»Worin besteht dieses Signal?«, fragte Anawak.
   »Es ist ein Stoff, den sie abgeben.«
   »Also ein Duft?«
   »Ja. Gewissermaßen.«
   Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Jeder legte die Stirn in Falten, setzte die Fingerspitzen aufeinander, schürzte die Lippen.
   »Gut«, sagte Li. »Ich bin beeindruckt. Das ist ein großer Erfolg. Wir sollten unsere Zeit jetzt nicht damit vertun, Laienwissen auszutauschen. Was sind die nächsten Schritte?«
   »Ich hätte einen Vorschlag«, sagte Weaver.
   »Bitte.«
   »Leon hatte im Chateau eine Idee, erinnert ihr euch? Es ging um die Navy-Versuche mit Delphingehirnen. Um Implantate, die nicht aus simplen Mikrochips bestehen, sondern aus dicht gepackten, künstlichen Nervenzellen, die Teile des Hirns bis ins Detail nachbilden und durch elektrische Impulse miteinander kommunizieren. Ich dachte gerade, wenn die Gallerte wirklich ein Verbund aus Einzellern ist und diese Einzeller die Funktion der Hirnzellen gewissermaßen übernehmen, beziehungsweise ersetzen — dann können sie untereinander kommunizieren. Sie müssen es sogar. Andernfalls wären sie nicht in der Lage, zu verschmelzen und die Form zu ändern. Vielleicht erschaffen sie tatsächlich ein künstliches Gehirn einschließlich chemischer Botenstoffe. Vielleicht …« Sie zögerte. »… übernehmen sie ja sogar Emotionen, Eigenschaften und Wissen ihres Wirts und lernen auf diese Weise, ihn zu beherrschen.«
   »Dafür müssten sie lernfähig sein«, sagte Oliviera. »Aber wie sollen Einzeller lernen?«
   »Leon und ich könnten versuchen, einen Schwarm solcher Einzeller im Computer künstlich zu erschaffen und mit Eigenschaften zu versehen. So lange, bis er beginnt, sich wie ein Gehirn zu verhalten.«
   »Eine künstliche Intelligenz?«
   »Unter biologischen Vorzeichen.«
   »Das klingt brauchbar«, beschied Li. »Machen Sie das.
   Weitere Vorschläge?« »Ich versuche mal, in der Prähistorie nach einer verwandten Lebensform zu kramen«, sagte Rubin. Li nickte. »Bei Ihnen was Neues, Sam?« »Nicht wirklich«, erklang Crowes Stimme aus einer Rauchwolke. »Wir arbeiten an der Entschlüsselung alter Scratch -Signale, solange wir keine Antwort erhalten.« »Vielleicht sollten Sie Ihren Yrr was Anspruchsvolleres schicken als Rechenaufgaben«, meinte Peak.
   Crowe sah ihn an. Der Rauch verzog sich, und ihr schönes, altes Gesicht mit den tausend kleinen Fältchen war zu einem Lächeln verzogen.
   »Nur die Ruhe, Sal.«
   »Sie sind verdammt optimistisch, was?«, sagte Peak.
   »Ich habe Geduld.«
 
Welldeck
 
   Roscovitz gehörte zu den Leuten, die ihr Leben bei der US Navy verbrachten und keine Pläne hatten, das zu ändern. Er war der Meinung, jeder solle tun, was er am besten könne, und weil es ihm unter Wasser gefiel, hatte er eine Laufbahn als U-Boot-Fahrer eingeschlagen und es bis zum Commander gebracht.
   Aber Roscovitz war auch der Meinung, dass unter allen Eigenschaften, die einen Menschen auszeichneten, Neugier zu den hervorstechendsten gehörte. Er hatte viel übrig für Treue, Pflichterfüllung und Vaterland, aber nichts für dumpfes Kommissgehabe. Eines Tages war ihm klar geworden, dass die meisten U-Boot-Fahrer eine Welt durchkreuzten, über die sie nichts wussten, also hatte er begonnen, sich darüber schlau zu machen. Deswegen war er zwar kein Biologe geworden. Aber sein Interesse an den Dingen machte die Runde bis in die wissenschaftlichen Stellen der Navy, wo man Leute suchte, die Soldat genug waren, um sich wie einer zu verhalten, und flexibel genug im Denken, um eine Exekutivfunktion in der Forschung übernehmen zu können.
   Nachdem entschieden war, die Independence für die Grönlandmission umzurüsten, hatte man ihn beauftragt, dem Schiff das Nonplusultra einer Tauchbasis zu verschaffen. Für nichts war Geld übrig, nirgendwo auf der Welt — bis auf die Forschung. Vielen galt die Independence als letzte Hoffnung der Menschheit, also wurde an nichts gespart. Roscovitz bekam kein Budget, sondern einen Freibrief. Er sollte einkaufen, was er fand und was ihm geeignet erschien, und wenn es einigermaßen schnell ging, sollte er konstruieren lassen, was es noch nicht gab und wonach ihm der Sinn stand.
   Niemand hatte erwartet, dass der Mann ernsthaft über bemannte Tauchboote nachdenken würde. Das Hauptaugenmerk lag auf ROVs, den verkabelten, fernsteuerbaren Unterwasserrobotern wie dem Victor, der die Würmer vor Norwegen aufgespürt hatte. Es gab zudem eine Reihe von Fortschritten in der Konstruktion von AUVs zu verzeichnen, Robotern, die nicht einmal mehr eine Kabelverbindung zum Schiff benötigten. Die meisten dieser Automaten verfügten über hoch auflösende Kameras und irgendeine Form von Greifarm bis hin zu sensiblen künstlichen Gliedmaßen. Niemand wollte Menschenleben gefährden, nachdem Taucher angegriffen und getötet worden waren und sich keiner mehr in Wasser traute, das höher ging als bis zu den Knöcheln.
   Roscovitz hatte zugehört und gesagt, dass sie es unter diesen Umständen vergessen könnten.
   Er sagte: »Haben wir je einen Krieg gewonnen ausschließlich mit Maschinen? Wir können intelligente Bomben abfeuern und unbemannte Drohnen über feindliches Gebiet fliegen lassen, aber die Entscheidungen, die ein Pilot in einem Kampfjet trifft, kann ihm keine Maschine abnehmen. Es wird irgendwann im Verlauf dieser Mission eine Situation geben, in der wir selber nach dem Rechten schauen müssen.«
   Sie fragten ihn, was er wolle. Er sagte, natürlich ROVs und AUVS, aber auch bemannte, bewaffnete Boote. Er bat außerdem um eine Delphinstaffel und erfuhr zu seiner Befriedigung, dass die Aufnahme von MK-6 und MK-7 bereits angeordnet war, nachdem ein Mitglied des Wissenschaftlichen Stabs den Vorschlag unterbreitet hatte. Als er hörte, wer die Betreuung der Staffeln übernehmen sollte, war seine Freude noch größer geworden.
