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Aber auch Anawak, in den man so große Hoffnungen setzte, wusste die Antwort nicht. Er hatte sämtliches verfügbare telemetrische Material angefordert, das seit Jahresbeginn vor der Pazifikküste gesammelt worden war. Seit vierundzwanzig Stunden werteten er und Alicia Delaware nun Videosequenzen aus, unterstützt von Mitarbeitern des Aquariums. Sie studierten Positionsdaten, lauschten von Hydrophonen aufgenommenen Geräuschen, ohne zu brauchbaren Resultaten zu gelangen. Kaum einer der Wale hatte telemetrisches Gerät getragen, als sie ihre Wanderungen von Hawaii und Baja California hinauf zur Arktis begonnen hatten, bis auf zwei Buckelwale, deren Fahrtenschreiber kurz nach Verlassen der Baja abgefallen waren. Tatsächlich entstammte die einzige Erkenntnis nach wie vor dem Video, das die Frau an Bord der Blue Shark gemacht hatte. Sie hatten es mehrfach in Davies Whaling Station studiert, zusammen mit anderen Skippern, die geübt in der Identifizierung von Walfluken waren. Nach diversen Durchläufen und Bildvergrößerungen hatten sie schließlich zwei Buckelwale, einen Grauwal und einige Orcas wieder erkannt.
Delaware hatte Recht gehabt. Das Video war eine Spur.
Anawaks Wut auf die Studentin war ziemlich rasch verflogen. Sie mochte eine vorlaute Klappe haben und schneller reden, als sie dachte, aber hinter der forschen Art erkannte er einen hochintelligenten, analytischen Verstand. Außerdem hatte sie Zeit. Ihre Eltern lebten in den British Properties, Vancouvers elitärem Wohnviertel für die Reichen. Sie boten Alicia ein Leben im Überfluss, ohne sich je blicken zu lassen. Anawak schätzte, dass sie den eklatanten Mangel an Interesse und gemeinsam verbrachter Zeit mit Geld ausglichen, was ihre Tochter nicht sonderlich zu bekümmern schien — versetzte es sie doch in die Lage, einen Haufen davon auszugeben und ansonsten eigene Wege zu gehen. Im Grunde hätte es besser nicht kommen können. Delaware sah die unverhoffte Zusammenarbeit als Chance, ihr Biologiestudium mit Praxis zu unterfüttern, und Anawak brauchte eine Assistentin, nachdem Susan Stringer tot war.
Stringer …
Jedes Mal, wenn er an die Skipperin dachte, überkamen ihn Scham und Schuldgefühle, weil er sie nicht hatte retten können. Regelmäßig sagte er sich, dass nichts und niemand auf der Welt Stringer hätte retten können, nachdem der Orca sie gepackt hatte. Ebenso regelmäßig stellten sich nagende Zweifel ein. Was wusste er, der Elaborate und Traktate über das Selbstbewusstsein von Tümmlern veröffentlicht hatte, denn wirklich über die Gedankengänge eines Wals? Wie überzeugte man einen Orca, von seinem Opfer abzulassen? Welchen Argumenten war ein intelligenter Verstand zugänglich, der anders funktionierte als der menschliche?
Hätte es doch einen Weg gegeben?
Dann wieder sagte er sich, dass Orcas Tiere waren. Hochintelligent zwar, aber Tiere. Und Beute war Beute.
Andererseits gehörten Menschen eindeutig nicht ins Beuteschema von Schwertwalen. Hatten die Orcas die im Wasser treibenden Passagiere also überhaupt gefressen?
Oder einfach nur getötet?
Ermordet.
Konnte man einen Orca des Mordes bezichtigen?
Anawak seufzte. Er drehte sich im Kreis. Seine Augen brannten mit jeder Minute schlimmer. Lustlos griff er nach einer weiteren CD mit digitalen Bilddaten, drehte sie unentschlossen hin und her und legte sie wieder weg. Seine Konzentration war am Ende. Den ganzen Tag hatte er im Aquarium verbracht. Ständig hatte er sich mit irgendjemandem besprochen oder in der Gegend herumtelefoniert, ohne dass sich Fortschritte einstellen wollten. Er fühlte sich ausgelaugt und leer. Müde schaltete er den Bildschirm aus und sah auf die Uhr. Sieben durch. Er stand auf und ging John Ford suchen. Der Direktor war in einer Besprechung, also schaute er bei Delaware vorbei. Sie saß in einem umfunktionierten Besprechungsraum über Fernschreiberdaten.
»Lust auf ein saftiges Pottwalsteak?«, fragte er säuerlich.
Sie schaute auf und zwinkerte. Die blaue Brille hatte sie mit Kontaktlinsen vertauscht, die ebenfalls verdächtig blau wirkten. Wenn man versuchte, die Hasenzähne zu ignorieren, sah sie richtig gut aus.
