Mit Höchstgeschwindigkeit flohen sie weiter nach Southampton.
 
Buckley Field, USA
 
   »Was um alles in der Welt ist das bloß?«
   Codys Finger rasten über die Tastatur. Er legte nacheinander verschiedene Filter über die Bilder, aber es war und blieb eine helle Masse, die mit großer Geschwindigkeit vom Meer landeinwärts strebte.
   »Sieht aus wie Brandung«, sagte er. »Wie eine Riesenscheißwelle.«
   »Wir haben keine Welle gesehen«, sagte Mike. »Da war keine Welle. Es müssen Tiere sein.«
   »Was denn für Scheißtiere, Mann?«
   »Es sind …« Mike starrte auf die Bilder. Er zeigte auf eine Stelle. »Da. Das da. Hol mir das näher ran. Mach mir einen Ausschnitt von einem Quadratmeter.«
   Cody schnitt die Stelle aus und vergrößerte sie. Das Resultat war eine Fläche heller und dunkler Quadrate. Mike kniff die Augen zusammen.
   »Noch näher.«
   Die Pixelquadrate wurden größer. Einige waren weiß, andere in Grautönen abgestuft.
   »Erklär mich für verrückt«, sagte Mike langsam. »Aber es könnten …« War das möglich? Aber was sonst sollte es sein? Was sonst kam aus dem Meer und bewegte sich so schnell? »Scheren«, sagte er. »Es könnten Panzer mit Scheren sein.«
   Cody starrte ihn an. »Scheren?«
   »Krebse.«
   Cody öffnete den Mund. Dann befahl er dem Satelliten, den weiteren Küstenverlauf abzusuchen.
   Der KH-12-4 arbeitete sich von Montauk nach East Hampton hoch, dann weiter nach Southampton bis Mastic Beach und Patchogue. Mit jedem neuen Bild, das die Sonde schoss, wurde Mike unheimlicher.
   »Das ist ja wohl nicht wahr«, sagte er.
   »Nicht wahr?« Cody sah ihn an. »Es ist scheißwahr! Irgendwas kommt da unten aus dem Meer. Auf der gesamten Küstenlänge von Long Island kommt irgendetwas aus dem Scheißmeer. Willst du jetzt immer noch gerne in Montauk sein?«
   Mike fuhr sich über die Augen.
   Er griff nach dem Telefonhörer, um die Zentrale anzurufen.
 
Greater New York, USA
 
   Kurz hinter Montauk ging die Landstraße 27 in den Long Island Expressway 495 über. Er führte auf direktem Wege nach Queens. Von Montauk bis New York waren es rund zweihundert Kilometer, und je näher man der Metropole kam, desto belebter wurde es. Auf halber Strecke hinter Patchogue nahm der Verkehr stark zu.
   Bo Henson fuhr für seinen eigenen privaten Kurierdienst. Er legte die Long-Island-Strecke zweimal am Tag zurück. In Patchogue hatte er einige Pakete vom dortigen Flughafen abgeholt und im Umkreis abgeliefert. Jetzt war er auf dem Weg zurück in die Stadt. Es war spät geworden, aber um Unternehmen wie FedEx Konkurrenz zu machen, durfte man nicht zimperlich sein, was Arbeitszeiten anging. Für heute sah Henson dem Ende entgegen. Alles war erledigt, sogar früher als gedacht. Er war müde und freute sich auf ein Bier.
   In der Höhe von Amityville, rund 40 Kilometer vor Queens, geriet vor ihm ein Wagen ins Schleudern.
   Henson bremste scharf ab. Der Wagen fing sich wieder, fuhr langsamer und schaltete die Warnblinkanlage ein. Etwas bedeckte die Straße auf großer Fläche. Im ersten Moment konnte Henson im Dämmerlicht nicht erkennen, was es war, nur dass es sich bewegte und von links aus den Büschen kam. Dann sah er, dass der Highway von Krebsen überrannt wurde. Von kleinen, schneeweißen Krebsen. Dicht an dicht versuchten sie, die Straße zu überqueren, aber es war ein aussichtsloses Unterfangen. Matschige Spuren und zersplitterte Panzer zeigten an, wie viele von ihnen den Versuch bereits mit ihrem Leben bezahlt hatten.
   Der Verkehr schlich dahin. Das Zeug war wie Seife. Henson fluchte. Er fragte sich, wo die Viecher plötzlich herkamen. In einer Zeitschrift hatte er gelesen, dass die Landkrebse auf Christmas Island einmal im Jahr zur Fortpflanzung aus den Bergen zum Meer marschierten. An die 100 Millionen Krabben waren dann unterwegs. Aber Christmas Island lag im Indischen Ozean, und auf den Bildern waren große, knallrote Tiere abgebildet gewesen, nicht so ein weißes Gewimmel wie hier.
   Etwas Derartiges hatte Henson noch nie gesehen.
   Immer noch fluchend schaltete er das Radio ein. Nach einigem Suchen fand er einen Countrysender, lehnte sich zurück und ergab sich in sein Schicksal. Dolly Parton tat ihr Bestes, um ihn mit der Situation zu versöhnen, aber Hensons Laune war ruiniert. Es dauerte zehn Minuten, dann kamen Nachrichten, doch die Krabbeninvasion wurde mit keinem Wort erwähnt. Dafür bahnte sich plötzlich ein Schneepflug seinen Weg zwischen den dahinzuckelnden Autos und versuchte, das krabbelnde Zeug von der Straße zu entfernen. Der Effekt war eine völlige Blockade. Eine Zeit lang bewegte sich überhaupt nichts mehr. Henson schaltete zwischen allen möglichen lokalen Sendern hin und her, ohne dass jemand eine entsprechende Meldung brachte, und das machte ihn fuchsteufelswild, weil er sich in seiner Misere auch noch ignoriert fühlte. Die Klimaanlage blies einen ungesunden Geruch ins Innere, sodass er sie schließlich ausschaltete.
   Hinter der Kreuzung, die links nach Hempstead und rechts nach Long Beach führte, ging es dann endlich wieder zügiger voran. Offenbar waren die Tiere bis hierher nicht gekommen. Henson trat aufs Gas und erreichte Queens über eine Stunde später, als er gehofft hatte. Er war stocksauer. Kurz vor dem East River bog er links ab und überquerte den Newton Creek, um zu seiner Stammkneipe in Brooklyn-Greenpoint zu fahren. Er stellte den Transporter ab, stieg aus und bekam fast einen Schlag, als er den Zustand seines Fahrzeugs sah. Reifen, Radkästen und die Seiten bis hinauf zu den Fenstern waren mit Krabbenmatsch verschmiert. Ein schrecklicher Anblick, und er musste am kommenden Morgen früh wieder auf der Straße sein. So konnte er unmöglich ausliefern.
