Unter den Zuschauern waren die Wissenschaftsjournalisten in der Minderheit. Dafür hatten sich Vertreter von Tageszeitungen, Magazinen und Fernsehsendern eingefunden. Im Wesentlichen die Truppe, auf die sie spekuliert hatten, allerdings konnten sie kaum Fachwissen voraussetzen. Fenwick erklärte darum als Erstes die spezifischen Merkmale des Körperbaus.
   »Die Form ist die eines Fisches, aber nur, weil die Natur diesen Bauplan für ein Wesen übernommen hat, das vom Land ins Wasser übersiedelte. So etwas geschieht oft. Wir nennen das Konvergenz. Völlig unterschiedliche Spezies bilden konvergente, also in der Wirkung gleichartige Strukturen aus, um bestimmten Umgebungsansprüchen zu begegnen.«
   Er entfernte Teile der dicken Außenhaut und legte den darunter liegenden Speck frei.
   »Noch ein Unterschied: Fische, Amphibien und Reptilien sind Wechselwarme, also Kaltblüter, was bedeutet, dass ihre Körpertemperatur der jeweiligen Umgebungstemperatur entspricht. Makrelen gibt es zum Beispiel am Nordkap ebenso wie im Mittelmeer, aber am Nordkap würden wir eine Körpertemperatur von 4° Celsius messen, bei einer Mittelmeermakrele hingegen 24° Celsius. Für Wale trifft das nicht zu. Sie sind Warmblüter — Warmblüter wie wir.« Anawak beobachtete die Umstehenden. Soeben hatte Fenwick eine Kleinigkeit gesagt, die immer wieder funktionierte: »… wie wir« ließ die Leute aufhorchen. Wale sind wie wir. Da war sie wieder, die eng gezogene Grenze, innerhalb derer Menschen begannen, Leben mit Wert zu versehen. Fenwick fuhr fort: »Ob sie nun gerade in der Arktis weilen oder in der Bucht von Kalifornien, Wale halten immer eine konstante Körpertemperatur von 37° Celsius. Dafür fressen sie sich eine Fettschicht an, die wir Blubber nennen. Sehen Sie diese fette, weiße Masse? Wasser wirkt Wärme entziehend, aber diese Schicht verhindert, dass die Körperwärme verloren geht.« Er sah in die Runde. Seine behandschuhten Hände waren rot und schleimig vom Blut und Fett des Orca.
   »Zugleich kann der Blubber das Todesurteil für einen Wal bedeuten. Das Problem aller strandenden Wale ist ihr Körpergewicht und eben diese an sich wunderbare Speckschicht. Ein 33 Meter langer und 130 Tonnen schwerer Blauwal wiegt das Vierfache des größten Sauriers, der je gelebt hat, aber auch ein Orca bringt es auf neun Tonnen. Nur im Wasser sind solche Wesen möglich, getreu dem Lehrsatz des Archimedes, dass jeder in eine Flüssigkeit getauchte Körper so viel von seinem Gewicht verliert, wie die von ihm verdrängte Flüssigkeitsmenge wiegt. An Land werden Wale darum von ihrem eigenen Gewicht erdrückt, und die isolierende Wirkung der Speckschicht gibt ihnen den Rest, weil die aufgenommene Umgebungswärme nicht wieder abgegeben wird. Viele Wale, die stranden, krepieren an einem Überhitzungs schock.«
   »Dieser auch?«, fragte eine Journalistin.
   »Nein. In den letzten Jahren hatten wir hier zunehmend Tiere, deren Immunsystem zusammengebrochen war. Sie starben an Infektionen. J-19 ist 22 Jahre alt geworden. Kein junges Tier mehr, aber im Durchschnitt bringen es gesunde Orcas auf 30 Jahre. Also ein Tod vor der Zeit, und nirgendwo sind Verletzungen eines Kampfes zu sehen. Ich tippe auf eine bakteriologische Infektion.«
   Anawak trat einen Schritt vor.
   »Wenn Sie wissen wollen, woher so was kommt, können wir Ihnen auch das erklären«, sagte er, bemüht um einen sachlichen Tonfall. »Es gibt eine ganze Reihe toxikologischer Untersuchungen, und sie zeigen, dass die Orcas vor British Columbia durchweg verseucht sind mit PCB und anderen Umweltgiften. Dieses Jahr haben wir in Orca-Fettgewebe über 150 Milligramm PCB nachgewiesen. Kein menschliches Immunsystem hätte dagegen den Hauch einer Chance.«
   Die Gesichter der Leute wandten sich ihm zu. Er sah die Mischung aus Betroffenheit und Erregtheit in ihren Augen. Soeben hatte er ihnen eine Story geliefert. Er wusste, dass sie die Truppe jetzt im Griff hatten.
   »Das Schlimme an diesen Giften ist, dass sie fettlöslich sind«, sagte er. »Das heißt, sie werden mit der Muttermilch an die Kälber weitergegeben. Menschliche Babys kommen auf die Welt und haben AIDS, und wir berichten darüber und sind entsetzt. Weiten Sie Ihr Entsetzen bitte aus und berichten Sie auch über das, was Sie hier vorgefunden haben. Kaum eine Spezies auf der Welt ist so vergiftet wie die Orcas.«
   »Dr. Anawak.« Ein Journalist räusperte sich. »Was geschieht, wenn Menschen das Fleisch dieser Wale essen?«
   »Sie nehmen einen Teil der Giftstoffe in sich auf.«
   »Mit tödlichen Folgen?«
   »Auf lange Sicht — möglicherweise.«
   »Ist es dann nicht so, dass Unternehmen, die hier bedenkenlos Giftstoffe ins Meer leiten, etwa die Holzindustrie, indirekt auch dafür verantwortlich sind, wenn Menschen erkranken und sterben?«
   Ford warf ihm einen schnellen Blick zu. Anawak zögerte. Das war ein heikler Punkt. Natürlich hatte der Mann Recht, aber das Vancouver Aquarium versuchte, jede direkte Konfrontation mit der ansässigen Industrie zu vermeiden und stattdessen den Weg der Diplomatie zu gehen. Die wirtschaftliche und politische Elite von British Columbia als potenzielle Mörderbande hinzustellen würde die Fronten verhärten, und er wollte Ford nicht in die Parade fahren.
   »Auf jeden Fall belastet es die menschliche Gesundheit, kontaminiertes Fleisch zu essen«, antwortete er ausweichend.
   »Das bewusst kontaminiert wurde von der Industrie.«
   »Wir suchen diesbezüglich nach Lösungen. Gemeinsam mit den Verantwortlichen.«
   »Verstehe.« Der Journalist notierte etwas. »Ich denke speziell an die Menschen in Ihrer Heimat, Dr ….«
   »Meine Heimat ist hier«, sagte Anawak schroff.
