Stringers Walkie-Talkie knackte. Quäkig meldete sich Tom Shoemakers Stimme.
   »Susan? Geh mal auf 99.«
   Sämtliche Whaling Stations sendeten und empfingen auf Frequenz 98. Es war praktisch, weil so alle über die Sichtungen im Bilde waren. Auch die Küstenwache und Tofino Air benutzten die 98er Frequenz, und leider verschiedene Sportfischer, deren Vorstellung von Whale Watching wesentlich rüder war. Für private Gespräche hatte jede Station ihren eigenen Kanal. Stringer schaltete um.
   »Ist Leon in der Nähe?«, fragte Shoemaker.
   »Ja, er ist hier.«
   Sie reichte Anawak das Funkgerät. Er nahm es und sprach eine Weile mit Shoemaker. Dann sagte er: »Gut, ich komme hin. — Ja, das geht auch kurzfristig. — Sag ihnen, ich fliege los, sobald wir zurück sind. — Bis gleich.«
   »Um was ging’s denn?«, wollte Stringer wissen, als er ihr das Funkgerät zurückgab.
   »Um eine Anfrage. Von Inglewood.«
   »Inglewood? Die Reederei?«
   »Ja. Der Anruf kam aus dem Direktorium. Sie haben Tom nicht gerade mit Details überschüttet. Nur, dass sie meinen Rat brauchen. Und dass es ein bisschen eilt. — Merkwürdig. Tom hatte den Eindruck, dass sie mich am liebsten rüberbeamen würden.«
   Inglewood hatte einen Helikopter geschickt. Keine zwei Stunden nach seinem Funkgespräch mit Shoemaker sah Anawak die spektakuläre Landschaft Vancouver Islands unter sich hinwegziehen. Tannenbestandene Hügel wechselten mit schroffen Gebirgskuppen, dazwischen glitzerten Flüsse und lockten blaugrüne Seen. Die Schönheit der Insel konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Holzwirtschaft den Wäldern arg zugesetzt hatte. Während der vergangenen hundert Jahre hatte sie sich zum bedeutendsten Industriezweig der Region entwickelt. Über weite Flächen war der Kahlschlag nicht zu übersehen.
   Sie ließen Vancouver Island hinter sich und überflogen die viel befahrene Strait of Georgia, Luxusliner, Fähren, Frachter und Privatyachten. In weiter Ferne erstreckten sich die imposanten Gebirgsketten der Rocky Mountains mit ihren schneegefleckten Gipfeln. Türme aus blauem und rosafarbenem Glas säumten eine weitläufige Bucht, in der Wasserflugzeuge aufstiegen und landeten wie Vögel, ebenso bunt und zahlreich.
   Der Pilot sprach mit der Bodenstation. Der Helikopter ging tiefer, drehte eine Kurve und hielt auf die Dockanlagen zu. Kurz darauf landeten sie auf einer freien Fläche von den Ausmaßen eines riesigen Parkplatzes. Zu beiden Seiten türmten sich Stapel geschichteten Zedernholzes, das auf seinen Abtransport wartete. Etwas weiter lagerten Schwefel und Kohle in kubistischen Haufen. Ein gewaltiger Cargoliner ankerte am Pier. Anawak sah eine Gruppe von Menschen, aus der sich ein Mann löste und zu ihnen herüberkam. Sein Haar flatterte im Wirbelwind der Motoren. Er trug einen Mantel und hatte die Schultern hochgezogen gegen die kühle Witterung. Anawak löste den Sicherheitsgurt und machte sich bereit zum Ausstieg.
   Der Mann zog die Tür auf. Er war groß und stattlich, Anfang sechzig, mit einem runden, freundlichen Gesicht und wachen Augen. Er lächelte, als er Anawak die Hand reichte.
   »Clive Roberts«, sagte er. »Managing Director.«
   Sie schüttelten einander die Hände. Anawak folgte Roberts zu der. Gruppe, die augenscheinlich mit der Inspektion des Frachters befasst war. Er sah Seeleute und Personen in Zivilkleidung. Immer wieder schauten sie an der Steuerbordseite des Schiffs empor, schritten daran entlang, blieben stehen und gestikulierten.
   »Sehr freundlich, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte Roberts. »Sie müssen entschuldigen. Normalerweise fallen wir nicht derart mit der Tür ins Haus, aber die Sache brennt uns unter den Nägeln.«
   »Keine Ursache«, erwiderte Anawak. »Worum geht’s?«
   »Um einen Unfall. Möglicherweise.«
   »Das Schiff dort?«
   »Ja, die Barrier Queen. Genauer gesagt hatten wir ein Problem mit den Schleppern, die sie nach Hause bringen sollten.«
   »Sie wissen, dass ich Experte für Cetacaen bin? Verhaltensforscher. Wale und Delphine.«
   »Genau darum geht es. Um Verhaltensforschung.«
   Roberts stellte ihm die Personen vor. Drei gehörten zum Management der Reederei, die anderen vertraten den Technischen Vertragspartner. Ein Stück weiter luden zwei Männer Tauchequipment aus einem Transporter. Anawak sah in besorgte Gesichter, dann nahm ihn Roberts beiseite.
   »Augenblicklich können wir leider nicht mit der Besatzung sprechen«, sagte er. »Aber ich lasse Ihnen eine vertrauliche Kopie des Berichts zukommen, sobald er vorliegt. Wir möchten die Sache nicht unnötig breittreten. Kann ich mich auf Sie verlassen?«
   »Natürlich.«
   »Gut. Ich gebe Ihnen eine Zusammenfassung der Ereignisse. Danach entscheiden Sie, ob Sie bleiben oder wieder abfliegen wollen. So oder so kommen wir für sämtliche Ausfälle und Unannehmlichkeiten auf, die wir Ihnen verursacht haben.«
   »Sie verursachen keine Umstände.«
   Roberts sah ihn dankbar an. »Sie müssen wissen, die Barrier Queen ist ein ziemlich neues Schiff. Erst kürzlich auf Herz und Nieren geprüft, vorbildlich in allen Disziplinen, ordnungsgemäß zertifiziert. Ein 60000Tonnen-Frachter, mit dem wir bislang ohne Probleme Schwerlaster verschifft haben, vorwiegend nach Japan und zurück. Wir stecken eine Menge Geld in die Sicherheit, mehr, als wir müssten. Jedenfalls die Barrier Queen war auf dem Rückweg, voll beladen.«
   Anawak nickte wortlos.
