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»Unter der Independence, Sir. Sie drängen sich vor den Schleusen. Ich glaube, sie haben Angst! Sie wollen rein.«
Immer mehr Menschen kamen ins CIC.
»Legen Sie das Satellitenbild auf den Großmonitor«, befahl Peak.
Das Big Picture zeigte die Independence aus der Perspektive des KH-12. Sie lag über dunklem Wasser. Von blauem Licht und Blitzen keine Spur.
»Eben noch war dort unten alles hell«, sagte der Mann, der für die Satellitenauswertung zuständig war. »Können wir Bilder von anderen Satelliten bekommen?« »Im Augenblick nicht, Sir.« »Okay. KH-12 soll aufzoomen.«
Der Mann gab den Befehl an die Kontrollstation weiter. Wenige Sekunden darauf schrumpfte die Independence auf dem Monitor. Der Satellit hatte den Ausschnitt vergrößert. Nach allen Seiten erstreckte sich bleiern die Grönländische See. Aus den Lautsprechern drang das Pfeifen und Klicken der Delphine. Immer noch meldeten sie die Präsenz einer unbekannten Lebensform.
»Das reicht noch nicht.« Der KH-12 zoomte weiter auf. Das Objektiv erfasste nun einen Ausschnitt von einhundert Quadratkilometern. Die Independence mit ihren gut 250 Metern Länge nahm sich darin aus wie ein Stück Treibholz. Mit angehaltenem Atem starrten sie auf den Monitor. Jetzt sahen sie es. In weitem Umkreis hatte sich ein dünner, blau leuchtender Ring gebildet. Entladungen blitzten darin auf. »Wie groß ist das Ding?«, flüsterte Peak. »Vier Kilometer im Durchmesser«, sagte die Frau am Monitor. »Etwas mehr sogar. Scheint eine Art Schlauch zu sein. Was wir auf dem Satellitenbild sehen, ist die Öffnung, aber es zieht sich bis hinab in die Tiefsee. Wir sitzen sozusagen im … Schlund.«
»Und was ist es?«
Johanson war neben ihm aufgetaucht. »Gallerte, würde ich sagen.«
»Na bravo«, keuchte Vanderbilt. »Was, verdammt nochmal, haben Sie denen da unten geschickt?«, fuhr er Crowe an.
»Wir haben sie aufgefordert, sich zu zeigen«, sagte Crowe.
»War das eine gute Idee?«
Shankar wandte sich ärgerlich zu ihm um.
»Wir wollten doch Kontakt aufnehmen, oder? Was beschweren Sie sich? Haben Sie gedacht, die schicken reitende Boten?«
»Wir bekommen ein Signal rein!«
Alle fuhren zu dem Sprecher herum. Es war der Mann, der die akustischen Anzeigen überwachte. Shankar eilte zu ihm und beugte sich über die Monitore.
»Was ist es?«, rief Crowe ihm zu.
»Dem spektrographischen Muster nach ein Scratch-Signal.«
»Eine Antwort?«
»Ich weiß nicht, ob …«
»Der Ring. Er zieht sich zusammen!«
Alle Köpfe ruckten hoch zum Big Picture. Der leuchtende Ring hatte begonnen, sich langsam wieder auf das Schiff zuzubewegen. Zugleich strebten zwei winzige Punkte von der Independence fort. Die beiden Kampfhubschrauber hatten ihren Erkundungsflug aufgenommen. Das Pfeifen und Quieken in den Lautsprechern verstärkte sich.
Plötzlich begannen alle durcheinander zu reden.
»Maul halten«, schnauzte Li. Sie lauschte mit gefurchter Stirn den Stimmen der Delphine. »Da ist noch ein anderes Signal.«
»Ja.« Delaware horchte mit gesenkten Lidern. »Unbekannte Lebensform, und außerdem …«
»Orcas!«, rief Greywolf.
»Mehrere große Körper nähern sich von unten«, bestätigte die Frau am Sonar. »Kommen aus dem Innern der Röhre.«
Greywolf sah Li an. »Das schmeckt mir nicht. Wir sollten die Delphine ins Schiff holen.«
»Warum gerade jetzt?«
»Ich will das Leben der Tiere nicht riskieren. Außerdem brauchen wir die Kamerabilder.«
Li zögerte einen Moment.
»In Ordnung. Holen Sie sie rein. Ich gebe Roscovitz Bescheid. Peak, nehmen Sie vier Mann und begleiten Sie O’Bannon ins Welldeck.«
»Leon«, sagte Greywolf. »Licia.«
Sie eilten hinaus. Rubin sah ihnen nach. Er beugte sich zu Li hinüber und sagte etwas in gedämpftem Ton. Sie hörte zu, nickte und wandte sich wieder den Monitoren zu.
»Wartet auf mich!«, rief Rubin der Gruppe nach. »Ich komme mit.«
Roscovitz traf noch vor den Wissenschaftlern im Welldeck ein, begleitet von Browning und einem weiteren Techniker. Er fluchte lautstark, als er das defekte Deepflight sah. Sie hatten es immer noch nicht repariert. Mit offenen Einstiegshauben trieb es auf der Wasseroberfläche, nur durch eine Kette gesichert, die sich zur Decke spannte.
»Konnte das nicht längst schon fertig sein?«, fuhr er Browning an.
»Die Sache ist komplizierter, als wir dachten«, verteidigte sich die Cheftechnikerin, während sie den Pier entlang liefen. »Die Steuerautomatik hat …«
»Ach, Scheiße.« Roscovitz musterte das Boot. Es lag halb über der Schleuse, die sich in vier Metern Tiefe abzeichnete. »Allmählich beginnt es mich zu stören. Jedes Mal, wenn wir die Viecher rein— oder rauslassen, stört es mich mehr.«
»Bei allem Respekt, Sir, es stört nicht, und wenn wir es fertig repariert haben, wird es wieder zur Decke gezogen.«
Roscovitz knurrte etwas Unverständliches und stellte sich hinter das Bedienpult. Direkt vor seiner Nase lag das Boot. Aus dieser Perspektive versperrte es ihm den Blick auf die Bodenschleuse. Er war auf die Pultmonitore angewiesen. Erneut fluchte er und benutzte ein paar kraftvollere Ausdrücke. In der Eile, mit der die Independence umgerüstet worden war, hatten sie geschludert! Warum, zum Teufel, musste alles, was nicht funktionierte, immer erst in der Praxis Probleme machen? Wozu testeten sie jeden Mist im virtuellen Raum, wenn hinterher ein schwimmendes Tauchboot den Blick auf die Schleuse versperrte?
Schritte hallten im Hangardeck wider. Greywolf, Delaware, Anawak und Rubin kamen die Rampe herunter, gefolgt von Peak und seinen Männern. Die Soldaten verteilten sich beiderseits der Kais. Rubin und Peak gingen zu Roscovitz, während Greywolf und die anderen in ihre Neoprenanzüge schlüpften und die Sichtbrillen aufsetzten.
»Fertig«, sagte Greywolf. Er schloss Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis, dem Taucherzeichen für Okay. »Holen wir sie rein.«
Roscovitz nickte und schaltete die Lockrufautomatik ein. Er sah die Wissenschaftler ins Becken springen, die Körper angeleuchtet von den Unterwasserscheinwerfern. Sie schwammen näher heran. Auf Höhe der Schleuse tauchten sie nacheinander ab.
Er öffnete die unteren Schotts.
Delaware sank kopfüber auf die Instrumentenanzeige am Schleusenrand zu. Noch während sie abtauchte, setzten sich die mächtigen Stahlplatten drei Meter unter der gläsernen Abdeckung in Bewegung. Sie sah zu, wie die Schotts auseinander fuhren und den Blick in die Meerestiefe freigaben. Sofort huschten zwei Delphine ins Innere. Sie wirkten nervös und stießen mit den Schnauzen gegen das Glas. Greywolf machte das Zeichen, noch zu warten. Ein weiterer Delphin schwamm in die Schleuse.
Mittlerweile hatten sich die Stahlschotts vollständig geöffnet. Unter der Glaskuppel gähnte der Abgrund. Delaware spähte angestrengt in die Dunkelheit. Noch war nichts Außergewöhnliches zu sehen, kein Leuchten, keine Blitze, keine Orcas und keiner der übrigen drei Delphine. Sie ließ sich tiefer sinken, bis ihre Hände die Glasfläche berührten, und suchte die Tiefe nach den anderen ab. Plötzlich schoss ein viertes Tier heran, drehte sich um seine Achse und schwamm ins Schleusenbecken. Greywolf nickte, und Delaware gab das Signal an Roscovitz. Langsam rückten die Stahlplatten wieder aufeinander zu und schlossen sich mit dumpfem Dröhnen. Im Innern der Schleuse nahmen die Messfühler ihre Arbeit auf und untersuchten das Wasser auf Verunreinigungen und Kontaminate. Nach wenigen Sekunden gab die Sensorik grünes Licht und leitete die Freigabe an Roscovitz’ Konsole weiter. Lautlos glitten die beiden Glasschotts auseinander.
Kaum war der Spalt breit genug, drängten sich die Tiere hindurch und wurden von Greywolf und Anawak in Empfang genommen.
Peak sah zu, wie Roscovitz das gläserne Dach wieder schloss. Sein Blick ruhte auf den Monitoren. Rubin war an den Rand des Beckens getreten und starrte hinab auf die Schleuse.
»Da waren’s nur noch zwei«, summte Roscovitz.
Aus den Lautsprechern drangen Pfiffe und Klicklaute der Delphine, die noch draußen waren. Sie wurden zusehends nervöser. Greywolfs Kopf erschien an der Wasseroberfläche, dann tauchten Anawak und Delaware auf.
»Was sagen die Tiere?«, wollte Peak wissen.
»Immer noch dasselbe«, erwiderte Greywolf.
»Unbekannte Lebensform und Orcas. Irgendwas Neues auf den Monitoren?«
»Nein.«
»Das muss nichts heißen. Holen wir die letzten beiden rein.«
Peak stutzte. Die Bildschirme hatten an den Rändern tiefblau zu leuchten begonnen.
»Ich glaube, Sie sollten sich beeilen«, sagte er. »Es kommt näher.« Die Wissenschaftler tauchten erneut zur Schleuse. Peak rief das CIC.
»Was seht ihr da oben?«
»Der Ring zieht sich weiter zusammen«, schnarrte Lis Stimme aus den Boxen der Konsole. »Die Piloten sagen, das Gebilde taucht ab, aber auf dem Satellitenbild ist es noch deutlich zu erkennen. Scheint, als wolle es unter das Schiff. Es müsste bald heller werden bei euch da unten.«
»Es wird hell. Womit haben wir es zu tun? Mit der Wolke?«
»Sal?« Das war Johanson. »Nein, ich glaube nicht, dass es noch Wolkenform hat. Die Zellen sind verschmolzen. Das ist ein kompakter Schlauch aus Gallerte, und er kontraktiert. Ich weiß nicht, was da passiert, aber ihr solltet wirklich zusehen, dass ihr fertig werdet.«
»Wir haben’s gleich. Rosco?«
»Schon passiert«, sagte Roscovitz. »Ich öffne das Schott.«
Anawak hing wie gebannt über dem Glasdach. Diesmal war es anders, als die Stahlplatten auseinander wichen. Beim ersten Mal hatten sie in dunkelgrüne Düsternis gestarrt. Jetzt war die Tiefe von einem schwachblauen Leuchten erfüllt, das langsam an Intensität zunahm.
Das hier sieht anders aus als die Wolke, dachte er. Eher wie Lichtschein, der ringsum abgestrahlt wird. Er dachte an die Satellitenaufnahme, die sie im CIC gesehen hatten. An den Schlund der gewaltigen Röhre, in deren Zentrum die Independence lag.
Plötzlich wurde ihm klar, dass er ins Innere dieser Röhre sah. Der Gedanke an die Ausmaße des Schlauchs ließ seinen Magen rotieren. Überfallartig überkam ihn Angst. Als wie aus dem Nichts der Körper des fünften Delphins ins Becken schnellte, fuhr er zurück, kaum fähig, seinen Fluchttrieb zu unterdrücken. Der Delphin drängte sich unter die Glasabdeckung. Anawak zwang sich zur Ruhe. Im nächsten Moment war das sechste Tier in der Schleuse. Die Stahlplatten glitten zusammen. Die Sensoren prüften die Wasserqualität, schickten ihr Okay an Roscovitz, und die Glashälften öffneten sich.
Browning sprang mit einem Riesensatz auf das Deepflight.
»Was soll das?«, wollte Roscovitz wissen.
