»Sie glaubt dir.«
   »Den Eindruck hatte ich auch. Was ist mit dir?«
   »Schwer zu sagen.« Anawak zuckte die Achseln. »Du bist Norweger. Ihr behauptet auch steif und fest, es gäbe Trolle.«
   Johanson seufzte.
   »Das Ganze wäre mir überhaupt nicht mehr eingefallen ohne Sue«, sagte er. »Sie hat mich drauf gebracht. In der Nacht, als wir zusammen auf der Kiste im Hangardeck saßen: Ich hätte Rubin gesehen, obwohl der angeblich mit Migräne im Bett lag. So, wie er jetzt auch wieder Migräne hat. Angeblich! — Seitdem kommen Bruchstücke zurück. Ich erinnere mich an Dinge, die ich unmöglich geträumt haben kann. Manchmal bin ich kurz davor, alles zu sehen, aber dann … ich stehe vor einer offenen Tür, schaue in weißes Licht — ich gehe hinein, und die Erinnerung reißt ab.«
   »Was macht dich so sicher, es nicht geträumt zu haben?«
   »Sue.«
   »Die hat aber selber nichts gesehen.«
   »Und Li.«
   »Wieso gerade Li?«
   »Weil sie sich auf der Party ein bisschen zu auffällig für mein Erinnerungsvermögen interessiert hat. Ich glaube, sie wollte mir auf den Zahn fühlen.« Johanson sah ihn an. »Du hast gefragt, ob alle hier am selben Strang ziehen. Ich glaube nicht. Ich hab’s schon im Chateau nicht geglaubt. Ich habe Li von Anfang an misstraut. Mittlerweile glaube ich ebenso wenig, dass Rubin unter Migräne leidet. Ich weiß nicht, was ich glauben soll — aber ich habe das sichere Gefühl, dass was im Gange ist!«
   »Männliche Intuition«, grinste Anawak unsicher. »Was sollte Li denn deiner Ansicht nach vorhaben?«
   Johanson sah zur Decke. »Das weiß sie besser als ich.«
 
Kontrollraum
 
   Zufälligerweise schaute Johanson in diesem Moment direkt in eine der versteckten Kameras. Ohne es zu wissen, sah er Vanderbilt an, der Lis Platz eingenommen hatte, und sagte: »Das weiß sie besser als ich.«
   »Du bist ja so ein schlaues Kerlchen«, summte Vanderbilt. Dann rief er Li über die abhörsichere Leitung in ihrem Quartier an. Er wusste nicht, ob sie schlief, aber es war ihm egal.
   Li erschien auf dem Monitor.
   »Ich sagte ja, es gibt keine Garantie, Jude«, bemerkte Vanderbilt. »Johanson steht kurz davor, sein Gedächtnis wiederzuerlangen.«
   »So? Und wenn schon.«
   »Sind Sie gar nicht nervös?«
   Li lächelte dünn. »Rubin hat hart gearbeitet. Er war eben hier.«
   »Und?«
   »Es ist brillant, Jack!« Ihre Augen leuchteten. »Ich weiß, wir mögen den kleinen Scheißer nicht sonderlich, aber ich muss sagen, diesmal hat er sich selber übertroffen.«
   »Schon praktisch getestet?«
   »Im kleinen Maßstab. Aber der kleine ist wie der große. Es funktioniert. In wenigen Stunden werde ich den Präsidenten verständigen. Danach gehen Rubin und ich runter.«
   »Sie wollen das selber machen?«, rief Vanderbilt.
   »Was denn sonst? Sie passen ja in so ein Boot nicht rein«, sagte Li und schaltete ab.
 
Welldeck
 
   Geisterhaft summten die elektrischen Systeme in den leeren Hangars und Decks der Independence. Sie versetzten die Schotts in kaum merkliche Schwingungen. In dem riesigen, leeren Hospital waren sie zu hören, in der verlassenen Offiziersmesse, und wer in den Mannschaftskojen seine Fingerspitzen gegen eines der Spinde legte, konnte die leichten Vibrationen spüren, die sie erzeugten.
   Bis tief hinunter in den Bauch des Schiffes drangen sie, wo Greywolf mit offenen Augen am Rand des Gestades lag und an die Stahlträgerdecke starrte.
   Warum bloß ging immer alles verloren?
   Er fühlte sich überwältigt von Traurigkeit und dem Gefühl, alles verkehrt gemacht zu haben. Allein schon, auf die Welt gekommen zu sein, war ein Fehler gewesen. Alles war schief gelaufen. Und jetzt hatte er nicht mal Licia retten können.
   Nichts hast du geschützt, dachte er. Gar nichts. Du hast immer nur eine große Fresse gehabt und dahinter eine noch größere Angst. Ein kleiner, heulender Junge in einem Riesenkörper, der sich und anderen so gerne was bedeuten würde.
   Einmal, im Krankenhaus, zusammen mit dem Kind, das er von der Lady Wexham gerettet hatte, da war er wirklich stolz gewesen. Auf der Lady Wexham hatte er einen guten Job gemacht. Er hatte vielen Menschen geholfen, und plötzlich war auch Leon wieder sein Freund geworden. Ein Fotograf hatte ein Bild geschossen und die Zeitung tags darauf den Segen der Verbindlichkeit erteilt.
   Doch jetzt drehten die Wale weiter durch, die Delphine litten, die ganze Natur litt vor sich hin, und Licia war tot.
   Greywolf fühlte sich leer und wertlos. Er empfand Abscheu vor sich selbst. Mit niemandem würde er darüber reden, so viel stand fest, nur seine Aufgabe erledigen, bis der ganze Alptraum überstanden war.
   Und dann …
   Tränen liefen aus seinen Augen. Sein Gesicht war unbewegt. Er starrte weiter an die Decke, aber dort waren nur Stahlträger. Keine Antworten.
 
Das ganze Bild
 
   »Diese Kugel«, sagte Crowe, »ist der Planet Erde.«
   Sie hatte mehrere Vergrößerungen von Ausdrucken an die Wand gehängt und ging langsam von einer zur anderen.