   »Vor sechs Tagen erreichte sie die 200-Seemeilen-Zone vor Vancouver Gegen drei Uhr morgens. Der Steuermann legte 5° Ruder, eine Routinekorrektur. Er hielt es nicht für nötig, einen Blick auf die Anzeige zu werfen. Weit vorne waren die Lichter eines anderen Schiffs zu sehen, an denen man sich mit bloßem Auge orientieren konnte, und eigentlich hätten sich diese Lichter nun nach rechts verschieben müssen. Aber sie blieben, wo sie waren. Die Barrier Queen fuhr immer noch geradeaus. Der Steuermann gab Ruder zu, ohne dass eine sichtbare Kursänderung erfolgte, also ging er bis zum Anschlag, und plötzlich klappte es. — Leider klappte es etwas zu gut.«
   »Er fuhr jemandem rein?«
   »Nein. Das andere Schiff war zu weit weg. Aber anscheinend hatte das Ruder geklemmt. Jetzt lag es am Anschlag und klemmte wieder. Es ließ sich nicht mehr zurückbewegen. Ein Ruder am Anschlag bei 20 Knoten Fahrt … ich meine, ein Schiff dieser Größe stoppen Sie nicht eben mal so ab! Die Barrier Queen geriet bei hoher Geschwindigkeit in einen extrem engen Drehkreis. Sie legte sich auf die Seite, samt Ladung. 10° Krängung, haben Sie eine Vorstellung, was das heißt?«
   »Ich kann’s mir denken.«
   »Knapp über dem Wasserspiegel befinden sich die Öffnungen für die Fahrzeugdeckentwässerung. Bei hoher See werden sie unablässig geflutet, und ebenso schnell läuft das Wasser jedes Mal wieder ab. Bei einer derartigen Schieflage kann es aber passieren, dass sie permanent unter Wasser geraten. Dann läuft Ihnen das Schiff im Handumdrehen voll. Gott sei Dank hatten wir ruhige See, aber kritisch war es dennoch. Das Ruder ließ sich nicht zurücklegen.«
   »Und was war der Grund?«
   Roberts schwieg einen Moment.
   »Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass der Schlamassel jetzt erst richtig losging. Die Barrier Queen stoppte die Maschinen, funkte ›Mayday‹ und wartete. Sie war eindeutig manövrierunfähig. Verschiedene Schiffe im Umkreis änderten vorsorglich ihren Kurs und hielten auf die Stelle zu, und in Vancouver setzten sich zwei Bergungsschlepper in Bewegung. Sie trafen zweieinhalb Tage später ein, am frühen Nachmittag. Ein 60-Meter-Hochseeschlepper und ein 25-Meter-Boot. Das Schwierigste ist immer, die Leine vom Schlepper so auszuwerfen, dass sie an Bord aufgefangen wird. Bei Sturm kann das Stunden dauern, ein endloses Procederé, erst die dünne Leine, dann die nächstdickere, dann die schwere Trosse. Aber in diesem Fall … Es hätte kein Problem darstellen sollen, das Wetter war unverändert gut und die See ruhig. Aber die Schlepper wurden gehindert.«
   »Gehindert? Von wem?«
   »Na ja …« Roberts verzog das Gesicht, als sei es ihm peinlich weiterzusprechen. »Es sieht ganz so aus, als hätten … Mein Gott! Haben Sie je von Angriffen durch Wale gehört?«
   Anawak stutzte.
   »Auf Schiffe?«
   »Ja. — Auf große Schiffe.«
   »Das ist äußerst selten.«
   »Selten?« Roberts horchte auf. »Aber es hat so was gegeben.«
   »Es gibt einen verbrieften Fall. Er stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Melville hat ihn zu einem Roman verarbeitet.«
   »Sie meinen Moby Dick? Ich dachte, das sei nur ein Buch.«
   Anawak schüttelte den Kopf.
   »Moby Dick ist die Geschichte des Walfängers Essex. Er wurde tatsächlich von einem Pottwal versenkt. Ein 42-Meter-Schiff, aber aus Holz und wahrscheinlich schon ein bisschen morsch. Aber immerhin. Der Wal rammte das Schiff, und es lief innerhalb weniger Minuten voll. Die Mannschaft soll anschließend Wochen auf See getrieben sein in ihren Rettungsbooten … Ach ja, und es gibt zwei Fälle, die sich vergangenes Jahr vor der australischen Küste ereignet haben! In beiden Fällen wurden Fischerboote zum Kentern gebracht.«
   »Wie geschah das?«
   »Mit der Fluke zerschmettert. Die meiste Kraft steckt im Schwanz.« Anawak überlegte. »Ein Mann kam dabei ums Leben. Aber er starb an Herzschwäche, glaube ich. Als er ins Wasser stürzte.«
   »Was waren das für Wale?«
   »Keiner weiß es. Die Tiere waren zu schnell verschwunden. Außerdem, wenn so was passiert, beobachtet jeder etwas anderes.« Anawak sah hinüber zu der mächtigen Barrier Queen. Sie lag scheinbar unversehrt da. »Ich kann mir jedenfalls keinen Walangriff auf dieses Schiff vorstellen.«
   Roberts folgte seinem Blick.