   Der Journalist sah ihn verständnislos an. Wie hätte er auch verstehen sollen? Er hatte wahrscheinlich einfach nur gut recherchiert.
   »Das meine ich nicht«, sagte er. »Da, wo Sie herkommen …«
   »In British Columbia wird nicht mehr sonderlich viel Walfleisch oder Robbenfleisch gegessen«, fiel ihm Anawak ins Wort. »Hingegen gibt es starke Vergiftungserscheinungen bei den Bewohnern am Polarkreis. In Grönland und Island, in Alaska und weiter im Norden, in Nunavut, aber natürlich auch in Sibirien, Kamchatka und auf den Aleuten, überall dort also, wo Meeressäuger zur täglichen Nahrung beitragen. Das Problem ist weniger, wo die Tiere vergiftet werden. Das Problem ist, dass sie wandern.«
   »Glauben Sie, die Wale sind sich der Vergiftungen bewusst?«, fragte ein Student.
   »Nein.«
   »Aber Sie sprechen in Ihren Publikationen von einer gewissen Intelligenz. Wenn die Tiere begreifen würden, dass mit ihrer Nahrung etwas nicht stimmt …«
   »Menschen rauchen, bis man ihnen die Beine amputiert oder sie an Lungenkrebs sterben. Sie sind sich der Vergiftung durchaus bewusst und tun es trotzdem, und Menschen sind eindeutig intelligenter als Wale.«
   »Wie können Sie da so sicher sein? Vielleicht ist es genau umgekehrt.«
   Anawak seufzte. So freundlich wie möglich sagte er: »Wir müssen Wale als Wale sehen. Sie sind hoch spezialisiert, aber es ist genau diese Spezialisierung, die sie auch einengt. Ein Orca ist ein lebender Torpedo mit idealer Stromlinienform, aber dafür fehlen ihm Beine, Greifhände, er verfügt über keine Mimik und nicht über bipolares Sehen. Das Gleiche gilt für Delphine, Tümmler, für jede Art von Zahnwal oder Bartenwal. Es sind keine Beinahe-Menschen. Orcas sind vielleicht klüger als Hunde, Belugas so intelligent, dass sie sich ihrer Individualität bewusst sind, und Delphine besitzen ohne Zweifel ein einzigartiges Gehirn. Aber fragen Sie sich bitte, was die Tiere letzten Endes damit vollbringen. Fische bewohnen den gleichen Lebensraum wie Wale und Delphine, ihre Lebensweise ist vielfach ähnlich, und dennoch kommen sie mit einem viertel Fingerhut Neuronen aus.«
   Beinahe war Anawak froh, als er den leisen Summton seines Handys hörte. Er gab Fenwick ein Zeichen, mit der Autopsie fortzufahren, ging ein Stück abseits und meldete sich.
   »Ah, Leon«, sagte Shoemaker. »Kannst du dich loseisen da, wo du gerade bist?«
   »Vielleicht. Was gibt’s denn?«
   »Er ist wieder da.«
   Anawaks Wut stieg ins Maßlose. Als er wenige Tage zuvor überstürzt nach Vancouver Island zurückgekehrt war, hatten sich Jack Greywolf und seine Seaguards schon wieder verzogen und zwei Bootsladungen verärgerter Touristen hinterlassen, die sich lautstark darüber beschwerten, wie Vieh fotografiert und angestarrt worden zu sein. Es war Shoemaker mit Ach und Krach gelungen, die Leute zu beruhigen. Einige hatte er zu einer kostenlosen zweiten Fahrt einladen müssen. Danach schienen die Wogen geglättet. Dennoch hatte Greywolf fürs Erste erreicht, was er wollte. Er hatte für Unruhe gesorgt.
   Bei Davies waren sie die Möglichkeiten durchgegangen. Sollten sie gegen die Umweltschützer vorgehen oder sie ignorieren? Offizielle Wege zu beschreiten hätte geheißen, ihnen ein Forum zu bereiten. Seriösen Organisationen waren Leute wie Greywolf ebenso ein Dorn im Auge wie den Whale Watchers, aber am Ende stand immer ein Prozess, der einer ohnehin uninformierten Öffentlichkeit verzerrte Bilder liefern würde. Im Zweifel waren viele geneigt, mit Greywolfs Parolen zu sympathisieren.
   Inoffiziell hätten sie sich auf eine handfeste Auseinandersetzung einlassen können. Wohin Auseinandersetzungen mit Greywolf führten, zeigten seine diversen Vorstrafen, aber es lag an ihnen, sich davon einschüchtern zu lassen oder nicht. Es war nur wenig hilfreich. Sie hatten genug anderes zu tun, und vielleicht beließ es Greywolf ja bei dem einen Zwischenfall.
   Also hatten sie beschlossen, ihn zu ignorieren.
   Vielleicht, dachte Anawak, während er das kleine Motorboot entlang der Küste über den Clayoquot Sound steuerte, war das der Fehler gewesen. Möglicherweise hätte es Greywolfs Geltungssucht Genüge getan, wenn sie ihm wenigstens einen Brief geschrieben hätten, um ihr Missfallen auszudrücken. Etwas, das ihm signalisierte, dass man ihn zur Kenntnis genommen hatte.
   Sein Blick suchte die Meeresoberfläche ab. Das Boot raste dahin, und er wollte nicht riskieren, Wale zu erschrecken oder gar zu verletzen Mehrmals sah er in der Ferne gewaltige Fluken, und einmal schnitten nicht weit von ihm schwarz glänzende Schwerter durch die Wellen. Während der Fahrt sprach er über Funk mit Susan Stringer auf der Blue Shark.
   »Was machen die Typen?«, fragte er. »Werden sie handgreiflich?«
   Es knackte im Funkgerät.
   »Nein«, sagte Stringers Stimme. »Sie machen Fotos, so wie letztes Mal, und sie beschimpfen uns.«
   »Wie viele sind es?«
   »Zwei Boote. Greywolf und noch jemand in dem einen, drei weitere im anderen. — Himmel! Jetzt fangen sie auch noch an zu singen.«
   Ein rhythmisches Geräusch drang schwach durch das Rauschen des Funkgeräts.
   »Sie trommeln«, rief Stringer. »Greywolf haut auf die Pauke, und die anderen singen. Indianergesänge! Nicht zu fassen.«
   »Verhaltet euch ruhig, hörst du? Lasst euch nicht provozieren. Ich bin in wenigen Minuten bei euch.«
   Weit vor ihm tauchten die hellen Flecken der Boote auf.