   »Über die Natur der Linien haben wir uns lange den Kopf zerbrochen, aber wir glauben, sie geben das Erdmagnetfeld wieder. Die Aussparungen jedenfalls sind Kontinente. Im Wesentlichen haben wir die Botschaft damit entschlüsselt.«
   Li kniff die Augen zusammen. »Sind Sie sicher? Diese angeblichen Kontinente da gleichen in nichts den Kontinenten, die ich kenne.«
   Crowe lächelte. »Das können sie auch nicht, Jude. Es sind die Kontinente, wie sie vor 180 Millionen Jahren aussahen, zu einem vereint. Pangäa. Der Urkontinent. Wahrscheinlich entstammt auch die Anordnung der Magnetfeldlinien dieser Zeit.«
   »Haben Sie das überprüft?«
   »Die Anordnung des Magnetfelds lässt sich schwer rekonstruieren. Die damalige Konstellation der Landmassen hingegen ist bekannt. Wir brauchten eine Weile, um dahinter zu kommen, dass sie uns ein Modell der Erde geschickt hatten, aber dann passte alles hübsch zusammen. Im Grunde ganz einfach. Als Kerninformation wählten sie Wasser und koppelten es mit geographischen Daten.«
   »Wie können die wissen, wie die Erde vor 180 Millionen Jahren ausgesehen hat?«, wunderte sich Vanderbilt.
   »Indem sie sich daran erinnern«, sagte Johanson.
   »Erinnern? An den Urozean? Aber das war eine Zeit, in der nur Einzeller …« Vanderbilt stockte.
   »Richtig«, sagte Johanson. »Nur Einzeller. Und ein paar mehrzellige Experimente im Frühstadium. Gestern Nacht haben wir den letzten Stein im Puzzle gefunden. Die Yrr verfügen über eine hypermutierende DNA. Nehmen wir an, zu Beginn des Jura, vor gut 200 Millionen Jahren, hat ihre Bewusstwerdung eingesetzt. Seitdem lernen sie ständig dazu. — Wissen Sie, in der Science-Fiction gibt es einige Sätze, beliebte Klassiker wie Ich weiß nicht, was es ist, aber es kommt auf uns zu! oder Geben Sie mir den Präsidenten. Ein weiterer dieser obligatorischen Sätze lautet: Sie sind uns überlegen, und fast immer bleibt der Film oder das Buch die Erklärung schuldig. In diesem Fall können wir sie nachliefern. Die Yrr sind uns überlegen.«
   »Weil sich ihr Wissen in der DNA ablagert?«, fragte Li.
   »Ja. Das ist der wesentliche Unterschied zum Menschen. Wir haben kein Rassengedächtnis. Unsere Kultur beruht auf mündlicher und schriftlicher Überlieferung oder auf Bildern. Aber unmittelbar Erlebtes können wir nicht weitergeben. Mit unserem Körper stirbt unser Geist. Wenn wir sagen, dass die Fehler der Vergangenheit nie in Vergessenheit geraten dürfen, sprechen wir einen unerfüllbaren Wunsch aus. Man kann nur vergessen, woran man sich erinnert. Aber kein Mensch kann sich an etwas erinnern, das ein Mensch vor ihm erlebt hat. Wir können Erinnerungen aufzeichnen und abrufen, aber wir waren nicht dabei. Jedes Menschenkind muss das ewig Gleiche immer neu erlernen, es muss die Hand auf die heiße Herdplatte legen, um zu begreifen, dass sie heiß ist. Bei den Yrr ist das anders. Eine Zelle lernt und teilt sich. Sie verdoppelt ihr Genom mitsamt aller Informationen, etwa so, als würden wir unser Hirn mitsamt aller Erinnerungen duplizieren. Neue Zellen erben kein abstraktes Wissen, sondern die unmittelbare Erfahrung, als seien sie selber dabei gewesen. Seit Anbeginn ihrer Existenz sind die Yrr befähigt zu kollektiver Erinnerung.« Johanson sah Li an. »Ist Ihnen eigentlich klar, wer da gegen uns steht?«
   Li nickte langsam.
   »Man könnte die Yrr nur dann ihres Wissens berauben, wenn man es schaffte, ganze Kollektive zu vernichten.«
   »Ich fürchte, dazu müssten wir alle vernichten«, sagte Johanson. »und das ist aus verschiedenen Gründen unmöglich. Wir wissen nicht, wie dicht ihr Netz ist. Möglicherweise bilden sie zellulare Ketten über Hunderte von Kilometern. Sie sind in der Überzahl. Anders als wir leben sie nicht nur in der Gegenwart. Sie brauchen keine Statistik, keine Mittelwerte, keine krückenhaften Sinnbilder. In hinreichend großen Verbänden sind sie selber die Statistik, die Summe aller Werte, ihre eigene Chronik. Sie erkennen Entwicklungen, die sich über Jahrtausende vollziehen, während wir nicht mal in der Lage sind, im Interesse unserer Kinder und Enkel zu handeln. Wir sind die Verdränger. Die Yrr vergleichen, analysieren, erkennen, prognostizieren und handeln aufgrund einer ständig präsenten Erinnerung. Keine kreative Leistung geht verloren, alles fließt ein in die Entwicklung neuer Strategien und Konzepte! Ein niemals endendes Ausleseverfahren hin zur besseren Lösung. Zurückgreifen, modifizieren, verfeinern, aus Fehlschlägen lernen, mit Neuem abgleichen, hochrechnen — handeln.«
   »Was für eine kalte, ekelhafte Angelegenheit«, sagte Vanderbilt.