   Jack O’Bannon.
   Roscovitz kannte O’Bannon nicht persönlich. Aber der Ex-Soldat war in gewissen Kreisen ein Begriff. Manche meinten, er sei der beste Trainer, den die Staffeln je gehabt hatten. Später hatte er der Navy abgeschworen wie dem Teufel. Roscovitz wusste sehr gut, was es mit O’Bannons angeblicher Herzschwäche auf sich hatte. Umso mehr erstaunte es ihn zu hören, dass der Mann wieder an Bord war.
   Seine Vorgesetzten versuchten, ihm die bemannten Boote auszureden. Er blieb hartnäckig. Sie argumentierten mit den nicht abzuschätzenden Risiken, er wiederholte ein ums andere Mal denselben Satz: »Wir werden sie brauchen.« Bis sie ihm schließlich grünes Licht erteilten.
   Dann überraschte er sie ein weiteres Mal.
   Wahrscheinlich war das Marineministerium davon ausgegangen, er würde das Heck des riesigen Helikopterträgers voll stopfen mit Tauchbooten, die eine Menge Eindruck machten wie die russischen MIR-Boote, die japanische Shinkai und die französische Nautile. Weltweit gab es nur ein halbes Dutzend Boote, die tiefer kamen als 3000 Meter, und diese gehörten dazu, ebenso wie die gute alte Alvin. Aber Roscovitz setzte auf Neuerung. Er wusste, dass ihm derartige Boote nicht viel nützen würden. Mit der Shinkai gelangte man zwar auf 6500 Meter Tiefe, aber sie konnte ihre Vertikalbewegungen nur durch Fluten und Leerpumpen von Ballasttanks steuern, ebenso wie die MIR-Boote und Nautile. Roscovitz dachte nicht über eine klassische Tiefsee-Exploration nach, er dachte an Krieg und einen unsichtbaren Feind, und er stellte sich vor, wie es wäre, eine Luftschlacht mit Heißluftballons zu führen. Die meisten Tiefseetauchboote waren einfach zu schwerfällig. Was er brauchte, waren Tiefsee-Jets.
   Kampfjets.
   Nach einer Weile stieß er auf ein Unternehmen, dessen Produkte seinen Vorstellungen entgegenkamen. Hawkes Ocean Technologies im kalifornischen Point Richmond genoss nicht nur einen tadellosen Ruf in der Branche, sondern wurde auch regelmäßig zu Hollywood-Produktionen herangezogen, um den Spekulationen einen soliden Unterbau zu verschaffen. Graham Hawkes, ein namhafter Ingenieur und Erfinder, hatte die Firma Mitte der neunziger Jahre gegründet, um sich den Traum vom Fliegen zu ermöglichen — unter Wasser.
   Roscovitz legte einen Wunschzettel und eine größere Menge Geld auf den Tisch und machte zur Bedingung, dass die Konstrukteure jeden noch so eng gefassten Zeitrahmen unterboten.
   Das Geld tat das Seine.
   Als die Wissenschaftler um 10.30 Uhr den Pier des Welldecks betraten, jeder in einen Wärme speichernden Neoprenanzug gehüllt, der nur das Gesicht frei ließ, freute sich Roscovitz, zur Abwechslung diesen klugen Leuten was erzählen zu können. Die Soldaten und die Besatzung hatten ihre Einweisung schon in Norfolk erhalten. Die meisten von ihnen waren Navy-SEALS mit Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen. Aber Roscovitz war fest entschlossen, auch die Wissenschaftler fahr— und gefechtstauglich zu machen. Er wusste, dass im Verlauf solcher Expeditionen Dinge geschehen konnten, an deren Ende vielleicht ein Zivilist die entscheidende Rolle spielte.
   Er gab Browning Anweisung, eines der vier Tauchboote von der Decke zu lasse und sah zu, wie Deepflight 1 langsam herabsank. Von unten glich das Boot einem überdimensionalen Ferrari ohne Räder, bestückt mit vier langen, schlanken Röhren. Er wartete, bis es auf Augenhöhe hing, vier Meter über dem geplankten Boden des Decks und genau über der Bassin-Abdeckung. Auch aus dieser Perspektive hatte es wenig Ähnlichkeit mit einem klassischen Tauchfahrzeug. Flach und breit, von annähernder Rechteckform, mit vier Antriebs-und Steuerdüsen an der Rückseite und zwei teilverglasten Körperröhren, die schräg aus der Oberfläche wuchsen, erinnerte das Deepflight eher an ein kleines Raumschiff. Unterhalb der transparenten Kuppeln entsprangen mehrgelenkige Greifarme.
   Das Auffälligste waren die Stummelflügel zu beiden Seiten.
   »Sie finden, es sieht aus wie ein Flugzeug«, sagte Roscovitz. »Und da haben Sie Recht. Es ist ein Flugzeug und ebenso wendig. Die Tragflächen erfüllen dieselbe Funktion, mit dem kleinen Unterschied, dass ihre Profile in die entgegengesetzte Richtung wirken. Beim Flugzeug sorgen sie für Auftrieb. Die Flügel eines Deepflight hingegen erzeugen einen Sog nach unten und wirken dem Auftrieb entgegen. Auch der Steuermechanismus ist der Luftfahrt abgeguckt. Man sinkt nicht wie ein Stein, sondern bewegt sich in einem Neigungswinkel bis 60 Grad, fliegt elegante Kurven, gelangt blitzschnell runter oder rauf, wusch, wusch!« Er machte es mit der flachen Hand vor und deutete auf die Körperhüllen. »Der Hauptunterschied zum Flugzeug ist, dass man nicht sitzt, sondern liegt. So bleiben wir bei drei mal sechs Metern Kantenlänge unter einer Höhe von einem Meter vierzig.«
   »Wie tief taucht dieses Flugzeug?«, fragte Weaver.