   »Leon? Was ist dieser Arsch eigentlich für ein Indianer? Ich weiß ja nicht, was er da macht, aber wenn er die Geister seiner Ahnen herbeiruft, will ich wenigstens wissen, wer gleich erscheint.«
   »Jack ist ein Hochstapler«, sagte Anawak. »Er ist überhaupt kein Indianer.«
   »Nicht? Ich dachte …«
   »Seine Mutter ist Halbindianerin. Das war’s. Willst du wissen, wie er wirklich heißt? O’Bannon. Jack O’Bannon. Von wegen Greywolf.«
   Eine Pause entstand, während Anawak sich den Booten mit hoher Geschwindigkeit näherte. Mittlerweile drang der Lärm der Trommel auch übers Wasser zu ihm herüber.
   »Jack O’Bannon«, sagte Stringer gedehnt. »Das ist ja geil. Ich glaube, das werd ich ihm gleich mal …«
   »Du wirst gar nichts. Siehst du mich kommen?«
   »Ja.«
   »Tu gar nichts. Warte einfach.«
   Anawak legte das Funkgerät weg und fuhr in einer weiten Kurve vom Ufer weg hinaus aufs Meer. Er konnte die Szenerie jetzt deutlich überblicken. Die Blue Shark und die Lady Wexham lagen inmitten einer weit auseinander gezogenen Gruppe von Buckelwalen. Hier und da waren abtauchende Fluken zu sehen und Wolken von Blas. Der weiße Rumpf der 22 Meter langen Lady Wexham schimmerte im Sonnenlicht. Zwei kleine, heruntergekommen aussehende Sportfischerboote, beide knallrot gestrichen, umkreisten die Blue Shark so dicht, dass es aussah, als wollten sie das Zodiac entern. Der Trommelschlag wurde lauter, monotoner Gesang mischte sich hinein.
   Wenn Greywolf Anawaks Herannahen bemerkte, ließ er es nicht erkennen. Er stand aufrecht in seinem Boot, schlug auf eine Indianertrommel ein und sang. Seine Leute auf der anderen Seite, zwei Männer und eine Frau, sangen mit und stießen zwischendurch Verwünschungen und Flüche aus. Dabei fotografierten sie die Insassen der Blue Shark und bewarfen sie mit etwas Glitzerndem. Anawak kniff die Augen zusammen. Es waren Fische. Nein, Fischabfall. Die Leute duckten sich, einige warfen das Zeug zurück. Anawak verspürte große Lust, Greywolfs Boot zu rammen und zuzusehen, wie der Hüne über Bord ging, aber er beherrschte sich. Es war keine gute Idee, den Touristen einen Schaukampf zu liefern.
   Er fuhr bis dicht heran und schrie: »Hör auf damit, Jack! Lass uns reden.«
   Greywolf trommelte unermüdlich weiter. Er drehte sich nicht einmal um. Anawak sah in die nervösen und gestressten Gesichter der Touristen. Im Funkgerät erklang die Stimme eines Mannes:
   »Hallo, Leon. Nett, dich zu sehen.«
   Es war der Skipper der Lady Wexham, die in etwa hundert Metern Entfernung dalag. Die Menschen auf dem Oberdeck lehnten am Geländer und sahen zu den belagerten Zodiacs herüber. Einige von ihnen schossen Fotos.
   »Alles klar bei euch?«, erkundigte sich Anawak.
   »Alles bestens. Was machen wir mit den Scheißkerlen?«
   »Weiß noch nicht«, antwortete Anawak. »Ich versuch’s mal mit friedlichen Mitteln.« »Sag mir Bescheid, wenn ich sie über den Haufen fahren soll.«
   »Ich komme drauf zurück.«
   Die roten Motorboote der Seaguards hatten begonnen, die Blue Shark anzurempeln. Greywolf schwankte, als sein Boot gegen den Gummirumpf stieß, und schlug weiter auf seine Trommel ein. Die Federn an seinem Hut zitterten im Wind. Hinter den Booten stieg eine Fluke auf und wieder eine, aber augenblicklich hatte niemand einen Blick für die Wale. Stringer starrte feindselig zu Greywolf hinüber.
   »He, Leon. Leon!« Anawak sah jemanden zwischen den Passagieren der Blue Shark winken und erkannte, dass es Alicia Delaware war. Sie trug ihre blaue Brille und hüpfte auf und nieder. »Was sind das für Typen? Warum sind sie hier?«
   Er stutzte. Hatte sie ihm nicht vor wenigen Tagen damit in den Ohren gelegen, es sei ihr letzter Tag auf der Insel?
   Unwichtig für den Augenblick.
   Er lenkte sein Boot um das von Greywolf, stellte es quer und klatschte in die Hände. »Okay, Jack. Danke. Ihr habt schön Musik gemacht. Sag jetzt endlich, was du willst.«
   Greywolf sang noch lauter. Ein monotones An— und Abschwellen, archaisch klingende Silben, jammervoll und zugleich aggressiv.
   »Jack, verdammt nochmal!«
   Plötzlich herrschte Stille. Der Hüne ließ die Trommel sinken und wandte Anawak den Kopf zu.
   »Ja, bitte?«
   »Sag deinen Leuten, sie sollen damit aufhören. Dann können wir reden. Wir reden über alles, aber sag ihnen, sie sollen sich zurückziehen.«
   Greywolfs Züge verzerrten sich. »Niemand wird sich zurückziehen«, schrie er.
   »Was soll das Theater? Was bezweckst du?«
   »Ich wollte es dir neulich im Aquarium erklären, aber du warst dir ja zu fein, um zuzuhören.«
   »Ich hatte keine Zeit.«
   »Und jetzt hab ich keine.«
   Greywolfs Leute lachten und johlten. Anawak versuchte seine Wut im Zaum zu halten.
   »Ich mache dir einen Vorschlag, Jack«, sagte er mühsam beherrscht. »Du bläst das hier ab, wir treffen uns heute Abend bei Davies, und du erzählst uns allen, was wir deiner Ansicht nach tun sollen.«
   »Ihr sollt verschwinden. Das sollt ihr tun.«
   »Wozu? Was machen wir denn?«
   In unmittelbarer Nähe des Bootes erhoben sich zwei dunkle Inseln, furchig und gesprenkelt wie verwittertes Gestein. Grauwale. Ziemlich nahe. Sie hätten phantastische Fotos abgegeben, aber Greywolf ruinierte den ganzen Trip.