   »Finden Sie?« Li schüttelte den Kopf. »Ich bewundere diese Wesen. Sie erarbeiten Strategien, die uns jahrelang beschäftigen würden, in Minuten. Schon alleine zu wissen, was alles nicht geht! Einfach, weil man sich daran erinnert, weil man selber es war, der den Fehler gemacht hat, auch wenn man physisch noch gar nicht existierte.«
   »Darum kommen die Yrr in ihrem Lebensraum wahrscheinlich besser zurecht als wir in unserem«, sagte Johanson. »Bei ihnen ist jede geistige Leistung kollektiv und in den Genen verankert. Sie leben in allen Zeiten zugleich. Menschen hingegen verkennen das Vergangene und ignorieren das Kommende. Unsere gesamte Existenz ist fixiert auf den Einzelnen und dessen Hier und Jetzt. Höhere Einsicht opfern wir persönlichen Zielen. Wir können uns nicht über den Tod hinaus erhalten, also verewigen wir uns in Manifesten, Büchern und Opern. Wir versuchen, uns der Geschichte einzuschreiben, hinterlassen Aufzeichnungen, werden weitererzählt, missverstanden, verfälscht, treten ideologische Lawinen los, lange nachdem wir tot sind. Wir sind derart versessen darauf, uns selber zu überdauern, dass unsere geistigen Ziele selten mit dem übereinstimmen, was der Menschheit als Ziel dienlich wäre. Unser Geist forciert das Ästhetische, Individuelle, Intellektuelle, Theoretische. Wir wollen kein Tier sein. Einerseits ist der Körper unser Tempel, andererseits schätzen wir ihn als bloße Funktionseinheit gering. Also haben wir uns angewöhnt, den Geist über den Körper zu stellen, und die Sachzwänge unseres Überlebens betrachten wir mit Abscheu und Selbstverachtung.«
   »Und bei den Yrr existiert diese Trennung nicht«, sinnierte Li. Sie wirkte aus unerfindlichen Gründen äußerst zufrieden. »Der Körper ist der Geist, der Geist ist der Körper. Kein einzelnes Yrr wird je etwas tun, das den Interessen der Allgemeinheit zuwiderläuft. Überleben ist ein Interesse der Spezies, nicht des Individuums, und Handeln immer der Beschluss aller. Grandios! Kein Yrr wird je einen Orden für eine gute Idee bekommen. Die Mitwirkung am Resultat dient der Befriedigung. Mehr Anspruch auf Ruhm hat kein Yrr. Ich frage mich, ob die einzelnen Zellen überhaupt so etwas wie ein Individualbewusstsein haben?«
   »Anders, als wir es kennen«, sagte Anawak. »Ich weiß nicht, ob man von einem Ich-Bewusstsein einer einzelnen Zelle sprechen kann. Aber jede Zelle ist individuell kreativ. Sie ist ein Messfühler, der Erfahrung in Kreativität umsetzt und diese ins Kollektiv einbringt. Wahrscheinlich wird ein Gedanke erst berücksichtigt, wenn sein Impuls stark genug ist, also wenn ihn genügend Yrr zur gleichen Zeit einbringen. Er wird gegen andere Ideen gerechnet, und die stärkere Idee überlebt.«
   »Pure Evolution«, nickte Weaver. »Evolutives Denken.«
   »Was für ein Gegner!« Li schien voller Bewunderung. »Keine Eitelkeiten, kein Informationsverlust. Wir Menschen sehen immer nur einen Teil des Ganzen, sie überblicken Zeit und Raum.«
   »Darum zerstören wir unseren Planeten«, sagte Crowe. »Weil wir nicht erkennen, was wir zerstören. Das muss denen da unten klar geworden sein, und auch, dass wir kein Rassengedächtnis haben.«
   »Ja, es ergibt alles einen Sinn. Warum sollten sie mit uns verhandeln? Mit Ihnen oder mit mir? Morgen können wir tot sein. Mit wem reden sie dann? Hätten wir ein Rassengedächtnis, würde es uns vor unseren eigenen Dummheiten schützen, aber so sind wir nicht. Mit Menschen klarkommen zu wollen ist illusorisch. Das haben sie gelernt. Das ist Teil ihres Wissens und Grundlage des Beschlusses, gegen uns vorzugehen.«
   »Und kein Feind wird in der Lage sein, dieses Wissen zu eliminieren«, sagte Oliviera. »In einem Yrr-Kollektiv weiß jeder alles. Es gibt keine klugen Köpfe, keine Wissenschaftler, Generäle und Führer, die man aus dem Weg räumen könnte, um den anderen die Informationsgrundlage zu entziehen. Man kann so viele Yrr töten, wie man will — solange einige überleben, überlebt das Wissen aller.«
   »Augenblick.« Li wandte ihr den Kopf zu. »Sagten Sie nicht, es müsse Königinnen geben?«
   »Ja. So was in der Art. Mag sein, dass kollektives Wissen allen Yrr zu Eigen ist, aber kollektives Handeln könnte zentral initiiert sein. Ich schätze, dass es diese Königinnen gibt.«
   »Ebenfalls Einzeller?«
   »Sie müssen dieselbe Biochemie teilen wie die Gallerte, die wir kennen. Es ist anzunehmen, dass es Einzeller sind. Ein hoch organisierter Verbund, an den wir nur rankommen, indem wir mit ihm kommunizieren.«
   »Um rätselhafte Botschaften zu erhalten«, sagte Vanderbilt. »Sie haben uns also ein Bild der prähistorischen Erde geschickt. Wozu? Was wollen sie uns damit erzählen?«
   »Alles«, sagte Crowe.
   »Geht’s ein bisschen präziser?«
   »Sie erzählen uns, dass dies ihr Planet ist. Dass sie ihn seit mindestens 180 Millionen Jahren beherrschen, womöglich länger. Dass sie über ein Rassengedächtnis verfügen, sich am Magnetfeld orientieren und überall vertreten sind, wo Wasser ist. Sie sagen, ihr seid hier und jetzt. Wir sind immer und überall. Das sind die Fakten. Das sagt uns die Botschaft, und ich finde, sie sagt verdammt viel.«
   Vanderbilt kratzte seinen Bauch. »Und was antworten wir ihnen? Dass sie sich ihre Vorherrschaft in den Arsch schieben sollen?«
   »Sie haben keinen, Jack.«
   »Also was?«
   »Nun, ich denke, ihrer Logik, uns vernichten zu wollen, können wir nicht mit unserer Logik begegnen, überleben zu wollen. Unsere einzige Chance liegt darin, ihnen zu signalisieren, dass wir ihre Vorherrschaft anerkennen …«
   »Die Vorherrschaft von Einzellern?«
   »Und sie davon zu überzeugen, dass wir nicht mehr gefährlich für sie sind.«
   »Aber das sind wir«, sagte Weaver.
   »Stimmt«, sagte Johanson. »Gerede nützt nichts. Wir müssen ihnen ein Zeichen geben, dass wir uns aus ihrer Welt zurückziehen. Wir müssen aufhören, das Meer mit Gift und Lärm zu verschmutzen, und zwar schnell. So schnell, dass sie vielleicht auf den Gedanken kommen, auch mit uns leben zu können.«
   »Das müssen Sie entscheiden, Jude«, sagte Crowe. »Wir können es nur empfehlen. Sie müssen es weiterempfehlen. Oder anordnen.«
   Plötzlich sahen alle auf Li.
   Li nickte.
   »Ich bin sehr dafür, diesen Weg zu gehen«, sagte sie. »Aber wir dürfen nichts überstürzen. Wenn wir uns aus den Meeren zurückziehen, müssen wir ihnen eine Botschaft schicken, die das sehr genau und überzeugend formuliert.« Sie sah in die Runde. »Ich will, dass alle daran mitarbeiten. Und zwar, ohne in Hast und Panik zu verfallen. Wir dürfen nichts überstürzen. Auf ein paar Tage kommt es jetzt nicht an, sondern darauf, dass der Wortlaut stimmt. Diese Rasse ist uns in allem so fremd, wie ich es niemals vermutet hätte. Aber wenn es nur die geringste Chance gibt, mit ihr zu einer friedlichen Einigung zu gelangen, sollten wir sie nutzen. — Also geben Sie Ihr Bestes.«
   »Jude«, lächelte Crowe. »Sie sehen mich entzückt vom amerikanischen Militär.«
   Als Li mit Peak und Vanderbilt den Raum verließ, sagte sie leise: »Hat Rubin genug von dem Zeug herstellen können?«
   »Hat er«, sagte Vanderbilt.