   Spät war es ohnehin. Henson zuckte die Achseln. Jetzt konnte das Bier auch noch so lange warten, bis er den Transporter im nahe gelegenen 24-Hours-Carwash abgegeben hatte. Er stieg wieder ein, fuhr drei Straßen weiter zur Waschanlage und schärfte dem Personal ein, die Felgen gesondert abzuspritzen, um auch ja den letzten Rest der Schweinerei zu entfernen. Dann sagte er ihnen, wo sie ihn finden könnten, und ging zu Fuß in seine Kneipe, um endlich sein Bier zu trinken.
   Der 24-Stunden-Service war dafür bekannt, seine Arbeit gewissenhaft und gründlich zu verrichten. Der schmierige Belag auf Hensons Transporter erwies sich als hartnäckig, aber nachdem er längere Zeit dem heißen Hochdruckdampfstrahl ausgesetzt war, floss er schließlich ab. Der Junge, der den Dampfstrahler hielt, hatte den Eindruck, dass die Brocken regelrecht dahinschmolzen. Wie Götterspeise in der Sonne, dachte er.
   Alles strebte den Abflüssen zu.
   New York verfügte über ein einzigartiges Kanalisationssystem. Während Straßen— und Zugtunnel den East River in rund 30 Metern Tiefe unterquerten, reichten die Rohrsysteme für Abwasser und Trinkwasser bis in Tiefen von 240 Metern. Immer neue Kanäle trieben die Tunnelbauer mit Hilfe gewaltiger Bohrköpfe durch den Untergrund, damit die Wasserver— und -entsorgung der Riesenstadt nicht ins Stocken geriet. Neben den intakten Rohrleitungssystemen gab es zudem eine Reihe alter Tunnel, die nicht mehr in Betrieb waren. Experten behaupteten, dass mittlerweile niemand mehr zu sagen vermochte, wo im New Yorker Untergrund überall Kanäle verlegt waren. Es gab keine Karte, die das gesamte Netz abbildete. Manche der Tunnel waren nur bestimmten Gruppen von Obdachlosen bekannt, die ihr Geheimnis für sich behielten. Andere hatten Filmemacher zu Monster Movies inspiriert, in denen sie als Brutstätte allerlei monströser Kreaturen dienten. Fest stand, dass in der New Yorker Kanalisation alles, was hineingeleitet wurde, in gewisser Weise verloren ging.
   An diesem Abend und in den darauf folgenden Tagen wurden in Brooklyn und Queens, auf Staten Island und in Manhattan eine Menge Autos gewaschen, die von Long Island hergekommen waren. Viel Abwasser floss in die Eingeweide der Metropole, verteilte sich dann, vereinte sich mit anderen Abwässern, wurde in Wiederaufbereitungsanlagen gepumpt und zurück in die Wasserverteiler geleitet. Schon wenige Stunden, nachdem der 24-Stunden-Service Hensons Transporter blitzblank abgeliefert hatte, war alles untrennbar miteinander vermischt.
   Keine sechs Stunden später rasten die ersten Notarztwagen durch die Straßen.
 

11. Mai

Chateau Whistler, Kanada
 
   Mit Veränderungen konnte man sich arrangieren.
 
   Er zumindest konnte es. Sosehr es ihn schmerzte, sein Haus verloren zu haben, konnte er damit leben. Das Ende seiner Ehe war ein Anfang gewesen. Der Umzug nach Trondheim, die immer neuen Beziehungen, die unterm Strich eine Beziehungslosigkeit ergaben, kaum etwas davon war ihm je wirklich nahe gegangen. Was nicht Johansons Verständnis von Sinnlichkeit, Wohlklang und Geschmack entsprochen hatte, war dem Kehrichthaufen der Geschichte überantwortet worden. Man teilte die Oberfläche mit anderen und hatte die Tiefe für sich. So ließ es sich leben.
   Jetzt, in den frühen Morgenstunden, holte ihn der weniger wohlklingende Teil seiner Vergangenheit ein. Nachdem er das linke Auge mehr aus Zufall geöffnet hatte, lag er eine Weile da, betrachtete die Welt aus seiner zyklopischen Perspektive und dachte an die Menschen in seinem Leben, die an Veränderungen gescheitert waren.
   Seine Frau.
   Man lernte, dass einem das eigene Leben selbst gehörte, dass man Einfluss darauf hatte. Aber als er gegangen war, hatte sie erkennen müssen, dass ihr nichts gehörte und dass Selbstbestimmung pure Illusion war. Sie hatte argumentiert, gefleht, geschrien, Verständnis gezeigt, geduldig zugehört und Rücksicht erbeten, alle Register gezogen, um am Ende doch zurückzubleiben, machtlos, entmachtet, rausgeworfen aus dem gemeinsamen Leben wie aus einem fahrenden Zug. Aller Kraft beraubt hatte sie aufgehört zu glauben, dass Anstrengung etwas bewirkt. Sie hatte verloren. Das Leben war ein Glücksspiel.
   Wenn du mich nicht mehr liebst, hatte sie gesagt, warum kannst du dann nicht wenigstens so tun?
   Würde es dir dann besser gehen?, hatte er gefragt.
   Nein, war ihre Antwort gewesen. Es wäre mir besser gegangen, wenn du gar nicht erst damit angefangen hättest, mich zu lieben.
   Machte man sich schuldig, wenn man plötzlich anders fühlte? Gefühle lagen jenseits von Schuld oder Unschuld, sie waren Ausdruck biochemischer Prozesse als Folge erlittener Umstände, so unromantisch das auch klingen mochte, aber die Endorphine hatten noch über jede Romantik triumphiert. Also worin lag die Schuld? Falsche Versprechungen gemacht zu haben?
   Johanson öffnete das andere Auge.
   Für ihn war Veränderung immer Lebenselixier gewesen. Für sie Lebensentzug. Nach Jahren — er lebte mittlerweile in Trondheim — erzählte man ihm, es sei ihr endlich gelungen, die Ohnmacht abzuschütteln. Sie habe wieder begonnen, Einfluss auf sich zu nehmen. Schließlich hörte er, es gäbe einen neuen Mann in ihrem Leben. Danach hatten sie einige Male telefoniert, ohne Groll auf— oder Verlangen nacheinander. Die Bitterkeit war an sich selber zugrunde gegangen, der Druck von ihm genommen.
   Doch er war zurückgekehrt.