   »Zieht euch zurück«, rief Greywolf. Er sah direkt zu den Insassen der Blue Shark hinüber und hob beschwörend die Arme. »Zieht euch zurück und stört nicht länger die Natur. Lebt in Einklang mit ihr, anstatt sie zu begaffen. Eure Schiffsmotoren verpesten die Luft und das Wasser. Ihr verletzt die Tiere mit euren Schiffsschrauben. Ihr hetzt sie für ein Foto. Ihr tötet sie mit Lärm. Dies ist die Welt der Wale. Zieht euch zurück. Menschen haben hier keinen Platz.«
   Was für eine Sülze, dachte Anawak. Er fragte sich, ob Greywolf selber glaubte, was er da von sich gab, aber seine Leute klatschten begeistert Beifall.
   »Jack! Darf ich dich daran erinnern, dass wir das alles zum Schutz der Wale unternehmen? Wir betreiben Forschung! Whale Watching hat den Menschen einen neuen Blickwinkel eröffnet. Wenn du unsere Arbeit störst, sabotierst du die Interessen der Tiere.«
   »Du willst uns erzählen, welche Interessen ein Wal hat?«, höhnte Greywolf. »Kannst du denn in Köpfe gucken, Forscher?«
   »Jack, lass diesen Indianermist. Was — willst — du?«
   Greywolf schwieg eine Weile. Seine Leute hatten aufgehört, die Insassen der Blue Shark zu fotografieren und zu bewerfen. Alle sahen zu ihm herüber.
   »Wir wollen an die Öffentlichkeit«, sagte er.
   »Wo, um Himmels willen, hast du hier Öffentlichkeit?« Anawak machte eine weit ausholende Handbewegung. »Ein paar Leute in Booten. Bitte, Jack, wir können ja gerne diskutieren, aber dann lass uns wirklich die Öffentlichkeit suchen. Lass uns Argumente austauschen, und wer den Kürzeren zieht, gibt sich geschlagen.«
   »Lächerlich«, sagte Greywolf. »So spricht der Weiße Mann.«
   »Ach, Scheiße!« Anawak riss die Geduld. »Ich bin weniger ein Weißer als du, O’Bannon, komm endlich auf den Teppich.«
   Greywolf starrte ihn an, als habe ihn der Schlag getroffen. Dann spaltete ein breites Grinsen sein Gesicht. Er wies auf die Lady Wexham.
   »Was glaubst du wohl, warum die Leute drüben auf eurem Schiff so fleißig filmen und fotografieren?«
   »Sie filmen dich und deinen albernen Hokuspokus.«
   »Gut«, lachte Greywolf. »Sehr gut.«
   Mit einem Mal dämmerte es Anawak. Unter den Beobachtern auf der Lady Wexham waren Presseleute. Greywolf hatte sie eingeladen, dem Spektakel beizuwohnen.
   Dieses verdammte Schwein!
   Er legte sich eine treffende Bemerkung zurecht, als ihm auffiel, dass Greywolf immer noch mit ausgestreckter Hand zur Lady Wexham hinüberstarrte. Anawak folgte seinem Blick und hielt den Atem an.
   Direkt vor dem Schiff hatte sich ein Buckelwal aus dem Wasser katapultiert. Ein ungeheurer Schub war notwendig für das Emporwuchten des massigen Körpers. Einen Moment lang sah es aus, als stütze sich das Tier einzig auf seine Schwanzflosse. Nur die Flukenzipfel lagen noch unter Wasser, der übrige Körper stand steil in der Luft und überragte die Brücke der Lady Wexham. Deutlich waren die Längsfurchen an Kiefer und Bauchunterseite zu sehen. Die überproportional langen Seitenflipper standen ab wie Flügel, leuchtend weiß mit schwarzen Maserungen und knotigen Kanten. Es schien, als wolle sich der Wal zur Gänze aus dem Wasser erheben, und ein vielstimmiges Ooh erscholl von der Lady Wexham. Dann kippte der gewaltige Körper langsam zur Seite und traf in einer Explosion von Gischt die Wasseroberfläche.
   Die Leute auf dem Oberdeck wichen zurück. Ein Teil der Lady Wexham verschwand hinter einer Wand aus Schaum. Darin erschien etwas Dunkles, Massiges. Ein zweiter Wal kam aus der Tiefe geschossen. Viel näher am Schiff schnellte er empor, umgeben von glitzerndem Sprühnebel, und Anawak wusste, noch bevor der Entsetzensschrei von den Booten aufbrandete, dass dieser Sprung danebengehen würde.
   Mit solcher Wucht krachte der Wal gegen die Lady Wexham, dass der Dampfer heftig ins Schwanken geriet. Es krachte und splitterte. Das Tier tauchte ab. Auf dem Oberdeck gingen Menschen zu Boden. Rings um das Schiff schäumte und wirbelte es, dann näherten sich mehrere Buckel von der Seite, und erneut schossen zwei dunkle Körper in die Luft und warfen sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Rumpf.
   »Das ist die Rache«, schrie Greywolf mit überschnappender Stimme. »Die Rache der Natur!«
   Die Lady Wexham maß 22 Meter und war damit länger als jeder Buckelwal. Sie war vom Transportministerium zugelassen und entsprach den Sicherheitsvorschriften der kanadischen Küstenwache für Passagierboote, was stürmische See, meterhohe Brecher und auch den zufälligen Zusammenstoß mit einem träge dahindümpelnden Wal einschloss. Selbst dafür war die Lady Wexham sicherheitshalber konzipiert worden.
   Nicht aber für einen Angriff.
   Anawak hörte, wie sie drüben die Maschine starteten. Unter der Wucht der aufprallenden Körper hatte sich das Schiff bedrohlich zur Seite geneigt. Unbeschreibliche Panik herrschte auf den beiden Beobachtungsdecks. Deutlich war zu sehen, dass im Unterdeck sämtliche Fenster zu Bruch gegangen waren. Geschrei drang herüber, Menschen stolperten kopflos durcheinander. Die Lady Wexham nahm Fahrt auf, aber sie kam nicht weit. Wieder katapultierte sich ein Tier aus der See und krachte gegen die Seitenwand mit der Brücke. Auch diese Attacke reichte nicht aus, das Schiff umzuwerfen, aber es schwankte nun weit heftiger, und Trümmerteile regneten von oben herab.
   Anawaks Gedanken rasten. Wahrscheinlich war der Rumpf bereits an einigen Stellen gerissen. Er musste etwas tun. Vielleicht konnte er die Tiere irgendwie ablenken.
   Seine Hand fuhr zum Gashebel.