   »Gut. Ich will, dass er das Deepflight betankt. Welches, ist mir egal. In zwei bis drei Stunden sollten wir darangehen, die Sache hinter uns zu bringen.«
   »Warum plötzlich so schnell?«, fragte Peak.
   »Johanson. Er hat so einen Ausdruck in den Augen, als ob er kurz vor einer Eingebung steht. Ich habe keine Lust auf Diskussionen, das ist alles. Morgen kann er meinetwegen so viel Krach schlagen, wie er will.«
   »Sind wir wirklich schon so weit?«
   Li sah ihn an.
   »Ich habe dem Präsidenten der Vereinigten Staaten versprochen, dass wir so weit sind, Sal. Und dann sind wir es auch.«
 
Welldeck
 
   »Hey.«
   Anawak trat zum Delphinarium. Greywolf sah kurz auf und widmete sich wieder der kleinen Videokamera, die er auseinander geschraubt hatte. Als Anawak näher kam, steckten zwei der Tiere ihre Köpfe aus dem Wasser und begrüßten ihn mit Schnattern und Pfeifen. Sie kamen herangeschwommen, um sich Streicheleinheiten abzuholen.
   »Stör ich dich?«, fragte Anawak, während er über die Umrandung langte und die Tiere tätschelte.
   »Nein. Du störst nicht.«
   Anawak lehnte sich neben ihn. Es war nicht das erste Mal, dass er hierher kam seit dem Angriff. Jedes Mal hatte er versucht, Greywolf in ein Gespräch zu verwickeln, und jedes Mal vergeblich. Der Halbindianer schien völlig in sich gekehrt. Er nahm nicht mehr an den Sitzungen teil, sondern versah die Videos der Delphine mit kurzen, schriftlichen Kommentaren. Viel ließ sich darauf ohnehin nicht erkennen. Die Aufnahmen der näher rückenden Gallerte enttäuschten. Blaues Licht, das sich in der Tiefe verlor. Schemenhaft einige Orcas. Danach hatten es die Delphine mit der Angst bekommen und sich unter den Rumpf des Schiffes gedrängt, und man sah nur noch Stahlplatten. Greywolf hatte dafür plädiert, die verbliebenen Tiere weiterhin als biologisches Frühwarnsystem patrouillieren zu lassen. Anawak zweifelte zunehmend am Nutzen der Staffeln, aber er sagte nichts dergleichen. Insgeheim hegte er den Verdacht, dass Greywolf einfach nur weitermachen wollte wie bisher, um nicht ins Loch der Untätigkeit zu fallen.
   Sie standen eine Weile schweigend beisammen. Weiter hinten stieg eine Gruppe Soldaten und Techniker aus dem Bauch des Welldecks nach oben. Sie hatten das zerstörte Glasschott abgebaut. Einer der Techniker trat zur Steuerkonsole auf dem Kai. Die Pumpen begannen zu arbeiten.
   »Machen wir, dass wir wegkommen«, sagte Greywolf.
   Sie gingen das Gestade hinauf. Anawak sah zu, wie sich das Deck langsam mit Wasser füllte.
   »Die fluten wieder«, stellte er fest.
   »Ja. Es ist nun mal einfacher, die Delphine rauszulassen, wenn das Deck geflutet ist.«
   »Du willst sie rausschicken?«
   Greywolf nickte.
   »Ich helfe dir«, schlug Anawak vor. »Wenn du Lust hast.« »Gute Idee.« Greywolf öffnete die Kamera und fuhr mit einem winzigen Schraubenzieher ins Innere.
   »Jetzt sofort?«
   »Nein, ich muss erst das Ding hier reparieren.«
   »Willst du nicht mal Pause machen? Wir könnten was trinken gehen. Wir brauchen alle ein bisschen Ruhe zwischendurch.«
   »So viel hab ich nicht zu tun, Leon. Ich wühle im Equipment rum und sorge dafür, dass es den Tieren gut geht. Ich mache die ganze Zeit über Pause.«
   »Dann komm mit zu den Besprechungen.«
   Greywolf warf ihm einen kurzen Blick zu und arbeitete schweigend weiter. Die Unterhaltung versiegte.
   »Jack«, sagte Anawak. »Du kannst dich doch nicht permanent verkriechen.«
   »Wer redet denn von permanent?«
   »Na ja, was soll das sonst sein?«
   »Ich mache meinen Job.« Greywolf zuckte die Achseln.
   »Ich passe auf, was die Delphine melden, werte die Videos aus, und wenn mich einer braucht, bin ich da.«
   »Du bist nicht da. Du weißt noch nicht mal, was wir in den letzten 24 Stunden alles raus gefunden haben.«
   »Doch. Weiß ich.«
   »So?«, staunte Anawak. »Von wem denn?«
   »Sue war zwischendurch hier. Selbst Peak kam mal nachsehen, ob alles okay ist. Jeder erzählt mir was, ich muss überhaupt nicht fragen.«
   Anawak starrte vor sich hin. Plötzlich regte sich Zorn in ihm. »Na, dann brauchst du mich ja nicht«, sagte er trotzig.
   Greywolf gab keine Antwort.
   »Also willst du hier versauern?«
   »Du weißt, dass ich die Gesellschaft von Tieren vorziehe.« Auch wenn eines davon Licia getötet hat, wollte Anawak fragen, aber er schluckte es im letzten Moment herunter. Was sollte er bloß tun? »Ich habe Licia genauso verloren wie du«, sagte er schließlich. Greywolf hielt kurz inne. Dann fummelte er wieder mit dem Schraubenzieher in der Kamera herum. »Darum geht’s nicht.« »Worum geht’s dann?« »Was willst du hier, Leon?« »Was ich will?« Anawak überlegte. Sein Zorn wuchs.
   Das war nicht fair. Bei allem, was Greywolf durchlitt, war es einfach nicht fair. »Ich weiß nicht, Jack. Offen gestanden frage ich mich das auch.«
   Er wandte sich ab, um zu gehen. Als er schon fast wieder im Tunnel war, hörte er Greywolf leise sagen: »Warte, Leon.«
 
Erinnerung
 
   Johanson dämmerte weg. Er war todmüde. Die letzte Nacht steckte ihm in den Knochen. Er saß vor der Konsole mit den Bildschirmen, während Oliviera im Sterillabor weitere Mengen konzentrierten Yrr-Pheromons herstellte. Sie hatten beschlossen, einiges davon in den Simulator zu geben. Von der Masse war wenig zu sehen, nur dass die Vielzahl der Einzeller das Wasser trübte. Offenbar hatte sie sich vorübergehend aufgelöst und das Leuchten eingestellt. Wenn sie Pheromonextrakt hinzufügten, konnten sie womöglich eine Verschmelzung herbeiführen und das Gebilde weiteren Tests unterziehen.