   Jetzt hieß er Tina Lund, und sie verfolgte ihn mit ihrem schönen, blassen Gesicht. Seitdem spielte er alle Varianten durch, immer wieder aufs Neue. Dazu gehörte, dass sie am See doch miteinander geschlafen hätten. Alles wäre anders gekommen. Sie hätten mehr Zeit miteinander verbracht.
   Vielleicht, dass sie mit ihm auf die Shetlands geflogen wäre. Ebenso gut hätte es alles zerstören können, und er wäre der Letzte gewesen, von dem sie Ratschläge angenommen hätte. Den Ratschlag zum Beispiel, nach Sveggesundet zu fahren. So oder so würde sie noch leben.
   Immer wieder sagte er sich, dass es Irrsinn war, so zu denken. Immer wieder dachte er so.
   Frühes Sonnenlicht fiel ins Zimmer. Er hatte die Vorhänge offen gelassen, wie er es immer tat. Verhängte Schlafzimmer waren wie Gruften. Er überlegte, ob er aufstehen und frühstücken sollte, aber eigentlich hatte er keine Lust, sich überhaupt zu bewegen. Lunds Tod erfüllte ihn mit Traurigkeit. Er war nicht verliebt gewesen, aber auf unbestimmte Weise hatte er sie doch geliebt, ihre ruhelose Art, ihren Drang nach Freiheit. Darin hatten sie sich gefunden. Und verloren, weil es widersinnig war, Freiheit und Freiheit aneinander zu ketten. Vielleicht waren sie auch beide nur zu feige gewesen.
   Was nützte das jetzt?
   Auch ich werde irgendwann tot sein, dachte er. Seit Lund in der Welle umgekommen war, dachte er oft an den Tod. Nie hatte er sich alt gefühlt. Jetzt war es mitunter, als habe ihm die Vorsehung einen Prägestempel aufgedrückt, ein Mindesthaltbarkeitsdatum wie einem Becher Joghurt, und jemand schien ihn zu betrachten und zurück ins Regal zu stellen, weil er kurz davor stand abzulaufen. Er war 56 Jahre alt, in bemerkenswert guter Verfassung, der Statistik unfall— und krankheitsbedingter Todesfälle bislang von der Schippe gesprungen. Sogar einen heranrasenden Tsunami hatte er überlebt. Dennoch konnte kein Zweifel daran bestehen, dass seine Zeit ablief. Der größte Teil des Lebens lag unwiederbringlich hinter ihm. Und er fragte sich plötzlich, ob er es richtig gelebt hatte.
   Zwei Frauen in diesem Leben hatten ihm vertraut, und beide hatte er nicht schützen können. Die eine war vorübergehend gestorben, die andere für immer.
   Karen Weaver lebte.
   Sie erinnerte ihn an Lund. Weniger hektisch, verschlossen, von schwererem Gemüt. Dafür ebenso stark, zäh und ungeduldig. Nachdem sie der Riesenwelle entkommen waren, hatte er ihr seine Theorie unterbreitet und sie ihn im Gegenzug mit der Arbeit von Lukas Bauer vertraut gemacht. Schließlich war er zurück nach Norwegen geflogen, um sich auf der Obdachlosenliste wieder zu finden, aber die Gebäude der NTNU standen noch. Man überhäufte ihn mit Arbeit, bis ihn der Ruf aus Kanada ereilte, und er schaffte es nicht mehr hinaus zum See. Er schlug vor, Weaver mit ins Team zu nehmen, weil sie mehr als jeder andere über Bauers Arbeit wusste und in der Lage war, sie weiterzuentwickeln, aber insgeheim hatte er andere Gründe. Ohne den Helikopter hätte sie die Welle kaum überlebt. Insofern hatte er sie gerettet. Weaver erteilte ihm Absolution für sein Versagen bei Lund, und er war entschlossen, sich dessen würdig zu erweisen. Künftig würde er auf sie Acht geben, und dafür war es gut, sie in der Nähe zu wissen.
   Die Vergangenheit verblasste im Sonnenlicht. Er stand auf, ging duschen und erschien um 6.30 Uhr am Büffet, um festzustellen, dass er nicht der einzige Frühaufsteher war. In dem geräumigen Saal tranken Soldaten und Geheimdienstler Kaffee, aßen Obst und Müsli und führten gedämpfte Unterhaltungen. Johanson häufte sich einen Teller voll Rührei mit Speck und suchte nach einem Gesicht, das er kannte. Er hätte gerne mit Bohrmann gefrühstückt, aber der war nirgendwo zu finden. Stattdessen sah er General Commander Judith Li allein an einem Zweiertisch sitzen. Sie blätterte in einem Schnellhefter und pickte von Zeit zu Zeit ein Stück Obst aus einer Schale, das sie in den Mund schob, ohne es anzusehen.
   Johanson betrachtete sie. Li faszinierte ihn auf unbestimmte Weise. Er schätzte, dass sie jünger aussah, als sie war. Mit etwas Make-up und entsprechend gekleidet hätte sie den Mittelpunkt jeder Party abgegeben. Er fragte sich, was man unternehmen musste, um mit ihr ins Bett zu gehen, aber wahrscheinlich unternahm man besser gar nichts. Li sah nicht aus wie jemand, der anderen die Initiative überließ. Außerdem, eine Affäre mit einem General Commander der US-Streitkräfte, das ging nun wirklich zu weit.
   Li hob den Kopf.
   »Guten Morgen, Dr. Johanson«, rief sie. »Gut geschlafen?«
   »Wie ein Baby.« Er trat an ihren Tisch. »Was ist los, warum frühstücken Sie alleine? Die Einsamkeit des Vorgesetzten?«
   »Nein, ich wälze Probleme.« Sie lächelte und sah ihn aus ihren wasserblauen Augen an. »Leisten Sie mir Gesellschaft, Doktor. Ich hab gerne Leute um mich, die sich ihre eigenen Gedanken machen.«
   Johanson setzte sich. »Wie kommen Sie darauf, dass ich das tue?«
   »Es ist offensichtlich.« Li legte die Unterlagen aus der Hand. »Kaffee?«
   »Gerne.«
   »Sie haben sich gestern auf der Veranstaltung geoutet. Keiner der anwesenden Wissenschaftler hat bislang mehr gesehen als seinen ureigenen Bereich. Shankar brütet über Tiefseegeräuschen, die er nicht einordnen kann, Anawak fragt sich, was mit seinen Walen los ist, wenngleich ich ihm zugute halten muss, dass er noch am ehesten über den Tellerrand hinausdenkt. Bohrmann sieht die Gefahren eines Methan-GAUs und versucht, mit Bekannten und Unbekannten zu jonglieren, um eine zweite Rutschung zu verhindern. Und so weiter und so fort.«
   »Das ist doch eine ganze Menge.«
   »Aber keiner von denen hat eine Theorie entwickelt, wie alles miteinander in Zusammenhang steht.«
   »Das wissen wir ja nun«, sagte Johanson gleichmütig.
