen.
   Nach einer Woche gelangen ihr zwanzig. Mit aller Macht versuchte sie zurückzuerlangen, was ihr verlorengegangen war. Die Schule nahm sie wieder auf unter der Bedingung, dass sie sich einer Therapie unterzog, und sie willigte ein. Zeigte sich lernwillig und diszipliniert. War zuvorkommend und freundlich zu jedermann. Las, was immer sie in die Finger bekommen konnte, vorzugsweise über das Ökosystem Erde und die Ozeane. Kein Tag verging, an dem sie nicht trainierte. Seit der Kanal sie freigegeben hatte, lief, schwamm, boxte und kletterte sie, um die letzten Spuren der verlorenen Zeit zu tilgen, bis nichts mehr an das dünne, hohläugige Mädchen erinnerte, das sie gewesen war. Als sie mit neunzehn und einjähriger Verspätung einen glänzenden Collegeabschluss hinlegte und sich an der Universität für Biologie und Sport einschrieb, glich ihr Körper den Darstellungen hellenischer Wettkämpfer. Karen Weaver war ein neuer Mensch geworden. Mit einer alten Sehnsucht. Um die Welt zu verstehen, wie sie funktionierte, belegte sie außerdem Informatik. Die Darstellung komplexer Zusammenhänge durch Computer begeisterte sie, und sie ruhte nicht eher, bis sie selber in der Lage war, Abläufe in Ozean und Atmosphäre virtuell darzustellen. Ihre erste Arbeit gab ein umfassendes Bild der Meeresströmungen wieder, das dem allgemeinen Wissen zwar nichts Neues hinzufügte, nur dass es von großer Brillanz und Stimmigkeit war: eine Hommage an zwei Menschen, die sie geliebt und zu früh verloren hatte. Indem sie den Kopf unter Wasser steckte und forschte, gab sie etwas zurück von dem, was sie im Überfluss erhalten hatte: Liebe und Wissen. Sie gründete ihr PR-Büro Deepbluesea, schrieb für Science und National Geographie, erhielt Kolumnen in populärwissenschaftlichen Titeln und zog das Interesse der Institute auf sich, die sie zu Expeditionen einluden, weil sie eine Stimme brauchten, um ihren Ideen Gestalt zu geben. Mit der MIR reiste sie zur Titanic, die Alvin brachte sie zu den hydrothermalen Schloten des Atlantischen Tiefseerückens, die Polarstern zum Überwintern in die Antarktis. Überall war sie mit dabei, und aus allem machte sie das Beste, weil sie seit der Nacht im Kanal keine Furcht mehr kannte. Nichts und niemand machte ihr mehr Angst.
   Bis auf das Alleinsein. Gelegentlich.
   Sie sah sich im Spiegel der Bar stehen, nass, in Frottee gehüllt, einigermaßen ratlos.
   Schnell stürzte sie den Baileys hinunter und ging zu Bett.
 

14. Mai

Anawak
 
   Das Motorengeräusch begann ihn langsam, aber sicher einzuschläfern.
   Nachdem er sich endlich zu der Reise durchgerungen hatte, war Anawak von Schwierigkeiten ausgegangen. Er hatte gedacht, Li würde ihn vielleicht nicht gehen lassen, aber sie hatte ihn regelrecht gedrängt, das nächste Flugzeug zu nehmen.
   »Wenn ein Elternteil stirbt oder ein Kind, muss man zu seiner Familie. Sie würden es sich nie verzeihen, wenn Sie hier blieben. Die Familie ist das Wichtigste im Leben. Nur in der Familie herrscht Verlass. Seien Sie erreichbar. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«
   Jetzt, als Anawak im Flugzeug saß, fragte er sich, ob Li überhaupt Familie besaß.
   Und er? Besaß er Familie?
   Absurd. Jemand, der möglicherweise keine Beziehung zu seiner Familie hatte, sang jemandem, der ebenso wenig eine hatte, das Hohelied der engeren Verwandtschaft.
   Sein Sitznachbar, ein Klimaforscher aus Massachusetts, begann leise zu schnarchen. Anawak stellte die Lehne seines Sitzes ein Stück nach hinten und sah aus dem Fenster. Er war seit Stunden mit sich und seinen Gedanken allein, und noch war er nicht sicher, ob es ihm gut tat. Eine Boeing der Canadian Airlines International hatte ihn von Vancouver zuerst zum Toronto Pearsons Airport geflogen, wo gelandete Maschinen in langen Reihen auf ihre Abfertigung warteten. Über Toronto war ein ungewöhnlich heftiges Gewitter niedergegangen und hatte den Flugbetrieb vorübergehend lahm gelegt. Anawak war es vorgekommen wie ein böses Omen. Voller Unruhe saß er in der Abfertigungshalle des Toronto Airport, während draußen eine Maschine nach der anderen an den ziehharmonikaförmigen Fingern festmachte, bis es mit zweistündiger Verspätung endlich weiterging nach Montreal.