   »Die Schlepper wurden angegriffen«, sagte er. »Nicht die Barrier Queen. Sie wurden seitlich gerammt. Offenbar geschah es, um die Schiffe umzuwerfen, aber das hat nicht hingehauen. Dann, um sie davon abzuhalten, die Leine zu werfen, und dann …«
   »Angegriffen?«
   »Ja.«
   »Vergessen Sie’s.« Anawak winkte ab. »Ein Wal kann etwas umwerfen das kleiner oder genauso groß ist wie er selber. Nichts Größeres. Und er wird nichts Größeres angreifen, wenn er nicht dazu gezwungen ist.«
   »Die Mannschaft schwört Stein und Bein, dass es so gewesen ist. Die Wale haben …«
   »Was für Wale?«
   »Gott, was für Wale? Wie sagten Sie eben noch auf dieselbe Frage? Jeder sieht was anderes.«
   Anawak furchte die Stirn. »Gut, spielen wir’s durch. Unterstellen wir das Maximum. Dass die Schlepper von Blauwalen attackiert wurden. Balaenoptera musculus wird bis zu 33 Meter lang und 120 Tonnen schwer. Immerhin das größte Tier, das je auf Erden gelebt hat. Nehmen wir an, ein Blauwal versucht, ein Boot zu versenken, das genauso lang ist wie er selber. Er muss mindestens ebenso schnell sein, besser noch schneller. Aber gut, 50 bis 60 Stundenkilometer schafft er auf kurzen Strecken spielend. Er ist stromlinienförmig gebaut und muss kaum Reibungswiderstände überwinden. Aber welchen Impuls kann er entwickeln? Und wie viel Gegenimpuls entwickelt das Boot? Einfach gesagt, wer drängt wen ab, wenn die Leute an Bord gegensteuern?«
   »120 Tonnen sind eine Menge Gewicht.«
   Anawak wies mit einer Kopfbewegung auf den Lieferwagen. »Können Sie den hochheben?«
   »Was? Den Wagen? Natürlich nicht.«
   »Und das, obwohl Sie sich dabei abstützen könnten. Ein schwimmender Körper kann das nicht. Sie heben nun mal nichts, was schwerer ist als Sie selber, ganz gleich, ob Sie ein Wal sind oder ein Mensch. An den Massegleichungen kommen Sie nicht vorbei. Aber vor allem müssen Sie das Gewicht des Wals gegen das des verdrängten Wassers aufrechnen. Da bleibt nicht viel. Nur Vortriebskraft aus der Fluke. Möglich, dass er das Schiff damit in eine neue Bahn lenkt. Vielleicht gleitet er aber im Stoßwinkel sofort wieder ab. Es ist ein bisschen wie beim Billard, verstehen Sie?«
   Roberts rieb sich das Kinn. »Einige meinen, es seien Buckelwale gewesen. Andere sprachen von Finnwalen, und die an Bord der Barrier Queen glauben Pottwale gesehen zu haben …« »Drei Spezies, die unterschiedlicher nicht sein könnten.« Roberts zögerte. »Mister Anawak, ich bin ein nüchtern denkender Mann. Mir drängt sich die Idee auf, dass die Schlepper einfach in eine Herde gerieten. Vielleicht haben nicht die Wale die Schiffe gerammt, sondern umgekehrt. Vielleicht hat sich die Besatzung dumm angestellt. Aber fest steht, dass die Tiere den kleinen Schlepper versenkt haben.«
   Anawak starrte Roberts fassungslos an. »Als die Trosse gespannt war«, fuhr Roberts fort, »zwischen dem Bug der Barrier Queen und dem Heck des Schleppers. Eine straff gespannte Eisenkette. Mehrere Tiere kamen aus dem Wasser gesprungen und warfen sich darauf. In diesem Fall gab es kein verdrängtes Volumen abzuziehen, und die Seeleute sagen, es hätte sich um recht große Exemplare gehandelt.« Er machte eine Pause. »Der Schlepper wurde herumgerissen und kenterte. Er hat sich überschlagen.«
   »Um Himmels willen. Und die Besatzung?«
   »Zwei Vermisste. Die anderen konnten gerettet werden.
   — Können Sie sich vorstellen, warum die Tiere so etwas getan haben?«
   Gute Frage, dachte Anawak. Tümmler und Belugas erkennen sich im Spiegel. Denken sie? Planen sie? Auf eine Weise, die wir auch nur ansatzweise nachvollziehen können? Was bewegt sie? Kennen Wale ein Gestern oder Morgen? Welches Interesse sollten sie haben, einen Bergungsschlepper abzudrängen oder zu versenken?
   Es sei denn, die Schlepper hätten sie bedroht. Oder ihre Jungen.
   Aber wie und womit?
   »Das alles passt nicht zu Walen«, sagte er.
   Roberts wirkte hilflos. »Das sehe ich auch so. Die Besatzungen sehen es anders. Nun, der große Schlepper wurde auf ähnliche Weise attackiert. Schließlich gelang es, die Trosse zu befestigen. Diesmal erfolgte kein weiterer Angriff.«
   Anawak starrte grübelnd auf seine Füße.
   »Ein Zufall«, sagte er. »Ein schrecklicher Zufall.«
   »Meinen Sie?«
   »Wir wären vermutlich schlauer, wenn wir wüssten, was mit dem Ruder geschehen ist.« »Dazu haben wir die Taucher angefordert«, antwortete Roberts. »Sie werden in wenigen Minuten so weit sein.« »Haben die noch eine Reserveausrüstung im Wagen?« »Ich denke schon.« Anawak nickte. »Gut. Ich gehe mit runter.«
   Hafenwasser war ein Alptraum. Überall auf der Welt. Eine schmuddelige Brühe, in der mindestens so viele Schwebstoffe wie Wassermoleküle unterwegs zu sein schienen. Der Boden war zumeist bedeckt mit einer meterdicken Schlammschicht, aus der beständig Partikel und organisches Material hochgewirbelt wurden. Als die See über Anawak zusammenschlug, fragte er sich einen Moment, wie sie hier überhaupt irgendetwas finden sollten. Er hatte das Gefühl, in braunem Nebel zu versinken. Trübe gewahrte er die Umrisse der beiden Taucher vor sich, dahinter eine diffuse, dunkle Fläche, das Heck der Barrier Queen.
   Die Taucher sahen zu ihm herüber und bogen Zeigefinger und Daumen zum O. K.-Zeichen. Anawak antwortete in gleicher Weise. Er ließ Luft aus seiner Weste entweichen und schwebte entlang des Hecks nach unten. Nach wenigen Metern schalteten sie die Helmlampen ein. Das Licht streute stark. Es beleuchtete vornehmlich herumtreibendes Zeug. Ausgestoßene Luft blubberte und polterte in Anawaks Ohren, während sie tiefer gingen. Aus dem Halbdunkel schälte sich das Ruder heraus, schartig und gefleckt. Es stand schräg. Anawak tastete nach der Konsole mit dem Tiefenmesser. Acht Meter. Vor ihm verschwanden die beiden Taucher seitlich des Ruderblattes. Nur die Lichtkegel ihrer Lampen irrlichterten dahinter weiter.
   Anawak näherte sich von der anderen Seite.
   Zuerst sah er nur kantige Ränder und Schalen, die sich zu bizarren Skulpturen übereinander stapelten. Dann wurde ihm klar, dass das Ruder von Unmengen gestreifter Muscheln bewachsen war. Er schwamm näher heran. In den Ritzen und Spalten, dort wo das Blatt gegen den Schacht drehte, waren die Organismen zu einem kompakten, splitterigen Brei zermahlen worden. Kein Wunder, dass sich das Ruder nicht mehr hatte zurückbewegen lassen. Es war festgefressen.
   Er ließ sich tiefer sinken. Auch hier war alles voller Muscheln. Vorsichtig griff er in die Masse hinein. Die kleinen, höchstens drei Zentimeter langen Tiere saßen fest aufeinander. Mit äußerster Vorsicht, um sich an den scharfen Schalen nicht zu schneiden, zog er daran, bis sich einige von ihnen widerstrebend lösten. Sie waren halb geöffnet. Aus dem Innern rankten sich zusammengeknäuelte Fäden, mit denen sie Halt gesucht hatten. Anawak verstaute sie in den Sammelbehältern an seinem Gürtel und überlegte.