   »Es sind arabische Terroristen.«
   »Und glauben Sie das auch?«
   »Nein.«
   »Was also glauben Sie?«
   »Ich glaube, dass ich noch ein bis zwei Tage brauche, bevor ich es Ihnen sagen werde.«
   »Sie sind sich nicht sicher?«
   »Fast.« Johanson nippte an seinem Kaffee. »Aber das ist ein heikles Thema. Ihr Mr. Vanderbilt hat sich auf Terrorismus eingeschossen. Ich will Rückendeckung, bevor ich meine Vermutungen äußere.«
   »Und wer soll Ihnen die geben?«, fragte Li.
   Johanson stellte die Kaffeetasse ab.
   »Sie, General.«
   Li wirkte nicht sonderlich überrascht. Sie schwieg einen Moment lang, dann sagte sie: »Wenn Sie mich von irgendetwas überzeugen wollen, sollte ich vielleicht wissen, was es ist.«
   »Ja.« Johanson lächelte. »Beizeiten.«
   Li schob ihm den Schnellhefter hinüber. Johanson sah, dass er mehrere Faxausdrucke enthielt. »Vielleicht beschleunigt das Ihre Entscheidung, Doktor. Das kam heute früh um fünf. Wir haben noch keinen Überblick, und niemand kann verlässlich sagen, was da eigentlich geschieht, aber ich habe beschlossen, dass wir im Verlauf der nächsten Stunden den Ausnahmezustand über New York und die angrenzenden Gebiete verhängen werden. Peak ist bereits dort, um alles in die Wege zu leiten.«
   Johanson starrte auf den Schnellhefter. Das Bild einer weiteren Flutwelle suchte ihn heim.
   »Warum?«
   »Was würden Sie sagen, wenn entlang der Küste von Long Island Milliarden weißer Krebse dem Meer entstiegen?«
   »Ich würde sagen, sie machen einen Betriebsausflug.«
   »Schöne Idee. Für welchen Betrieb?«
   »Was ist mit diesen Krebsen?«, fragte Johanson, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Was tun sie?«
   »Wir sind uns nicht sicher. Aber ich schätze, sie tun etwas Ähnliches wie die bretonischen Hummer in Europa. Sie schleppen eine Seuche ein. Wie passt das in Ihre Theorie, Doktor?«
   Johanson überlegte. Dann sagte er: »Gibt es irgendwo hier oder im Umkreis ein hermetisch abgeschlossenes Labor, in dem man die Tiere untersuchen kann?«
   »Wir haben so was eingerichtet. In Nanaimo. Exemplare der Krebse sind auf dem Weg hierher.«
   »Lebende Exemplare?«
   »Ich weiß nicht, ob sie noch leben. Mein letzter Wissensstand ist, dass sie lebendig waren, als sie eingefangen wurden. Dafür sind mehrere Leute tot. Toxischer Schock. Dieses Gift scheint schneller zu wirken als das der Algen in Europa.«
   Johanson schwieg einen Moment. »Ich fliege hin«, sagte er. »Nach Nanaimo?« Li nickte befriedigt. »Gute Idee. Und wann werden Sie mir sagen, was Sie denken?«
   »Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden.«
   Li schürzte die Lippen und dachte einen Moment nach. »Vierundzwanzig Stunden«, sagte sie. »Keine Minute länger.«
 
Nanaimo, Vancouver Island
 
   Anawak saß mit Fenwick, Ford und Oliviera im großen Vorführraum des Instituts. Der Beamer projizierte dreidimensionale Modelle von Walgehirnen. Oliviera hatte sie im Computer angelegt und die Stellen markiert, an denen sie auf Gallerte gestoßen waren. Man konnte um die Hirne herumfahren und sie mit einer virtuellen Klinge der Länge nach in Scheiben schneiden. Drei Simulationen hatten sie bereits durchgespielt. Die vierte zeigte, wie sich die Substanz zwischen den Hirnwindungen in feinste Ausläufer verzweigte, die stellenweise ins Innere eindrangen.
   »Die Theorie ist folgende«, sagte Anawak mit Blick auf Oliviera. »Nimm an, du bist eine Küchenschabe …«
   »Danke, Leon.« Oliviera hob die Brauen, was ihr Pferdegesicht noch länger erscheinen ließ. »Du verstehst es wahrhaftig, einer Frau zu schmeicheln.«
   »Eine Küchenschabe ohne Intelligenz und Kreativität.«
   »Mach ruhig weiter so.«
   Fenwick lachte und rieb sich den Nasenrücken.
   »Du bist ausschließlich von Reflexen gesteuert«, fuhr Anawak ungerührt fort. »Für einen Neurophysiologen ein Kinderspiel, dich zu steuern. Er muss nichts anderes tun, als deine Reflexe zu kontrollieren und sie auf Wunsch auszulösen. Wie bei einer Prothese. Hauptsache, er weiß, wo bei dir die Knöpfe sitzen.«
   »Haben sie nicht irgendwann mal eine Schabe geköpft und ihr den Kopf einer anderen aufgepflanzt«, fragte Ford, »und das Vieh ist gelaufen?«
   »So ungefähr. Sie haben die eine Kakerlake geköpft und die andere ihrer Beine beraubt. Dann haben sie die zentralen Nervensysteme der Körper miteinander verbunden. Die Kakerlake mit Kopf übernahm die Steuerung des Laufapparats, als hätte sie nie einen anderen besessen. Genau das ist es, was ich meine. Simple Geschöpfe, simple Vorgänge. In einem anderen Experiment hat man etwas Ähnliches mit Mäusen versucht. Man transplantierte einer Maus einen zweiten Kopf. Sie lebte erstaunlich lange, ein paar Stunden oder Tage, glaube ich, und beide Köpfe schienen normal zu funktionieren, aber in der Steuerung wurde es natürlich kompliziert. Die Maus lief, aber sie lief offenbar nicht immer dorthin, wo sie hatte hinlaufen wollen, und meistens fiel sie nach ein paar Schritten um.«
   »Widerlich«, murmelte Oliviera.