   »So tief Sie wollen. Sie könnten geradewegs zum Grund des Marianengrabens fliegen und würden keine anderthalb Stunden dafür brauchen. Das Baby legt zwölf Knoten vor. Es hat eine Hülle aus Keramik, die Sichtkuppeln bestehen aus Acryl, eingefasst von Titaniumhüllen, absolut tiefentauglich. Man genießt einen sensationellen Rundumblick, was in unserem Fall heißt, rechtzeitig verschwinden oder feuern zu können, je nachdem.« Er zeigte zur Unterseite. »Wir haben unsere Deepflights mit vier Torpedos ausgestattet. Zwei von den Dingern haben eine begrenzte Sprengkraft. Sie können einem Wal böse Wunden beibringen und ihn möglicherweise töten. Die anderen zwei reißen größere Löcher. Sie sprengen Stahl und Gestein und können einem ganzen Rudel zusetzen. Das Feuern überlassen Sie bitte dem Piloten, es sei denn, er ist tot oder bewusstlos und lässt Ihnen keine andere Wahl.«
   Roscovitz klatschte in die Hände.
   »Okay. Sie können sich nun darum balgen, wer als Erster einsteigt und Probe fährt. — Ach ja, was Sie noch interessieren dürfte: Der Sprit reicht für acht Stunden Flugzeit. Sollten Sie irgendwo hängen bleiben, versorgen Sie die lebenserhaltenden Systeme 96 Stunden lang mit Sauerstoff. Aber keine Angst: Bis dahin hat die Navy, Gottes eigene Armee, Sie längst gerettet. — Wer will?«
   »Ohne Wasser?«, fragte Shankar und sah skeptisch nach unten.
   Roscovitz grinste. »Wären Ihnen 15000 Tonnen genug?«
   »Ich, äh … denke schon.«
   »Gut. Fluten wir das Deck.«
 
Combat Information Center
 
   Zwei Funker hatten die Plätze von Crowe und Shankar eingenommen, solange die Wissenschaftler in Roscovitz’ Reich weilten. Sie schlugen die Zeit tot. Streng genommen hätten sie den Mund halten und die Ohren aufsperren müssen, aber sie hatten ja ihren Computer, und sie hatten Shankars SOSUS-Crew auf dem Festland. Was immer aus den Tiefen des Meeres drang, wurde dort von diversen elektronischen Systemen und menschlichen Sinnesorganen erfasst, vorselektiert, ausgewertet und kommentiert per Satellit zur Independence geschickt. Obschon Crowes Botschaft vom Schiff aus gesendet worden war und die Independence mitlauschte, war sie nur einer von vielen Horchposten. Eine mögliche Antwort der Yrr würde sämtliche atlantischen Hydrophone erreichen. Aus der räumlichen Verteilung und der Verschiebung von Zeitintervallen beim Eintreffen würde der Computer den Punkt errechnen, von dem das Signal ausging, es ins CIC schicken und dabei unmissverständlich auf sich aufmerksam machen.
   Im festen Vertrauen auf die Technik hatten die Männer begonnen, über Musik zu diskutieren. Bald bekam die Auseinandersetzung etwas Hitziges. Nachdem sich die Temperamente an der Glaubwürdigkeit weißer Hip-Hop-Künstler entzündeten, warf keiner überhaupt noch einen Blick auf die Monitore, bis einer der beiden nach seinem Kaffee griff und dabei zufällig den Kopf wandte. Sein Blick blieb hängen.
   »Hey. Was ist das denn?«
   Über zwei Monitore zuckten farbige Frequenzlinien.
   Der andere riss die Augen auf. »Wie lange sind die schon da?«
   »Weiß nicht.« Der Funker starrte auf die Linien. »Wir hätten was reinbekommen müssen vom Festland. Warum melden die sich nicht? Sie müssen das doch auch empfangen haben.«
   »Ist das die Frequenz, auf der Crowe gesendet hat?«
   »Keine Ahnung, was die gesendet hat. Man hört nichts.
   Muss irgendwas im Ultra— oder Infraschallbereich sein.«
   Der andere überlegte.
   »Okay. Das nächste Hydrophon sitzt vor Neufundland. Schall braucht seine Zeit. Die anderen haben es noch nicht empfangen, also sind wir die Ersten, bei denen es einläuft. Das kann nur heißen …«
   Sein Partner sah ihn an.
   »Es kommt von hier.«
 
Deepflight
 
   Lautstark arbeitete die Hydraulik, als die achterlichen Ballasttanks geflutet wurden. Das Heck der Independence sank langsam tiefer, während Meerwasser ins Innere strömte.
   »Wir könnten das Wasser durch die Schleuse einlassen«, erklärte Roscovitz mit gehobener Stimme, um den Lärm zu übertönen. »Aber dafür müssten wir sämtliche Schotts gleichzeitig öffnen, was wir aus Sicherheitsgründen vermeiden. Stattdessen bedienen wir uns eines speziellen Pumpsystems. Ein separater Rohrkreislauf leitet Wasser ins Innere des Decks. Es wird mehrfach gefiltert. Ebenso wie die Schleuse ist das Becken mit hoch empfindlichen Sensoren bestückt, die uns sagen, ob wir in der großen Badewanne bedenkenlos plantschen dürfen.«
   »Testen wir die Boote im Deck?«, rief Johanson.
   »Nein. Wir gehen raus.«
   Nachdem die Delphine den Rückzug der Orcas gemeldet hatten, war Roscovitz zu der Überzeugung gelangt, dass man ein paar echte Tauchgänge riskieren könnte.
   »Du lieber Himmel.« Rubin starrte wie paralysiert ins Becken, das sich schäumend füllte. »Das ist ja, als ob wir sinken.«
   Roscovitz grinste ihn an.
   »Sie machen sich falsche Vorstellungen. Ich bin schon mal mit einem Kriegsschiff gesunken. Glauben Sie mir, es ist anders!«
   »Und wie?«
   Roscovitz lachte. »Das wollen Sie nicht wissen. Nicht wirklich.«
   Meter um Meter sackte das Heck des riesigen Schiffes ab. Die Independence war zu groß, als dass man wirklich etwas von der Schräglage gespürt hätte. Aufs Ganze gesehen war sie minimal, ein Fall für die Wasserwaage, der Effekt jedoch umso verblüffender. Immer höher stieg die Flut, bis sie an die Ränder der Piers schwappte. Innerhalb weniger Minuten hatte sich das Deck in einen Pool mit vier Metern Bodentiefe verwandelt. Auch das Delphinarium lag unter Wasser, womit den Tieren nunmehr das komplette Becken zur Verfügung stand. Über dem künstlichen Gestade trieben gut vertäut die Zodiacs. Deepflight 1 schaukelte sanft auf den Wellen.