   Er verstand nicht sonderlich viel von Schalentieren. Es gab einige Muschelarten, die einen solchen Byssus besaßen, einen fransigen, klebrigen Fuß. Die bekannteste und berüchtigtste unter ihnen war die Zebramuschel, eingeschleppt aus dem Mittleren Osten. Sie hatte sich während der vergangenen Jahre in amerikanischen und europäischen Ökosystemen breit gemacht und begonnen, die einheimische Fauna zu vernichten. Wenn es Zebramuscheln waren, die das Ruder der Barrier Queen überwucherten, verwunderte es kaum, sie in solch dicken Schichten vorzufinden. Wo immer sie auftraten, breiteten sie sich gleich in unvorstellbaren Massen aus.
   Anawak drehte die abgerissenen Muscheln in der Handfläche.
   Das Ruder war von Zebramuscheln befallen. Alles sah ganz danach aus. Aber konnte das sein? Zebramuscheln zerstörten vornehmlich Süßwassersysteme. Zwar überlebten und gediehen sie auch in Salzwasser, aber das erklärte nicht, wie sie auf offener See, wo nichts als kilometertiefes Wasser war, ein fahrendes Schiff hätten entern können. Oder hatten sie schon im Hafen angedockt?
   Das Schiff war aus Japan gekommen. Hatte Japan Probleme mit Zebramuscheln?
   Seitlich unter ihm, zwischen Ruder und Heck, ragten zwei geschwungene Flügel aus dem trüben Nichts, geisterhaft, unwirklich in ihren Ausmaßen. Anawak ließ sich weiter sinken und schlug mit den Flossen, bis er die Ränder eines der Flügel umfassen konnte. Ein Gefühl des Unbehagens überkam ihn. Der gesamte Propeller maß viereinhalb Meter im Durchmesser. Ein Gebilde aus gegossenem Stahl, das über acht Tonnen wog. Kurz stellte er sich vor, wie es sein musste, wenn sich die Schraube auf Hochtouren drehte. Es schien kaum vorstellbar, dass irgendetwas dieses Riesending auch nur ankratzen konnte. Was ihm zu nahe kam, musste unweigerlich zerschreddert werden.
   Doch die Muscheln saßen auch am Propeller.
   Eine Schlussfolgerung drängte sich Anawak auf, die ihm nicht gefiel. Langsam hangelte er sich an den Rändern zur Mitte des Propellers hin. Seine Finger berührten etwas Glitschiges. Brocken einer hellen Substanz lösten sich und trudelten ihm entgegen. Er griff danach, bekam einen zu fassen und hielt ihn dicht vor seine Maske.
   Gallertig. Gummiartig.
   Das Zeug sah aus wie Gewebe.
   Anawak drehte das zerfaserte Ding hin und her. Er ließ es in der Sammelbox verschwinden und tastete sich weiter vor. Einer der Taucher näherte sich ihm von der gegenüberliegenden Seite. Mit der Lampe über seiner Maske wirkte er wie ein Alien. Er machte das Zeichen für Herkommen. Anawak stieß sich ab und schwamm zwischen Ruderschacht und Schraube zu ihm hinüber. Langsam ließ er sich tiefer sinken, bis seine Flossen gegen die Kurbelwelle stießen, an deren Ende der Propeller saß.
   Hier war mehr von dem schleimigen Zeug. Es hatte sich wie ein Überzug um die Welle gewickelt. Die Taucher versuchten, die Fetzen davon herunterzuziehen. Anawak half ihnen. Sie mühten sich vergebens. Das meiste war so eng mit der Schraube verbunden, dass es sich mit bloßen Händen nicht ablösen ließ.
   Roberts’ Worte gingen ihm durch den Kopf. Die Wale hatten versucht, die Schlepper abzudrängen. Absurd.
   Was wollte ein Wal, der das Andockmanöver eines Schleppers sabotierte? Dass die Barrier Queen sank? Bei stärkerem Seegang hätte die Gefahr bestanden, manövrierunfähig, wie der Frachter war. Irgendwann wären die Wellen wieder höher geworden. Wollten die Tiere verhindern, dass die Barrier Queen bis dahin sichere Gewässer aufsuchen konnte?
   Er warf einen Blick aufs Finimeter.
   Noch reichlich Sauerstoff. Mit ausgestrecktem Daumen zeigte er den beiden Tauchern an, dass er den Rumpf inspizieren wolle. Sie gaben das O. K.-Zeichen. Gemeinsam ließen sie die Schraube hinter sich und schwammen die Bordwand entlang, Anawak zuunterst, dort, wo sich der Rumpf zum Kiel hin bog. Das Licht seines Helmstrahlers wanderte über die stählerne Außenhaut. Der Anstrich sah ziemlich neu aus, nur an wenigen Stellen waren Kratzer oder Verfärbungen zu erkennen. Er sank weiter dem Grund entgegen, und es wurde noch dämmriger.
   Unwillkürlich sah Anawak nach oben. Zwei diffuse Lichtflecken zeigten ihm an, wo die Taucher die Seitenwand absuchten.
   Was sollte passieren? Er wusste schließlich, wo er war. Dennoch hatte sich ein quälender Druck auf seine Brust gelegt. Er paddelte mit den Füßen und schwebte entlang des Rumpfs. Nichts war zu sehen, was auf eine Beschädigung hindeutete.
   Im nächsten Moment wurde der Schein seiner Helmlampe schwächer. Anawaks Rechte fuhr hoch. Dann erkannte er, dass es nicht an der Lampe lag, sondern an dem, was sie beleuchtete. Der Schiffsanstrich hatte das Licht gleichmäßig zurückgeworfen. Nun wurde es plötzlich verschluckt von der dunklen, schartigen Masse der Muscheln, unter der die Hülle der Barrier Queen teilweise verschwunden war.
   Wo kamen diese Unmengen von Muscheln her?
   Anawak überlegte, zu den Tauchern aufzuschließen. Dann entschied er sich anders und ließ sich noch tiefer unter den Rumpf sinken. Zum Kiel hin nahm der Muschelbewuchs zu. Falls die Unterseite der Barrier Queen überall in gleicher Weise bewachsen war, musste hier ein erhebliches Gewicht zusammengekommen sein. Unmöglich, dass niemand den Zustand des Schiffes bemerkt haben sollte. Solche Massen reichten aus, um einen Frachter auf hoher See erheblich zu verlangsamen.