»Die Tiere sind drin. Ich mache meine Arbeit, das soll es.«
»Hey, so war das doch eben nicht gemeint.«
»Doch, so war es gemeint.« Browning ging in die Hocke und öffnete eine Klappe im Heck. »Ich repariere das verdammte Ding jetzt fertig.«
»Es gibt Wichtigeres, Browning«, sagte Peak ungehalten. »Lassen Sie das Rumgezicke.« Er konnte seinen Blick nicht von den Monitoren lösen. Es wurde immer heller darauf.
»Sal, seid ihr fertig da unten?«, erklang Johansons Stimme.
»Ja. Was ist oben los?«
»Der Rand der Röhre schiebt sich unter das Schiff.«
»Kann uns das Zeug was anhaben?«
»Kaum. Ich kann mir keinen Organismus vorstellen, der die Independence auch nur zum Erzittern bringen könnte. Nicht mal dieses Ding. Es ist Gallerte. Wie muskulöses Gummi.«
»Und es ist unter uns«, sagte Rubin vom Rand des Beckens her. Er drehte sich um. Seine Augen leuchteten. »Öffnen Sie nochmal die Schleuse, Luther. Schnell.«
»Was?« Roscovitz riss die Augen auf. »Sind Sie wahnsinnig?«
Rubin war mit wenigen Schritten neben ihm.
»General?«, rief er ins Mikrophon der Konsole.
Es knackte in der Leitung. »Was gibt’s, Mick?«
»Hier tut sich gerade eine traumhafte Chance auf, in den Besitz größerer Mengen dieser Gallerte zu kommen. Ich habe angeregt, die Schleuse ein weiteres Mal zu öffnen, aber Peak und Roscovitz …«
»Jude, das Risiko können wir nicht eingehen«, sagte Peak. »Wir können das nicht kontrollieren.«
»Wir öffnen nur das Stahlschott und warten eine Weile«, sagte Rubin. »Vielleicht ist der Organismus neugierig. Wir fangen ein paar Brocken davon ein und schließen das Schott wieder. Eine hübsche Portionsmenge Forschungsmaterial, was halten Sie davon?«
»Und wenn es verseucht ist?«, sagte Roscovitz.
»Herrgott, überall Bedenkenträger! Das finden wir doch raus. Wir lassen die Glasabdeckung natürlich geschlossen, bis wir es wissen!«
Peak schüttelte den Kopf. »Ich halte das für keine gute Idee.«
Rubin verdrehte die Augen.
»General, das ist eine einmalige Gelegenheit!.«
»Okay«, sagte Li. »Aber seid vorsichtig.«
Peak sah unglücklich drein. Rubin lachte auf, trat an den Beckenrand und wedelte mit den Armen.
»He, werdet fertig«, rief er Greywolf, Anawak und Delaware zu, die den Tieren unter Wasser die Geschirre abnahmen. »Macht, dass ihr …« Sie konnten ihn nicht hören. »Ach, egal. Kommen Sie, Luther, öffnen Sie das verdammte Schott. Es kann ja nichts passieren, solange die Abdeckung geschlossen bleibt.«
»Sollten wir nicht warten, bis …«
»Wir können nicht warten«, fuhr ihn Rubin an. »Sie haben gehört, was Li gesagt hat. Wenn wir warten, ist es verschwunden. Lassen Sie einfach ein bisschen von der Gallerte in die Schleuse und machen Sie wieder zu. Mir reicht ein Kubikmeter oder so.«
Impertinentes Arschloch, dachte Roscovitz. Am liebsten hätte er Rubin ins Wasser geworfen, aber der Mistkerl hatte die Autorisierung von Li.
Sie hatte es angeordnet.
Er drückte auf die Bedienung für das Schott.
Delaware hatte es mit einem besonders aufgeregten Exemplar zu tun. Zappelig und ungeduldig. Beim Versuch, ihm die Kamera abzunehmen, war der Delphin ausgebüxt und zur Schleuse abgetaucht, wobei er das halbe Geschirr hinter sich herschleppte. Sie sah ihn über der Glasabdeckung kreisen und folgte ihm mit kräftigen Schwimmstößen nach unten.
Von dem, was oben besprochen wurde, bekam sie nichts mit.
Was hast du denn?, dachte sie. Komm her. Du musst doch keine Angst haben.
Dann sah sie, was los war.
Das Stahlschott öffnete sich wieder.
Einen Moment lang war sie so verblüfft, dass sie zu schwimmen vergaß und tiefer sank, bis ihre Zehenspitzen das Glas berührten. Unter ihr glitt das Schott weiter auf.
Die See leuchtete in kräftigem Blau. Blitzartige Entladungen zuckten in der Tiefe.
Was zum Teufel machte Roscovitz denn da? Warum öffnete er das Schott?
Der Delphin kreiste wie wild über der Schleuse. Er kam zu ihr herübergeschwommen und stupste sie an. Offenbar versuchte er sie von dem Schott wegzudrängen. Als Delaware nicht sofort reagierte, pirouettierte er und schoss davon.
Sie starrte in den leuchtenden Abgrund.
Was war da unten? Schemenhaft erkannte sie huschende Schatten, dann einen Fleck, der sich näherte und größer wurde.
Sehr schnell näherte.
Der Fleck bekam eine Form, nahm Gestalt an.
Plötzlich begriff sie, was da auf sie zukam. Sie erkannte den riesigen Kopf mit der schwarzen Stirn und der weißen Unterseite, die gleichmäßig gereihten Zähne zwischen den halb geöffneten Lippen. Es war das größte Exemplar, das sie je gesehen hatte. Senkrecht raste es aus der Tiefe heran und schien dabei immer schneller zu werden, offenbar ohne die geringste Absicht auszuweichen. Ihre Gedanken jagten einander. Innerhalb von Sekundenbruchteilen fügte sich zusammen, was sie wusste. Dass die Glasschotts dick und robust waren, aber nicht stark genug, um einer lebenden Bombe standzuhalten. Dass dieses Tier über zwölf Meter lang sein musste. Dass es sich mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 56 Stundenkilometern in die Höhe katapultieren konnte.
Dass es viel zu schnell war.
Sie unternahm einen verzweifelten Versuch, von der Schleuse wegzukommen.
Wie ein Torpedo krachte der Orca durch die gläserne Abdeckung. Die Druckwelle warf Delaware um ihre eigene Achse. Undeutlich sah sie Trümmer des Stahlrahmens und Scherben heranwirbeln und den weißen Bauch des Wals, der sich aus der zerstörten Glaskuppel erhob, kaum gebremst durch den Aufprall. Etwas traf sie schmerzhaft zwischen den Schulterblättern. Sie schrie auf und bekam Wasser in die Lungen, schlug um sich und verlor jedes Gefühl für oben und unten.
Panik erfasste sie.
Rosovitz fand kaum Zeit, die Situation zu begreifen. Der Pier dröhnte und erzitterte unter seinen Füßen, als der Orca das Schott durchbrach. Ein gewaltiger Wasserberg hob das Deepflight in die Höhe. Er sah Browning taumeln und mit den Armen rudern, während der Orca kurz absackte und aus dem Stand erneut beschleunigte.
»Das Schott!«, schrie Rubin. »Schließ das Schott!«
Der Kopf des Orca rammte gegen das Tauchboot und warf es hoch. Mit einem hellen Knall zersprang die Halterung der Kette. Brownings Körper wurde durch die Luft geschleudert und krachte gegen das Bedienpult. Einer ihrer Stiefel traf Roscovitz gegen die Brust und warf ihn nach hinten. Er prallte gegen die Hangarwand, Peak mit sich reißend.
»Das Boot!«, schrie Rubin. »Das Boot!«
Browning kippte mit blutender Stirn zurück ins Wasser. Über ihr stellte sich das Heck des Deepflight senkrecht, als das Tauchboot in Sekundenschnelle voll lief und sank. Roscovitz rappelte sich hoch und versuchte, das Pult zu erreichen. Etwas zischte ihm entgegen. Er schaute auf und sah die losgerissene Kette wie eine Peitsche heranschwingen. Hastig versuchte er auszuweichen, fühlte, wie das Ende an seiner Schläfe vorbeischrammte und sich um seinen Hals wickelte. Die Luft blieb ihm weg. Er wurde nach vorne gezogen und rutschte über die Kante.
Greywolf war zu weit entfernt, um zu erkennen, was die Katastrophe ausgelöst hatte, und weil er im Wasser trieb, bekam er von der Erschütterung nichts mit. Er sah, wie das Tauchboot aus seiner Halterung gerissen wurde und was mit Browning und Roscovitz passierte. Rubin stand schreiend und gestikulierend neben dem Steuerpult. Irgendwo hinter ihm erschien Peaks Kopf. Die Soldaten hatten ihre Waffen hochgenommen und rannten auf die Unglücksstelle zu.
Hastig suchte sein Blick die Oberfläche nach Delaware ab. Anawak war direkt neben ihm, aber Delaware konnte er nirgendwo finden.
»Licia?«
Keine Antwort.
»Licia!«
Eisige Furcht stach in sein Herz. Mit einem gewaltigen Schwung tauchte er hinab und schnellte auf die Schleuse zu.
Delaware schwamm in die falsche Richtung. Ihr Rücken schmerzte höllisch, und sie fürchtete zu ersticken. Plötzlich fand sie sich direkt über der Schleuse wieder. Die beiden Hälften der Glasabdeckung waren herausgerissen, die Stahlschotts begannen sich eben zu schließen. Das Meer darunter war ein einziges Leuchten.
Sie drehte sich auf den Rücken.
Oh nein!
Das Deepflight fiel mit offen stehenden Luken auf sie zu, Bug voran. Es sank wie ein Stein. Aus Leibeskräften begann sie mit den Füßen zu schlagen. Es würde auf sie stürzen. Sie sah die zusammengelegten Greifarme näher kommen, streckte sich wie ein Otter, aber es reichte nicht. Schmerzhaft rammte das Boot ihre Körpermitte. Sie spürte, wie ihre Rippen brachen, öffnete den Mund, schrie und schluckte noch mehr Wasser. Unbarmherzig drückte das Boot sie nach unten, durch die Schleuse hindurch und hinaus ins offene Meer. Die Kälte drang schockartig in ihre Knochen. Halb besinnungslos sah sie die Stahlschotts mit hohlem Klonk gegen das Tauchboot prallen, und das Deepflight hörte auf zu sinken. Es steckte fest, aber Delaware sank weiter. Sie streckte die Arme aus, versuchte sich an dem entschwindenden Boot festzuhalten, aber ihre Finger glitten ab. Sie hatte keine Kraft mehr, und ihre Lungen waren wie Brei. In ihrer Bauchhöhle schien alles zerquetscht zu sein.
Bitte, dachte sie, ich will zurück. Zurück ins Schiff. Ich will nicht sterben.
Irgendwo zwischen den blockierten Schotts und dem eingeklemmten Boot sah sie verschwommen Greywolfs Gesicht, aber ebenso gut mochte es ein Wunschbild sein, ein schöner Traum, gerettet zu werden.
Etwas Dunkles, Großes kam von der Seite. Klaffende Kiefer, Reihen kegelförmiger Zähne.
Der Biss des Orcas zerbrach ihr den Brustkorb.
Sie sah nicht mehr die leuchtende Masse an sich vorbeischießen. Als der Organismus durch die Schleuse drang, war Delaware schon tot.
Peak schlug vor Wut mit der Faust auf das Kontrollpult. Sein Versuch, das Schott zu schließen, war fehlgeschlagen. Das Deepflight blockierte die beiden Stahlplatten.
Entweder ließ er sie wieder auseinander fahren und opferte das Boot, oder er riskierte, dass Gott weiß was ins Innere gelangte.
Von Browning war nichts zu sehen. Roscovitz hing zuckend an der Kette, mit den Beinen im Wasser, die Hände um den Hals geklammert.
Wo war der verdammte Orca?
»Sal«, heulte Rubin.
Das Wasser brodelte und schäumte. Die Soldaten hasteten durcheinander, ohne Plan. Greywolf war untergetaucht. Von Anawak keine Spur. Und Delaware? Was war mit Delaware?
Jemand stieß ihn in die Seite.
»Sal, verdammt nochmal!« Rubin drängte ihn von der Konsole weg. Seine Hände flatterten über die Tastatur, drückten auf Knöpfe. »Warum schließen Sie nicht endlich die verdammte Schleuse?«
»Sie blödes Arschloch«, schrie Peak. Er holte aus und rammte Rubin die Faust mitten ins Gesicht. Der Biologe wankte und kippte ins Wasser. Es spritzte auf, und inmitten der Gischt sah Peak die schwertartige Rückenfinne des Wals emporsteigen und auf sich zukommen.
Prustend tauchte Rubins Kopf aus den Fluten.
Auch er sah die Finne. Er begann zu schreien.