   Vielleicht, dachte Johanson, sollten sie Crowes Nachrichten in den Tank schicken, um zu sehen, ob das Kollektiv antwortete.
   Er hatte leichtes Kopfweh und wusste auch den Grund dafür. Weder rührte es von Überarbeitung noch von zu wenig Schlaf. Es waren verklemmte Gedanken, die schmerzten.
   Festsitzende Erinnerungen.
   Seit der letzten großen Besprechung wurde es stetig schlimmer. Eine Äußerung Lis hatte seinen inneren Diaschlitten wieder in Gang gesetzt. Wenige Worte nur, aber sie füllten sein ganzes Denken aus und hinderten ihn, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Überaus anstrengend war dieses Nachdenken, und schließlich kippte Johansons Kopf langsam nach hinten. Er fiel in einen leichten Schlaf. An der Oberfläche des Bewusstseins trieb er dahin, gefangen in der Endlosschleife, zu der sich Lis Worte verbanden.
   Nichts überstürzen. Nichts überstürzen. Nichts …
   Von irgendwoher drangen Geräusche an sein Ohr. War Oliviera schon fertig mit der Synthetisierung des Pheromons? Kurz tauchte er auf aus seinem nervösen Schlummer, blinzelte in die Laborbeleuchtung und schloss wieder die Augen.
   Nichts überstürzen.
   Dämmrig.
   Das Hangardeck.
   Ein metallisches Geräusch, schleifend, leise. Johanson schreckt auf. Zuerst weiß er nicht, wo er ist. Dann spürt er die Stahlwand im Kreuz. Über dem Meer hat sich der Himmel aufgehellt. Er rappelt sich hoch und sieht zu der Wand hinüber.
   Ein Teil davon steht offen.
   Ein Tor hat sich aufgetan, leuchtend hell. Weißes Licht dringt aus dem Innern. Johanson rutscht von der Kiste. Stunden muss er darauf verbracht haben, so sehr schmerzen seine Knochen. Alter Mann. Er geht langsam auf das helle Quadrat zu. Dort mündet ein Gang, das erkennt er jetzt, mit nackten Wänden. Neonröhren ziehen sich die Decken entlang. Nach wenigen Metern eine Wand, seitlich abknickend.
   Johanson späht ins Innere und lauscht.
   Stimmen und Geräusche. Er tritt einen Schritt zurück.
   Was ist hinter dem Knick? Soll er hineingehen? Johanson zögert.
   Nichts überstürzen. Nichts überstürzen.
   Zögert.
   Plötzlich bricht eine Barriere.
   Er geht hinein. Zu beiden Seiten nichts als nackte Wände, dort die Biegung. Er geht nach rechts. Noch eine Biegung, diesmal zur anderen Seite. Breit ist dieser Gang, man könnte mit einem Auto entlangfahren. Wieder Geräusche, Stimmen, näher diesmal. Die Quelle muss gleich hinter dem zweiten Knick sein. Seine Schritte führen ihn langsam auf die Biegung zu, nach links, und da ist …
   Das Labor.
   Nein, nicht das Labor. Ein Labor. Kleiner, mit niedrigeren Decken. Aber es muss direkt über dem umgebauten Fahrzeugdeck liegen, wo sie den Simulator aufgestellt haben. Und auch dieses Labor hat einen Simulator, ein viel kleineres Gerät, nicht größer als eine Kiste, und im Innern schwebt etwas Leuchtendes, Blaues mit ausgestreckten Tentakeln …
   Ungläubig starrt er auf die Szenerie.
   Der ganze Raum ist eine kleine, aber perfekte Kopie des darunter liegenden Bereichs. Mehrere Labortische reihen sich aneinander. Gerätschaften. Behälter mit flüssigem Stickstoff. Eine Konsole mit Bildschirmen. Ein Elektronenmikroskop. Im Hintergrund an einer panzerverglasten Tür das Biohazard-Symbol. Noch weiter hinten führt eine offene Tür in einen schmaleren Gang.
   Und da sind Menschen.
   Drei Personen stehen vor dem kleinen Simulator. Sie unterhalten sich, ohne den Eindringling zu bemerken. Zwei Männer drehen ihm den Rücken zu, eine Frau steht halb seitlich und notiert etwas auf einem Block. Ihr Blick wandert zwischen den Männern und dem Simulator hin und her, fällt in den Raum, fällt auf Johanson …
   Ihr Mund öffnet sich, und die Männer drehen sich abrupt zu ihm herum. Einen davon kennt er. Gehört zu Vanderbilts Stab, keiner weiß genau, was er macht, aber was machen CIA-Agenten schon?
   Den zweiten Mann kennt er erst recht!
   Es ist Rubin.
   Johanson ist zu perplex, um etwas anderes zu tun als dazustehen und zu schauen. Er sieht den Schrecken in Rubins Augen, die Frage, wie diese Situation zu retten sei. Eigentlich ist es erst dieser Blick, der Johansons Erstarrung löst, weil ihm plötzlich klar wird, dass hier irgendein merkwürdiges Spiel gespielt wird, in dem man ihn benutzt, ihn und die anderen, Oliviera, Anawak, Weaver, Crowe …
   Oder wer von ihnen spielt in diesem Spiel sonst noch eine Rolle?
   Und zu welchem Zweck?
   Rubin kommt langsam auf ihn zu. Ein verkrampftes Lächeln hat sich auf seine Züge gelegt.
   »Sigur, mein Gott! Auch schlaflos unterwegs?«
   Johansons Blicke wandern im Raum umher, streifen die anderen. Er muss ihnen nur eine Sekunde in die Augen sehen, um zu wissen, dass er keinesfalls hier sein sollte.
   »Was tut ihr da, Mick?«
   »Oh, nichts, das ist nur …«
   »Was soll das? Was passiert hier?«
   Rubin baut sich vor ihm auf. »Ich kann Ihnen das erklären, Sigur. Wissen Sie, wir hatten eigentlich nicht vor, dieses zweite Labor zu benutzen, es ist nur für den Notfall angelegt worden, wenn das große aus irgendeinem Grund ausfällt. Wir inspizieren lediglich die Systeme, damit es einsatzbereit ist für den Fall, dass …«
   Johanson zeigt auf das Wesen im Simulator.