   »Das heißt, steuern lässt sich im Grunde jedes Lebewesen. Nur, je komplexer es ist, desto größer werden die Schwierigkeiten. Wenn du jetzt den Aspekt der bewussten Wahrnehmung hinzunimmst, Intelligenz und kreatives, ichbezogenes Denken, wird es schon verdammt schwer, jemandem deinen Willen aufzuzwingen. Also was machst du?«
   »Ich versuche, seinen Willen zu brechen und ihn wieder auf eine Küchenschabe zu reduzieren. Bei Männern funktioniert das, indem man sich ohne Höschen vor ihnen bückt.« »Richtig.« Anawak grinste. »Weil nämlich Menschen und Küchenschaben gar nicht so weit auseinander liegen.«
   »Einige Menschen«, bemerkte Oliviera.
   »Alle Menschen. Wir sind zwar stolz auf unseren freien Geist, aber der ist nur so lange frei, bis du auf bestimmte Knöpfe drückst. Zum Beispiel aufs Schmerzzentrum.«
   »Was bedeutet, dass derjenige, der die Gallerte entwickelt hat, sehr genau wissen muss, wie das Hirn eines Wals aufgebaut ist«, sagte Fenwick. »Ich meine, davon gehen Sie doch aus, oder? Das Zeug stimuliert Zentren im Gehirn.«
   »Ja.«
   »Aber dazu muss es wissen, welche.«
   »So was lässt sich rausfinden«, sagte Oliviera zu Fenwick. »Denk an die Arbeit von John Lilly.«
   »Sehr gut, Sue!« Anawak nickte. »Lilly war der Erste, der Elektroden in Tiergehirne implantierte, um Schmerz— und Lustzonen zu reizen. Er hat bewiesen, dass man Tieren durch gezielte Manipulation der Hirnbereiche Freude und Wohlbefinden oder Schmerz, Wut und Angst suggerieren kann. Bei Affen, wohlgemerkt. Affen kommen Walen und Delphinen am nächsten, was Komplexität und Intelligenz betrifft, aber es funktionierte. Er konnte die Tiere mit Hilfe von Elektroden vollkommen kontrollieren, indem er gezielt Reize für Bestrafung und Belohnung auslöste. — Und er war schon in den Sechzigern so weit!«
   »Trotzdem, Fenwick hat Recht«, sagte Ford. »Alles gut und richtig, wenn du deinen Affen auf den OP-Tisch legen und an ihm rumfuhrwerken kannst. Aber die Gallerte muss durchs Ohr oder durch den Kiefer eingedrungen sein. Sie hat dabei auf alle Fälle ihre Form verändern müssen. Selbst wenn du so ein Zeug in einen Walschädel bekommst — wie stellst du sicher, dass es sich dort in gewünschter Weise verteilt und auf die … na ja, die richtigen Knöpfe drückt?«
   Anawak zuckte die Schultern. Er war fest davon überzeugt, dass die Substanz in den Köpfen der Wale genau das tat, aber natürlich hatte er nicht die geringste Ahnung, wie sie es tat.
   »Vielleicht musst du ja gar nicht so viele Knöpfe drücken«, erwiderte er nach einer Weile. »Vielleicht reicht es, wenn …«
   Die Tür öffnete sich.
   »Dr. Oliviera?« Einer der Laborassistenten steckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie die Störung, aber Sie werden im Hochsicherheitstrakt verlangt. Umgehend.«
   Oliviera sah sie der Reihe nach an.
   »So was hatten wir bis vor wenigen Wochen noch gar nicht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Man konnte gepflegt beieinander sitzen und sich ungestört über allen möglichen Blödsinn austauschen. Jetzt kommt man sich vor wie in einem James-Bond-Film. Alarm, Alarm! Dr. Oliviera bitte in den Hochsicherheitstrakt! Puh!«
   Sie erhob sich und klatschte in die Hände.
   »Na dann — vamos, muchachos. Will mich einer begleiten? Ohne mich kommt ihr ja ohnehin keinen Schritt weiter.«
 
Hochsicherheitslabor
 
   Johansons Helikopter landete neben dem Institut, kurz nachdem die Krebse dort eingetroffen waren. Ein Assistent brachte ihn zu den Fahrstühlen. Zwei Stockwerke tiefer stiegen sie aus und folgten einem kahlen, neonbeleuchteten Gang. Der Assistent öffnete eine schwere Tür, und sie betraten einen mit Monitoren bestückten Raum. Einzig ein Biohazard-Warnschild über einer Stahltür wies darauf hin, dass dahinter der Tod lauerte. Johanson sah Wissenschaftler und Sicherheitspersonal. Er erkannte Roche, Anawak und Ford, die sich leise miteinander unterhielten. Oliviera und Fenwick waren im Gespräch mit Rubin und Vanderbilt. Als Rubin Johanson erblickte, kam er herüber und schüttelte ihm die Hand.
   »Man kommt nicht zur Ruhe, was?« Er lachte gehetzt.
   »Nein.« Johanson sah sich um.
   »Wir hatten bis jetzt wenig Gelegenheit, uns auszutauschen«, sagte Rubin. »Sie müssen mir unbedingt alles über diese Würmer erzählen. Ich meine, es ist schrecklich, dass man sich unter derartigen Umständen kennen lernen muss, aber irgendwie ist das alles ja auch verdammt spannend … Haben Sie die aktuellen Meldungen gehört?«
   »Ich schätze, darum bin ich hier.«
   Rubin deutete auf die Stahltür. »Kaum zu glauben, was? Bis vor kurzem waren hier Lagerräume, aber die Armee hat in kürzester Zeit ein hermetisch abgeriegeltes Labor eingerichtet. Klingt provisorisch, aber sie müssen nichts befürchten. Der Sicherheitsstandard entspricht in allem L4. Wir können die Tiere gefahrlos untersuchen.«
   L4 war die höchste Sicherheitsstufe für Laboratorien.
   »Sie gehen mit rein?«, fragte Johanson.