Peak drückte auf den Knopf, um die Stahlschotts zu öffnen und das Deepflight in die Tiefe zu entlassen.
Eine Kontrolllampe hätte aufleuchten müssen.
Nichts geschah.
Greywolf glaubte, den Verstand zu verlieren.
Unter der Independence zog ein Rudel Orcas hindurch. Eines der Tiere hatte nach Delaware geschnappt und ihren Körper außer Sichtweite gezerrt. Ohne nachzudenken schwamm er auf die Lücke zwischen den verkeilten Schotts zu und sah etwas aus der Tiefe heranrasen. Vor seinen Augen erstrahlten Blitze und funkenartige Entladungen, dann wurde er wie von einer riesigen Faust getroffen und nach hinten geschleudert. Das Unterste kehrte sich zuoberst. Links von ihm tauchte kurz Anawak auf, verschwand wieder. Dort ein paar strampelnde Beine im Wasser. Ein Körper, der auf ihn zustürzte. Ein weißer Bauch — der Orca, der ins Schiff gelangt war, über ihn hinwegziehend. Dann wieder die Schleuse mit dem eingeklemmten Tauchboot …
Und das Ding, das zwischen den auseinander klaffenden Schotts ins Innere drang.
Es sah aus wie der Fangarm eines überdimensionalen Polypen. Nur dass kein Polyp über solche Arme verfügte. Kein Polyp war groß genug für einen Arm von drei Metern Durchmesser. Eine formlose Masse strömte ins Welldeck, rasend schnell, immer mehr davon. Ein gallertiger Muskel, der sich, kaum dass er die Schleuse passiert hatte, zu dünneren Strängen verzweigte, über deren glatte Oberfläche lumineszierende Muster flackerten.
Rubin schwamm um sein Leben.
Die Finne folgte ihm. Hustend und spuckend erreichte er den Pier und versuchte sich in wilder Panik hochzuziehen. Seine Ellbogen knickten ein. Er hörte Schüsse, geriet wieder unter Wasser und sah sich einem unglaublichen Schauspiel gegenüber. Schlagartig wurde ihm klar, dass sein Wunsch soeben in Erfüllung ging. Der fremde Organismus war eingedrungen, nur unter völlig anderen Umständen, als er erwartet hatte.
Leuchtende Tentakel überall. Dick wie Bäume.
Dazwischen der geöffnete Rachen des Orca.
Rubin kam hoch. Unmittelbar vor ihm peitschte ein Paar Beine das Wasser. Roscovitz starrte mit hervorquellenden Augen auf ihn herab. Es sah aus, als hinge er an einem Galgen. Seine Hände versuchten, die Kette um seinen Hals zu lösen.
Ein schreckliches Gurgeln kam über seine Lippen.
Oh mein Gott, dachte Rubin. Barmherziger Gott! Da war die Finne, fast schon bei ihm, drehte ab …
In einem Berg aus Gischt stieg der Orca empor, das Maul weit geöffnet. Roscovitz’ Beine verschwanden darin. Die Kiefer klappten zusammen. Einen Moment lang hing das Tier reglos in der Luft, sackte wieder nach unten …
Roscovitz’ bluttriefender Torso baumelte über der Wasseroberfläche, und Rubin konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Er hörte ein lang anhaltendes Schreien und begriff, dass er selber es war, der schrie.
Er schrie und schrie.
Und da war wieder die Finne.
Li glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Innerhalb weniger Sekunden war im Welldeck das Chaos ausgebrochen. Entgeistert sah sie Peak den Pier entlang laufen, die Soldaten blind ins Wasser feuern, Roscovitz’ zerfetzten Körper.
»Funkverbindung herstellen«, befahl sie.
Plötzlich hallte die Kommandozentrale von Schüssen und Schreien wider. Auf den Gesichtern ringsum spiegelte sich Entsetzen. Alle begannen durcheinander zu reden, dem Chaos im Welldeck folgte seine Entsprechung im CIC. Fieberhaft überlegte sie, was zu tun war. Verstärkung schicken, natürlich. Mit Explosivgeschossen diesmal. Was ballerten die da unten auch mit konventioneller Munition herum?
Sie mussten die Kontrolle zurückgewinnen.
Sie würde selber runtergehen.
Wortlos lief sie nach nebenan ins LFOC. Im Kriegsfall diente es als Befehlszentrale für die amphibischen Operationen. Man konnte von hier aus die Ballasttanks fluten oder leer pumpen und die Heckklappe öffnen, wenn im Welldeck die Kontrollen versagten. Einzig die Bodenschleusen ließen sich vom LFOC aus nicht kontrollieren, ein weiterer dummer Fehler beim überhasteten Umbau der Independence.
»Okay«, erklärte sie dem entsetzten Personal an den Konsolen. »Achterliche Ballasttanks leer pumpen. Heck trockenlegen.« Sie dachte nach. War die Schleuse im Boden des Welldecks verschlossen oder offen? Konnte das Wasser ablaufen? Das Inferno auf den Monitoren ließ keine Aussagen darüber zu. Im Allgemeinen reichte es, das Heck des Schiffes einfach anzuheben, und das Wasser des künstlichen Hafens floss durch die offene Schleuse oder durch die heruntergelassene Heckklappe nach draußen. Für den Fall, dass beides blockiert war, gab es das Notpumpsystem. Es brauchte ein bisschen länger, erfüllte aber denselben Zweck.
Li gab Order, die Pumpen anzuwerfen, und rannte zurück ins CIC.
Die Schotts reagierten nicht. Warum, darüber konnte er sich vorerst keine Gedanken machen. Atemlos rannte Peak zu einem der Waffenschränke und riss eine Harpune mit Sprengkapsel heraus. Die Soldaten feuerten wild ins Wasser. Etwas Gewaltiges, Krakenartiges kam durch die offene Schleuse ins Schiff und schlängelte sich dicht unter der Oberfläche dahin, und der Orca hatte Roscovitz die Beine abgebissen.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Rubin aus dem Wasser zog. Peak war erleichtert und angewidert zugleich. Er hasste den Biologen, aber er hätte sich nicht dazu hinreißen lassen dürfen, ihn ins Wasser zu stoßen. Rubins Leben musste unter allen Umständen geschützt werden. Er musste seine Aufgabe zu Ende bringen.
Die Finne bewegte sich vom Pier weg. Weiter hinten schwammen Anawak und Greywolf. Sie strebten der gegenüberliegenden Seite zu. Leuchtende Tentakel folgten ihnen, aber eigentlich waren die Dinger überall und zuckten in sämtliche Richtungen, während es der Orca eindeutig auf die Fliehenden abgesehen hatte.
Er musste das Vieh erledigen, bevor es noch jemanden tötete.
Plötzlich fühlte sich Peak im Innersten ruhig werden. Alles andere konnte warten. Das Wichtigste war jetzt, diese Masse Fleisch mit Zähnen zu erledigen.
Er hob die Harpune und peilte.
Anawak sah den Orca näher kommen. Das Wasser in dem künstlichen Hafenbecken schäumte und spritzte, schien selber lebendig geworden zu sein. Eine wogende, blau schimmernde Masse, durch die sich der Orca zielstrebig auf ihn und Greywolf zubewegte.
Der schwarze Schädel kam zum Vorschein, als das Tier stoßartig seinen Atem ausblies. Es war wenige Meter entfernt. Sie würden es nicht bis zum Pier schaffen, so viel stand fest. Irgendetwas mussten sie tun. Beim Angriff der Orcas im Clayoquot Sound war zur rechten Zeit Greywolf mit dem Boot da gewesen, aber Greywolf ging es gerade nicht viel besser als Anawak. Sie mussten den Orca austricksen.
Der Wal tauchte ab.
»Wir lassen ihn durch!«, schrie er Greywolf zu.
Nicht sehr präzise, dachte er. Keine Ahnung, ob Jack was damit anfangen kann. Aber für Erklärungen war es ohnehin zu spät.
Anawak holte Atem und ließ sich unter Wasser sinken.
Peak fluchte.
Das Biest war verschwunden, von Greywolf und Anawak nichts mehr zu sehen. Er rannte weiter den Pier entlang und suchte den massigen Körper, aber das Becken hatte sich in ein surrealistisch bewegtes Inferno verwandelt, in dem Licht, undefinierbare Formen und spritzende Gischt keinen klaren Blick mehr zuließen. Vor ihm feuerte einer der Soldaten auf die schlangenartigen Dinger im Wasser, offenbar ohne Wirkung.
»Lassen Sie den Quatsch!« Peak stieß den Mann in Richtung Kontrollpult. »Geben Sie Alarm. Versuchen Sie, das Schott zu öffnen und das Tauchboot loszuwerden.« Sein Blick suchte die Wasseroberfläche ab. »Und dann machen Sie die verdammte Schleuse zu.«
Der Soldat hörte auf zu schießen und lief los.
Peak trat an den Rand des Piers und kniff die Augen zusammen. Die Harpune lag schwer in seiner Hand.
Wo war der Orca?
Er war nicht mehr zu sehen.
Dafür zuckende, sich windende Masse, blaues und weißes Licht. Im Moment, da Anawak sich unter die Oberfläche hatte sinken lassen, war der grelle Lärm dumpfem Rauschen und Poltern gewichen. Greywolf hing rudernd neben ihm. Luftblasen entwichen seinem Mund. Immer noch hielt Anawak den Arm des Halbindianers gepackt, nachdem er ihn mit herabgezogen hatte. Er wusste nicht, ob seine Idee funktionieren würde, aber an der Oberfläche waren sie auf jeden Fall verloren.
Etwas wogte ihm entgegen, das einer riesigen, kopflosen Schlange glich. Über das halb transparente, blau schimmernde Gewebe pulsten Streifige Lichter. Hunderte dünner, peitschenartiger Ausleger wuchsen daraus hervor und strichen über den Boden des Decks, und plötzlich wurde Anawak klar, was das Ding tat. Es scannte seine Umgebung. Die Peitschen erfassten jeden Punkt des Beckens. Während er noch zusah, entsetzt und fasziniert zugleich, entsprossen dem Schlangenkörper weitere Ausleger und wimmelten in seine Richtung.
Zwischen ihnen klaffte das offene Maul des Orcas.
In Anawak ging eine Veränderung vor. Ein Teil von ihm kapselte sich ab und stellte in aller Ruhe Fragen. Wie viel von dem Angreifer war noch Wal, wie viel Gallerte? Was hatten sie von einem Lebewesen zu erwarten, das nicht mehr seiner Natur gemäß handelte, sondern in einem fremden Bewusstsein aufgegangen war? Er musste den Orca als Teil der leuchtenden Masse sehen, nicht mehr als Wal mit natürlichen Reflexen. Aber vielleicht war genau das von Vorteil. Vielleicht gelang es ihnen, das Tier zu verwirren.
Pfeilschnell war der Orca heran.
Anawak wich aus, gab Greywolf einen Stoß und sah ihn in entgegengesetzter Richtung davonschnellen. Er hatte den Zuruf verstanden! Der Wal schoss zwischen ihnen hindurch, nachdem sich seine Beute überraschend geteilt hatte.
Ein paar Sekunden gewonnen.
Ohne dem Orca einen weiteren Blick zu widmen, schwamm Anawak mitten in das Tentakelgewirr hinein.
Rubin kroch nach Luft schnappend und auf allen vieren über den Pier. Der Soldat sprang über ihn hinweg und hastete zum Kontrollpult. Er warf einen Blick auf die Anzeigen, orientierte sich und drückte auf den Knopf, um die Stahlschotts zu öffnen.
Das System blockierte.
Wie jeder in seiner Truppe war der Soldat in allen technischen Systemen des Schiffs geschult worden und kannte deren Funktionsweise. Das Bild von Browning hatte sich ihm eingebrannt, wie ihr Körper gegen das Pult geschleudert worden war. Er bückte sich und nahm den Knopf genauer in Augenschein.
Verklemmt. Seitlich verzogen.
Vielleicht durch einen Stiefeltritt Brownings. Viel war es nicht, was er zu korrigieren hatte. Er packte sein Gewehr und schlug mit dem Kolben dagegen.
Der Knopf rastete ein.
Anawak schwebte in einer fremden Welt.
Um ihn herum wanden sich Vorhänge dünner Tentakel. Er war keineswegs sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, in das Gewimmel hineinzuschwimmen, aber die Frage hatte sich erübrigt. Vielleicht würde die Gallerte aggressiv reagieren, vielleicht gar nicht. Möglicherweise war das Zeug auch kontaminiert. Dann waren sie sowieso alle tot.
Auf jeden Fall hatte es der Orca hier vorübergehend schwerer, ihn zu finden.
Die lumineszierenden Ausleger bogen sich in seine Richtung. Alles geriet in Bewegung. Anawak wurde hin und her geschleudert. Das Tentakelgeflecht verdichtete sich, und plötzlich spürte er eines der Peitschendinger über sein Gesicht streichen.