   Er war jetzt weit genug unter dem Kiel, dass er sich auf den Rücken legen musste. Wenige Meter unter ihm begann die Schlammwüste des Hafenbeckens. Das Wasser war hier so trübe, dass er kaum noch etwas sah, nur die wuchernden Muschelberge direkt über sich. Mit schnellen Flossenschlägen schwamm er weiter Richtung Vorschiff, als der Bewuchs ebenso plötzlich endete, wie er begonnen hatte. Erst jetzt erkannte Anawak, wie massiv die Wucherungen wirklich waren. Beinahe zwei Meter dick hingen sie unter der Barrier Queen.
   Was war das?
   Am Rand der Wucherungen klaffte ein Spalt.
   Anawak hing unentschlossen davor. Dann griff er zum Schienbein, wo in einer Halterung ein Messer steckte, zog es hervor und stach in den Muschelberg hinein.
   Die Kruste platzte auf.
   Etwas schoss zuckend heran, klatschte gegen sein Gesicht und riss ihm beinahe den Lungenautomaten aus dem Mund. Anawak prallte zurück. Sein Kopf knallte gegen den Schiffsrumpf. Grelles Licht explodierte vor seinen Augen. Er wollte aufsteigen, aber über ihm war immer noch der Kiel. Mit hektischen Flossenschlägen versuchte er wegzukommen von den Muscheln. Er drehte sich um und sah sich einem weiteren Berg aus harten kleinen Schalen gegenüber. Seine Ränder schienen mit etwas Gallertigem an den Rumpf geklebt. Übelkeit stieg in ihm hoch. Er zwang sich zur Ruhe und versuchte, in den umherschwirrenden Partikeln etwas von dem Ding zu erkennen, das ihn attackiert hatte.
   Es war verschwunden. Nichts war mehr zu sehen außer den bizarr verklumpten Muschelkrusten.
   Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Rechte etwas umklammert hielt. Das Messer. Er hatte es nicht losgelassen. Etwas baumelte von der Klinge, ein Fetzen milchig transparenter Masse. Anawak packte sie zu den Gewebebrocken im Sammelbehälter. Dann sah er zu, dass er wegkam. Sein Bedarf an Abenteuern war fürs Erste gedeckt. Mit kontrollierten Bewegungen, darauf bedacht, seinen pochenden Herzschlag zu verlangsamen, stieg er auf, bis er seitlich der Schiffswand trieb und in der Ferne schwach den Lichtschein der beiden Taucher sah. Er hielt darauf zu. Auch sie waren auf Wucherungen gestoßen. Einer von ihnen löste mit seinem Messer einzelne Tiere aus dem Bewuchs. Anawak schaute gespannt zu. Jeden Augenblick erwartete er, etwas daraus hervorschnellen zu sehen, aber nichts geschah.
   Der zweite Taucher reckte den Daumen hoch, und sie stiegen langsam zur Oberfläche. Es wurde heller. Selbst auf dem letzten Meter war das Wasser noch trübe, dann plötzlich hatte alles wieder Farbe und Kontur. Anawak blinzelte ins Sonnenlicht. Er zog die Maske vom Gesicht und atmete dankbar die frische Luft ein.
   Am Pier standen Roberts und die anderen.
   »Was ist los da unten?« Der Manager beugte sich vor.
   »Was gefunden?«
   Anawak hustete und spuckte Hafenwasser aus.
   »Das kann man wohl sagen!«
   Sie standen um das Heck des Lieferwagens versammelt. Anawak war mit den Tauchern übereingekommen, die Rolle des Berichterstatters zu übernehmen.
   »Muscheln, die ein Ruder blockieren?«, fragte Roberts ungläubig.
   »Ja. Zebramuscheln.«
   »Wie passiert denn so was, um Himmels willen?«
   »Gute Frage.« Anawak öffnete den Probenbehälter an seinem Gürtel und ließ den Gallertfetzen vorsichtig in einen größeren Behälter mit Seewasser gleiten. Der Zustand des Gewebes bereitete ihm Sorgen. Es sah aus, als habe der Zerfall bereits eingesetzt. »Ich kann nur mutmaßen, aber für mich hat es sich so zugetragen: Der Steuermann legt 5° Ruder. Aber das Ruder bewegt sich nicht. Es ist blockiert von den Muscheln, die sich überall festgesetzt haben. Grundsätzlich ist es nicht sonderlich schwer, eine Rudermaschine lahm zu legen, das wissen Sie besser als ich. Nur dass der Fall so gut wie niemals eintritt. Das weiß auch der Steuermann, weshalb er gar nicht auf die Idee kommt, etwas könne das Ruder blockieren. Er denkt, er habe zu wenig Ruder gegeben, also legt er nach, aber immer noch bewegt sich das Ruder nicht. Tatsächlich arbeitet die Rudermaschine auf Hochtouren. Sie versucht, dem Befehl Folge zu leisten. Schließlich geht der Mann am Steuer aufs Ganze, und endlich löst sich das Blatt. Während es sich dreht, werden die Muscheln in den Zwischenräumen zermahlen, aber sie lösen sich nicht. Der Muschelbrei blockiert das Ruder weiter wie Sand im Getriebe. Es frisst sich fest und kann nicht mehr zurück.« Er strich sich das nasse Haar aus der Stirn und sah Roberts an. »Aber das ist nicht das eigentlich Beunruhigende.«
   »Sondern?«
   »Die Seekästen sind frei, aber der Propeller ist ebenfalls bewachsen, ist voller Muscheln. Ich weiß nicht, wie dieses Zeug überhaupt ans Schiff gelangen konnte, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: An einem rotierenden Propeller hätte sich noch die hartnäckigste Muschel die Schalen ausgebissen. Also entweder sind die Tiere bereits in Japan zugestiegen — was mich wundern würde, denn bis zweihundert Seemeilen vor Kanada hat das Ruder ja reibungslos funktioniert —, oder sie kamen unmittelbar, bevor die Maschinen stoppten.«
   »Sie meinen, die haben das Schiff auf hoher See befallen?«
   »Geentert wäre treffender. Ich versuche mir vorzustellen, was passiert ist. Ein gigantischer Schwarm Muscheln setzt sich am Ruder fest. Als das Blatt blockiert, gerät das Schiff in Schräglage. Wenige Minuten später stoppt die Maschine. Der Propeller steht. Immer noch kommen Muscheln nach, setzen sich weiterhin ans Ruder, um die Blockade sozusagen zu zementieren, gelangen dabei an die Schraube und den übrigen Rumpf.«
   »Wo kommen denn Tonnen ausgewachsener Muscheln her?«, sagte Roberts und sah sich hilflos um. »Mitten auf dem Ozean!«
   »Warum drängen Wale Schlepper ab und springen auf Trossen? Sie haben mit den komischen Geschichten angefangen, nicht ich.«
   »Ja, schon, aber …« Roberts nagte an seiner Unterlippe. »All das geschah gleichzeitig. Ich weiß auch nicht, es klingt fast, als wäre da ein Zusammenhang. Aber das ergibt doch keinen Sinn. Muscheln und Wale.«
   Anawak zögerte.