   Browning ließ ein weiteres Tauchboot von der Decke. Sie stand an der Konsole und bewegte einen Joystick. Nacheinander manövrierte sie die Boote über das Schienensystem bis zur Pierkante und öffnete die Abdeckungen der Körperröhren. Wie Düsenjetkuppeln klappten sie nach oben.
   »Jede Röhre lässt sich separat öffnen und schließen«, erklärte sie. »Einsteigen ist simpel. Trotzdem, wer’s nicht gewohnt ist, holt sich schon mal nasse Füße. Das Wasser im Becken ist während des Pumpvorgangs aufgeheizt worden und hat jetzt verträgliche 15 Grad Celsius, was Sie nicht auf die Idee bringen sollte, auf Ihre Schutzanzüge zu verzichten. Falls es Sie aus irgendeinem Grund in die offene See verschlägt und Sie haben kein Neopren und kein Tauchboot um sich herum, werden Sie ziemlich schnell tot sein. Das Wasser vor Grönland hat maximal zwei Grad.«
   »Noch Fragen?« Roscovitz teilte die Gruppen ein, je ein Pilot und ein Wissenschaftler. »Dann los. Wir bleiben nah am Schiff. Unsere feuchtfröhlichen Freunde von der Delphinstaffel meinen zwar, wir sollten uns keine Sorgen machen, aber das kann sich ändern. Leon, zu mir. Wir nehmen Deepflight I.«
   Er sprang auf das Boot. Es schaukelte heftig. Anawak tat es ihm nach, verlor das Gleichgewicht und landete kopfüber im Wasser. Eiseskälte schlug ihm ins Gesicht und raubte ihm den Atem. Prustend kam er an die Oberfläche und erntete kollektives Gelächter.
   »Genau das meinte ich«, sagte Browning trocken.
   Anawak zog sich auf den Rumpf und schlüpfte bäuchlings ins Innere der Röhre. Zu seiner Überraschung erwies sie sich als bequem und geräumig. Man lag nicht ganz in der Horizontalen, sondern leicht ansteigend, sodass die Körperhaltung eher der eines Skispringers im Anflug glich. Vor ihm lag ein übersichtliches Instrumentenpult. Roscovitz’ startete die Systeme, und die Abdeckungen schlossen sich lautlos.
   »Es ist nicht gerade ‘ne Suite im Ritz, Leon.«
   Die Stimme des Colonels drang aus Lautsprechern an Anawaks Ohr. Er drehte den Kopf. Einen Meter neben ihm schaute Roscovitz aus seiner Acrylglaskuppel herüber und grinste. »Sehen Sie den Joystick vor Ihnen? Ich sagte ja, es ist ein Flugzeug, und so verhält es sich auch. Sie müssen lernen, wie mit einem Flugzeug auf— und abzusteigen und Kurven zu fliegen, also Rollbewegungen in alle vier Richtungen zu vollziehen. Außerdem gibt es vier Strahler an der Unterseite, die genügend Rückstoß erzeugen, um das Deepflight eine Weile in der Schwebe zu halten. Die erste Runde fliege ich, dann übernehmen Sie, und ich werde Ihnen sagen, was Sie alles verkehrt gemacht haben.«
   Plötzlich kippten sie nach vorn weg. Wasser schwappte über die Acrylkuppel, und sie fuhren in sanftem Winkel abwärts. Am Bug und an den Tragflächen flammten Scheinwerfer auf. Anawak sah den Plankenboden des Decks unter sich hinwegziehen, dann waren sie über der Schleuse. Die Glasschotts fuhren auseinander. Er blickte in einen mehrere Meter tiefen, erleuchteten Schacht, an dessen Grund sich dunkler Stahlboden erstreckte.
   Gemächlich sank das Deepflight in die Schleuse, und die Glasschotts schlossen sich über ihnen.
   Ein mulmiges Gefühl überkam ihn.
   »Keine Bange«, sagte Roscovitz. »Raus geht’s schneller als rein.«
   Rumpelnd setzten sich die Stahlschotts in Bewegung. Die gewaltigen Platten fuhren auseinander und gaben den Blick in die dunkle, konturlose See frei. Das Deepflight fiel aus dem Rumpf der Independence ins Unbekannte.
   Roscovitz beschleunigte und flog eine Kurve. Das Boot legte sich auf die Seite. Anawak war fasziniert. Er hatte schon kleinere Tauchboote konventioneller Bauart gesteuert, die alle für den Einsatz in den oberen Wasserschichten konzipiert waren. Das hier war etwas völlig anderes. Das Deepflight verhielt sich tatsächlich wie ein Sportflugzeug. Und es war schnell! In einem Auto mochten zwanzig Stundenkilometer, die Entsprechung von zwölf Knoten, langsam erscheinen, aber für ein Unterwasserfahrzeug legte das Deepflight eine geradezu spektakuläre Geschwindigkeit vor. Fasziniert beobachtete er, wie sie unter dem Rumpf der Independence hervorkamen und die bewegte Wasseroberfläche in Sicht geriet. Roscovitz senkte die Nase des Tauchboots in steilerem Winkel. Er flog eine weitere Kurve, hielt auf das Heck des Helikopterträgers zu und tauchte darunter ab. Über ihren Köpfen zog das gewaltige Ruderblatt hinweg.
   »Beeindruckt?«, fragte Roscovitz.
   »Schon«, sagte Anawak mit unsicherer Stimme.
   »Ich weiß, was Sie denken. Sie haben Angst. Haben wir alle. Aber im Welldeck ist es zu eng zum Üben. Zu wenig Tiefe. Wir wollen die Babys ja nicht gleich schrottreif fahren.«
   Die nächste Kurve nahm Roscovitz enger. Anawak erwartete jeden Moment, das runde, schwarzweiße Gesicht eines Orca vor sich auftauchen zu sehen, aber stattdessen kamen zwei Delphine herangeschwommen und lugten in die Kuppeln. Sie trugen Kameras auf den Köpfen und kapriolten übermütig um das Tauchboot.
   »Lächeln, Leon!«, lachte Roscovitz. »Wir werden gefilmt.«
   Ein Licht blinkte auf und bedeutete Anawak, dass er jetzt die Kontrolle über das Deepflight hatte.
   »Sie übernehmen«, sagte Roscovitz. »Wenn was kommt und uns fressen will, servieren wir ihm Torpedos zum Frühstück. Das mache dann aber ich, verstanden? Sie steuern.«
   Anawak war einen Moment ratlos. Unwillkürlich packte er den Joystick fester. Roscovitz hatte ihm nicht gesagt, was er tun sollte, also fuhr er fürs Erste weiter geradeaus.