Er wischte es beiseite.
Weitere schlängelten sich heran, tasteten über seinen Kopf und seinen Körper. In seinem Schädel pochte und dröhnte es. Allmählich begannen seine Lungen zu schmerzen. Wenn er nicht bald Gelegenheit fand aufzutauchen, konnte er sich gleich dem Zeug überlassen.
Mit beiden Händen griff er in die Masse und riss sie auseinander. Es war, als kämpfe er gegen ein Bündel Nattern. Der Organismus war wie ein fester, hochflexibler Muskel und zudem in ständiger Metamorphose begriffen. Tentakel, die sich eben noch um ihn gewunden hatten, deformierten sich, zogen sich zurück und gingen in der großen Masse auf, die im selben Moment andere Extremitäten gebar. Das Zeug war völlig unberechenbar, und offenbar entwickelte es gerade ein verstärktes Faible für Leon Anawak.
Er musste hier wieder raus.
Neben ihn huschte ein schlanker, eleganter Körper.
Ein lächelndes Gesicht. Einer der Delphine. Anawak griff instinktiv nach der Rückenflosse. Ohne innezuhalten schoss der Delphin aus der Tentakelmasse heraus und riss ihn mit sich. Plötzlich hatte er wieder freie Sicht. Er klammerte sich fest und sah den Orca von der Seite heranrasen. Der Delphin schnellte nach oben. Hinter ihnen schnappten die riesigen Kiefer zu, verfehlten sie knapp, dann durchbrachen sie die Wasseroberfläche und hielten auf das künstliche Gestade zu.
Der Soldat drückte den Knopf.
Es war nur eine Reparatur mit einem Gewehrkolben gewesen, aber von Erfolg beschieden. Langsam setzten sich die stählernen Schotts in Bewegung und gaben das Tauchboot frei. Es begann wieder zu sinken, vorbei an dem Organismus, der sich durch die Schleuse schob. Lautlos fiel das Deepflight aus dem Schiff hinaus und verschwand in der Tiefe des Meeres.
Für den Bruchteil einer Sekunde kamen dem Soldaten Zweifel, ob es nicht besser wäre, die Schleuse geöffnet zu lassen, aber sein Befehl lautete anders. Er sollte sie schließen, also gehorchte er. Diesmal blockierte kein Tauchboot die Schotts. Die Platten, angetrieben von den starken Motoren der Schleuse, schoben sich in den baumdicken Organismus und quetschten ihn zusammen.
Peak riss die Harpune hoch.
Eben hatte er Anawak gesehen. Der Orca schien ihn erwischt zu haben, aber dann war der Mann wieder zum Vorschein gekommen, während sich das Vieh zur gegenüberliegenden Seite bewegte. Die Soldaten beschossen den schwarzen Rücken, und der Orca sank unter die Wasseroberfläche.
Hatten sie ihn erledigt?
»Schott schließt sich«, rief der Soldat vom Kontrollpult herüber.
Peak hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und schritt langsam den Pier entlang. Sein Blick suchte die gegenüberliegende Seite ab. Gegen das Krakending halfen keine Gewehrkugeln, und Sprengkörper in die Gallerte zu schießen, traute er sich nicht. Immer noch waren Menschen in dem Becken.
Er trat an die Kante.
Greywolf war Anawaks Beispiel gefolgt und zwischen die Tentakel geschwommen. Aus Leibeskräften kraulte er zur anderen Seite des Beckens. Nach einigen Metern versperrte ihm die Körpermasse des Organismus den Weg, und er musste die Richtung wechseln.
Er hatte jede Orientierung verloren.
Tentakel ringelten sich auf ihn zu und wanden sich um seine Schulter. Greywolf fühlte Ekel in sich hochsteigen. Er war völlig verstört. Auf seiner Netzhaut hatte sich die Sequenz von Delawares Tod verewigt, wie ein Film lief sie immer wieder darauf ab. Er riss die Auswüchse der Gallerte von sich herunter, wirbelte herum und versuchte wegzukommen.
Plötzlich schwebte er über der Schleuse. Das Tauchboot war verschwunden. Er sah, wie sich die Schotts schlossen, in das Gallertgewebe fuhren und den meterdicken Strang glatt durchtrennten.
Die Reaktion des Wesens war unmissverständlich.
Es gefiel ihm nicht.
Ein Wasserschwall schlug Peak entgegen. Unmittelbar vor ihm stieg der Orca empor. Zu überrascht, um Angst zu empfinden, blickte Peak in den rosa Rachen. Er prallte zurück, während im selben Moment das komplette Deck auseinander zu fliegen schien. Der Organismus tobte. Wild gewordene Riesenschlangen wirbelten bis zur Decke, klatschten gegen die Wände und fegten die Piers entlang. Peak hörte die Soldaten schreien und schießen, sah Körper durch die Luft wirbeln und im Becken verschwinden, dann schlug ihm etwas die Beine weg, und er prallte auf den Rücken. Schmerzhaft entwich alle Luft aus seinen Lungen. Der Körper des Orcas kippte auf ihn zu. Peak stöhnte, packte unwillkürlich die Harpune fester und wurde mit einem Ruck ins Becken gezogen.
In einem Strudel aus Luftblasen sank er nach unten. Seine Beine steckten in einer blau schimmernden Masse. Er stieß mit der Harpune dagegen, und der Klammergriff löste sich. Über ihm klatschte der Orca zurück ins Wasser. Eine gewaltige Druckwelle erfasste Peak und wirbelte ihn mehrfach um seine Achse. Er sah die Zahnreihen des Wals auseinander klappen, keinen Meter entfernt, stieß ihm die Harpune ins Maul und drückte ab.
Einen Moment schien alles stillzustehen.
Aus dem Kopf des Orcas drang eine dumpfe Detonation. Sie war nicht besonders laut, aber die Welt färbte sich rot. Peak wurde in einer Masse aus Blut und Fleischfetzen nach hinten geschleudert. Er schlug einen Salto, prallte gegen die Seitenwand und zog sich mit einer einzigen schwungvollen Bewegung wieder auf den Pier. Keuchend robbte er von der Kante weg. Überall war Blut. Rote Schmiere mischte sich mit Fettgewebe und Knochensplittern. Er versuchte, hochzukommen, rutschte aus und fiel wieder auf den Hintern. Schmerz durchzuckte ihn.
Sein linker Fuß stand in einem Winkel ab, der nichts Gutes verhieß, aber im Augenblick interessierte ihn nicht mal das.
Ungläubig starrte er auf die Szenerie, die sich ihm bot.
Der Organismus schien in Raserei verfallen zu sein. Die Tentakel peitschten wild durcheinander. Regale stürzten um, Ausrüstung flog durch die Luft. Von den Soldaten war nur einer auszumachen, der feuernd den Pier entlanglief, bis ihn einer der Arme ins Wasser beförderte. Peak duckte sich, als ein halb transparentes Gebilde dicht über ihn hinwegfegte, das keine Schlange und kein Fangarm war, nichts, das er schon mal gesehen hatte. Mit aufgerissenen Augen gewahrte er, wie sich die Spitze des Gebildes im Flug veränderte und für eine Sekunde das Aussehen eines Fischkörpers annahm, bevor sie sich in züngelnde Fäden verästelte. Große Tiere schienen im Becken unterwegs zu sein, Rückenflossen wuchsen heraus und verschwanden wieder, deformierte Köpfe reckten ihre Schnauzen in die Höhe, seltsam glibberig und unfertig, verformten sich und klatschten als konturlose Klumpen zurück ins Wasser.
Peak rieb sich die Augen. Täuschte er sich, oder war der Wasserspiegel gesunken? Das Dröhnen von Maschinen mischte sich in den allgemeinen Lärm, und er begriff: Sie pumpten das Deck leer! Das Wasser wurde aus den Ballasttanks gepresst. Unmerklich hob sich das Heck der Independence, während der Inhalt des künstlichen Hafenbeckens zurück ins Meer floss. Die umherpeitschenden Auswüchse zogen sich zurück. Plötzlich war das Wesen wieder zur Gänze untergetaucht. Peak schob sich die Wand hoch, belastete seinen linken Fuß und knickte ein. Bevor er stürzen konnte, packten ihn zwei Hände.
»Festhalten«, sagte Greywolf.
Peak klammerte sich an die Schulter des Hünen und versuchte mitzuhumpeln. Selber nicht eben klein, kam er sich neben Greywolf schmächtig und kraftlos vor. Er stöhnte auf. Greywolf hob ihn kurz entschlossen in die Höhe und lief mit ihm den Pier entlang zum künstlichen Gestade.
»Stopp«, keuchte Peak. »Das reicht. Runterlassen.«
Greywolf ließ ihn sanft zu Boden sinken. Sie waren unmittelbar vor dem Tunnel, der zum Laboratorium führte. Von hier aus konnte man das gesamte Becken überblicken. Peak erkannte, dass die Seitenwände des Delphinariums wieder sichtbar wurden. Unverändert dröhnten die Pumpen. Er dachte an die Menschen in dem Becken, die wahrscheinlich alle tot waren, an die Soldaten, an Delaware und Browning …
An Anawak!
Sein Blick suchte das Wasser ab. Wo war Anawak?
Prustend tauchte er auf, unmittelbar vor dem Gestade. Greywolf sprang hinzu und half ihm aufs Trockene. Sie sahen zu, wie das Wasser weiter absank. Nun konnten sie ein großes Wesen erkennen, das mattblaues Licht abstrahlte und das Becken durchstreifte, als suche es einen Weg nach draußen. Seine Form erinnerte an einen schlanken Wal oder eine gedrungene Seeschlange. Keine Lichtblitze zuckten mehr über seinen Körper, keine Tentakel entwuchsen der Masse. Es schwamm in jede Ecke, schlängelte sich an den Wänden entlang, suchte schnell und systematisch nach dem Ausweg, den es nicht gab.
»Verdammtes Scheißvieh!«, keuchte Peak. »Jetzt wird es trockengelegt.«
»Nein. Wir müssen es retten.«
Das war Rubins Stimme. Peak wandte den Kopf und sah den Biologen im Tunnel auftauchen. Er zitterte und hielt die Arme um seinen Körper geschlungen, aber in seinen Augen flackerte wieder das Leuchten, als er darauf bestanden hatte, die Gallerte ins Schiff zu lassen.
»Retten?«, echote Anawak.
Rubin kam in zögerlichen Schritten näher. Er schaute wachsam auf das Becken, in dem die Kreatur immer schneller ihre Runden drehte. Der Wasserspiegel betrug noch maximal zwei Meter. Das Wesen verbreiterte seine Körperfläche, wohl um seinen Tiefgang zu verringern.
»Das ist eine einmalige Chance«, sagte er. »Versteht ihr denn nicht? Wir müssen sofort den Hochdrucksimulator dekontaminieren. Die Krebse raus, frisches Wasser rein und möglichst viel von diesem Ding. Das ist viel besser als die Krebse. Damit können wir …«
Mit einem Sprung war Greywolf bei ihm, legte beide Hände um Rubins Hals und drückte zu. Der Biologe riss Mund und Augen auf. Seine Zunge kam zum Vorschein.
»Jack!« Anawak versuchte, Greywolfs Arme nach hinten zu ziehen. »Hör auf damit!«
Peak stemmte sich hoch. Sein linker Fuß hielt der Belastung stand. Offenbar war er nicht gebrochen, aber er schmerzte höllisch, sodass er kaum einen Schritt gehen konnte. Dennoch. Er musste etwas für das Arschloch tun, ob er wollte oder nicht.
»Jack, das bringt nichts«, rief er. »Lassen Sie den Mann los.«
Greywolf reagierte nicht. Er hob Rubin hoch. Dessen Gesicht begann sich ins Bläuliche zu verfärben.
»Das reicht, O’Bannon!«
Li kam aus dem Tunnel, in Begleitung einiger Soldaten.
»Ich bringe ihn um«, sagte Greywolf ruhig.
Die Kommandantin trat einen Schritt näher und umfasste Greywolfs rechtes Handgelenk. »Nein, O’Bannon, das werden Sie nicht tun. Mir ist egal, welche Rechnung Sie mit Rubin offen haben, aber seine Arbeit ist wichtig.«
»Jetzt nicht mehr.«
»O’Bannon! Bringen Sie mich nicht in die missliche Lage, Ihnen wehtun zu müssen.«
Greywolfs Blick flackerte. Seine Augen hefteten sich auf Li. Offenbar kam er zu der Einsicht, dass sie es ernst meinte, denn er ließ Rubin langsam wieder herunter und löste die Hände von seinem Hals. Der Biologe fiel röchelnd auf die Knie. Er würgte und spuckte.