   »Ihr habt eines von den … von den Dingern da im Tank!«
   »Ach, das?« Rubins Kopf dreht sich nach hinten, wieder zurück. »Das … äh … nun ja, wir müssen es eben ausprobieren, sicherstellen. Wir haben Ihnen nichts davon gesagt, es bestand ja keine Notwendigkeit, weil …«
   Jedes Wort ist gelogen.
   Natürlich ist Johanson nicht ganz nüchtern, aber dass Rubin sich gerade um Kopf und Kragen redet, kriegt er mit.
   Er dreht sich um und stapft den Gang zurück nach draußen.
   »Sigur! Dr. Johanson!«
   Schritte hinter ihm. Rubin an seiner Seite. Finger zerren nervös an seinem Ärmel.
   »Warten Sie doch.«
   »Was — macht — ihr — da?«
   »Es ist nicht so, wie Sie denken, ich …«
   »Woher wollen Sie denn wissen, was ich denke, Mick?«
   »Es ist eine Sicherheitsmaßnahme.«
   »Was?«
   »Eine Sicherheitsmaßnahme! Das Labor ist eine Sicherheitsmaßnahme!«
   Johanson reißt sich los.
   »Ich glaube, ich sollte mal mit Li darüber reden.«
   »Nein, das …«
   »Oder besser mit Oliviera. Quatsch, vielleicht sollte ich einfach mit allen darüber reden, was meinen Sie, Mick? Verarscht ihr uns hier?«
   »Bestimmt nicht.«
   »Dann erklären Sie mir endlich, was das soll.«
   In Rubins Augen tritt nackte Panik. »Sigur, das wäre keine sehr gute Idee. Sie dürfen jetzt nichts überstürzen. Hören Sie? Nichts überstürzen!«
   Johanson sieht ihn an. Er stößt ein unwilliges Schnauben aus und lässt Rubin stehen. Hört, wie ihm der andere nachkommt, spürt Rubins Angst in seinem Nacken.
   Nichts überstürzen.
   Weißes Licht.
   Es explodiert vor seinen Augen, und ein dumpfer Schmerz breitet sich in seinem Schädel aus. Die Wände, der Gang, alles verschwimmt. Der Fußboden kommt ihm entgegen …
   Johanson starrte an die Decke des Laboratoriums.
   Alles war wieder präsent.
   Er sprang auf. Oliviera arbeitete noch immer im Sterillabor. Schwer atmend blickte er auf den Simulator, das Kontrollpult, die Arbeitstische.
   Sah wieder zur Decke.
   Da oben existierte ein zweites Labor. Direkt über ihnen. Und keiner durfte es wissen. Rubin musste ihn niedergeschlagen haben, und dann hatten sie ihm irgendwas verabreicht, um seine Erinnerung zu tilgen.
   Wozu?
   Was um alles in der Welt wurde hier gespielt?
   Johanson ballte die Fäuste. Ohnmächtige Wut kochte in ihm hoch. Mit wenigen Schritten war er draußen und rannte die Rampe hinauf.
 
Welldeck
 
   »Was soll ich oben bei euch?«, sagte Greywolf. »Ich kann euch nicht helfen.«
   Anawaks Zorn verflog. Er drehte sich um und kam langsam wieder zurück, während sich das Becken mit Wasser füllte.
   »Das stimmt nicht, Jack.«
   »Doch, tut es.« Es klang nüchtern, beinahe unbeteiligt, wie er es sagte. »Bei der Navy haben sie Delphine gequält, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe mich für Wale stark gemacht, aber die Wale sind Opfer einer anderen Macht geworden. Irgendwann habe ich beschlossen, in Tieren die besseren Menschen zu sehen, was dumm ist, aber immerhin ein Weg, sich zu arrangieren, und jetzt habe ich Licia an ein Tier verloren. Ich helfe niemandem.«
   »Hör auf, dir Leid zu tun, verdammt.«
   »Das sind Fakten!«
   Anawak setzte sich wieder neben ihn.
   »Dass du die Navy verlassen hast, war richtig und konsequent«, sagte er. »Du warst der beste Ausbilder, den sie im Delphinprogramm jemals hatten, und es war deine Entscheidung, die Zusammenarbeit zu beenden, nicht ihre. Du hattest die Fäden in der Hand.«
   »Ja, aber hat sich was geändert, nachdem ich gegangen bin?«
   »Für dich hat sich was geändert. Du hast Rückgrat bewiesen.«
   »Und was habe ich damit erreicht?«
   Anawak schwieg.
   »Weißt du«, sagte Greywolf. »Das Schlimmste ist dieses Gefühl, nirgendwo hinzugehören. Du liebst einen Menschen, und du verlierst ihn. Du liebst Tiere, und sie sind es, die ihn töten. Ganz allmählich beginne ich diese Orcas zu hassen. Ist dir klar, was ich sage? Ich fange an, Wale zu hassen!«
   »Wir haben alle dieses Problem, und wir …«
   »Nein! Ich habe gesehen, wie Licia im Maul eines Orcas gestorben ist, und ich konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Das ist mein Problem! Wenn ich hier und jetzt tot umfalle, ist das für den Fortbestand oder Untergang der Welt ohne jede Bedeutung. Wen interessiert’s? Ich habe nichts erreicht, weswegen man sagen wird, dass meine Anwesenheit auf diesem Planeten eine gute Idee war.«
   »Mich interessiert es«, sagte Anawak.
   Greywolf sah ihn an. Anawak erwartete einen zynischen Kommentar, aber nichts folgte außer einem leisen Geräusch, einem Glucksen in Greywolfs Kehle wie von einem stecken gebliebenen Seufzer.
   »Und bevor du es vergisst«, sagte Anawak, »Licia hat es auch interessiert.«
 
Johanson
 
   Seine Wut reichte aus, Rubin zu packen, aufs Flugdeck zu schleppen und über Bord zu werfen. Vielleicht hätte er sich dazu hinreißen lassen, wäre ihm der Biologe über den Weg gelaufen. Aber Rubin war nirgendwo zu sehen. Stattdessen traf er Weaver, die auf dem Weg nach unten war.
   Vorübergehend wusste er nicht, was er tun sollte. Dann rief er sich zur Ordnung.
   »Karen!« Er lächelte. »Willst du uns besuchen?«
   »Um ehrlich zu sein, ich wollte ins Welldeck. Zu Leon und Jack.«
   »Oh ja, Jack.« Johanson zwang sich zur Ruhe. »Es geht ihm nicht gut, was?«
   »Nein. Ich glaube, da war mehr zwischen ihm und Licia, als er selber gedacht hat. Es ist schwer, an ihn ranzukommen.«
   »Leon ist sein Freund. Der schafft das schon.«
   Weaver nickte und sah ihn fragend an. Sie hatte schnell begriffen, dass diese Unterhaltung keine war.