   »Hey, Leon! Nicht einschlafen. Busfahren ist aufregender.«
   »Was soll ich tun?«
   »Egal. Machen Sie irgendwas. Fliegen Sie uns zum Mond!«
   Und der Mond ist in diesem Fall unten, dachte Anawak. Na schön.
   Er schob den Joystick nach vorne.
   Ruckartig kippte die Schnauze des Deepflight weg, und sie strebten der Tiefe zu. Anawak starrte in die Dunkelheit. Er zog den Stick zurück, diesmal vorsichtiger. Das Boot richtete sich auf. Er probierte eine Kurve, nahm sie zu eng, flog eine weitere. Er wusste, dass er viel zu ruckelig steuerte, aber im Grunde war es tatsächlich einfach. Reine Übungssache.
   Ein Stück weiter sah er das zweite Deepflight. Plötzlich fand er Geschmack an der Sache. Er hätte stundenlang weiterfliegen können.
   »Ganz manierlich, Leon. Auf die Dauer kann einem zwar schlecht werden bei Ihrem Fahrstil, aber das lernen Sie noch. Jetzt gehen Sie in die Waagerechte. Gut so. Langsam treiben lassen. Ich zeige Ihnen, wie man die Greifarme bedient. Das ist noch einfacher.«
   Nach fünf Minuten übernahm Roscovitz wieder und steuerte das Boot langsam zurück in die Schleuse. Die Minute zwischen den geschlossenen Schotts verging quälend langsam, dann waren sie frei und tauchten auf. Anawak fühlte sich irgendwie erleichtert. Ungeachtet seiner Begeisterung bereitete ihm der Gedanke an die Orcas, die das Schiff am Morgen umkreist hatten, Unbehagen — ganz zu schweigen von den Überraschungen, die das Meer für unvorsichtige Tauchbootfahrer noch bereithalten mochte.
   Roscovitz öffnete die Kuppeln. Sie stemmten sich aus ihren Röhren und sprangen auf den Pier.
   Floyd Anderson stand vor ihm.
   »Na, wie war’s?«, fragte er ohne sonderliches Interesse.
   »Es macht Spaß.«
   »Leider muss ich den Spaß unterbrechen.« Der Erste Offizier sah zu, wie das zweite Boot auftauchte. »Kaum stecken Sie den Kopf unter Wasser, passiert was. Wir haben ein Signal empfangen.«
   »Was?« Crowe trat hinzu. »Ein Signal? Welcher Art?«
   »Schätze, das müssen Sie uns sagen.« Anderson sah gleichgültig an ihr vorbei. »Aber es ist sehr laut. Und ziemlich nahe.«
 
Combat Information Center
 
   »Es ist ein Signal im niederfrequenten Bereich«, sagte Shankar. »Ein Scratch -Muster.«
   Er und Crowe waren sofort ins CIC geeilt. Inzwischen hatten sie die Bestätigung der Bodenstation erhalten. Den Berechnungen zufolge lag die Quelle tatsächlich im näheren Umfeld der Independence.
   Li kam herein.
   »Können Sie was damit anfangen?«
   »Vorerst nicht.« Crowe schüttelte den Kopf. »Wir müssen den Computer fragen. Er wird es zerpflücken und auf Muster untersuchen.«
   »Dann also bis nächstes Jahr.«
   »Höre ich da Kritik?«, knurrte Shankar verärgert.
   »Nein, aber ich frage mich gerade, wie Sie innerhalb weniger Tage ein Signal entschlüsseln wollen, an dem sich Ihre Leute seit Anfang der Neunziger die Zähne ausbeißen.«
   »Das fragen Sie sich jetzt? «
   »Kein Streit, Kinder.« Crowe fingerte ihre Zigaretten zutage und zündete sich in aller Ruhe eine an. »Ich sagte doch, es ist was anderes, wenn jemand versucht, sich Außerirdischen verständlich zu machen. Wahrscheinlich haben wir den Yrr gestern die erste Botschaft geschickt, die sie entschlüsseln konnten. Sie werden in gleicher Manier antworten.«
   »Sie glauben tatsächlich, die antworten in gleicher Codierung?«
   »Wenn es die Yrr sind, wenn es eine Antwort ist, wenn sie den Code verstanden haben, wenn sie Interesse an einem Dialog haben — ja.«
   »Warum antworten sie mit Infraschall und nicht gleich in unserer Frequenz?«
   »Warum sollten sie?«, fragte Crowe überrascht.
   »Diplomatie.«
   »Warum antworten Sie einem Russen, der Sie in leidlichem Englisch anspricht, nicht auf Russisch?«
   Li zuckte die Achseln. »Gut. Und weiter?«
   »Wir werden unsere Botschaft vorerst aussetzen, um ihnen zu signalisieren, dass wir ihre Antwort erhalten haben. Sollten sie unseren Code benutzen, dürften wir das ziemlich schnell wissen. Sie werden bemüht sein, uns die Entschlüsselung so einfach wie möglich zu machen. — Ob unser Intellekt ausreicht, die Antwort zu verstehen, ist eine andere Frage.«
 
Joint Intelligence Center
 
   Weaver hatte sich das Unmögliche vorgenommen. Sie versuchte die Erkenntnisse über die Entstehung intelligenten Lebens zu ignorieren und gleichzeitig zu bestätigen.
   Crowe hatte ihr auseinander gesetzt, dass alle Hypothesen über außerirdische Zivilisationen in den immer gleichen Fragen gipfelten. Eine davon lautete: Wie groß oder klein kann ein intelligentes Wesen überhaupt werden? In SETI-Kreisen, wo man auf die Möglichkeiten interstellarer Kommunikation setzte, wurde vorwiegend über Wesen philosophiert, die ihren Blick himmelwärts richteten, sich der Existenz anderer Welten bewusst wurden und irgendwann beschlossen, Kontakt aufzunehmen. Solche Wesen lebten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf festem Boden, was ihrem Größenwachstum klare Grenzen setzte.