Immer mehr Menschen kamen ins CIC.
»Legen Sie das Satellitenbild auf den Großmonitor«, befahl Peak.
Das Big Picture zeigte die Independence aus der Perspektive des KH-12. Sie lag über dunklem Wasser. Von blauem Licht und Blitzen keine Spur.
»Eben noch war dort unten alles hell«, sagte der Mann, der für die Satellitenauswertung zuständig war. »Können wir Bilder von anderen Satelliten bekommen?« »Im Augenblick nicht, Sir.« »Okay. KH-12 soll aufzoomen.«
Der Mann gab den Befehl an die Kontrollstation weiter. Wenige Sekunden darauf schrumpfte die Independence auf dem Monitor. Der Satellit hatte den Ausschnitt vergrößert. Nach allen Seiten erstreckte sich bleiern die Grönländische See. Aus den Lautsprechern drang das Pfeifen und Klicken der Delphine. Immer noch meldeten sie die Präsenz einer unbekannten Lebensform.
»Das reicht noch nicht.« Der KH-12 zoomte weiter auf. Das Objektiv erfasste nun einen Ausschnitt von einhundert Quadratkilometern. Die Independence mit ihren gut 250 Metern Länge nahm sich darin aus wie ein Stück Treibholz. Mit angehaltenem Atem starrten sie auf den Monitor. Jetzt sahen sie es. In weitem Umkreis hatte sich ein dünner, blau leuchtender Ring gebildet. Entladungen blitzten darin auf. »Wie groß ist das Ding?«, flüsterte Peak. »Vier Kilometer im Durchmesser«, sagte die Frau am Monitor. »Etwas mehr sogar. Scheint eine Art Schlauch zu sein. Was wir auf dem Satellitenbild sehen, ist die Öffnung, aber es zieht sich bis hinab in die Tiefsee. Wir sitzen sozusagen im … Schlund.«
»Und was ist es?«
Johanson war neben ihm aufgetaucht. »Gallerte, würde ich sagen.«
»Na bravo«, keuchte Vanderbilt. »Was, verdammt nochmal, haben Sie denen da unten geschickt?«, fuhr er Crowe an.
»Wir haben sie aufgefordert, sich zu zeigen«, sagte Crowe.
»War das eine gute Idee?«
Shankar wandte sich ärgerlich zu ihm um.
»Wir wollten doch Kontakt aufnehmen, oder? Was beschweren Sie sich? Haben Sie gedacht, die schicken reitende Boten?«
»Wir bekommen ein Signal rein!«
Alle fuhren zu dem Sprecher herum. Es war der Mann, der die akustischen Anzeigen überwachte. Shankar eilte zu ihm und beugte sich über die Monitore.
»Was ist es?«, rief Crowe ihm zu.
»Dem spektrographischen Muster nach ein Scratch-Signal.«
»Eine Antwort?«
»Ich weiß nicht, ob …«
»Der Ring. Er zieht sich zusammen!«
Alle Köpfe ruckten hoch zum Big Picture. Der leuchtende Ring hatte begonnen, sich langsam wieder auf das Schiff zuzubewegen. Zugleich strebten zwei winzige Punkte von der Independence fort. Die beiden Kampfhubschrauber hatten ihren Erkundungsflug aufgenommen. Das Pfeifen und Quieken in den Lautsprechern verstärkte sich.
Plötzlich begannen alle durcheinander zu reden.
»Maul halten«, schnauzte Li. Sie lauschte mit gefurchter Stirn den Stimmen der Delphine. »Da ist noch ein anderes Signal.«
»Ja.« Delaware horchte mit gesenkten Lidern. »Unbekannte Lebensform, und außerdem …«
»Orcas!«, rief Greywolf.
»Mehrere große Körper nähern sich von unten«, bestätigte die Frau am Sonar. »Kommen aus dem Innern der Röhre.«
Greywolf sah Li an. »Das schmeckt mir nicht. Wir sollten die Delphine ins Schiff holen.«
»Warum gerade jetzt?«
»Ich will das Leben der Tiere nicht riskieren. Außerdem brauchen wir die Kamerabilder.«
Li zögerte einen Moment.
»In Ordnung. Holen Sie sie rein. Ich gebe Roscovitz Bescheid. Peak, nehmen Sie vier Mann und begleiten Sie O’Bannon ins Welldeck.«
»Leon«, sagte Greywolf. »Licia.«
Sie eilten hinaus. Rubin sah ihnen nach. Er beugte sich zu Li hinüber und sagte etwas in gedämpftem Ton. Sie hörte zu, nickte und wandte sich wieder den Monitoren zu.
»Wartet auf mich!«, rief Rubin der Gruppe nach. »Ich komme mit.«
Welldeck
Roscovitz traf noch vor den Wissenschaftlern im Welldeck ein, begleitet von Browning und einem weiteren Techniker. Er fluchte lautstark, als er das defekte Deepflight sah. Sie hatten es immer noch nicht repariert. Mit offenen Einstiegshauben trieb es auf der Wasseroberfläche, nur durch eine Kette gesichert, die sich zur Decke spannte.
»Konnte das nicht längst schon fertig sein?«, fuhr er Browning an.
»Die Sache ist komplizierter, als wir dachten«, verteidigte sich die Cheftechnikerin, während sie den Pier entlang liefen. »Die Steuerautomatik hat …«
»Ach, Scheiße.« Roscovitz musterte das Boot. Es lag halb über der Schleuse, die sich in vier Metern Tiefe abzeichnete. »Allmählich beginnt es mich zu stören. Jedes Mal, wenn wir die Viecher rein— oder rauslassen, stört es mich mehr.«
»Bei allem Respekt, Sir, es stört nicht, und wenn wir es fertig repariert haben, wird es wieder zur Decke gezogen.«
Roscovitz knurrte etwas Unverständliches und stellte sich hinter das Bedienpult. Direkt vor seiner Nase lag das Boot. Aus dieser Perspektive versperrte es ihm den Blick auf die Bodenschleuse. Er war auf die Pultmonitore angewiesen. Erneut fluchte er und benutzte ein paar kraftvollere Ausdrücke. In der Eile, mit der die Independence umgerüstet worden war, hatten sie geschludert! Warum, zum Teufel, musste alles, was nicht funktionierte, immer erst in der Praxis Probleme machen? Wozu testeten sie jeden Mist im virtuellen Raum, wenn hinterher ein schwimmendes Tauchboot den Blick auf die Schleuse versperrte?
Schritte hallten im Hangardeck wider. Greywolf, Delaware, Anawak und Rubin kamen die Rampe herunter, gefolgt von Peak und seinen Männern. Die Soldaten verteilten sich beiderseits der Kais. Rubin und Peak gingen zu Roscovitz, während Greywolf und die anderen in ihre Neoprenanzüge schlüpften und die Sichtbrillen aufsetzten.
»Fertig«, sagte Greywolf. Er schloss Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis, dem Taucherzeichen für Okay. »Holen wir sie rein.«
Roscovitz nickte und schaltete die Lockrufautomatik ein. Er sah die Wissenschaftler ins Becken springen, die Körper angeleuchtet von den Unterwasserscheinwerfern. Sie schwammen näher heran. Auf Höhe der Schleuse tauchten sie nacheinander ab.
Er öffnete die unteren Schotts.
Delaware sank kopfüber auf die Instrumentenanzeige am Schleusenrand zu. Noch während sie abtauchte, setzten sich die mächtigen Stahlplatten drei Meter unter der gläsernen Abdeckung in Bewegung. Sie sah zu, wie die Schotts auseinander fuhren und den Blick in die Meerestiefe freigaben. Sofort huschten zwei Delphine ins Innere. Sie wirkten nervös und stießen mit den Schnauzen gegen das Glas. Greywolf machte das Zeichen, noch zu warten. Ein weiterer Delphin schwamm in die Schleuse.
Mittlerweile hatten sich die Stahlschotts vollständig geöffnet. Unter der Glaskuppel gähnte der Abgrund. Delaware spähte angestrengt in die Dunkelheit. Noch war nichts Außergewöhnliches zu sehen, kein Leuchten, keine Blitze, keine Orcas und keiner der übrigen drei Delphine. Sie ließ sich tiefer sinken, bis ihre Hände die Glasfläche berührten, und suchte die Tiefe nach den anderen ab. Plötzlich schoss ein viertes Tier heran, drehte sich um seine Achse und schwamm ins Schleusenbecken. Greywolf nickte, und Delaware gab das Signal an Roscovitz. Langsam rückten die Stahlplatten wieder aufeinander zu und schlossen sich mit dumpfem Dröhnen. Im Innern der Schleuse nahmen die Messfühler ihre Arbeit auf und untersuchten das Wasser auf Verunreinigungen und Kontaminate. Nach wenigen Sekunden gab die Sensorik grünes Licht und leitete die Freigabe an Roscovitz’ Konsole weiter. Lautlos glitten die beiden Glasschotts auseinander.
Kaum war der Spalt breit genug, drängten sich die Tiere hindurch und wurden von Greywolf und Anawak in Empfang genommen.
Peak sah zu, wie Roscovitz das gläserne Dach wieder schloss. Sein Blick ruhte auf den Monitoren. Rubin war an den Rand des Beckens getreten und starrte hinab auf die Schleuse.
»Da waren’s nur noch zwei«, summte Roscovitz.
Aus den Lautsprechern drangen Pfiffe und Klicklaute der Delphine, die noch draußen waren. Sie wurden zusehends nervöser. Greywolfs Kopf erschien an der Wasseroberfläche, dann tauchten Anawak und Delaware auf.
»Was sagen die Tiere?«, wollte Peak wissen.
»Immer noch dasselbe«, erwiderte Greywolf.
»Unbekannte Lebensform und Orcas. Irgendwas Neues auf den Monitoren?«
»Nein.«
»Das muss nichts heißen. Holen wir die letzten beiden rein.«
Peak stutzte. Die Bildschirme hatten an den Rändern tiefblau zu leuchten begonnen.
»Ich glaube, Sie sollten sich beeilen«, sagte er. »Es kommt näher.« Die Wissenschaftler tauchten erneut zur Schleuse. Peak rief das CIC.
»Was seht ihr da oben?«
»Der Ring zieht sich weiter zusammen«, schnarrte Lis Stimme aus den Boxen der Konsole. »Die Piloten sagen, das Gebilde taucht ab, aber auf dem Satellitenbild ist es noch deutlich zu erkennen. Scheint, als wolle es unter das Schiff. Es müsste bald heller werden bei euch da unten.«
»Es wird hell. Womit haben wir es zu tun? Mit der Wolke?«
»Sal?« Das war Johanson. »Nein, ich glaube nicht, dass es noch Wolkenform hat. Die Zellen sind verschmolzen. Das ist ein kompakter Schlauch aus Gallerte, und er kontraktiert. Ich weiß nicht, was da passiert, aber ihr solltet wirklich zusehen, dass ihr fertig werdet.«
»Wir haben’s gleich. Rosco?«
»Schon passiert«, sagte Roscovitz. »Ich öffne das Schott.«
Anawak hing wie gebannt über dem Glasdach. Diesmal war es anders, als die Stahlplatten auseinander wichen. Beim ersten Mal hatten sie in dunkelgrüne Düsternis gestarrt. Jetzt war die Tiefe von einem schwachblauen Leuchten erfüllt, das langsam an Intensität zunahm.
Das hier sieht anders aus als die Wolke, dachte er. Eher wie Lichtschein, der ringsum abgestrahlt wird. Er dachte an die Satellitenaufnahme, die sie im CIC gesehen hatten. An den Schlund der gewaltigen Röhre, in deren Zentrum die Independence lag.
Plötzlich wurde ihm klar, dass er ins Innere dieser Röhre sah. Der Gedanke an die Ausmaße des Schlauchs ließ seinen Magen rotieren. Überfallartig überkam ihn Angst. Als wie aus dem Nichts der Körper des fünften Delphins ins Becken schnellte, fuhr er zurück, kaum fähig, seinen Fluchttrieb zu unterdrücken. Der Delphin drängte sich unter die Glasabdeckung. Anawak zwang sich zur Ruhe. Im nächsten Moment war das sechste Tier in der Schleuse. Die Stahlplatten glitten zusammen. Die Sensoren prüften die Wasserqualität, schickten ihr Okay an Roscovitz, und die Glashälften öffneten sich.
Browning sprang mit einem Riesensatz auf das Deepflight.
»Was soll das?«, wollte Roscovitz wissen.