   »Ich und Dr. Oliviera.«
   »Ich dachte, Roche ist der Experte für Schalentiere.«
   »Hier ist jeder Experte für alles.« Vanderbilt und Oliviera waren hinzugetreten. Der CIA-Mann roch leicht nach Schweiß. Er schlug Johanson leutselig auf die Schulter. »Unser Haufen neunmalkluger Eierköpfe wurde so ausgewählt, dass sich Spezialistenwissen aller Coleur zu einer Art Pizza zusammenfindet. Außerdem hat Li irgendeinen Narren an Ihnen gefressen. Ich wette, sie würde am liebsten Tag und Nacht mit Ihnen verbringen, um rauszukriegen, was Sie denken.« Er lachte breit. »Oder will Sie was anderes? Weiß man’s?«
   Johanson lächelte kühl zurück. »Warum fragen Sie sie nicht?«
   »Das habe ich schon«, sagte Vanderbilt gleichmütig. »Ich fürchte, mein Freund, Sie müssen sich mit dem Gedanken arrangieren, dass sie tatsächlich nur an Ihrem Kopf interessiert ist. Ich kenne Li. Sie ist der Meinung, dass Sie irgendetwas wissen.«
   »So? Was denn?«
   »Verraten Sie’s mir.«
   »Ich weiß gar nichts.«
   Vanderbilt betrachtete ihn abschätzend. »Keine flotte Theorie?«
   »Ich fand Ihre Theorie eigentlich flott genug.«
   »Ist sie auch, solange keine bessere auftaucht. Wenn Sie gleich da reingehen, Doktor, denken Sie an etwas, das wir in Amerika Golfkriegssyndrom nennen. 1991 in Kuwait hat die amerikanische Armee ihre Verluste sehr gering gehalten, aber später erkrankte rund ein Viertel aller Soldaten, die dort im Einsatz waren, an rätselhaften Beschwerden. Im Nachhinein erscheinen sie wie eine sehr stark abgemilderte Form dessen, was Pfiesteria und Konsorten auslösen. Gedächtnisschwund, Konzentrationsprobleme, Schädigungen innerer Organe. Wir vermuten, dass die Leute mit was Chemischem Kontakt hatten — sie waren in der Nähe, als irakische Waffendepots gesprengt wurden. Damals tippten wir auf Sarin, aber vielleicht hatten die Iraker auch einen biologischen Erreger in Arbeit. Über Pathogene verfügt die halbe islamische Welt. Es ist kein Problem, harmlose Bakterien oder Viren durch genetische Manipulation in kleine Killer zu verwandeln.«
   »Und Sie meinen, damit haben wir es hier zu tun?«
   »Ich meine, Sie wären gut beraten, Tante Li ins Boot zu holen.« Vanderbilt zwinkerte ihm zu. »Unter uns, sie ist ein bisschen verrückt. Capisce? Verrückten sollte man ihren Willen lassen.«
   »Ich kann nichts Verrücktes an ihr finden.«
   »Ihr Problem. Ich habe Sie gewarnt.«
   »Mein Problem ist, dass wir immer noch zu wenig wissen«, sagte Oliviera und zeigte zur Tür. »Gehen wir rein und machen unsere Arbeit. Roche ist selbstverständlich mit dabei.«
   »Und ich? Brauchen Sie keinen Leibwächter?«, grinste Vanderbilt. »Ich würde mich anbieten.«
   »Sehr freundlich, Jack.« Sie musterte ihn. »Leider sind die Anzüge in Ihrer Größe gerade alle ausgegangen.«
   Sie traten zu viert durch die Stahltür in den ersten von drei Schleusenräumen. Das System war so konzipiert, dass sich die Schleusen wechselseitig verriegelten. Eine Kamera lugte aus der Decke. An einem Bord hingen vier knallgelbe Schutzanzüge mit transparenten Kapuzen, Handschuhen und schwarzen Stiefeln.
   »Sind Sie alle mit der Arbeit in einem Hochsicherheitslabor vertraut?«, fragte Oliviera.
   Roche und Rubin nickten.
   »Theoretisch«, gab Johanson zu.
   »Kein Problem. Normalerweise müssten wir Sie schulen, aber dafür reicht die Zeit nicht aus. Der Anzug ist ein Drittel Ihrer Lebensversicherung. Um den müssen Sie sich keine Sorgen machen. Er besteht aus verschweißtem PVC. Die anderen beiden Drittel sind Vorsicht und Konzentration. Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Anlegen.«
   Das Ding war sperrig. Johanson schlüpfte in eine Art Weste, deren Zweck darin bestand, die zugeführte Luft gleichmäßig im Anzug zu verteilen. Er quälte sich in den gelben Überzug und lauschte dabei ergeben Olivieras Erklärungen:
   »Sobald Sie drinstecken, schließen wir Sie an ein Schlauchsystem an und blasen Ihren Anzug mit Atemluft auf. Die Luft wird entfeuchtet, temperiert und über Kohlefilter so hineingeleitet, dass im Innern Überdruck entsteht. Das ist wichtig, damit sie von Ihnen wegströmen kann. Überschüsse gelangen durch ein Ventil nach draußen. Wenn Sie wollen, können Sie die Zufuhr selber regulieren, aber das wird nicht nötig sein. — Alles klar? Wie fühlen Sie sich?«
   Johanson sah an sich hinunter.
   »Wie ein Marshmallowmann.«
   Oliviera lachte. Sie betraten die erste Schleuse. Johanson hörte Oliviera gedämpft weitersprechen und registrierte, dass sie jetzt über Funk miteinander verbunden waren: »Im Labor herrscht ein Unterdruck von -50 Pascal. Keine Spore kommt da raus. Bei Stromausfall haben wir immer noch das Notstromaggregat, es ist also kaum anzunehmen, dass es Probleme gibt. Der Fußboden besteht aus versiegeltem Beton, die Fenster sind aus Panzerglas. Alle Luft im Innern des Labors wird durch Hochleistungsfilter steril gehalten. Es gibt keine Abflüsse hier, Abwässer sterilisieren wir gleich im Gebäude. Mit der Außenwelt kommunizieren wir entweder über Funk oder per Fax und PC. Alle Kühltruhen, Zu— und Abluftmechanismen sind über Alarm gesichert, der gleichzeitig im Kontrollraum, in der Virologie und beim Pförtner aufläuft. Jeder Winkel wird videoüberwacht.«
   »So ist es«, erklang Vanderbilts Stimme im Lautsprecher. »Wenn also einer von Ihnen umfällt und stirbt, gibt’s ein schönes Erinnerungsvideo für die Enkel.«
   Johanson sah, wie Oliviera die Augen verdrehte. Sie passierten nacheinander die drei Schleusen und betraten das Labor. In ihren Anzügen, angeschlossen an die Schläuche, sahen sie aus, als wollten sie den Mars betreten. Der Raum war schätzungsweise 30 Quadratmeter groß und mutete an wie eine Restaurantküche mit Tiefkühlschränken, Kühltruhen und weißen Hängeschränken. An einer Wand standen ölfassgroße Stahlbehälter mit stickstoffgekühlten Virenkulturen und anderen Organismen. Mehrere Arbeitstische boten reichlich Platz. Die gesamte Inneneinrichtung hatte abgerundete Kanten, damit man sich nicht aus Versehen den Anzug aufriss. Oliviera zeigte ihnen die drei großen roten Knöpfe im Raum, mit denen sich Alarm auslösen ließ, führte sie zu einem der Tische und öffnete einen wannenförmigen Behälter.