   Im selben Moment zerriss ein vielstimmiger Schrei die Luft. Aber er kam nicht von dem weißen Dampfer, sondern erscholl gleich hinter ihm, und Anawak wirbelte herum.
   Der Anblick hatte etwas Surreales. Direkt über dem Boot der Tierschützer stand senkrecht der Körper eines riesigen Buckelwals. Beinahe schwerelos wirkte er, ein Wesen von monumentaler Schönheit, das krustige Maul den Wolken zugereckt, und immer noch stieg er weiter empor, zehn, zwölf Meter über ihre Köpfe hinweg. Den Herzschlag einer Ewigkeit lang hing er einfach nur so am Himmel, sich langsam drehend, und die meterlangen Flipper schienen ihnen zuzuwinken.
   Anawaks Blick wanderte an dem springenden Koloss entlang. Nie hatte er etwas zugleich so Schreckliches und Großartiges gesehen, nie aus solcher Nähe. Alle, Jack Greywolf, die Menschen in den Zodiacs, er selber, legten den Kopf in den Nacken und starrten auf das, was nun auf sie zukommen würde.
   »Oh mein Gott«, flüsterte er.
   Wie in Zeitlupe neigte sich der Leib des Wals. Sein Schatten legte sich auf das rote Fischerboot der Umweltschützer, wuchs über den Bug der Blue Shark hinaus, wurde länger, als der Körper des Riesen kippte, schneller und immer schneller …
   Anawak drückte das Gas durch. Das Zodiac schoss mit einem Ruck davon. Auch Greywolfs Fahrer hatte einen Blitzstart zuwege gebracht, aber seine Richtung stimmte nicht. Das klapprige Sportboot schlingerte auf Anawak zu. Sie prallten zusammen. Anawak wurde nach hinten gerissen, sah den Fahrer über Bord und Greywolf zu Boden gehen, dann raste das Boot in entgegengesetzter Richtung davon, während seines mit voller Fahrt wieder auf die Blue Shark zuhielt. Vor seinen Augen begruben die neun Tonnen Körpermasse des Buckelwals das Fischerboot unter sich, drückten es mitsamt seiner Besatzung unter Wasser und schlugen auf den Bug der Blue Shark. Gischt spritzte in gewaltigen Fontänen hoch. Das Heck des Zodiacs schoss steil nach oben, Menschen in roten Overalls wirbelten durch die Luft. Kurz balancierte die Blue Shark auf ihrer Spitze, pirouettierte um die eigene Achse und kippte seitwärts. Anawak duckte sich. Sein Boot schnellte unter dem umstürzenden Zodiac hindurch, schlug gegen etwas Massives unterhalb der Wasseroberfläche und sprang darüber hinweg. Vorübergehend verlor er den Boden unter den Füßen, dann endlich hielt er das Steuer wieder in Händen, riss es herum und bremste ab.
   Ein unbeschreibliches Bild bot sich ihm. Vom Boot der Umweltschützer waren nur noch Trümmer zu sehen. Die Blue Shark trieb kieloben in den Wellen. Menschen hingen im Wasser, wild paddelnd und schreiend, andere reglos. Ihre Anzüge hatten sich selbständig aufgepumpt, sodass sie nicht versinken konnten, aber Anawak ahnte, dass einige von ihnen tot sein mussten, erschlagen vom Gewicht des Wals. Ein Stück weiter sah er die Lady Wexham mit deutlicher Schlagseite Fahrt aufnehmen, umkreist von Rücken und Fluken. Ein plötzlicher Stoß erschütterte das Schiff, und es legte sich noch mehr auf die Seite.
   Vorsichtig, um niemanden zu verletzen, steuerte Anawak das Zodiac zwischen die treibenden Körper, während er einen kurzen Funkspruch auf Frequenz 98 losschickte und seine Position durchgab.
   »Probleme«, sagte er atemlos. »Wahrscheinlich Tote.«
   Alle Boote im Umkreis würden den Notruf hören. Mehr Zeit blieb ihm nicht. Keine Zeit zu erklären, was geschehen war. Ein Dutzend Passagiere waren an Bord der Blue Shark gewesen, außerdem Stringer und ihr Assistent. Hinzu kamen die drei Umweltschützer. Siebzehn Menschen insgesamt, aber im Wasser zählte er deutlich weniger.
   »Leon!«
   Das war Stringer! Sie schwamm auf ihn zu. Anawak ergriff ihre Hände und zog sie an Bord. Hustend und keuchend fiel sie ins Innere. In einiger Entfernung sah er die Rückenschwerter mehrerer Orcas. Die schwarzen Köpfe und Rücken hoben sich heraus, während sie mit hoher Geschwindigkeit auf den Unglücksort zuhielten.
   Sie legten eine Zielstrebigkeit an den Tag, die Anawak nicht gefiel.
   Dort trieb Alicia Delaware. Sie hielt den Kopf eines jungen Mannes über Wasser, dessen Anzug nicht wie die anderen von Pressluft gebläht war. Anawak lenkte das Boot näher an die Studentin heran. Neben ihm stemmte sich Stringer hoch. Vereint hievten sie zuerst den bewusstlosen Jungen und dann das Mädchen an Bord. Delaware schüttelte Anawaks Hände ab, hängte sich sofort wieder über den Bootsrand und half Stringer, weitere Menschen ins Innere zu ziehen. Andere näherten sich aus eigener Kraft, reckten die Arme, und sie halfen ihnen hinein. Das Boot füllte sich schnell. Es war viel kleiner als die Blue Shark und eigentlich schon zu voll. Hastig griffen sie zu, während Anawak weiter die Wasseroberfläche absuchte.
   »Da schwimmt noch einer!«, rief Stringer. Ein menschlicher Körper hing reglos im Wasser, das Gesicht nach unten, der Statur nach männlich, mit breiten Schultern und Rücken. Kein Overall. Einer der Umweltschützer. »Schnell!« Anawak beugte sich über die Reling. Stringer war neben ihm. Sie packten den Mann bei den Oberarmen und zogen ihn hoch. Es ging einfach. Zu einfach.
   Der Kopf des Mannes fiel nach hinten, und sie sahen in blicklose Augen. Noch während Anawak den Toten anstarrte, wurde ihm bewusst, warum der Körper so leicht war. Er endete dort, wo die Taille gewesen war. Beine und Becken fehlten. Aus dem Torso baumelten tropfend Fleischfetzen, Arterien und Gedärme.
   Stringer keuchte und ließ los. Der Tote kippte weg, entglitt Anawaks Fingern und klatschte zurück ins Wasser.