»Die Tiere sind drin. Ich mache meine Arbeit, das soll es.«
»Hey, so war das doch eben nicht gemeint.«
»Doch, so war es gemeint.« Browning ging in die Hocke und öffnete eine Klappe im Heck. »Ich repariere das verdammte Ding jetzt fertig.«
»Es gibt Wichtigeres, Browning«, sagte Peak ungehalten. »Lassen Sie das Rumgezicke.« Er konnte seinen Blick nicht von den Monitoren lösen. Es wurde immer heller darauf.
»Sal, seid ihr fertig da unten?«, erklang Johansons Stimme.
»Ja. Was ist oben los?«
»Der Rand der Röhre schiebt sich unter das Schiff.«
»Kann uns das Zeug was anhaben?«
»Kaum. Ich kann mir keinen Organismus vorstellen, der die Independence auch nur zum Erzittern bringen könnte. Nicht mal dieses Ding. Es ist Gallerte. Wie muskulöses Gummi.«
»Und es ist unter uns«, sagte Rubin vom Rand des Beckens her. Er drehte sich um. Seine Augen leuchteten. »Öffnen Sie nochmal die Schleuse, Luther. Schnell.«
»Was?« Roscovitz riss die Augen auf. »Sind Sie wahnsinnig?«
Rubin war mit wenigen Schritten neben ihm.
»General?«, rief er ins Mikrophon der Konsole.
Es knackte in der Leitung. »Was gibt’s, Mick?«
»Hier tut sich gerade eine traumhafte Chance auf, in den Besitz größerer Mengen dieser Gallerte zu kommen. Ich habe angeregt, die Schleuse ein weiteres Mal zu öffnen, aber Peak und Roscovitz …«
»Jude, das Risiko können wir nicht eingehen«, sagte Peak. »Wir können das nicht kontrollieren.«
»Wir öffnen nur das Stahlschott und warten eine Weile«, sagte Rubin. »Vielleicht ist der Organismus neugierig. Wir fangen ein paar Brocken davon ein und schließen das Schott wieder. Eine hübsche Portionsmenge Forschungsmaterial, was halten Sie davon?«
»Und wenn es verseucht ist?«, sagte Roscovitz.
»Herrgott, überall Bedenkenträger! Das finden wir doch raus. Wir lassen die Glasabdeckung natürlich geschlossen, bis wir es wissen!«
Peak schüttelte den Kopf. »Ich halte das für keine gute Idee.«
Rubin verdrehte die Augen.
»General, das ist eine einmalige Gelegenheit!.«
»Okay«, sagte Li. »Aber seid vorsichtig.«
Peak sah unglücklich drein. Rubin lachte auf, trat an den Beckenrand und wedelte mit den Armen.
»He, werdet fertig«, rief er Greywolf, Anawak und Delaware zu, die den Tieren unter Wasser die Geschirre abnahmen. »Macht, dass ihr …« Sie konnten ihn nicht hören. »Ach, egal. Kommen Sie, Luther, öffnen Sie das verdammte Schott. Es kann ja nichts passieren, solange die Abdeckung geschlossen bleibt.«
»Sollten wir nicht warten, bis …«
»Wir können nicht warten«, fuhr ihn Rubin an. »Sie haben gehört, was Li gesagt hat. Wenn wir warten, ist es verschwunden. Lassen Sie einfach ein bisschen von der Gallerte in die Schleuse und machen Sie wieder zu. Mir reicht ein Kubikmeter oder so.«
Impertinentes Arschloch, dachte Roscovitz. Am liebsten hätte er Rubin ins Wasser geworfen, aber der Mistkerl hatte die Autorisierung von Li.
Sie hatte es angeordnet.
Er drückte auf die Bedienung für das Schott.
Delaware hatte es mit einem besonders aufgeregten Exemplar zu tun. Zappelig und ungeduldig. Beim Versuch, ihm die Kamera abzunehmen, war der Delphin ausgebüxt und zur Schleuse abgetaucht, wobei er das halbe Geschirr hinter sich herschleppte. Sie sah ihn über der Glasabdeckung kreisen und folgte ihm mit kräftigen Schwimmstößen nach unten.
Von dem, was oben besprochen wurde, bekam sie nichts mit.
Was hast du denn?, dachte sie. Komm her. Du musst doch keine Angst haben.
Dann sah sie, was los war.
Das Stahlschott öffnete sich wieder.
Einen Moment lang war sie so verblüfft, dass sie zu schwimmen vergaß und tiefer sank, bis ihre Zehenspitzen das Glas berührten. Unter ihr glitt das Schott weiter auf.
Die See leuchtete in kräftigem Blau. Blitzartige Entladungen zuckten in der Tiefe.
Was zum Teufel machte Roscovitz denn da? Warum öffnete er das Schott?
Der Delphin kreiste wie wild über der Schleuse. Er kam zu ihr herübergeschwommen und stupste sie an. Offenbar versuchte er sie von dem Schott wegzudrängen. Als Delaware nicht sofort reagierte, pirouettierte er und schoss davon.
Sie starrte in den leuchtenden Abgrund.
Was war da unten? Schemenhaft erkannte sie huschende Schatten, dann einen Fleck, der sich näherte und größer wurde.
Sehr schnell näherte.
Der Fleck bekam eine Form, nahm Gestalt an.
Plötzlich begriff sie, was da auf sie zukam. Sie erkannte den riesigen Kopf mit der schwarzen Stirn und der weißen Unterseite, die gleichmäßig gereihten Zähne zwischen den halb geöffneten Lippen. Es war das größte Exemplar, das sie je gesehen hatte. Senkrecht raste es aus der Tiefe heran und schien dabei immer schneller zu werden, offenbar ohne die geringste Absicht auszuweichen. Ihre Gedanken jagten einander. Innerhalb von Sekundenbruchteilen fügte sich zusammen, was sie wusste. Dass die Glasschotts dick und robust waren, aber nicht stark genug, um einer lebenden Bombe standzuhalten. Dass dieses Tier über zwölf Meter lang sein musste. Dass es sich mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 56 Stundenkilometern in die Höhe katapultieren konnte.
Dass es viel zu schnell war.
Sie unternahm einen verzweifelten Versuch, von der Schleuse wegzukommen.
Wie ein Torpedo krachte der Orca durch die gläserne Abdeckung. Die Druckwelle warf Delaware um ihre eigene Achse. Undeutlich sah sie Trümmer des Stahlrahmens und Scherben heranwirbeln und den weißen Bauch des Wals, der sich aus der zerstörten Glaskuppel erhob, kaum gebremst durch den Aufprall. Etwas traf sie schmerzhaft zwischen den Schulterblättern. Sie schrie auf und bekam Wasser in die Lungen, schlug um sich und verlor jedes Gefühl für oben und unten.
Panik erfasste sie.
Rosovitz fand kaum Zeit, die Situation zu begreifen. Der Pier dröhnte und erzitterte unter seinen Füßen, als der Orca das Schott durchbrach. Ein gewaltiger Wasserberg hob das Deepflight in die Höhe. Er sah Browning taumeln und mit den Armen rudern, während der Orca kurz absackte und aus dem Stand erneut beschleunigte.
»Das Schott!«, schrie Rubin. »Schließ das Schott!«
Der Kopf des Orca rammte gegen das Tauchboot und warf es hoch. Mit einem hellen Knall zersprang die Halterung der Kette. Brownings Körper wurde durch die Luft geschleudert und krachte gegen das Bedienpult. Einer ihrer Stiefel traf Roscovitz gegen die Brust und warf ihn nach hinten. Er prallte gegen die Hangarwand, Peak mit sich reißend.
»Das Boot!«, schrie Rubin. »Das Boot!«
Browning kippte mit blutender Stirn zurück ins Wasser. Über ihr stellte sich das Heck des Deepflight senkrecht, als das Tauchboot in Sekundenschnelle voll lief und sank. Roscovitz rappelte sich hoch und versuchte, das Pult zu erreichen. Etwas zischte ihm entgegen. Er schaute auf und sah die losgerissene Kette wie eine Peitsche heranschwingen. Hastig versuchte er auszuweichen, fühlte, wie das Ende an seiner Schläfe vorbeischrammte und sich um seinen Hals wickelte. Die Luft blieb ihm weg. Er wurde nach vorne gezogen und rutschte über die Kante.
Greywolf war zu weit entfernt, um zu erkennen, was die Katastrophe ausgelöst hatte, und weil er im Wasser trieb, bekam er von der Erschütterung nichts mit. Er sah, wie das Tauchboot aus seiner Halterung gerissen wurde und was mit Browning und Roscovitz passierte. Rubin stand schreiend und gestikulierend neben dem Steuerpult. Irgendwo hinter ihm erschien Peaks Kopf. Die Soldaten hatten ihre Waffen hochgenommen und rannten auf die Unglücksstelle zu.
Hastig suchte sein Blick die Oberfläche nach Delaware ab. Anawak war direkt neben ihm, aber Delaware konnte er nirgendwo finden.
»Licia?«
Keine Antwort.
»Licia!«
Eisige Furcht stach in sein Herz. Mit einem gewaltigen Schwung tauchte er hinab und schnellte auf die Schleuse zu.
Delaware schwamm in die falsche Richtung. Ihr Rücken schmerzte höllisch, und sie fürchtete zu ersticken. Plötzlich fand sie sich direkt über der Schleuse wieder. Die beiden Hälften der Glasabdeckung waren herausgerissen, die Stahlschotts begannen sich eben zu schließen. Das Meer darunter war ein einziges Leuchten.
Sie drehte sich auf den Rücken.
Oh nein!
Das Deepflight fiel mit offen stehenden Luken auf sie zu, Bug voran. Es sank wie ein Stein. Aus Leibeskräften begann sie mit den Füßen zu schlagen. Es würde auf sie stürzen. Sie sah die zusammengelegten Greifarme näher kommen, streckte sich wie ein Otter, aber es reichte nicht. Schmerzhaft rammte das Boot ihre Körpermitte. Sie spürte, wie ihre Rippen brachen, öffnete den Mund, schrie und schluckte noch mehr Wasser. Unbarmherzig drückte das Boot sie nach unten, durch die Schleuse hindurch und hinaus ins offene Meer. Die Kälte drang schockartig in ihre Knochen. Halb besinnungslos sah sie die Stahlschotts mit hohlem Klonk gegen das Tauchboot prallen, und das Deepflight hörte auf zu sinken. Es steckte fest, aber Delaware sank weiter. Sie streckte die Arme aus, versuchte sich an dem entschwindenden Boot festzuhalten, aber ihre Finger glitten ab. Sie hatte keine Kraft mehr, und ihre Lungen waren wie Brei. In ihrer Bauchhöhle schien alles zerquetscht zu sein.
Bitte, dachte sie, ich will zurück. Zurück ins Schiff. Ich will nicht sterben.
Irgendwo zwischen den blockierten Schotts und dem eingeklemmten Boot sah sie verschwommen Greywolfs Gesicht, aber ebenso gut mochte es ein Wunschbild sein, ein schöner Traum, gerettet zu werden.
Etwas Dunkles, Großes kam von der Seite. Klaffende Kiefer, Reihen kegelförmiger Zähne.
Der Biss des Orcas zerbrach ihr den Brustkorb.
Sie sah nicht mehr die leuchtende Masse an sich vorbeischießen. Als der Organismus durch die Schleuse drang, war Delaware schon tot.
Peak schlug vor Wut mit der Faust auf das Kontrollpult. Sein Versuch, das Schott zu schließen, war fehlgeschlagen. Das Deepflight blockierte die beiden Stahlplatten.
Entweder ließ er sie wieder auseinander fahren und opferte das Boot, oder er riskierte, dass Gott weiß was ins Innere gelangte.
Von Browning war nichts zu sehen. Roscovitz hing zuckend an der Kette, mit den Beinen im Wasser, die Hände um den Hals geklammert.
Wo war der verdammte Orca?
»Sal«, heulte Rubin.
Das Wasser brodelte und schäumte. Die Soldaten hasteten durcheinander, ohne Plan. Greywolf war untergetaucht. Von Anawak keine Spur. Und Delaware? Was war mit Delaware?
Jemand stieß ihn in die Seite.
»Sal, verdammt nochmal!« Rubin drängte ihn von der Konsole weg. Seine Hände flatterten über die Tastatur, drückten auf Knöpfe. »Warum schließen Sie nicht endlich die verdammte Schleuse?«
»Sie blödes Arschloch«, schrie Peak. Er holte aus und rammte Rubin die Faust mitten ins Gesicht. Der Biologe wankte und kippte ins Wasser. Es spritzte auf, und inmitten der Gischt sah Peak die schwertartige Rückenfinne des Wals emporsteigen und auf sich zukommen.
Prustend tauchte Rubins Kopf aus den Fluten.
Auch er sah die Finne. Er begann zu schreien.
Peak drückte auf den Knopf, um die Stahlschotts zu öffnen und das Deepflight in die Tiefe zu entlassen.