   »Wann wurde die Unterseite der Barrier Queen zuletzt kontrolliert?«
   »Es gibt ständig Kontrollen. Und die Barrier Queen hat einen Spezialanstrich. Keine Angst, er ist umweltfreundlich! Aber viel kann sich eigentlich nicht darauf absetzen. Vielleicht ein paar Seepocken.«
   »Das sind jedenfalls mehr als ein paar Seepocken.« Anawak hielt inne und starrte ins Leere. »Aber Sie haben Recht! Das Zeug dürfte gar nicht dort sein. Man könnte den Eindruck gewinnen, als sei die Barrier Queen wochenlang einer Invasion von Muschellarven ausgesetzt gewesen, und außerdem … da war dieses Ding in den Muscheln …« »Welches Ding?« Anawak berichtete von dem Wesen, das aus dem Muschelberg hervorgebrochen war. Während er davon sprach, erlebte er die Szene wieder. Den Schock und wie er mit dem Kopf gegen den Kiel geschlagen war. Sein Schädel dröhnte jetzt noch davon. Er hatte Sterne gesehen … Nein, Lichtblitze.
   Einen Lichtblitz, um genau zu sein.
   Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass es gar nicht in seinem Kopf geblitzt hatte, sondern vor ihm im Wasser.
   Dieses Ding hatte geblitzt.
   Vorübergehend war er im tatsächlichen Sinne sprachlos. Er vergaß, einen Bericht fortzusetzen, weil ihm dämmerte, dass dieses Wesen luminesziert hatte. Wenn das zutraf, entstammte es möglicherweise den tieferen Schichten. Aber dann konnte es sich kaum in einem Hafen an den Rumpf der Barrier Queen geheftet haben. Es musste zusammen mit den Muscheln an die Hülle gelangt sein, auf offener See. Vielleicht hatten die Muscheln das Wesen angelockt, weil sie ihm als Nahrung dienten. Oder als Schutz. Und wenn es ein Krake war …
   »Dr. Anawak?«
   Er fokussierte seinen Blick wieder auf Roberts.
   Ja, ein Krake, dachte er. Das könnte es am ehesten gewesen sein. Für eine Qualle war es zu schnell. Und zu stark. Es hat die Muscheln regelrecht auseinander gesprengt — so als sei es ein einziger elastischer Muskel. Dann fiel ihm ein, dass dieses Ding exakt in dem Augenblick hervorgeplatzt war, als er in den Spalt geschnitten hatte. Er musste es mit dem Messer verletzt haben. Hatte er ihm Schmerzen zugefügt? Zumindest hatte der Messerstich einen Reflex freigesetzt …
   Übertreib’s mal nicht, dachte er. Was hast du schon groß gesehen in der Brühe da unten? Hauptsächlich hast du dich erschrocken.
   »Sie sollten das Hafenbecken absuchen lassen«, sagte er zu Roberts. »Aber vorher schicken Sie diese Proben« — er deutete auf die verschlossenen Gefäße — »schnellstmöglich ins Forschungsinstitut nach Nanaimo zur Untersuchung. Packen Sie sie in den Helikopter. Ich fliege mit, ich weiß, wem wir sie dort in die Hand drücken.«
   Roberts nickte. Dann zog er Anawak ein Stück beiseite. »Verdammt, Leon! Was halten Sie denn nun wirklich von alldem?«, flüsterte er. »Es ist unmöglich, dass sich meterdicker Bewuchs innerhalb von so kurzer Zeit festsetzt. Das Schiff hat schließlich nicht wochenlang vor sich hingegammelt.«
   »Diese Muscheln sind eine Pest, Mr. Roberts …«
   »Clive.«
   »Clive, die Biester treten nicht allmählich auf, sondern immer gleich als Überfallkommando. So viel weiß man.«
   »Aber doch nicht so schnell.«
   »Jede dieser verdammten Muscheln kann pro Jahr bis zu tausend Nachkommen in die Welt setzen. Die Larven treiben mit der Strömung oder als blinde Passagiere zwischen den Schuppen von Fischen und im Gefieder von Wasservögeln. In amerikanischen Seen hat man Stellen gefunden, wo 900000 von ihnen einen einzigen Quadratmeter besiedeln, und sie sind tatsächlich beinahe über Nacht da hingekommen. Sie besetzen Trinkwasseranlagen, Kühlkreisläufe flussnaher Industriegebiete, Bewässerungssysteme, verstopfen und zerstören Rohrleitungen, und sie fühlen sich in Salzwasser offenbar ebenso wohl wie in Seen und Flüssen.«
   »Na schön, aber Sie reden von Larven.«
   »Millionen Larven.«
   »Meinetwegen Milliarden, und meinetwegen im Hafen von Osaka oder auf hoher See. Was spielt das für eine Rolle? Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, die wären im Verlauf der letzten paar Tage alle erwachsen geworden, komplett mit Schale? — Ich meine, sind Sie denn überhaupt sicher, dass wir es wirklich mit Zebramuscheln zu tun haben?«
   Anawak sah über die Schulter zu dem Lieferwagen der Taucher. Sie räumten die Ausrüstung ins Innere. Die Probenbehälter, notdürftig versiegelt, standen in einer Plastikkiste davor. »Wir haben hier eine Gleichung mit mehreren Unbekannten«, sagte er. »Wenn Wale tatsächlich versucht haben, die Schlepper abzudrängen, müssen wir fragen, warum. Weil an dem Schiff etwas vorgeht, das zu Ende gebracht werden soll? Weil es sinken soll, nachdem es von den Muscheln lahm gelegt wurde? Dann dieser unbekannte Organismus, der die Flucht ergreift, als ich seinem Versteck zu Leibe rücke. — Wie klingt das für Sie?«
   »Wie die Fortsetzung von Independence Day mit anderen Mitteln. Meinen Sie wirklich …«
   »Warten Sie. Nehmen wir dieselbe Gleichung. Eine etwas nervöse Herde Grau— oder Buckelwale fühlt sich durch die Barrier Queen belästigt. Da kommen zu allem Überfluss zwei Schlepper und rempeln sie an. Sie rempeln zurück. Aus purem Zufall ist das Schiff zudem von einer biologischen Plage befallen, die es sich im Ausland geholt hat wie ein Tourist die Pocken, und auf hoher See hat sich ein Kalmar in die Muschelberge verirrt.«
   Roberts starrte ihn an. »Wissen Sie, ich glaube nicht an Science-Fiction«, fuhr Anawak fort. »Alles ist eine Frage der Interpretation. Schicken Sie ein paar Leute da runter. Sie sollen den Bewuchs abkratzen, aufpassen, ob noch weitere Überraschungsgäste darin sitzen, und sie einfangen.« »Was glauben Sie, wann wir mit den Ergebnissen aus Nanaimo rechnen können?« »In wenigen Tagen, schätze ich. — Es wäre übrigens hilfreich, wenn ich ein Exemplar des Berichts bekäme.« »Vertraulich«, betonte Roberts.