   Von da an war alles glatt verlaufen. Er hatte in der Nähe des Dorval Airport ein Zimmer in einem Holiday Inn gebucht und früh wieder im Warteraum gesessen. Erste Anzeichen deuteten darauf hin, dass er in eine andere Welt übertrat. Eine Gruppe von Männern stand mit dampfenden Kaffeebechern am großen Panoramafenster. Sie trugen die Embleme von Ölfirmen auf ihren Overalls und schienen nur etwas Handgepäck mit sich zu führen. Zwei von ihnen hatten Gesichter wie Anawak. Breitflächig und dunkel, mit mongolisch geschnittenen Augen. Draußen verschwanden riesige, voll gepackte Paletten, festgezurrt mit Packnetzen, im Bauch der Canadian North Airlines Boeing 737, eine nach der anderen. Noch während sie von den Hebebühnen geschoben wurden, erging der Aufruf an die Passagiere. Sie überquerten das Flugfeld zu Fuß und betraten die Maschine über die Leiter unter dem Heck. Die Sitzreihen waren auf das vordere Drittel beschränkt, alles andere hatte dem Stauraum weichen müssen.
   Seit über zwei Stunden war Anawak nun wieder unterwegs. Von Zeit zu Zeit ruckelte es leicht. Den größten Teil der Strecke waren sie über dichte Wolkenfelder geflogen. Jetzt, kurz vor der Hudson Strait, schoben sich die aufgetürmten Massen auseinander und legten die schwarzbraune Tundralandschaft unter ihnen frei, bergig und zerklüftet, gefleckt von Schneefeldern und immer wieder durchbrochen von Seen, auf denen große Eisschollen trieben. Dann kam die Küste in Sicht. Die Hudson Strait schob sich unter sie, und Anawak spürte, wie er die letzte Grenze überschritt. Ein wildes Durcheinander von Gefühlen brach über ihn herein und riss ihn aus seiner Dösigkeit. In jedem Vorhaben gab es einen point of no return. Streng genommen war Montreal dieser Punkt gewesen, aber symbolisch war es die Hudson Strait. Jenseits der Wasserstraße begann die Welt, in die er nie wieder hatte zurückkehren wollen.
   Anawak war unterwegs in das Land seiner Geburt, in seine Heimat am Saum des Polarkreises, nach Nunavut.
   Er sah weiter hinaus und versuchte, jedes Denken auszuschalten. Nach einer weiteren halben Stunde überflogen sie wieder Land, dann eine gleißende, eisüberzogene Fläche, die Frobisher Bay im Südosten von Baffin Island. Die Maschine legte sich in eine Rechtskurve und ging schnell tiefer. Ein knallgelbes Gebäude mit einem gedrungenen Lotsenturm kam ins Bild. In die hügelige, dunkle Landschaft gekauert, wirkte es wie der menschliche Außenposten auf einem fremden Planeten, aber es war nur der Flughafen von Iqaluit, der »Schule der Fische«, Nunavuts Hauptstadt.
   Die Boeing setzte auf und rollte langsam aus.
   Anawak musste nicht lange auf die Gepäckausgabe warten. Er nahm seinen hoch gepackten Rucksack in Empfang und schlenderte durch die Abfertigungshalle. Eine Ausstellung warb für Inuit-Kunst mit Wandbehängen und Specksteinskulpturen. In der Mitte der Halle gewahrte er eine überlebensgroße Figur, kompakt, mit Stiefeln und traditioneller Kleidung angetan, eine flache Trommel mit der Rechten hoch über den Kopf erhoben, in der anderen Hand den Klöppel. Der steinerne Trommler hatte den Mund im Gesang weit geöffnet. Er strahlte Spannkraft und Selbstvertrauen aus. Anawak blieb einen Moment davor stehen und las die Inschrift unter der Skulptur: Wo immer Menschen aus der Arktis am besonderem Anlass zusammenkommen, finden Trommeltanz und Throat Singing statt. Dann trat er zum Abfertigungsschalter der First Air und gab seinen Rucksack nach Cape Dorset auf. Die Frau, die das Gepäck in Empfang nahm, erklärte ihm, die Maschine werde mit einstündiger Verspätung abfliegen.
   »Vielleicht haben Sie ja noch was in der Stadt zu erledigen«, sagte sie freundlich.
   Anawak zögerte. »Eigentlich nicht. Ich kenne die Stadt kaum.«
   Sie sah ihn einigermaßen erstaunt an. Offenbar wunderte es sie, dass jemand, der dem Äußeren nach ein Inuk war, die Hauptstadt nicht kannte. Dann lächelte sie wieder.