   Er war gefüllt mit kleinen, weißen Krabben. Sie schwammen in zwei Handbreit Wasser und sahen ziemlich leblos aus.
   »Mist!«, entfuhr es Rubin.
   Oliviera nahm einen metallenen Spatel zur Hand und berührte die Tiere der Reihe nach, aber keines regte sich.
   »Tot, würde ich sagen.«
   »Das ist unglücklich.« Rubin schüttelte den Kopf. »Sehr unglücklich. Hat es nicht geheißen, wir bekommen lebende?«
   »Li zufolge lebten sie, als sie auf Reisen gingen«, sagte Johanson. Er beugte sich vor und betrachtete die Krabben ausgiebig und der Reihe nach. Dann tippte er Oliviera auf den Unterarm. »Dort oben. Der zweite von links. Hat gerade mit den Beinen gezuckt.«
   Oliviera beförderte die Krabbe auf die Arbeitsplatte. Sie saß einige Sekunden still, dann begann sie plötzlich in großer Eile zur Kante zu laufen. Oliviera holte sie zurück. Die Krabbe ließ sich widerstandslos über den Tisch schieben und versuchte erneut zu fliehen. Sie wiederholten die Prozedur einige Male, dann legten sie das Tier zurück in die Wanne.
   »Irgendwelche spontanen Meinungen?«, wollte Oliviera wissen.
   »Ich müsste mir das Innere ansehen«, sagte Roche.
   Rubin zuckte die Schultern. »Scheint sich normal zu verhalten, aber die Art habe ich noch nie gesehen. Sie vielleicht, Dr. Johanson?«
   »Nein.« Johanson dachte einen Moment nach. »Sie verhält sich nicht normal. Natürlicherweise würde sie den Spatel als Gegner sehen. Sie würde die Scheren spreizen und Drohgebärden vollführen. Meines Erachtens ist die Motorik in Ordnung, aber der Sinnesapparat nicht. Sie kommt mir vor, als ob …«
   »Als hätte sie jemand aufgezogen«, sagte Oliviera. »Wie ein Spielzeug.«
   »Ja. Wie ein Mechanismus. Sie läuft wie eine Krabbe, aber sie verhält sich nicht wie eine Krabbe.«
   »Können Sie die Art bestimmen?«
   »Ich bin kein Taxonom. Ich kann Ihnen sagen, woran sie mich erinnert, aber Sie müssen das mit Vorsicht verbuchen.«
   »Nur zu.«
   »Es gibt zwei signifikante Merkmale.« Johanson nahm den Spatel und berührte nacheinander einige der leblosen Körper. »Zum einen, die Tiere sind weiß, also farblos. Farben dienen nie dem Schmuck, sie haben immer eine Funktion. Die meisten farblosen Lebewesen, die wir kennen, brauchen nur darum keine Farbe, weil niemand sie sehen kann. Die zweite Besonderheit ist das völlige Fehlen von Augen.«
   »Das heißt, sie stammen entweder aus Höhlen oder aus lichtlosen Tiefen«, sagte Roche.
   »Ja. Bei manchen Tieren, die ohne Sonnenlicht leben, sind die Augen stark verkümmert, aber rudimentär vorhanden. Man erkennt noch, wo sie früher saßen. Diese Krabben hingegen … nun, ich will nicht vorschnell urteilen, aber sie machen mir den Eindruck, als hätten sie niemals Augen besessen. Wenn das stimmt, würden sie nicht nur aus einer Welt völliger Schwärze stammen, sie wären auch dort entstanden. Ich kenne nur eine Krabbenart, für die das zutrifft und die so aussieht wie diese hier.«
   »Schlotkrabben«, nickte Rubin.
   »Und woher stammen die?«, fragte Roche.
   »Von hydrothermalen Schloten in der Tiefsee«, sagte Rubin. »Vulkanische Oasen. Sie sehen genauso aus wie Schlotkrabben.«
   Roche runzelte die Stirn.
   »Dann dürften sie an Land eigentlich keine Sekunde überleben.«
   »Die Frage ist, was da überlebt hat«, sagte Johanson.
   Oliviera fischte einen der leblosen Körper aus der Wanne, drehte ihn auf den Rücken und legte ihn auf die Arbeitsplatte. Nacheinander entnahm sie einer Schale eine Reihe von Werkzeugen, die an Hummerbesteck erinnerten. Sie fuhr mit einer winzigen, batteriebetriebenen Kreissäge seitlich des Panzers entlang, und sofort spritzte unter Hochdruck etwas Transparentes aus dem Innern. Oliviera fuhr ungerührt fort, den Panzer aufzuschneiden, hob die Unterseite mit den Beinen ab und legte sie beiseite.
   Sie starrten in das aufgeschnittene Tier.
   »Das ist keine Krabbe«, sagte Johanson.
   »Nein«, sagte Roche. Er deutete auf die halb flüssige, klumpige Gallertmasse, die den größten Teil des Panzers ausfüllte. »Es ist die gleiche Sauerei, die wir in den Hummern gefunden haben.«
   Oliviera begann, die Gallerte mit einem Löffel in ein Gefäß umzufüllen.
   »Schauen Sie mal da«, sagte sie. »Gleich hinter dem Kopf sieht es nach original Krabbe aus. Und sehen Sie die faserige Verzweigung entlang des Rückens? Das ist das Nervensystem. Das Tier hat seine Sinne noch beisammen, nur nichts drum herum, um sie zu nutzen.«
   »Doch«, sagte Rubin. »Die Gallerte.«
   »Also, es ist jedenfalls keine Krabbe im vollständigen Sinne.« Roche beugte sich über die Schale mit dem farblosen Glibber. »Eher ein Krabbenapparat. Funktions-, aber nicht lebensfähig.«
   »Was erklären würde, warum sie sich nicht wie Krabben verhalten. Es sei denn, wir identifizieren das Zeug im Innern als neue Art von Krabbenfleisch.«
   »Nie im Leben«, sagte Roche. »Es ist ein Fremdorganismus.«
   »Dann hat dieser Fremdorganismus dafür gesorgt, dass die Tiere an Land kamen«, bemerkte Johanson. »Und wir können uns überlegen, ob er in Tiere geschlüpft ist, die gestorben waren, um sie quasi wiederzubeleben …«
   »Oder ob die Krabben so gezüchtet wurden«, ergänzte Oliviera.