   Aktuell gelangten Astronomen und Exobiologen zu dem Schluss, dass ein Planet nicht weniger als 85 Prozent und nicht mehr als 133 Prozent der Erdmasse besitzen durfte, um Oberflächentemperaturen zu entwickeln, innerhalb derer sich im Verlauf von ein bis zwei Milliarden Jahren intelligentes Leben überhaupt entwickeln konnte. Aus den Größen dieser fiktiven Planeten resultierten verschiedene Szenarien für die Schwerkraft, die wiederum Rückschlüsse auf den Körperbau dort lebender Spezies zuließen. Theoretisch konnte ein Lebewesen auf einem erdähnlichen Planeten ins Uferlose wachsen. Praktisch endete sein Wachstum dort, wo es zu schwer wurde, um sein eigenes Gewicht zu tragen. Natürlich hatten Dinosaurier überproportional große Knochen besessen, aber irgendwie war dabei das Gehirn zu kurz gekommen — der ganze Organismus schien einzig darauf ausgerichtet, sich durch die Gegend zu schleppen und zu fressen. Für bewegliche, intelligente Wesen galt darum die Faustregel, dass sie vermutlich nicht größer als zehn Meter wurden.
   Spannender gestaltete sich die Frage nach der Untergrenze des Wachstums. Konnten Ameisen Intelligenz entwickeln? Bakterien? Viren?
   SETI-Leute und Exobiologen hatten eine ganze Reihe von Gründen, sich damit auseinander zu setzen. Es war so gut wie sicher, dass im heimischen galaktischen Sektor keine menschenähnlichen Zivilisationen vorkamen, zumindest nicht im eigenen Sonnensystem. Umso mehr hoffte man, auf dem Mars oder auf einem der Jupitermonde wenigstens ein paar Sporen und vielleicht sogar Einzeller zu entdecken. Also suchte man nach der kleinsten funktionstüchtigen Einheit, die sich als Leben bezeichnen ließ, womit man zwangsläufig bei einem komplexen organischen Molekül landete, der winzigsten vorstellbaren Informations— und Speichereinheit mit eigener Infrastruktur — und bei der Frage, ob ein Molekül Intelligenz entwickeln konnte.
   Eindeutig konnte ein Molekül so etwas nicht.
   Aber intelligent war auch nicht die einzelne Nervenzelle in einem menschlichen Gehirn. Um einen Menschen im Verhältnis zu seiner Körpergröße intelligent zu machen, musste es sich aus etwa 100 Milliarden Zellen aufbauen. Ein kleineres intelligentes Wesen als der Mensch würde vielleicht weniger Zellen brauchen, aber die Größe der Moleküle, aus denen die Zellen aufgebaut waren, blieb gleich, und unterhalb einer gewissen Anzahl Zellen reichte es nicht mehr zum intelligenten Funken. Das war das Problem mit Ameisen, denen man zwar eine unbewusste Intelligenz bescheinigte, deren Hirne aber einfach über eine zu geringe Anzahl von Zellen verfügten, um höhere Intelligenz hervorzubringen. Weil Ameisen zudem nicht durch Lungen atmeten, sondern den Sauerstoff direkt über ihre Köperfläche in die Zellen leiteten, konnten sie nicht wachsen — ab einer gewissen Größe funktionierte die Körperatmung nicht mehr — und keine größeren Hirne entwickeln. So landeten sie samt allen übrigen Insekten in einer Sackgasse der Evolution. Die Wissenschaft schlussfolgerte, dass die körperliche Untergrenze für ein intelligentes Wesen bei zehn Zentimetern liege, womit die Chance, einem krabbelnden Aristoteles zu begegnen, gegen null ging, von einem einzelligen ganz zu schweigen.
   All das war Weaver bewusst, als sie den Computer darauf programmierte, Einzeller und Intelligenz sinnvoll zusammenzureimen.
   Wenige Stunden nach der Entdeckung im Labor herrschte auf der Independence Skepsis vor, ob die Gallerte wirklich intelligent war. Einzeller waren nicht kreativ und entwickelten kein Ich-Bewusstsein. Eine größere Masse aus Einzellern entsprach zwar theoretisch einem Gehirn oder Körper mit Körperzellen. Das Ding vor Vancouver Island, zu dem die Wale geschwommen waren, hatte unzweifelhaft aus Milliarden von Zellen bestanden. Aber konnte es deswegen denken? Und selbst wenn! — Wie lernte es? Wie tauschten sich die Zellen aus? Was führte dazu, dass aus einem Konglomerat von Zellen ein höheres Ganzes entstand?
   Was hatte beim Menschen dazu geführt?
   Entweder war diese Gallerte tatsächlich nur eine dumpfe Masse — oder sie verfügte über einen Trick.
   Sie hatte es fertig gebracht, Wale und Krebse zu steuern.
   Es musste einen Trick geben!
   Kurzweil Technologies hatte Computerprogramme zum Aufbau künstlicher Intelligenz aus Milliarden elektronischer Speichereinheiten entwickelt, die Neuronen und damit ein Gehirn simulierten. Mit künstlicher Intelligenz wurde rund um den Globus bereits in unterschiedlichen Stadien gearbeitet. Sie war lernfähig und in gewisser Weise zu eigener, kreativer Weiterentwicklung fähig. Bis heute nahm keiner der Forscher für sich in Anspruch, so etwas wie Bewusstsein erschaffen zu haben, aber die Frage stand im Raum, ab wann eine Zusammenballung kleinster identischer Einheiten zu Leben wurde. Und ob es überhaupt möglich war, Leben auf diese Weise zu erschaffen.
   Weaver hatte mit Ray Kurzweil Kontakt aufgenommen, sodass sie nun über ein künstliches Hirn der letzten Generation verfügte. Sie legte eine Sicherheitskopie an, zerpflückte das Original in seine einzelnen elektronischen Komponenten, kappte die Informationsbrücken und verwandelte es in einen unstrukturierten Schwarm kleinster Einheiten. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn man ein menschliches Gehirn ebenfalls auf diese Weise zerlegen würde und was geschehen musste, damit sich die Zellen wieder zu einem denkenden Ganzen fänden. Nach einer Weile bevölkerten Milliarden elektronischer Neuronen ihren Computer, winzige Speicherplätze ohne Anbindung aneinander.
   Dann stellte sie sich vor, es wären keine Speicherplätze, sondern Einzeller.
   Milliarden von Einzellern.
   Sie durchdachte die nächsten Schritte. Je näher sie an der Realität blieb, desto besser. Nach einigem Überlegen programmierte sie einen dreidimensionalen Raum und versah ihn mit den physikalischen Eigenschaften von Wasser. Wie sahen Einzeller aus? Sie hatten alle möglichen Formen, stäbchenartig, dreieckig, sternförmig gezackt, mit und ohne Geißeln, aber am besten war wohl, sich vorerst für das Einfachste zu entscheiden. Rund war gut. Also rund. Jetzt hatten sie eine Form. Solange die im Labor zu keinen anderen Erkenntnissen gelangten, blieben sie erst mal rund.