   Rechts und links von ihnen durchschnitten die Schwerter der Orcas das Wasser. Es waren mindestens zehn, vielleicht mehr. Ein Schlag erschütterte das Zodiac. Anawak sprang zum Steuer, gab Gas und fuhr los. Vor ihnen wölbten sich drei mächtige Rücken aus den Wellen, und er ging in eine halsbrecherische Kurve. Die Tiere tauchten ab. Zwei weitere kamen von der anderen Seite und hielten auf das Boot zu. Wieder fuhr Anawak eine Kurve. Er hörte Schreie und Weinen. Auch er selber hatte schreckliche Angst. Sie durchfloss ihn wie elektrischer Strom, verursachte ihm Übelkeit, doch ein anderer Teil von ihm steuerte das Zodiac unbeirrt in einem aberwitzigen Slalom zwischen den schwarzweißen Körpern hindurch, die immer aufs Neue versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden.
   Ein Krachen ertönte von rechts. Anawak wandte reflexartig den Kopf und sah die Lady Wexham in einer Wolke aus Gischt erbeben und kippen.
   Später erinnerte er sich, dass es dieser Blick war, dieser eine Moment der Unaufmerksamkeit, der ihr Schicksal besiegelte. Er wusste, dass er nicht zu dem großen Schiff hätte hinüberschauen dürfen. Möglicherweise wären sie entkommen. Bestimmt hätte er den grau gesprenkelten Rücken gesehen und wie der Wal abtauchte, wie sich seine Fluke aus dem Wasser hob, direkt in Fahrtrichtung.
   So sah er den herabsausenden Schwanz erst, als es zu spät war.
   Die Fluke verpasste ihnen einen Schlag gegen die Seite. Im Allgemeinen reichte ein solcher Schlag nicht aus, um ein Schlauchboot aus der Bahn zu werfen, aber sie waren zu schnell, sie lagen zu schräg in der Kurve, und sie sprangen über die Wellen dahin. Der Schlag erwischte das Boot im dem Moment, da es in einen Zustand fataler Instabilität geriet Es wurde hoch gerissen, schwebte einen Moment im Nichts, prallte seitlich auf und überschlug sich.
   Anawak wurde hinausgeschleudert.
   Er flog. Er wirbelte durch die Luft. Dann durch Gischt und grünes Wasser. Im nächsten Moment war er untergetaucht und sank in die Schwärze, ohne Orientierung, ohne Gefühl für Oben und Unten. Stechende Kälte drang in ihn ein. Mit aller Kraft trat er um sich, kämpfte sich zurück zur Oberfläche, rang keuchend nach Luft und geriet wieder mit dem Kopf unter Wasser. Diesmal strömte es eisig in seine Lungen. Panik erfasste ihn, er strampelte noch mehr mit den Beinen, ruderte wie von Sinnen mit den Armen und durchbrach erneut die Wasserfläche, hustend und spuckend. Weder sein Boot noch einer der Insassen waren irgendwo zu sehen. Die Küste geriet in sein Blickfeld. Tanzte auf und nieder. Er drehte sich um, wurde von einer Welle hochgehoben und sah endlich die Köpfe der anderen. Es waren längst nicht alle, vielleicht ein halbes Dutzend. Da war Delaware, dort Stringer. Dazwischen die schwarzen Schwerter der Orcas. Sie pflügten durch die Gruppe der Schwimmenden, tauchten ab, und plötzlich verschwand einer der Köpfe unter Wasser und kam nicht wieder hoch.
   Eine ältere Frau sah den Mann untergehen und begann zu schreien. Ihre Arme schlugen wie wild aufs Wasser, in ihren Augen stand das nackte Entsetzen.
   »Wo ist das Boot?«, schrie sie.
   Wo war das Boot? Schwimmend würden sie es niemals bis ans Ufer schaffen. Wenn sie das Boot erreichten, konnten sie vielleicht Schutz darauf finden. Selbst wenn es gekentert war. Sie konnten hinaufkriechen und hoffen, dort nicht weiter attackiert zu werden. Aber das Boot war nirgendwo zu sehen, und die Frau schrie immer lauter und verzweifelter um Hilfe.
   Anawak schwamm auf sie zu. Sie sah ihn herannahen und streckte die Arme nach ihm aus.
   »Bitte«, weinte sie. »Helfen Sie mir.«
   »Ich helfe Ihnen«, rief Anawak. »Bleiben Sie ruhig.«
   »Ich gehe unter. Ich ertrinke!«
   »Sie ertrinken nicht.« Er hielt in langen Zügen auf sie zu. »Es kann nichts passieren. Der Overall trägt sie.«
   Die Frau schien ihn nicht zu hören.
   »So helfen Sie mir doch! Bitte, oh mein Gott, lass mich nicht sterben! Ich will nicht sterben!«
   »Haben Sie keine Angst, ich …«
   Plötzlich weiteten sich ihre Augen. Ihr Schreien endete in einem Gurgeln, als sie unter Wasser gezogen wurde.
   Etwas streifte Anawaks Beine.
   Namenlose Angst erfasste ihn. Er stemmte sich aus dem Wasser, warf einen Blick über die Wellen, und da war das Zodiac. Es trieb kieloben. Nur wenige Schwimmstöße lagen zwischen der kleinen Gruppe Schiffbrüchiger und der rettenden Insel. Nur wenige Meter — und drei schwarze, lebende Torpedos, die von dort auf sie zukamen.
   Wie paralysiert starrte er auf die heranstürmenden Orcas. Etwas in ihm protestierte: Nie zuvor hatte ein Orca einen Menschen in freier Wildbahn angegriffen. Orcas verhielten sich Menschen gegenüber neugierig, freundlich oder gleichgültig. Wale griffen keine Schiffe an. Sie taten es einfach nicht. Nichts von dem, was hier geschah, hatte Anspruch auf Gültigkeit. So fassungslos war Anawak, dass er das Geräusch zwar hörte, aber nicht sofort begriff: ein Dröhnen und Röhren, das näher kam, lauter wurde, sehr laut. Dann traf ihn ein Wasserschwall, und etwas Rotes schob sich zwischen ihn und die Wale. Er wurde gepackt und über die Reling gezogen.
   Greywolf beachtete ihn nicht weiter. Er steuerte das Sportboot näher an den verbliebenen Rest der Schwimmer, beugte sich erneut vor und ergriff die ausgestreckten Hände Alicia Delawares. Mühelos zog er sie aus dem Wasser und beförderte sie auf eine der Sitzbänke. Anawak lehnte sich hinaus, bekam einen keuchenden Mann zu fassen, wuchtete ihn ins Innere. Er suchte die Wasseroberfläche nach den anderen ab. Wo war Stringer?