Eine Kontrolllampe hätte aufleuchten müssen.
Nichts geschah.
Greywolf glaubte, den Verstand zu verlieren.
Unter der Independence zog ein Rudel Orcas hindurch. Eines der Tiere hatte nach Delaware geschnappt und ihren Körper außer Sichtweite gezerrt. Ohne nachzudenken schwamm er auf die Lücke zwischen den verkeilten Schotts zu und sah etwas aus der Tiefe heranrasen. Vor seinen Augen erstrahlten Blitze und funkenartige Entladungen, dann wurde er wie von einer riesigen Faust getroffen und nach hinten geschleudert. Das Unterste kehrte sich zuoberst. Links von ihm tauchte kurz Anawak auf, verschwand wieder. Dort ein paar strampelnde Beine im Wasser. Ein Körper, der auf ihn zustürzte. Ein weißer Bauch — der Orca, der ins Schiff gelangt war, über ihn hinwegziehend. Dann wieder die Schleuse mit dem eingeklemmten Tauchboot …
Und das Ding, das zwischen den auseinander klaffenden Schotts ins Innere drang.
Es sah aus wie der Fangarm eines überdimensionalen Polypen. Nur dass kein Polyp über solche Arme verfügte. Kein Polyp war groß genug für einen Arm von drei Metern Durchmesser. Eine formlose Masse strömte ins Welldeck, rasend schnell, immer mehr davon. Ein gallertiger Muskel, der sich, kaum dass er die Schleuse passiert hatte, zu dünneren Strängen verzweigte, über deren glatte Oberfläche lumineszierende Muster flackerten.
Rubin schwamm um sein Leben.
Die Finne folgte ihm. Hustend und spuckend erreichte er den Pier und versuchte sich in wilder Panik hochzuziehen. Seine Ellbogen knickten ein. Er hörte Schüsse, geriet wieder unter Wasser und sah sich einem unglaublichen Schauspiel gegenüber. Schlagartig wurde ihm klar, dass sein Wunsch soeben in Erfüllung ging. Der fremde Organismus war eingedrungen, nur unter völlig anderen Umständen, als er erwartet hatte.
Leuchtende Tentakel überall. Dick wie Bäume.
Dazwischen der geöffnete Rachen des Orca.
Rubin kam hoch. Unmittelbar vor ihm peitschte ein Paar Beine das Wasser. Roscovitz starrte mit hervorquellenden Augen auf ihn herab. Es sah aus, als hinge er an einem Galgen. Seine Hände versuchten, die Kette um seinen Hals zu lösen.
Ein schreckliches Gurgeln kam über seine Lippen.
Oh mein Gott, dachte Rubin. Barmherziger Gott! Da war die Finne, fast schon bei ihm, drehte ab …
In einem Berg aus Gischt stieg der Orca empor, das Maul weit geöffnet. Roscovitz’ Beine verschwanden darin. Die Kiefer klappten zusammen. Einen Moment lang hing das Tier reglos in der Luft, sackte wieder nach unten …
Roscovitz’ bluttriefender Torso baumelte über der Wasseroberfläche, und Rubin konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Er hörte ein lang anhaltendes Schreien und begriff, dass er selber es war, der schrie.
Er schrie und schrie.
Und da war wieder die Finne.
Combat Information Center
Li glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Innerhalb weniger Sekunden war im Welldeck das Chaos ausgebrochen. Entgeistert sah sie Peak den Pier entlang laufen, die Soldaten blind ins Wasser feuern, Roscovitz’ zerfetzten Körper.
»Funkverbindung herstellen«, befahl sie.
Plötzlich hallte die Kommandozentrale von Schüssen und Schreien wider. Auf den Gesichtern ringsum spiegelte sich Entsetzen. Alle begannen durcheinander zu reden, dem Chaos im Welldeck folgte seine Entsprechung im CIC. Fieberhaft überlegte sie, was zu tun war. Verstärkung schicken, natürlich. Mit Explosivgeschossen diesmal. Was ballerten die da unten auch mit konventioneller Munition herum?
Sie mussten die Kontrolle zurückgewinnen.
Sie würde selber runtergehen.
Wortlos lief sie nach nebenan ins LFOC. Im Kriegsfall diente es als Befehlszentrale für die amphibischen Operationen. Man konnte von hier aus die Ballasttanks fluten oder leer pumpen und die Heckklappe öffnen, wenn im Welldeck die Kontrollen versagten. Einzig die Bodenschleusen ließen sich vom LFOC aus nicht kontrollieren, ein weiterer dummer Fehler beim überhasteten Umbau der Independence.
»Okay«, erklärte sie dem entsetzten Personal an den Konsolen. »Achterliche Ballasttanks leer pumpen. Heck trockenlegen.« Sie dachte nach. War die Schleuse im Boden des Welldecks verschlossen oder offen? Konnte das Wasser ablaufen? Das Inferno auf den Monitoren ließ keine Aussagen darüber zu. Im Allgemeinen reichte es, das Heck des Schiffes einfach anzuheben, und das Wasser des künstlichen Hafens floss durch die offene Schleuse oder durch die heruntergelassene Heckklappe nach draußen. Für den Fall, dass beides blockiert war, gab es das Notpumpsystem. Es brauchte ein bisschen länger, erfüllte aber denselben Zweck.
Li gab Order, die Pumpen anzuwerfen, und rannte zurück ins CIC.
Welldeck
Die Schotts reagierten nicht. Warum, darüber konnte er sich vorerst keine Gedanken machen. Atemlos rannte Peak zu einem der Waffenschränke und riss eine Harpune mit Sprengkapsel heraus. Die Soldaten feuerten wild ins Wasser. Etwas Gewaltiges, Krakenartiges kam durch die offene Schleuse ins Schiff und schlängelte sich dicht unter der Oberfläche dahin, und der Orca hatte Roscovitz die Beine abgebissen.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Rubin aus dem Wasser zog. Peak war erleichtert und angewidert zugleich. Er hasste den Biologen, aber er hätte sich nicht dazu hinreißen lassen dürfen, ihn ins Wasser zu stoßen. Rubins Leben musste unter allen Umständen geschützt werden. Er musste seine Aufgabe zu Ende bringen.
Die Finne bewegte sich vom Pier weg. Weiter hinten schwammen Anawak und Greywolf. Sie strebten der gegenüberliegenden Seite zu. Leuchtende Tentakel folgten ihnen, aber eigentlich waren die Dinger überall und zuckten in sämtliche Richtungen, während es der Orca eindeutig auf die Fliehenden abgesehen hatte.
Er musste das Vieh erledigen, bevor es noch jemanden tötete.
Plötzlich fühlte sich Peak im Innersten ruhig werden. Alles andere konnte warten. Das Wichtigste war jetzt, diese Masse Fleisch mit Zähnen zu erledigen.
Er hob die Harpune und peilte.
Anawak sah den Orca näher kommen. Das Wasser in dem künstlichen Hafenbecken schäumte und spritzte, schien selber lebendig geworden zu sein. Eine wogende, blau schimmernde Masse, durch die sich der Orca zielstrebig auf ihn und Greywolf zubewegte.
Der schwarze Schädel kam zum Vorschein, als das Tier stoßartig seinen Atem ausblies. Es war wenige Meter entfernt. Sie würden es nicht bis zum Pier schaffen, so viel stand fest. Irgendetwas mussten sie tun. Beim Angriff der Orcas im Clayoquot Sound war zur rechten Zeit Greywolf mit dem Boot da gewesen, aber Greywolf ging es gerade nicht viel besser als Anawak. Sie mussten den Orca austricksen.
Der Wal tauchte ab.
»Wir lassen ihn durch!«, schrie er Greywolf zu.
Nicht sehr präzise, dachte er. Keine Ahnung, ob Jack was damit anfangen kann. Aber für Erklärungen war es ohnehin zu spät.
Anawak holte Atem und ließ sich unter Wasser sinken.
Peak fluchte.
Das Biest war verschwunden, von Greywolf und Anawak nichts mehr zu sehen. Er rannte weiter den Pier entlang und suchte den massigen Körper, aber das Becken hatte sich in ein surrealistisch bewegtes Inferno verwandelt, in dem Licht, undefinierbare Formen und spritzende Gischt keinen klaren Blick mehr zuließen. Vor ihm feuerte einer der Soldaten auf die schlangenartigen Dinger im Wasser, offenbar ohne Wirkung.
»Lassen Sie den Quatsch!« Peak stieß den Mann in Richtung Kontrollpult. »Geben Sie Alarm. Versuchen Sie, das Schott zu öffnen und das Tauchboot loszuwerden.« Sein Blick suchte die Wasseroberfläche ab. »Und dann machen Sie die verdammte Schleuse zu.«
Der Soldat hörte auf zu schießen und lief los.
Peak trat an den Rand des Piers und kniff die Augen zusammen. Die Harpune lag schwer in seiner Hand.
Wo war der Orca?
Er war nicht mehr zu sehen.
Dafür zuckende, sich windende Masse, blaues und weißes Licht. Im Moment, da Anawak sich unter die Oberfläche hatte sinken lassen, war der grelle Lärm dumpfem Rauschen und Poltern gewichen. Greywolf hing rudernd neben ihm. Luftblasen entwichen seinem Mund. Immer noch hielt Anawak den Arm des Halbindianers gepackt, nachdem er ihn mit herabgezogen hatte. Er wusste nicht, ob seine Idee funktionieren würde, aber an der Oberfläche waren sie auf jeden Fall verloren.
Etwas wogte ihm entgegen, das einer riesigen, kopflosen Schlange glich. Über das halb transparente, blau schimmernde Gewebe pulsten Streifige Lichter. Hunderte dünner, peitschenartiger Ausleger wuchsen daraus hervor und strichen über den Boden des Decks, und plötzlich wurde Anawak klar, was das Ding tat. Es scannte seine Umgebung. Die Peitschen erfassten jeden Punkt des Beckens. Während er noch zusah, entsetzt und fasziniert zugleich, entsprossen dem Schlangenkörper weitere Ausleger und wimmelten in seine Richtung.
Zwischen ihnen klaffte das offene Maul des Orcas.
In Anawak ging eine Veränderung vor. Ein Teil von ihm kapselte sich ab und stellte in aller Ruhe Fragen. Wie viel von dem Angreifer war noch Wal, wie viel Gallerte? Was hatten sie von einem Lebewesen zu erwarten, das nicht mehr seiner Natur gemäß handelte, sondern in einem fremden Bewusstsein aufgegangen war? Er musste den Orca als Teil der leuchtenden Masse sehen, nicht mehr als Wal mit natürlichen Reflexen. Aber vielleicht war genau das von Vorteil. Vielleicht gelang es ihnen, das Tier zu verwirren.
Pfeilschnell war der Orca heran.
Anawak wich aus, gab Greywolf einen Stoß und sah ihn in entgegengesetzter Richtung davonschnellen. Er hatte den Zuruf verstanden! Der Wal schoss zwischen ihnen hindurch, nachdem sich seine Beute überraschend geteilt hatte.
Ein paar Sekunden gewonnen.
Ohne dem Orca einen weiteren Blick zu widmen, schwamm Anawak mitten in das Tentakelgewirr hinein.
Rubin kroch nach Luft schnappend und auf allen vieren über den Pier. Der Soldat sprang über ihn hinweg und hastete zum Kontrollpult. Er warf einen Blick auf die Anzeigen, orientierte sich und drückte auf den Knopf, um die Stahlschotts zu öffnen.
Das System blockierte.
Wie jeder in seiner Truppe war der Soldat in allen technischen Systemen des Schiffs geschult worden und kannte deren Funktionsweise. Das Bild von Browning hatte sich ihm eingebrannt, wie ihr Körper gegen das Pult geschleudert worden war. Er bückte sich und nahm den Knopf genauer in Augenschein.
Verklemmt. Seitlich verzogen.
Vielleicht durch einen Stiefeltritt Brownings. Viel war es nicht, was er zu korrigieren hatte. Er packte sein Gewehr und schlug mit dem Kolben dagegen.
Der Knopf rastete ein.
Anawak schwebte in einer fremden Welt.
Um ihn herum wanden sich Vorhänge dünner Tentakel. Er war keineswegs sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, in das Gewimmel hineinzuschwimmen, aber die Frage hatte sich erübrigt. Vielleicht würde die Gallerte aggressiv reagieren, vielleicht gar nicht. Möglicherweise war das Zeug auch kontaminiert. Dann waren sie sowieso alle tot.
Auf jeden Fall hatte es der Orca hier vorübergehend schwerer, ihn zu finden.
Die lumineszierenden Ausleger bogen sich in seine Richtung. Alles geriet in Bewegung. Anawak wurde hin und her geschleudert. Das Tentakelgeflecht verdichtete sich, und plötzlich spürte er eines der Peitschendinger über sein Gesicht streichen.