   Nach und nach verwandelte sich der Computer in einen Ozean. Weavers virtuelle Einzeller bewohnten eine Welt, durch die sie trudeln konnten. Vielleicht sollte sie darangehen, Strömungen einzuprogrammieren, bis der virtuelle Raum in allen Einzelheiten der Tiefsee entsprach. Aber das hatte Zeit. Vorrangig musste sie die Kernfragen beantworten.
   Weaver starrte auf den Bildschirm.
   So viele Einheiten. Wie konnte daraus ein denkendes Wesen entstehen? Die Größe spielte keine Rolle. Für wasserlebende Wesen galt die Faustregel von der maximalen Körpergröße nicht, weil dort andere Gewichtsverhältnisse herrschten. Ein intelligentes Wasserwesen konnte ungleich größer werden als jeder landlebende Organismus. In den SETI-Szenarien kamen Wasserzivilisationen kaum vor, weil sie mit Radiowellen nicht zu erreichen waren und wahrscheinlich kein Interesse am Weltraum und anderen Planeten entwickeln würden — oder sollten sie den Weltraum in fliegenden Aquarien durchqueren? Doch jetzt war es genau das Szenario, das sie brauchten.
   Als Anawak eine halbe Stunde später das JIC betrat, fand er sie immer noch starrend, die Stirn voller Falten. Sie freute sich, ihn zu sehen. Nach seiner Rückkehr aus Nunavut hatten sie viel miteinander gesprochen, über seine und ihre Vergangenheit. Anawak wirkte selbstbewusst und voller Zuversicht. Der traurige Indianer von der Hotelbar des Chateaus war irgendwo in der Arktis verloren gegangen.
   »Wie weit bist du?«, fragte er.
   »Knoten im Hirn.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
   »Wo liegt das Problem?«
   Sie erzählte ihm, was sie getan hatte. Anawak hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Dann sagte er: »Klar, dass du nicht weiterkommst. Du bist hervorragend in Computersimulationen, aber dir fehlen ein paar Grundkenntnisse über Biologie. Was ein Hirn zur denkenden Einheit macht, ist sein Aufbau. Die Neuronen unseres Gehirns sind weitgehend gleichartig, es ist die Art und Weise der Verknüpfung, die sie zum Denken bringt. Es ist wie … Hm. — Pass auf! Stell dir einen Stadtplan vor.«
   »Okay. London.«
   »Und nun, dass alle Häuser und Straßen plötzlich den Zusammenhalt verlieren und wild durcheinander trudeln. Ein Tohuwabohu. Jetzt setzt du sie wieder zusammen. Dafür gibt es unendlich viele Varianten, aber nur aus einer wird London.«
   »Schön. Woher weiß aber jedes Haus, wo es hingehört?« Weaver seufzte. »Nein, lass uns anders anfangen. Ganz gleich, wie die Zellen im Hirn miteinander verknüpft sind — warum ergeben sie zusammengenommen etwas, das mehr kann als die Summe seiner Teile?« Anawak rieb sich das Kinn.
   »Wie soll ich dir das erklären? Okay, geh zurück in unsere angenommene Stadt. Da wird ein Hochhaus gebaut von … sagen wir mal, tausend Arbeitern. Sie sind alle gleich, meinetwegen geklont.«
   »Oh Gott. Das ist nicht London.«
   »Jeder von denen hat eine spezielle Aufgabe, bestimmte Handgriffe, die er verrichten muss. Aber keiner kennt den ganzen Plan. Trotzdem bauen sie zusammen das Haus. Wenn du welche austauschen würdest, gäbe es Pannen. Zehn Arbeiter, die eine Kette bilden, um einander Steine zuzuwerfen, kommen durcheinander, wenn einer von ihnen plötzlich durch jemanden ersetzt wird, der Schrauben anziehen soll.«
   »Verstehe. Solange jeder an seinem Platz ist, klappt die Sache.«
   »Sie wirken zusammen.«
   »Und trotzdem gehen sie abends nach Hause.«
   »Trudeln auseinander. Jeder in seine Richtung. Am nächsten Morgen erscheinen sie alle wieder auf der Baustelle, und es geht weiter. Du kannst sagen, das funktioniert, weil jemand die Arbeiter einteilt, aber ohne Arbeiter könnte er das Haus nicht bauen. Eines bedingt das andere. Aus dem Plan entsteht das Zusammenwirken, und daraus wiederum entsteht der Plan.«
   »Also gibt es einen Planer.«
   »Oder die Arbeiter sind der Plan.«
   »Dann müsste jeder Arbeiter ein bisschen anders codiert sein als sein Kollege. Was er ja auch ist.«
   »Richtig. Die Arbeiter sind also nur scheinbar gleich. Also fang noch weiter vorne an. Okay, es gibt einen Plan. Okay, sie sind codiert. Aber was brauchst du, damit daraus ein Netzwerk wird?«
   Weaver überlegte. »Den Willen mitzumachen?«
   »Einfacher.«
   »Hm.« Plötzlich begriff sie, was Anawak meinte.
   »Kommunikation. In einer Sprache, die alle verstehen. Eine Botschaft.«
   »Und wie heißt die, wenn morgens alle aus den Betten kriechen?«
   »Ich geh zum Bau, arbeiten.«
   »Und?«
   »Ich weiß, wo ich hingehöre.«
   »Richtig. Gut, es sind Arbeiter, wenig geeignet für komplexe Konversation. Hart arbeitende Burschen. Sie schwitzen ständig, selbst nachts im Bett schwitzen sie und morgens, wenn sie aufstehen, den ganzen Tag lang. Woran erkennen sie einander?«
   Weaver sah ihn an und verzog das Gesicht.
   »Am Schweißgeruch.«
   »Bingo!«
   »Du hast vielleicht Phantasien.«
   Anawak lachte. »Das ist Olivieras Schuld. Sie hat vorhin von diesem Bakterium erzählt, das Kolonien bildet … Myxococcus xanthus. Weißt du noch, es sondert einen Duftstoff ab, und alle rücken zusammen.«
   Weaver nickte. Das machte Sinn. Duft war eine Möglichkeit. »Das durchdenke ich im Schwimmbad«, sagte sie.
   »Kommst du mit?«
   »Schwimmen? Jetzt?«
   »Schwimmen? Jetzt?«, äffte sie ihn nach. »Hör zu, ich bin normalerweise nicht in einen Raum eingeschlossen und sitze starr auf der Stelle.«
   »Ich dachte, das wäre normal bei Computerfreaks.«
   »Sehe ich aus wie ein Computerfreak? Blass und wabbelig?«
   »Oh, du bist mit Sicherheit die blasseste und wabbeligste Erscheinung, die mir jemals untergekommen ist«, grinste Anawak.