   »Da!«
   Sie tauchte zwischen zwei Wellenkämmen auf, zusammen mit einer Frau, die halb bewusstlos im Wasser trieb. Die Orcas hatten das gekenterte Zodiac umrundet und näherten sich von beiden Seiten. Ihre schwarz glänzenden Köpfe zerteilten das Wasser. Hinter den spaltbreit geöffneten Lippen schimmerten elfenbeinfarbene Zahnreihen. Sekunden noch, und sie würden Stringer und die Frau erreicht haben. Aber Greywolf war schon wieder am Steuer und manövrierte das Boot zielsicher heran.
   Anawak versuchte Stringer zu erreichen.
   »Die Frau zuerst«, rief sie.
   Greywolf kam ihm zur Hilfe. Sie brachten die Frau in Sicherheit. Stringer versuchte sich währenddessen aus eigener Kraft hineinzuziehen, aber sie schaffte es nicht. Hinter ihr tauchten die Wale ab.
   Plötzlich schien sie allein. Das Meer leer und verödet. Niemand außer ihr.
   »Leon?«
   Sie streckte die Hände aus, Furcht im Blick. Anawak langte hinaus und bekam ihren rechten Arm zu fassen.
   Im blaugrünen Wasser kam etwas Großes mit unglaublicher Geschwindigkeit nach oben geschossen. Kiefer öffneten sich, helle Zahnreihen vor einem rosafarbenen Gaumen, und schlossen sich knapp unterhalb der Oberfläche. Stringer schrie auf. Sie begann mit der Faust auf das Maul, das sie umklammert hielt, einzuschlagen.
   »Hau ab«, schrie sie. »Weg. Du Mistvieh!«
   Anawak krallte die Hände in ihre Jacke. Stringer sah zu ihm hoch. Ihr Blick spiegelte Todesangst.
   »Susan! Gib mir die andere Hand.«
   Er hielt sie fest, entschlossen, nicht nachzugeben. Der Orca hatte Stringer um die Mitte gepackt. Er zerrte mit unglaublicher Kraft an ihr. Ein Heulen kam aus Stringers Kehle, erst dumpf und schmerzvoll, dann überschlagend, schrill. Sie hörte auf, das Maul des Orcas mit Schlägen zu bearbeiten, und schrie nur noch. Dann wurde sie Anawak mit einem fürchterlichen Ruck entrissen. Er sah ihren Kopf unter Wasser verschwinden, ihre Arme, die zuckenden Finger. Der Orca zog sie unerbittlich hinab. Eine Sekunde lang leuchtete noch ihr Overall auf, ein versprengtes Kaleidoskop aus Farbe, das verblasste, sich auflöste, verschwand.
   Anawak starrte fassungslos ins Wasser. Aus der Tiefe stieg etwas Glitzerndes nach oben. Ein Schwall Luftblasen. Sie zerplatzten schäumend an der Wasseroberfläche.
   Drum herum färbte sich das Wasser rot.
   »Nein«, flüsterte er.
   Greywolf packte ihn an der Schulter und zog ihn zurück.
   »Es ist niemand mehr da«, sagte er. »Wir hauen ab.« Anawak war wie betäubt. Das Sportboot nahm röhrend Fahrt auf. Er taumelte und fing sich. Die Frau, die Stringer gerettet hatte, lag auf einer der seitlichen Sitzbänke und wimmerte. Delaware redete mit zitternder Stimme auf sie ein. Der Mann, den sie aus dem Wasser gezogen hatte, stierte vor sich hin. In einiger Entfernung hörte er tumultartigen Lärm, wandte den Kopf und sah das weiße Schiff umkreist von Schwertern und Buckeln. Wie es aussah, machte die Lady Wexham kaum noch Fahrt, während sie immer dramatischer in Schieflage geriet.
   »Wir müssen zurück«, rief er. »Sie schaffen es nicht.« Greywolf jagte das Boot mit Höchstgeschwindigkeit auf die Küste zu. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Vergiss es.« Anawak trat neben ihn, riss das Walkie-Talkie aus der Halterung und rief die Lady Wexham. Es rauschte und knisterte. Der Skipper der Lady meldete sich nicht. »Wir müssen denen helfen. Jack! Verdammt, dreh um…« »Ich sagte, vergiss es! Mit meinem Boot haben wir nicht die geringste Chance. Wir können von Glück sagen, wenn wir das hier überleben.« Das Schreckliche war, dass er Recht hatte.
   »Victoria?«, schrie Shoemaker ins Telefon. »Was zum Teufel tun die alle in Victoria? — Wieso angefordert? — Die haben ihre eigene Küstenwache in Victoria. Im Clayoquot Sound treiben Passagiere, da sinkt vielleicht gerade ein Schiff, eine Skipperin ist tot, und wir sollen uns gedulden?«
   Er hörte zu, während er mit langen Schritten den Verkaufsraum durchmaß. Abrupt blieb er stehen. »Was heißt das, sobald sie können? — Das ist mir scheißegal! Dann sollen sie jemand anderen schicken. — Was? — Hören Sie mal, Sie …«
   Die Stimme im Hörer schrie so laut zurück, dass es bis zu Anawak drang, obwohl Shoemaker in einigen Metern Entfernung stand. In der Station herrschte Aufruhr. Davie war persönlich anwesend. Er und Shoemaker sprachen pausenlos in irgendwelche Hörer und Geräte, gaben Instruktionen durch oder hörten fassungslos zu. Bei Shoemaker gewann die Fassungslosigkeit gerade Überhand. Er ließ den Hörer sinken und schüttelte den Kopf.
   »Was ist los?«, wollte Anawak wissen. Er machte Shoemaker das Zeichen, leiser zur reden, und ging zu ihm hinüber. Während der letzten Viertelstunde, seit Greywolf sein altersschwaches Boot zurück nach Tofino geprügelt hatte, füllte sich der Verkaufsraum stetig mit Menschen. Die Nachricht von den Angriffen war wie ein Lauffeuer durch den kleinen Ort gegangen. Auch die anderen Skipper, die für Davies arbeiteten, trafen der Reihe nach ein. Mittlerweile waren die Frequenzen hoffnungslos überlastet. Die Prahlereien von Sportfischern, die in der Nähe waren und Kurs auf die Unglücksstelle nahmen — »Ha, junge Leute, zu blöde, einem Wal auszuweichen!« —, verstummten allmählich. Wer helfen wollte, wurde augenblicklich selber Zielscheibe von Attacken. Die Welle der Angriffe schien sich entlang der kompletten Küstenlinie fortzusetzen. Überall war die Hölle losgebrochen, ohne dass jemand wirklich zu sagen vermochte, was überhaupt geschah.