   »Selbstverständlich. Ebenso vertraulich würde ich mich gerne mit der Mannschaft unterhalten.«
   Roberts nickte. »Ich habe nicht das letzte Wort in der Sache. Aber ich sehe, was sich machen lässt.«
   Sie gingen zurück zum Lieferwagen, und Anawak schlüpfte in seine Jacke.
   »Ist es eigentlich üblich, in solchen Fällen Wissenschaftler hinzuzuziehen?«, fragte er.
   »Solche Fälle sind überhaupt nicht üblich.« Roberts schüttelte den Kopf. »Es war meine Idee, ich hatte Ihr Buch gelesen und wusste, dass Sie auf Vancouver Island zu finden sind. Die Untersuchungskommission ist davon nicht rückhaltlos begeistert. — Aber ich denke, es war richtig. Wir verstehen nun mal nicht so viel von Walen.«
   »Ich tue mein Bestes. Laden wir die Proben in den Helikopter. Je schneller wir sie nach Nanaimo schaffen, umso besser. Wir geben sie direkt in die Hände von Sue Oliviera. Sie ist Laborleiterin. Molekularbiologin, extrem fähig.«
   Anawaks Mobiltelefon klingelte. Es war Stringer.
   »Du solltest herkommen, sobald du kannst«, sagte sie.
   »Was ist los?«
   »Wir haben einen Funkspruch von der Blue Shark erhalten. Sie sind draußen auf See und haben Ärger.« Anawak ahnte Böses. »Mit Walen?« »Quatsch, nein.« Stringer sagte es, als sei er nicht recht bei Trost. »Was sollen wir für einen Ärger mit Walen haben? Dieses blöde Arschloch macht wieder Stress, dieser gottverdammte Mistkerl.«
   »Welches Arschloch?«
   »Na, wer schon! Jack Greywolf.«
 

6. April

Kiel, Deutschland
 
   Zwei Wochen, nachdem er Tina Lund die Abschlussberichte der Wurmanalysen übergeben hatte, saß Sigur Johanson in einem Taxi, das ihn zu Europas renommiertester Adresse für marine Geowissenschaften fuhr, zum Forschungszentrum Geomar.
   Wann immer es um Aufbau, Entstehung und Geschichte des Meeresbodens ging, wurden die Wissenschaftler aus Kiel konsultiert. Kein Geringerer als James Cameron ging bei den Kielern ein und aus, um sich den letzten Segen für Projekte wie Titanic und The Abyss zu holen. Der Öffentlichkeit war die Arbeit der Geomar-Forscher eher schwer zu erklären. Das Herumstochern in Sedimenten und das Messen von Salzgehalten schien auf den ersten Blick wenig zur Beantwortung drängender Menschheitsfragen beizusteuern. Ohnehin konnte sich kaum jemand vorstellen, was noch Anfang der Neunziger nicht mal die Mehrzahl der Wissenschaftler hatte glauben wollen: Am Boden der Meere, fernab von Sonnenlicht und Wärme, erstreckte sich keine leere, felsige Wüste. Es wimmelte dort von Leben. Zwar wusste man schon länger von exotischen Artengemeinschaften entlang vulkanischer Tiefseeschlote. Als jedoch 1989 der Geochemiker Erwin Suess von der Oregon State University zum Geomar-Forschungszentrum berufen wurde, erzählte er von noch bizarreren Dingen, von Oasen des Lebens an kalten Tiefseequellen, von geheimnisvollen chemischen Energien, die aus dem Erdinnern aufstiegen — und vom massenhaften Vorkommen einer Substanz, die bis dahin als vermeintlich exotisches Zufallsprodukt kaum Beachtung gefunden hatte: Methanhydrat.
   Spätestens jetzt traten die Geowissenschaften aus dem Schatten heraus, den sie — wie die meisten Wissenschaften — selber zu lange geworfen hatten. Sie versuchten sich mitzuteilen. Sie nährten die Hoffnung, Naturkatastrophen, Klima— und Umweltentwicklungen zukünftig berechnen und beeinflussen zu können. Methan schien zudem die Antwort auf die Energieprobleme von morgen zu geben. Der Berichterstattungshunger der Presse war geweckt, und die Forscher lernten — anfangs zögerlich, dann zunehmend in der Manier von Popstars —, sich das neu erwachte Interesse zunutze zu machen.
   Der Mann, der Johansons Taxi zur Kieler Förde steuerte, schien von alldem nicht viel mitbekommen zu haben. Seit zwanzig Minuten gab er seinem Unverständnis darüber Ausdruck, wie man ein Millionen teures Forschungszentrum in die Hände von Verrückten hatte geben können, die von dort alle paar Monate zu kostspieligen Kreuzfahrten aufbrachen, während seinesgleichen kaum über die Runden kam. Johanson, der ausgezeichnet Deutsch sprach, verspürte wenig Lust, die Dinge gerade zu rücken, aber der Mann redete ununterbrochen auf ihn ein. Dabei fuchtelte er dermaßen mit den Händen, dass der Wagen immer wieder gefährlich abdriftete.
   »Kein Mensch weiß, was die da überhaupt tun«, schimpfte der Fahrer. »Sind Sie von der Zeitung?«, fragte er schließlich, als Johanson keine Antwort gab. »Nein. Ich bin Biologe.« Der Fahrer wechselte augenblicklich das Thema und erging sich über die nicht abreißende Folge von Nahrungsmittelskandalen. Offenbar sah er in Johanson einen der Verantwortlichen, jedenfalls schimpfte er nun auf genmanipuliertes Gemüse und überteuerte Bioprodukte und funkelte seinen Fahrgast herausfordernd an.