   »Geht’s dir gut?«, fragte sie.
   »Blendend.« Johanson umfasste ihren Arm. »Ich hatte gerade eine ziemlich sensationelle Idee, wie wir den Kontakt mit den Yrr forcieren könnten. Kommst du mit aufs Dach?«
   »Ich wollte eigentlich …«
   »Zehn Minuten. Ich will deine Meinung dazu hören. Mir geht dieses ständige Rumhängen in geschlossenen Räumen auf die Nerven.«
   »Du bist dünn angezogen für einen Besuch auf dem Dach.«
   Johanson sah an sich hinunter. Er trug nur Pullover und Jeans. Seine dicke Daunenjacke hing im Labor.
   »Abhärtung«, sagte er.
   »Gegen was?«
   »Gegen Grippe. Gegen’s Älterwerden. Gegen dumme Fragen! Was weiß denn ich?« Er merkte, dass er laut geworden war. Contenance, dachte er. »Hör zu, ich muss diese Idee wirklich loswerden, und sie hat eine Menge mit euren Simulationen zu tun. Ich habe keine Lust, das auf der Rampe zu tun. Kommst du jetzt?«
   »Ja, natürlich.«
   Sie stiegen zusammen die Rampe hoch und gelangten ins Innere der Insel. Johanson zwang sich, nicht ständig zur Decke zu sehen und nach versteckten Kameras und Mikrophonen zu suchen. Er hätte sie ohnehin nicht gesehen. Stattdessen sagte er in leichtem Tonfall: »Jude hat natürlich Recht, man darf jetzt nichts überstürzen. Ich schätze, wir werden ein paar Tage brauchen, bis die Idee spruchreif ist, denn sie basiert auf …«
   Und so weiter, und so fort. Er produzierte gelehrt klingenden Schwachsinn, bugsierte Weaver aus der Insel an die frische Luft und ging ihr gestikulierend voran, bis sie einen der Hubschrauberlandepunkte auf der Backbordseite erreicht hatten. Es war kühler und windiger geworden. Dunstschwaden hatten sich über die See gelegt, die Wellen an Höhe zugenommen. Wie urzeitliche Tiere wälzten sie sich tief unter ihnen dahin, grau und träge, und schickten den Geruch kalten Salzwassers nach oben. Johanson fror erbärmlich, aber seine Wut hielt ihn innerlich warm. Schließlich waren sie weit genug von der Insel entfernt.
   »Offen gestanden«, sagte Weaver, »ich verstehe kein Wort.«
   Johanson hielt das Gesicht in den Wind.
   »Brauchst du auch nicht. Ich schätze, hier draußen können sie uns nicht hören. Sie müssten schon verdammt viel Aufwand betrieben haben, um eine Unterhaltung auf dem Flugdeck zu belauschen.«
   Weaver kniff die Augen zusammen.
   »Wovon redest du eigentlich?«
   »Ich habe mich erinnert, Karen. Ich weiß wieder, was vorgestern Nacht geschehen ist.«
   »Hast du deine Tür gefunden?«
   »Nein. Aber ich weiß, dass sie da ist.«
   Er erzählte ihr in knappen Worten die ganze Geschichte.
   Weaver hörte mit unbewegtem Gesicht zu.
   »Du meinst, es gibt so etwas wie eine Fünfte Kolonne an Bord?«
   »Ja.«
   »Aber wozu?«
   »Du hast gehört, was Jude gesagt hat. Nichts überstürzen. Ich meine, wir alle, du und Leon, Sue und ich, auch Mick natürlich, Sam und Murray, wir haben denen einen kompletten Steckbrief der Yrr geliefert. Möglicherweise machen wir uns was vor, vielleicht liegen wir fulminant daneben, aber vieles spricht für das Gegenteil: dass wir zumindest theoretisch wissen, mit welcher Art Intelligenz wir es zu tun haben und wie sie funktioniert. Wir haben auf Hochtouren daran gearbeitet, um es rauszufinden. Und plötzlich sollen wir uns Zeit lassen?«
   »Weil man uns nicht mehr braucht«, sagte sie tonlos. »Weil Mick in einem anderen Labor mit anderen Leuten daran weiterarbeitet.«
   »Wir sind Zulieferer«, nickte Johanson. »Wir haben unsere Schuldigkeit getan.«
   »Aber warum?« Weaver schüttelte ungläubig den Kopf. »Welche Ziele könnte Mick verfolgen, die nicht mit unseren übereinstimmen? Welche Alternativen gibt es denn? Wir müssen mit den Yrr zu einer Übereinkunft gelangen! Was kann er anderes wollen?«
   »Irgendeine Konkurrenzgeschichte ist da im Gange. Mick spielt ein doppeltes Spiel, aber das alles ist nicht seine Idee.«
   »Wessen dann?«
   »Jude steckt dahinter.«
   »Du hattest sie von Anfang an auf dem Kieker, was?«
   »Sie mich auch. Ich glaube, jeder von uns hat ziemlich schnell kapiert, dass er den anderen nicht für dumm verkaufen kann. Ich hatte immer schon dieses Gefühl in ihrer Gegenwart, nur dass ich mir lächerlich dabei vorkam.
   Mir fiel kein triftiger Grund ein, ihr zu misstrauen.«
   Sie standen eine Weile schweigend beisammen.
   »Und jetzt?«, fragte Weaver.
   »Jetzt hatte ich Zeit, mir einen kühlen Kopf zu verschaffen«, sagte Johanson und schlang die Arme um seinen Körper. »Jude wird uns hier stehen sehen. Ich schätze, mich hat sie ganz besonders im Visier. Sie kann nicht sicher sein, was wir bereden, aber natürlich geht sie davon aus, dass ich früher oder später meine Erinnerung zurückgewinne. Sie steht unter Zeitdruck. Heute Morgen hat sie uns alle erst mal zurückgepfiffen. Wenn sie eigene Pläne verfolgt, muss sie jetzt handeln.«
   »Das heißt, wir müssen ziemlich schnell dahinter kommen, was die vorhaben.« Weaver überlegte. »Warum trommeln wir nicht die anderen zusammen.«
   »Zu riskant. Das würde sofort auffallen. Ich bin sicher, alle Räume des Schiffes werden abgehört. Nachher machen sie die Tür zu und schmeißen den Schlüssel weg.