Er wischte es beiseite.
Weitere schlängelten sich heran, tasteten über seinen Kopf und seinen Körper. In seinem Schädel pochte und dröhnte es. Allmählich begannen seine Lungen zu schmerzen. Wenn er nicht bald Gelegenheit fand aufzutauchen, konnte er sich gleich dem Zeug überlassen.
Mit beiden Händen griff er in die Masse und riss sie auseinander. Es war, als kämpfe er gegen ein Bündel Nattern. Der Organismus war wie ein fester, hochflexibler Muskel und zudem in ständiger Metamorphose begriffen. Tentakel, die sich eben noch um ihn gewunden hatten, deformierten sich, zogen sich zurück und gingen in der großen Masse auf, die im selben Moment andere Extremitäten gebar. Das Zeug war völlig unberechenbar, und offenbar entwickelte es gerade ein verstärktes Faible für Leon Anawak.
Er musste hier wieder raus.
Neben ihn huschte ein schlanker, eleganter Körper.
Ein lächelndes Gesicht. Einer der Delphine. Anawak griff instinktiv nach der Rückenflosse. Ohne innezuhalten schoss der Delphin aus der Tentakelmasse heraus und riss ihn mit sich. Plötzlich hatte er wieder freie Sicht. Er klammerte sich fest und sah den Orca von der Seite heranrasen. Der Delphin schnellte nach oben. Hinter ihnen schnappten die riesigen Kiefer zu, verfehlten sie knapp, dann durchbrachen sie die Wasseroberfläche und hielten auf das künstliche Gestade zu.
Der Soldat drückte den Knopf.
Es war nur eine Reparatur mit einem Gewehrkolben gewesen, aber von Erfolg beschieden. Langsam setzten sich die stählernen Schotts in Bewegung und gaben das Tauchboot frei. Es begann wieder zu sinken, vorbei an dem Organismus, der sich durch die Schleuse schob. Lautlos fiel das Deepflight aus dem Schiff hinaus und verschwand in der Tiefe des Meeres.
Für den Bruchteil einer Sekunde kamen dem Soldaten Zweifel, ob es nicht besser wäre, die Schleuse geöffnet zu lassen, aber sein Befehl lautete anders. Er sollte sie schließen, also gehorchte er. Diesmal blockierte kein Tauchboot die Schotts. Die Platten, angetrieben von den starken Motoren der Schleuse, schoben sich in den baumdicken Organismus und quetschten ihn zusammen.
Peak riss die Harpune hoch.
Eben hatte er Anawak gesehen. Der Orca schien ihn erwischt zu haben, aber dann war der Mann wieder zum Vorschein gekommen, während sich das Vieh zur gegenüberliegenden Seite bewegte. Die Soldaten beschossen den schwarzen Rücken, und der Orca sank unter die Wasseroberfläche.
Hatten sie ihn erledigt?
»Schott schließt sich«, rief der Soldat vom Kontrollpult herüber.
Peak hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und schritt langsam den Pier entlang. Sein Blick suchte die gegenüberliegende Seite ab. Gegen das Krakending halfen keine Gewehrkugeln, und Sprengkörper in die Gallerte zu schießen, traute er sich nicht. Immer noch waren Menschen in dem Becken.
Er trat an die Kante.
Greywolf war Anawaks Beispiel gefolgt und zwischen die Tentakel geschwommen. Aus Leibeskräften kraulte er zur anderen Seite des Beckens. Nach einigen Metern versperrte ihm die Körpermasse des Organismus den Weg, und er musste die Richtung wechseln.
Er hatte jede Orientierung verloren.
Tentakel ringelten sich auf ihn zu und wanden sich um seine Schulter. Greywolf fühlte Ekel in sich hochsteigen. Er war völlig verstört. Auf seiner Netzhaut hatte sich die Sequenz von Delawares Tod verewigt, wie ein Film lief sie immer wieder darauf ab. Er riss die Auswüchse der Gallerte von sich herunter, wirbelte herum und versuchte wegzukommen.
Plötzlich schwebte er über der Schleuse. Das Tauchboot war verschwunden. Er sah, wie sich die Schotts schlossen, in das Gallertgewebe fuhren und den meterdicken Strang glatt durchtrennten.
Die Reaktion des Wesens war unmissverständlich.
Es gefiel ihm nicht.
Ein Wasserschwall schlug Peak entgegen. Unmittelbar vor ihm stieg der Orca empor. Zu überrascht, um Angst zu empfinden, blickte Peak in den rosa Rachen. Er prallte zurück, während im selben Moment das komplette Deck auseinander zu fliegen schien. Der Organismus tobte. Wild gewordene Riesenschlangen wirbelten bis zur Decke, klatschten gegen die Wände und fegten die Piers entlang. Peak hörte die Soldaten schreien und schießen, sah Körper durch die Luft wirbeln und im Becken verschwinden, dann schlug ihm etwas die Beine weg, und er prallte auf den Rücken. Schmerzhaft entwich alle Luft aus seinen Lungen. Der Körper des Orcas kippte auf ihn zu. Peak stöhnte, packte unwillkürlich die Harpune fester und wurde mit einem Ruck ins Becken gezogen.
In einem Strudel aus Luftblasen sank er nach unten. Seine Beine steckten in einer blau schimmernden Masse. Er stieß mit der Harpune dagegen, und der Klammergriff löste sich. Über ihm klatschte der Orca zurück ins Wasser. Eine gewaltige Druckwelle erfasste Peak und wirbelte ihn mehrfach um seine Achse. Er sah die Zahnreihen des Wals auseinander klappen, keinen Meter entfernt, stieß ihm die Harpune ins Maul und drückte ab.
Einen Moment schien alles stillzustehen.
Aus dem Kopf des Orcas drang eine dumpfe Detonation. Sie war nicht besonders laut, aber die Welt färbte sich rot. Peak wurde in einer Masse aus Blut und Fleischfetzen nach hinten geschleudert. Er schlug einen Salto, prallte gegen die Seitenwand und zog sich mit einer einzigen schwungvollen Bewegung wieder auf den Pier. Keuchend robbte er von der Kante weg. Überall war Blut. Rote Schmiere mischte sich mit Fettgewebe und Knochensplittern. Er versuchte, hochzukommen, rutschte aus und fiel wieder auf den Hintern. Schmerz durchzuckte ihn.
Sein linker Fuß stand in einem Winkel ab, der nichts Gutes verhieß, aber im Augenblick interessierte ihn nicht mal das.
Ungläubig starrte er auf die Szenerie, die sich ihm bot.
Der Organismus schien in Raserei verfallen zu sein. Die Tentakel peitschten wild durcheinander. Regale stürzten um, Ausrüstung flog durch die Luft. Von den Soldaten war nur einer auszumachen, der feuernd den Pier entlanglief, bis ihn einer der Arme ins Wasser beförderte. Peak duckte sich, als ein halb transparentes Gebilde dicht über ihn hinwegfegte, das keine Schlange und kein Fangarm war, nichts, das er schon mal gesehen hatte. Mit aufgerissenen Augen gewahrte er, wie sich die Spitze des Gebildes im Flug veränderte und für eine Sekunde das Aussehen eines Fischkörpers annahm, bevor sie sich in züngelnde Fäden verästelte. Große Tiere schienen im Becken unterwegs zu sein, Rückenflossen wuchsen heraus und verschwanden wieder, deformierte Köpfe reckten ihre Schnauzen in die Höhe, seltsam glibberig und unfertig, verformten sich und klatschten als konturlose Klumpen zurück ins Wasser.
Peak rieb sich die Augen. Täuschte er sich, oder war der Wasserspiegel gesunken? Das Dröhnen von Maschinen mischte sich in den allgemeinen Lärm, und er begriff: Sie pumpten das Deck leer! Das Wasser wurde aus den Ballasttanks gepresst. Unmerklich hob sich das Heck der Independence, während der Inhalt des künstlichen Hafenbeckens zurück ins Meer floss. Die umherpeitschenden Auswüchse zogen sich zurück. Plötzlich war das Wesen wieder zur Gänze untergetaucht. Peak schob sich die Wand hoch, belastete seinen linken Fuß und knickte ein. Bevor er stürzen konnte, packten ihn zwei Hände.
»Festhalten«, sagte Greywolf.
Peak klammerte sich an die Schulter des Hünen und versuchte mitzuhumpeln. Selber nicht eben klein, kam er sich neben Greywolf schmächtig und kraftlos vor. Er stöhnte auf. Greywolf hob ihn kurz entschlossen in die Höhe und lief mit ihm den Pier entlang zum künstlichen Gestade.
»Stopp«, keuchte Peak. »Das reicht. Runterlassen.«
Greywolf ließ ihn sanft zu Boden sinken. Sie waren unmittelbar vor dem Tunnel, der zum Laboratorium führte. Von hier aus konnte man das gesamte Becken überblicken. Peak erkannte, dass die Seitenwände des Delphinariums wieder sichtbar wurden. Unverändert dröhnten die Pumpen. Er dachte an die Menschen in dem Becken, die wahrscheinlich alle tot waren, an die Soldaten, an Delaware und Browning …
An Anawak!
Sein Blick suchte das Wasser ab. Wo war Anawak?
Prustend tauchte er auf, unmittelbar vor dem Gestade. Greywolf sprang hinzu und half ihm aufs Trockene. Sie sahen zu, wie das Wasser weiter absank. Nun konnten sie ein großes Wesen erkennen, das mattblaues Licht abstrahlte und das Becken durchstreifte, als suche es einen Weg nach draußen. Seine Form erinnerte an einen schlanken Wal oder eine gedrungene Seeschlange. Keine Lichtblitze zuckten mehr über seinen Körper, keine Tentakel entwuchsen der Masse. Es schwamm in jede Ecke, schlängelte sich an den Wänden entlang, suchte schnell und systematisch nach dem Ausweg, den es nicht gab.
»Verdammtes Scheißvieh!«, keuchte Peak. »Jetzt wird es trockengelegt.«
»Nein. Wir müssen es retten.«
Das war Rubins Stimme. Peak wandte den Kopf und sah den Biologen im Tunnel auftauchen. Er zitterte und hielt die Arme um seinen Körper geschlungen, aber in seinen Augen flackerte wieder das Leuchten, als er darauf bestanden hatte, die Gallerte ins Schiff zu lassen.
»Retten?«, echote Anawak.
Rubin kam in zögerlichen Schritten näher. Er schaute wachsam auf das Becken, in dem die Kreatur immer schneller ihre Runden drehte. Der Wasserspiegel betrug noch maximal zwei Meter. Das Wesen verbreiterte seine Körperfläche, wohl um seinen Tiefgang zu verringern.
»Das ist eine einmalige Chance«, sagte er. »Versteht ihr denn nicht? Wir müssen sofort den Hochdrucksimulator dekontaminieren. Die Krebse raus, frisches Wasser rein und möglichst viel von diesem Ding. Das ist viel besser als die Krebse. Damit können wir …«
Mit einem Sprung war Greywolf bei ihm, legte beide Hände um Rubins Hals und drückte zu. Der Biologe riss Mund und Augen auf. Seine Zunge kam zum Vorschein.
»Jack!« Anawak versuchte, Greywolfs Arme nach hinten zu ziehen. »Hör auf damit!«
Peak stemmte sich hoch. Sein linker Fuß hielt der Belastung stand. Offenbar war er nicht gebrochen, aber er schmerzte höllisch, sodass er kaum einen Schritt gehen konnte. Dennoch. Er musste etwas für das Arschloch tun, ob er wollte oder nicht.
»Jack, das bringt nichts«, rief er. »Lassen Sie den Mann los.«
Greywolf reagierte nicht. Er hob Rubin hoch. Dessen Gesicht begann sich ins Bläuliche zu verfärben.
»Das reicht, O’Bannon!«
Li kam aus dem Tunnel, in Begleitung einiger Soldaten.
»Ich bringe ihn um«, sagte Greywolf ruhig.
Die Kommandantin trat einen Schritt näher und umfasste Greywolfs rechtes Handgelenk. »Nein, O’Bannon, das werden Sie nicht tun. Mir ist egal, welche Rechnung Sie mit Rubin offen haben, aber seine Arbeit ist wichtig.«
»Jetzt nicht mehr.«
»O’Bannon! Bringen Sie mich nicht in die missliche Lage, Ihnen wehtun zu müssen.«
Greywolfs Blick flackerte. Seine Augen hefteten sich auf Li. Offenbar kam er zu der Einsicht, dass sie es ernst meinte, denn er ließ Rubin langsam wieder herunter und löste die Hände von seinem Hals. Der Biologe fiel röchelnd auf die Knie. Er würgte und spuckte.