   »Sie sind also Biologe. Wissen Sie, was man noch essen kann? Ich meine, bedenkenlos! Ich weiß es jedenfalls nicht. Nichts kann man mehr essen. Man sollte überhaupt nichts mehr essen, was sie einem verkaufen. Man sollte ihnen keinen Cent dafür geben.«
   Der Wagen geriet auf die Gegenfahrbahn.
   »Wenn Sie nichts essen, werden Sie verhungern«, sagte Johanson.
   »Na und? Ist doch egal, woran man stirbt, oder? Wenn man nichts isst, stirbt man, isst man was, stirbt man am Essen.«
   »Sie haben ganz sicher Recht. Ich persönlich würde es übrigens vorziehen, an einem gedopten Filetsteak zu sterben, als am Kühler dieses Tanklastwagens da.«
   Der Fahrer griff unbeeindruckt ins Lenkrad und zog den Wagen in rasantem Tempo quer über drei Spuren in eine Ausfahrt. Der Tankwagen donnerte an ihnen vorbei. Zur Rechten sah Johanson Wasser. Sie fuhren entlang des Ostufers der Kieler Förde. Gewaltige Krananlagen reckten sich auf der gegenüberliegenden Seite zum Himmel.
   Offenbar hatte der Taxifahrer Johansons letzte Bemerkung krumm genommen, denn fortan würdigte er ihn keines Wortes mehr. Sie durchquerten vorstädtische Straßen mit spitzgiebeligen Häusern, bis unvermittelt der lang gestreckte Gebäudekomplex aus Ziegeln, Glas und Stahl daraus auftauchte, seltsam unpassend inmitten der kleinbürgerlichen Beschaulichkeit. Der Fahrer bog scharf auf das Institutsgelände ab und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Röchelnd erstarb der Motor. Johanson atmete tief durch, bezahlte und stieg aus in der Gewissheit, während der letzten fünfzehn Minuten weit Schlimmeres durchgestanden zu haben als an Bord des Statoil-Helikopters.
   »Ich würde wirklich gerne wissen, was die da drinnen treiben«, sagte der Fahrer ein letztes Mal. Er sagte es mehr zu seinem Lenkrad.
   Johanson bückte sich und sah ihn durch die Beifahrertür an. »Wollen Sie’s wirklich wissen?«
   »Ja.«
   »Sie versuchen, das Gewerbe der Taxifahrer zu retten.«
   Der Fahrer blinzelte ihn verständnislos an. »So oft bringen wir nun auch keinen hierher«, sagte er unsicher.
   »Nein. Aber um es zu tun, müsst ihr Auto fahren. Wenn kein Benzin mehr da ist, könnt ihr eure Kisten entweder verschrotten oder auf was anderes umsteigen, und das liegt unten im Meer. Methan. Brennstoff. Sie versuchen, ihn nutzbar zu machen.«
   Der Fahrer runzelte die Stirn. Dann sagte er: »Wissen Sie, was das Problem ist? Keiner erklärt einem so was.«
   »Es steht in allen Zeitungen.«
   »Es steht in Zeitungen, die Sie lesen, mein Herr. Keiner bemüht sich, es mir zu erklären.«
   Johanson setzte zu einer Antwort an. Dann nickte er nur und schlug die Tür zu. Das Taxi wendete und schoss davon.
   »Dr. Johanson.«
   Aus einem verglasten Rundbau trat ein braun gebrannter junger Mann und kam zu ihm herüber. Johanson schüttelte die ausgestreckte Hand.
   »Gerhard Bohrmann?«
   »Nein. Heiko Sahling. Biologe. Dr. Bohrmann wird sich eine Viertelstunde verspäten, er hält einen Vortrag. Ich kann Sie hinbringen, oder wir schauen, ob wir in der Kantine einen Kaffee kriegen.«
   »Was wäre Ihnen lieber?«
   »Was Ihnen lieber ist. Übrigens sehr interessant, Ihre Würmer.«
   »Sie haben sich damit beschäftigt?«
   »Wir alle haben uns damit beschäftigt. Kommen Sie, wir heben uns den Kaffee für später auf. Gerhard wird gleich fertig sein, wir spielen so lange Zaungast.«
   Sie betraten ein großes, geschmackvoll gestaltetes Foyer. Sahling führte ihn eine Treppe hinauf und über eine frei schwebende Stahlbrücke. Für ein wissenschaftliches Institut, fand Johanson, bewegte sich Geomar verdächtig nahe am Designerpreis.
   »Im Allgemeinen werden Vorlesungen im Hörsaal abgehalten«, erklärte Sahling. »Aber wir haben eine Schulklasse zu Besuch.«
   »Sehr löblich.«
   Sahling grinste. »Für Fünfzehnjährige ist ein Hörsaal von einem Klassenzimmer nicht zu unterscheiden. Also sind wir mit denen durch das Institut gestreift, und sie durften überall reinschauen und fast alles anpacken. Die Lithothek haben wir bis zuletzt aufgespart. Gerhard erzählt ihnen dort die Gutenachtgeschichte.«
   »Worüber?«
   »Methanhydrate.«
   Sahling öffnete eine Schiebetür. Auf der anderen Seite setzte sich die Brücke fort. Sie traten hinaus. Die Lithothek besaß die Größe eines mittleren Flugzeughangars. Zum Quai hin war das Gebäude offen, und Johanson erhaschte einen Blick auf ein ziemlich großes Schiff. Kisten und Gerätschaften stapelten sich entlang der Wände.
   »Hier werden Proben zwischengelagert«, erklärte Sahling. »Vornehmlich Sedimentkerne und Seewasserproben. Archivierte Erdgeschichte. Wir sind angemessen stolz drauf.«
   Er hob kurz die Hand. Unten grüßte ein hoch gewachsener Mann zurück und widmete sich wieder einer Gruppe Halbwüchsiger, die sich neugierig um ihn scharte. Johanson lehnte sich ans Brückengeländer und lauschte der Stimme, die zu ihnen heraufdrang.
   »… einer der aufregendsten Momente, die wir je erlebt haben«, sagte Dr. Gerhard Bohrmann gerade. »Der Greifer hatte in beinahe achthundert Metern Tiefe einige Zentner Sediment herausgebrochen, durchsetzt mit einer weißen Substanz, und schüttete die Brocken aufs Arbeitsdeck. Beziehungsweise das, was oben noch ankam.«
   »Das war im Pazifik«, erläuterte Sahling leise. »1996 auf der Sonne, etwa hundert Kilometer vor Oregon.«