   Eine Zeit lang herrschte unbehagliches Schweigen. Schließlich sagte Roche in die Stille hinein:
   »Was immer der Grund für ihr Hiersein ist, eines steht fest. Würden wir jetzt die Anzüge ausziehen, wären wir alle binnen kurzem tot. Ich schätze, wir werden die Viecher randvoll mit Pfiesteria-Kulturen finden. Oder was noch Schlimmerem. Die Luft in diesem Labor ist jedenfalls verseucht.«
   Johanson dachte an etwas, was Vanderbilt gesagt hatte.
   Biologische Kampfstoffe.
   Natürlich hatte Vanderbilt Recht. Vollkommen Recht.
   Nur völlig anders, als er dachte.
 
Weaver
 
   Weaver war euphorisiert.
   Sie brauchte nur ein Passwort einzugeben, schon hatte sie Zugriff auf jede nur erdenkliche Information. Was ihr hier geboten wurde, hätte unter anderen Umständen monatelange Recherche erforderlich gemacht — ohne die Zugriffsmöglichkeit auf militärische Satelliten. Aber das hier war phantastisch! Sie saß auf dem Balkon ihrer Suite, vernetzt mit der Datenbank der NASA, und vertiefte sich in amerikanische Radarkartographie.
   In den achtziger Jahren hatte die amerikanische Marine mit der Untersuchung eines erstaunlichen Phänomens begonnen. Geosat, ein Radarsatellit, war in eine polnahe Umlaufbahn geschossen worden. Den Meeresboden sollte und konnte er nicht kartieren. Radar durchdrang kein Wasser. Die Aufgabe von Geosat bestand vielmehr darin, die Meeresoberfläche als Ganzes zu vermessen, und zwar auf wenige Zentimeter genau. Eine Abtastung großer Flächen, so hoffte man, würde aufzeigen, ob der Meeresspiegel — abgesehen von Ebbe— und Flutschwankungen — überall gleich hoch lag oder nicht.
   Was Geosat enthüllte, übertraf alle Erwartungen.
   Man hatte geahnt, dass die Ozeane selbst im Zustand absoluter Ruhe nicht völlig glatt seien. Jetzt aber offenbarten sie eine Struktur, die der Erde das Aussehen einer riesigen, knolligen Kartoffel verlieh. Sie waren voller Dellen und Buckel, Aufragungen und Einmuldungen. Hatte man lange Zeit angenommen, dass die Wassermassen der Weltmeere gleichmäßig über den Erdball verteilt seien, vermittelte die Kartierung ein ganz anderes Bild. Südlich von Indien etwa lag der Meeresspiegel rund 170 Meter tiefer als vor Island. Nördlich von Australien wölbte sich das Meer zu einem Berg, der 85 Meter über dem Durchschnitt lag. Die Meere waren regelrechte Gebirgslandschaften, deren Topographie den Ausprägungen der Unterwasserlandschaft zu folgen schien. Große unterseeische Gebirgszüge und Tiefseegräben pausten sich mit einigen Metern Höhenunterschied auf der Wasseroberfläche durch.
   Der Rückschluss war bestechend. Wer die Wasseroberfläche kannte, wusste im Groben, wie es darunter aussah.
   Schuld waren Unregelmäßigkeiten in der Gravitation. Ein unterseeischer Berg fügte dem Meeresboden Masse hinzu, also wirkte die Schwerkraft dort höher als in einem Tiefseegraben. Sie zog das umliegende Wasser seitlich zu dem Tiefseeberg hin und schichtete einen Buckel auf.
   Über Gebirgen wölbte sich die Meeresoberfläche, über Gräben fiel sie ab. Eine Weile sorgten Ausnahmen für Verwirrung, etwa wenn sich Wasser über einer Tiefseeebene hochwölbte, bis man dahinter kam, dass manche der dortigen Bodengesteine von extremer Dichte und Schwere waren, und somit stimmte die Gravitationstopographie wieder.
   Die Neigungen all dieser Dellen und Buckel waren so flach, dass man sie an Bord eines Schiffes nicht registrierte. Tatsächlich wäre man dem Phänomen ohne die Satellitenkartierung nie auf die Spur gekommen. Jetzt aber hatte man einen neuen Weg gefunden, nicht nur die Topographie der Meeresböden abzubilden, sondern die Gesamtdynamik der Ozeane zu verstehen, indem man aus dem Geschehen an der Oberfläche auf Vorgänge in der Tiefe schloss. Geosat enthüllte außerdem, dass in den Ozeanen gewaltige Strömungswirbel mit mehreren hundert Kilometern Durchmesser entstanden. Wie Kaffee, der in einem Becher umgerührt wurde, bildeten die rotierenden Massen im Zentrum eine Delle, während sie sich zum Rand hin hochwölbten. Es erwies sich, dass — außer den Schwerkraftschwankungen — auch derartige Wirbel, sogenannte Eddies, die Meeresoberfläche ausbeulten, und wiederum waren die Eddies Bestandteile weit größerer Wirbel. Aus dem erweiterten Blickwinkel der Satellitenkartographie wurde deutlich, dass die kompletten Ozeane in Rotation gerieten. Gigantische Ringsysteme kreisten oberhalb des Äquators im Uhrzeigersinn und südlich davon entgegengesetzt, und sie kreisten umso schneller, je näher sie den Polen kamen.
   Damit hatte man ein weiteres Prinzip der Meeresdynamik verstanden: Die Erddrehung selber beeinflusste den Grad der Rotation.
   Der Golfstrom war demnach gar kein richtiger Strom, sondern der westliche Rand einer riesigen, sich langsam drehenden Wasserlinse, eines aus unzähligen kleineren Wirbeln bestehenden Riesenwirbels, der im Uhrzeigersinn gegen Nordamerika drückte. Weil das Zentrum des Riesenwirbels nicht mitten im Atlantik lag, sondern nach Westen versetzt, wurde der Golfstrom gegen die amerikanische Küste gequetscht, dort aufgestaut und hochgewölbt. Starke Winde und seine Fließrichtung zum Pol beschleunigten ihn, während ihn die enorme Reibung der Küste zugleich wieder verlangsamte. So hatte sich der nordatlantische Wirbel in eine stabile Drehung gefunden, getreu dem Satz von der Erhaltung des Drehimpulses, der besagt, dass eine Kreisbewegung so lange konstant bleibt, bis sie durch äußere Einflüsse gestört wird.
   Es waren diese äußeren Einflüsse, die Bauer erkannt zu haben glaubte, aber er konnte nicht sicher sein. Das Verschwinden der Schlote, durch die das Wasser vor Grönland kaskadenartig in die Tiefe stürzte, bot Grund zur Beunruhigung, aber es bewies nichts. Beweisen ließen sich globale Veränderungen nur durch globale Darstellungen.