   — Ich will Jude in die Enge treiben, wenn es irgendwie geht. Ich will wissen, was hier läuft, und dafür brauche ich dich.«
   Weaver nickte. »Okay. Was soll ich tun?«
   »Rubin finden und ihn ausquetschen, während ich mir Jude vorknöpfe.«
   »Hast du eine Ahnung, wo ich ihn finde?«
   »Vielleicht in diesem ominösen Labor. Ich weiß jetzt, wo es ist, aber ich habe absolut keine Ahnung, wie man da reinkommt. Vielleicht treibt er sich aber auch irgendwo im Schiff herum.« Johanson seufzte. »Mir ist schon klar, das klingt alles wie aus einem schlechten Film. Vielleicht bin ich es, der spinnt. Vielleicht leide ich unter Paranoia, aber dann kann ich immer noch zu Kreuze kriechen. Jetzt will ich wissen, was hier los ist!«
   »Du leidest nicht unter Paranoia.«
   Johanson sah sie an und lächelte dankbar.
   »Gehen wir zurück.«
   Auf dem Weg zur Insel und im Innern fachsimpelten sie wieder über verschlüsselte Botschaften und friedliche Kontaktaufnahme.
   »Ich gehe dann mal runter zu Leon«, sagte Weaver. »Mal sehen, was er von deinem Vorschlag hält. Vielleicht können wir das heute Nachmittag gemeinsam einprogrammieren und durchspielen.«
   »Gute Idee«, sagte Johanson. »Bis später.«
   Er sah zu, wie Weaver die Rampe hinunterging. Dann stieg er über einen der Niedergänge hinunter auf LEVEL 02 und warf einen Blick ins CIC, wo Crowe und Shankar vor ihren Computern hockten.
   »Und was macht ihr so?«, fragte er im Plauderton.
   »Nachdenken«, erwiderte Crowe aus ihrer obligatorischen Rauchwolke heraus. »Kommt ihr mit dem Pheromon voran?«
   »Sue ist gerade dabei, eine weitere Ladung zu synthetisieren. Zwei Dutzend Ampullen dürften es mittlerweile sein.«
   »Da seid ihr weiter als wir. Uns kommen allmählich Zweifel, ob Mathematik der einzig selig machende Weg ist«, sagte Shankar. Sein dunkles Gesicht verzog sich zu einem säuerlichen Grinsen. »Ich glaube, die können ohnehin besser rechnen als wir.«
   »Was wäre die Alternative?«
   »Emotion.« Crowe blies Rauch aus ihren Nüstern. »Witzig, was? Gerade den Yrr mit Gefühlen kommen zu wollen. Aber wenn ihre Gefühle biochemischer Natur sind …«
   »So wie unsere«, bemerkte Shankar.
   »… könnte uns der Duft vielleicht weiterhelfen. Ja, danke, Murray. Ich weiß, auch Liebe ist Chemie.«
   »Hast du eigentlich jemanden, dem du chemisch zugetan bist, Sigur?«, witzelte Shankar.
   »Nein, im Augenblick wechselwirke ich mit mir selber.« Er sah sich um. »Sag mal, habt ihr Jude irgendwo gesehen?«
   »Sie war vorhin im LFOC«, sagte Crowe.
   »Danke.«
   »Ach ja, und Mick wollte zu dir.«
   »Mick?«
   »Sie haben zusammen dagesessen und gequatscht. Mick wollte ins Labor, vor wenigen Minuten.«
   Das war gut. Dann würde Weaver ihn aufstöbern.
   »Prima«, sagte er. »Mick kann uns bei der Synthetisierung helfen. Sofern ihn nicht wieder die Migräne packt. Armer Kerl.«
   »Er sollte sich das Rauchen angewöhnen«, meinte Crowe. »Rauchen ist gut gegen Kopfschmerzen.«
   Johanson grinste und ging ins LFOC. Ein Großteil der elektronischen Datenerfassung war auf die dortigen Systeme umgelegt worden damit Crowe und Shankar im CIC ungestört arbeiten konnten. Aus den Lautsprechern drang schwaches Rauschen und gelegentliches Pfeifen und Klicken. Der Schatten eines Delphins zog über einen der Bildschirme. Offenbar hatte Greywolf die Tiere wieder rausgelassen.
   Weder Li, noch Peak, noch Vanderbilt waren zu sehen. Johanson ging weiter ins JIC. Es stand leer, ebenso wie die übrigen Befehls— und Führungsräumlichkeiten. Er erwog, in der Offiziersmesse nachzusehen, aber dort würde er möglicherweise nur Vanderbilts Leute oder ein paar Soldaten antreffen. Li konnte ebenso gut im Trainingsraum sein oder in ihrem Quartier. Es blieb keine Zeit, das ganze Schiff abzusuchen.
   Wenn Rubin auf dem Weg ins Labor war, würde ihn Weaver bald aufspüren. Er musste vorher mit Li sprechen!
   Na schön, dachte er. Wenn ich dich nicht finde, findest du eben mich. Ohne Eile ging er zu seiner Kabine, trat ein und stellte sich mitten in den Raum.
   »Hallo, Jude«, sagte er.
   Wo mochten die Kameras, wo die Mikrophone sein? Zwecklos, danach zu suchen, aber sie waren da.
   »Stellen Sie sich vor, was vorhin passiert ist. Mir ist eingefallen, dass es über dem Großlabor noch ein zweites Labor gibt, in dem Mick gerne mal verschwindet, wenn ihn seine Migräne überkommt. Ich würde gerne wissen, was er da tut, abgesehen davon, dass er Kollegen niederschlägt.«
   Seine Blicke wanderten über Möbel, Lampen, über den Fernseher.
   »Ich schätze, das werden Sie mir freiwillig nicht erzählen, was, Jude? Ich habe also ein paar Vorkehrungen getroffen. Sehen Sie, binnen kurzem könnte jeder aus dem Team meine Erinnerungen teilen, ohne dass Sie eine Möglichkeit haben, es zu verhindern.« Das war verdammt dick aufgetragen, aber er hoffte, dass Li es schluckte. »Wäre das in Ihrem Interesse? Oder in Ihrem, Sal? — Ach, Jack, Sie hätte ich beinahe vergessen. Wie denken Sie darüber?«
   Er ging langsam im Raum auf und ab. »Ich habe Zeit. Sie auch? Bestimmt nicht.« Er breitete die Hände aus und lächelte. »Wir können das Ganze aber auch vertraulich behandeln. Vielleicht stecken ja ehrenhafte Absichten dahinter, wenn Ihre Leute hier eine Schattenwelt errichten. Vielleicht ist ja alles im Sinne der internationalen Sicherheit. — Ich mag es nur nicht so gerne, niedergeschlagen zu werden, Jude. Das verstehen Sie doch, oder? Ich würde gerne mit Ihnen reden, aber wie es aussieht, erfasst Rubins Migräne bisweilen ganze Volksgruppen. Liegen Sie alle mit Kopfschmerzen im Bett?«