   »Die Küstenwache hat niemanden, den sie uns schicken kann«, zischte Shoemaker. »Sie sind alle vor Victoria und Ucluelet unterwegs. Sie sagen, es seien mehrere Boote in Seenot geraten.«
   »Was? Dort auch?«
   »Scheint, als hätte es jede Menge Tote gegeben.«
   »Ich bekomme gerade was aus Ucluelet rein«, rief Davie zu ihnen herüber. Er lehnte hinter der Theke und drehte an den Knöpfen seines Kurzwellenempfängers. »Ein Trawler. Sie haben den Notruf eines Zodiacs aufgefangen und wollten zur Hilfe kommen. Jetzt werden sie selber angegriffen. — Sie hauen ab.«
   »Wovon werden sie angegriffen?«
   »Kein Empfang mehr. Sie sind weg.«
   »Und die Lady Wexham?«
   »Nichts. Tofino Air ist mit zwei Maschinen hochgegangen. Eben hatte ich kurz Verbindung.«
   »Und?«, rief Shoemaker atemlos. »Sehen sie die Lady?«
   »Sie sind gerade erst gestartet, Tom.«
   »Und warum sind wir nicht mit an Bord?«
   »Blöde Frage, weil …«
   »Verdammt, das sind unsere Boote! Warum sind wir nicht in diesen beschissenen Flugzeugen?« Shoemaker rannte wie von Sinnen hin und her. »Was ist mit der Lady Wexham?«
   »Wir müssen eben warten.«
   »Warten? Wir können nicht warten! Ich fahre hin.«
   »Was soll das heißen, du fährst hin?«
   »Na, draußen liegt doch noch ein Zodiac, oder? Wir können die Devilfish nehmen und nachsehen.«
   »Bist du wahnsinnig?«, rief einer der Skipper. »Hast du nicht gehört, was Leon erzählt? Das ist Sache der Küstenwache.«
   »Es ist aber keine beschissene Küstenwache da!«, schrie Shoemaker.
   »Vielleicht kann sich die Lady Wexham ja aus eigener Kraft retten. Leon hat gesagt …«
   »Vielleicht, vielleicht! Ich fahre!«
   »Schluss!« Davie hob die Hände. Er warf Shoemaker einen warnenden Blick zu. »Tom, ich will keine weiteren Menschenleben in Gefahr bringen, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
   »Du willst dein Boot nicht in Gefahr bringen«, bellte Shoemaker angriffslustig. »Wir werden abwarten, was die Piloten zu sagen haben. Danach entscheiden wir, was zu tun ist.« »Alleine schon diese Entscheidung ist falsch!«
   Davie antwortete nicht. Er drehte an den Knöpfen seines Empfängers und versuchte, in Kontakt mit den Piloten der Wasserflugzeuge zu kommen, während Anawak bemüht war, die Leute wieder aus dem Verkaufsraum nach draußen zu komplimentieren. Hin und wieder verspürte er ein Zittern in seinen Knien und einen leichten Schwindel. Wahrscheinlich stand er unter Schock. Er hätte alles darum gegeben, sich einen Moment hinlegen und die Augen schließen zu dürfen, aber dann würde er wahrscheinlich wieder Susan Stringer sehen, wie sie von dem Orca in die Tiefe gerissen wurde.
   Die Frau, die Stringer ihr Leben verdankte, lag wie ohnmächtig auf einer Bank neben dem Eingang. Anawak konnte nicht anders, er betrachtete sie voller Hass. Ohne sie hätte Stringer es geschafft. Der gerettete Mann saß daneben und weinte leise. Wie es aussah, hatte er seine Tochter verloren, die mit auf der Blue Shark gewesen war. Alicia Delaware kümmerte sich um ihn. Selbst nur knapp dem Tod entronnen, wirkte sie erstaunlich gefasst. Angeblich war ein Hubschrauber unterwegs, um die Geretteten ins nächste Hospital zu bringen, aber derzeit ließ sich mit nichts und niemandem wirklich rechnen.
   »He, Leon!«, sagte Shoemaker. »Kommst du mit? Du weißt am besten, worauf wir zu achten haben.«
   »Tom, du fährst nicht«, sagte Davie scharf.
   »Kein Einziger von euch Idioten sollte jemals wieder da rausfahren«, ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen. »Ich fahre.«
   Anawak drehte sich um. Greywolf hatte die Station betreten. Er schob sich durch die wartenden Menschen und strich sich das lange Haar aus der Stirn. Nachdem er Anawak und die anderen abgeliefert hatte, war er in seinem Boot geblieben, um es auf Schäden zu untersuchen. Schlagartig wurde es ruhiger im Verkaufsraum. Alle starrten den langmähnigen Riesen in der Lederkleidung an.
   »Wovon redest du?«, fragte Anawak. »Wohin fährst du?«
   »Raus zu eurem Schiff. Eure Leute holen. Ich habe keine Angst vor Walen. Sie tun mir nichts.«
   Anawak schüttelte ärgerlich den Kopf. »Edel von dir, Jack, wirklich. Aber vielleicht solltest du dich ab jetzt raushalten.«
   »Leon, kleiner Mann.« Greywolf fletschte die Zähne. »Wenn ich mich rausgehalten hätte, wärst du jetzt tot. Vergiss das nicht. Ihr seid es, die sich besser rausgehalten hätten. Von Anfang an.«
   »Aus was?«, zischte Shoemaker.
   Greywolf sah den Geschäftsführer unter gesenkten Lidern an. »Aus der Natur, Shoemaker. Ihr seid doch schuld an dem ganzen Desaster. Ihr mit euren Booten und euren verfluchten Kameras. Ihr seid schuld am Tod meiner und eurer Leute und derjenigen, denen ihr das Geld aus der Tasche gezogen habt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis so etwas passierte.«
   »Du blödes Arschloch!«, schrie Shoemaker.
   Delaware blickte von dem schluchzenden Mann auf und erhob sich.
   »Er ist kein blödes Arschloch«, sagte sie sehr bestimmt. »Er hat uns gerettet. Und er hat Recht. Ohne ihn wären wir jetzt tot.«
   Shoemaker sah aus, als wolle er Greywolf an die Kehle springen. Anawak wusste sehr genau, dass sie dem Riesen zu Dank verpflichtet waren, er selber allen voran, aber Greywolf hatte sie in der Vergangenheit schon zu oft geärgert. Also sagte er nichts. Einige Sekunden herrschte unbehagliches Schweigen. Schließlich drehte sich der Geschäftsführer auf dem Absatz um und stakste hinüber zu Davie.