   »Iqaluit hat einiges zu bieten. Sie sollten sich die Zeit nehmen. Gehen Sie ins Nunatta-Sunaqutangit-Museum, das schaffen Sie locker. Es gibt dort eine schöne Ausstellung über traditionelle und zeitgenössische Kunst.«
   »Oh ja … natürlich.«
   »Oder ins Unikkaarvik-Besucherzentrum. Und machen Sie einen Abstecher zur anglikanischen Kirche. Sie sieht aus wie ein Iglu, die einzige Kirche der Welt, die aussieht wie ein Iglu!«
   Anawak betrachtete die Frau. Sie war eine Einheimische, klein, mit schwarzem Pony und Pferdeschwanz. Ihre Augen blitzten, als sich ihr Lächeln verbreiterte.
   »Ich hätte schwören können, Sie sind aus Iqaluit«, sagte sie.
   »Nein.« Einen Moment lang fühlte er sich versucht zu sagen, er stamme aus Cape Dorset, dann sagte er: »Vancouver. Ich komme aus Vancouver.«
   »Oh, ich liebe Vancouver!«, rief sie.
   Anawak sah sich um. Er fürchtete, den Verkehr aufzuhalten, aber offenbar war er der Einzige, der an diesem Tag weiterflog.
   »Sie waren schon mal dort?«
   »Nein, ich war noch nie so weit. Aber im Internet gibt es Bilder und jede Menge Informationen. Eine schöne Stadt.« Sie lachte. »Ein bisschen größer als Iqaluit, nicht wahr?«
   Er lächelte zurück. »Ja, ich denke schon.«
   »Oh, so klein sind wir allerdings auch nicht mehr. Iqaluit hat immerhin schon 6000 Einwohner. Und wir arbeiten dran. In wenigen Jahren werden wir so groß sein wie Vancouver. Haha! Na ja, fast so groß. Entschuldigen Sie.«
   Ein Ehepaar war hinter ihm aufgetaucht. Er war doch nicht allein auf seinem Weiterflug. Rasch verabschiedete er sich und ging nach draußen, bevor die Frau auf die Idee kam, ihm die Stadt zu zeigen.
   Iqaluit.
   Seine letzte Erinnerung lag so lange zurück. Einiges schien ihm vertraut, aber das meiste erkannte er nicht wieder. Die Wolken waren in Quebec geblieben, hier stand die Sonne an einem stahlblauen Himmel und sorgte für angenehme Temperaturen. Anawak schätzte, dass es nicht kälter als plus 10° Celsius war. Seine Daunenjacke über dem dicken Pullover war eindeutig zu warm. Er zog sie aus, band sie um die Hüften und stapfte die staubige Straße zum Ortszentrum entlang. Es herrschte erstaunlich viel Verkehr. Er konnte sich nicht erinnern, dass früher auch nur annähernd so viele Geländewagen und ATVs, kleine, mehrachsige Gefährte mit Motorradsitzen, unterwegs gewesen waren. Zu beiden Seiten der Straße lagen die typischen Holzhäuser der Arktis, wegen des Permafrostbodens auf niedrigen Pfählen gebaut. Alle Gebäude der Arktis wurden auf solchen Pfählen errichtet. Hätte man sie direkt auf den Untergrund gesetzt, wäre er durch die abgestrahlte Hitze aufgetaut und abgesackt.
   Je weiter Anawak voranschritt, desto stärker drängte sich ihm das Bild der Hand Gottes auf, wie sie eines Tages einen Haufen Bauwerke durcheinander geschüttelt und planlos verstreut hatte. Grellweiße, kubistisch anmutende Baukolosse ohne Fenster erhoben sich zwischen traditionellen, olivgrün oder rostrot gestrichenen Baracken. Die Schule sah aus wie ein gelandetes Ufo. Manche der Wohnhäuser leuchteten in kräftigem Petrol und Aquamarin. Ein Stück weiter stieß er auf das Commissioner’s House, eine Kreuzung aus gemütlicher Gartenvilla und Wohnkuppel für Astronauten. Ganz in der Nähe erhob sich ein elegantes, dreistöckiges Gebäude mit großen Fenstern und einem imposanten Eingang, das in jede Weltstadt gepasst hätte, sah man von den typischen Stelzen und den hoch führenden Treppen ab. Anawak versuchte, die Eindrücke nicht zu sehr an sich heranzulassen, aber seit es ihn halb tot aus einem versinkenden Flugzeug geschwemmt hatte, war ihm die Fähigkeit abhanden gekommen, sich mit Gleichgültigkeit zu betäuben. Die wilde architektonische Mischung vermittelte einen unbekümmerten, beinahe fröhlichen Eindruck, gegen den er tief sitzendes Misstrauen empfand, aber sie ließ ihn nicht unberührt.