   Sie bemerkte das Funkeln in seinen Augen. Der Mann war klein und kompakt, weiß Gott nicht George Clooney, aber auf Weaver wirkte er in diesem Moment groß, selbstbewusst und gut aussehend.
   »Idiot«, sagte sie lächelnd.
   »Danke.«
   »Bloß weil du dein halbes Leben im Wasser verbringst, glaubst du, Computerleute sind an ihren Stühlen festgewachsen. Das meiste mache ich in freier Natur. Mit meinem Kopf, Leon! Laptop ins Gepäck, Abmarsch. Schreiben kannst du auch in einer Felswand. So was hier verspannt mich, ich bekomme davon Schultern wie Stahlträger.«
   Anawak stand auf und trat hinter sie. Einen Moment lang glaubte Weaver, er wolle gehen. Dann spürte sie plötzlich seine Hände auf ihren Schultern. Seine Finger strichen über die Stränge der Nackenmuskulatur, die Daumen kneteten den Bereich um die Schulterblätter.
   Er massierte sie.
   Weaver fühlte, wie sie sich verkrampfte. Sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel.
   Doch, es gefiel ihr. Sie wusste nur nicht recht, ob sie es wollte.
   »Du bist nicht verspannt«, sagte Anawak.
   Er hatte Recht. Warum hatte sie es dann gesagt?
   Im Moment, da sie sich etwas zu ruckartig aus ihrem Sessel erhob und seine Hände von ihr abglitten, wusste sie, dass sie einen Fehler machte. Dass es ihr besser gefallen hätte, sitzen zu bleiben und ihn weitermachen zu lassen. Aber dafür hatte sie das Ganze wohl zu rüde beendet.
   »Ich geh dann mal«, sagte sie verlegen. »Schwimmen.«
 
Anawak
 
   Unsicher fragte er sich, was schief gelaufen war. Er wäre gern mitgegangen ins Schwimmbad, aber die Stimmung war plötzlich umgekippt. Vielleicht hätte er fragen sollen, bevor er anfing, ihre Schultern zu massieren. Vielleicht hatte er die ganze Sache auch nur von Grund auf falsch eingeschätzt.
   Du bist eben ungeschickt in so was, dachte er. Bleib bei deinen Walen. Blöder Eskimo.
   Er ließ sie ziehen und überlegte, Johanson aufzusuchen und mit ihm die Erörterung der Einzeller-Intelligenz fortzusetzen. Aber irgendwie war ihm plötzlich die Lust daran vergangen. Also beschloss er, nebenan im CIC vorbeizuschauen. Greywolf und Delaware verbrachten dort große Teile ihrer Zeit mit der Beobachtung und Lautauswertung der Delphinstaffeln. Aber im CIC gab es nichts zu sehen als die Übertragungen der Rumpfkameras.
   Die Monitore zeigten dunkles Wasser. Wenig hatte sich getan, seit die Orcas am Morgen das Schiff umrundet hatten, und die Orcas waren fort, wie es schien. Shankar saß einsam mit einem Paar überdimensionaler Kopfhörer vor dem Monitor, über dessen Oberfläche Zahlenreihen huschten, und lauschte in die Tiefe. Einer der Männer an den Bildschirmen erklärte ihm, Greywolf und Delaware seien im Welldeck, um MK-6 gegen MK-7 auszutauschen.
   Also marschierte er den Rampentunnel hinunter und gelangte auf das leere Hangardeck. Es war kalt und zugig dort. Er wollte weitergehen, aber etwas hielt ihn zurück. Obwohl Tageslicht durch die torgroßen Öffnungen der Außenfahrstühle hereindrang, dominierte das fahle, gelbliche Zwielicht der Natriumdampfbeleuchtung die Atmosphäre. Er versuchte sich vorzustellen, wie die riesige Halle gedrängt voll stand mit Hubschraubern und Harrier-Jets, Fahrzeugen, Fracht und Ausrüstung, zentimeternah aneinander geparkt, sodass eben genug Platz blieb, um durch eine Tür, ein Fenster oder eine Klappe hineinzuschlüpfen. Wie Jeeps und Gabelstapler laut und ratternd die Rampen hoch— und runterfuhren. Wie Hunderte emsiger Marines, sobald sich das Fluggerät auf dem Dach befand, hier Waffen und Ausrüstung überprüften, schnell und konzentriert, wie die ganze, gewaltige Maschinerie der Independence ineinander griff.
   Absurd, dieser Riesenraum in seiner Leere. Nutzlos. Die Büros zwischen den Spanten unbesetzt. Die gelben Lampen im Stahlträgermuster der hohen, düsteren Decke beleuchteten vornehmlich sich selber. Rohrleitungen entlang der Wände führten ins Nichts. Und überall Warnschilder — für wen?
   »Manchmal, wenn es im Fitnessraum eng wird, stellen wir hier noch ein paar Laufbänder mit rein«, hatte Peak gesagt, als sie in Norfolk zusammen durch das Schiff gewandert waren. »Dann wird es erst richtig gemütlich.« Er hatte stirnrunzelnd dagestanden, als suche er nach etwas. Und dann hatte er hinzugefügt: »Ich hasse es, wenn der Hangar so leer ist. Ich hasse diese Verlassenheit von Räumen, die nicht leer sein dürften. Irgendwie hasse ich diese ganze Mission.«
   Es war das einzige Mal, dass er Peak so erlebt hatte.
   Der leerste Raum, dachte Anawak, ist immer in einem selber.
   Ohne Eile ging er quer durch die Halle und trat hinaus auf die Plattform des Backbordaufzugs. Der Lift ragte über die Wellen wie eine großzügig bemessene Sonnenterrasse. Beiderseitig der Toröffnung ruhte er in senkrechten Laufschienen. Zwei große Hubschrauber mit zusammengelegten Rotorblättern fanden auf der über 140 Quadratmeter großen Fläche Platz, um vom Hangardeck hinauf aufs Dach gestemmt zu werden. Anawak kniff die Augen zusammen. Der Wind blies ihn ordentlich durch. Eine starke Bö konnte einen unvermittelt von den Füßen hebeln und über die Kante wehen, und nirgendwo gab es ein Gitter. Stattdessen zogen sich Auffangnetze um den Lift. Ein ganzer Ring solcher Netze umgab das Schiff, damit einen der Sturm oder der Ausstoß von Flugzeugabgasen nicht in die See warf.