»Klar. Wohin?«
»Es gibt einen ganz manierlichen Imbiss um die Ecke.«
»Quatsch, Imbiss!«, rief sie vergnügt. »Ich lad dich ein.«
»Das ist nicht nötig.«
»Ins Cardero’s.«
»Ach du meine Güte.«
»Es ist gut !«
»Ich weiß, dass es gut ist. Aber erstens musst du mich nicht einladen, und zweitens finde ich Cardero’s … na ja, wie soll ich sagen …«
»Ich find’s klasse!«
Cardero’s Restaurant und Bar lagen inmitten des Yachthafens Coal Harbour, groß und luftig, mit hohen Decken und Fenstern. Ein ziemlich angesagter Ort. Man genoss einen herrlichen Blick auf die Umgebung und bekam ordentliche West-Coast-Küche vorgesetzt. In der angrenzenden Bar flossen reichlich Drinks, die von jungen Menschen in gut sitzender Garderobe hinuntergespült wurden. Anawak wusste, dass er mit seinen ausgefransten Jeans und dem verschossenen Pullover denkbar unpassend gekleidet war, und außerdem fühlte er sich in angesagten Lokalen unbehaglich und fehl am Platze. Delaware hingegen war für Cardero’s, wie er zugeben musste, nachgerade prädestiniert.
Also Cardero’s.
Sie fuhren in seinem alten Ford zum Hafen und hatten Glück. Cardero’s machte im Allgemeinen eine frühzeitige Reservierung erforderlich, aber in einer Ecke war ein Tisch ungebucht geblieben, etwas abseits und damit nach Anawaks Geschmack. Sie nahmen die Spezialität des Hauses, auf Zedernholz gegrillten Lachs mit Soja, braunem Zucker und Limonen.
»Okay«, sagte Anawak, nachdem die Bedienung gegangen war. »Was haben wir?«
»Nichts außer Hunger, soweit es mich betrifft.« Delaware zuckte die Achseln. »Ich bin kein bisschen schlauer als zuvor.«
Anawak massierte sein Kinn. »Vielleicht hab ich ja was herausgefunden. Das Video dieser Frau hat mich darauf gebracht.«
»Mein Video.«
»Schon klar«, sagte er spöttisch. »Wir verdanken dir alles.«
»Ihr verdankt mir zumindest eine Idee. Was hast du denn herausgefunden?«
»Es hängt mit den identifizierten Walen zusammen. Mir ist aufgefallen, dass ausschließlich Transient Orcas an den Attacken beteiligt waren. Kein einziger Resident.«
»Hm.« Sie krauste die Nase. »Stimmt. Von den Residents hat man eigentlich überhaupt nichts Schlechtes gehört.«
»Eben. In der Johnstone Strait gab es keine Angriffe.
Und da waren Kajaks unterwegs.«
»Also geht die Gefahr von wandernden Tieren aus.«
»Transients und möglicherweise Offshore Orcas. Die identifizierten Buckelwale und der Grauwal sind ebenfalls Wanderer. Alle drei haben den Winter in der Baja California verbracht, das ist sogar dokumentiert. Wir haben die Bilder ihrer Fluken nach Seattle ins Meeresbiologische Institut gemailt. Sie bestätigen, dass die Tiere mehrfach in den letzten Jahren dort gesichtet wurden.«
Delaware sah ihn irritiert an.
»Dass Grau— und Buckelwale wandern, ist aber doch nichts Neues.«
»Nicht alle.«
»Oh. Ich dachte …«
»An dem Tag, als wir nochmal rausfuhren, Shoemaker, Greywolf und ich, ist was Komisches passiert. Ich hatte es fast schon wieder vergessen. Wir mussten die Leute von der Lady Wexham runterkriegen. Das Schiff sank, und außerdem wurden wir von einer Gruppe Grauwale angegriffen. Ich bin sicher, dass wir definitiv keine Chance mehr hatten, selber mit heiler Haut davonzukommen, geschweige denn jemanden zu retten. — Aber dann tauchten plötzlich zwei Grauwale neben uns auf, die uns nichts taten. Sie lagen einfach nur eine Weile im Wasser, und die anderen zogen sich zurück.«
»Und das waren Residents?«
»Etwa ein Dutzend Grauwale sind immer vor der Westküste, das ganze Jahr hindurch. Sie sind zu alt, um noch die strapaziösen Wanderungen anzutreten. Wenn die Herden aus dem Süden eintreffen, werden die Alten wieder aufgenommen, mit Begrüßungsritual und allem Drum und Dran. Einen dieser Residents habe ich erkannt, und er hegte eindeutig keine feindlichen Absichten gegen uns. Im Gegenteil. Ich glaube, wir verdanken den beiden unser Leben.«
»Ich bin sprachlos! Die haben euch beschützt!«
»Tz, tz, Licia.« Anawak hob die Brauen. »So viel Vermenschlichung aus deinem Munde?«
»Seit drei Tagen glaube ich fast alles.«
»Beschützt erscheint mir zu dick aufgetragen. Aber ich denke, sie haben die anderen fern gehalten. Sie mochten die Angreifer nicht. Man könnte mit einiger Vorsicht schlussfolgern, dass nur wandernde Tiere betroffen sind. Residents — gleich welcher Art — verhalten sich friedlich. Sie scheinen zu erkennen, dass die anderen nicht mehr ganz richtig im Kopf sind.«
Delaware kratzte mit grüblerischem Gesichtsausdruck ihre Nase. »Würde passen. Ich meine, eine große Anzahl von Tieren verschwindet auf dem Weg von Kalifornien hierher. Auf offener See. Die aggressiven Orcas leben ebenfalls im offenen Pazifik.«
»Eben. Was immer sie verändert hat, wird genau dort zu finden sein. Im tiefen blauen Meer. Weit draußen.«
»Aber was?«
»Das finden wir schon raus«, sagte John Ford. Er war unvermittelt neben ihnen aufgetaucht, zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Und zwar, bevor mich diese Regierungstypen mit ihren ständigen Anrufen in den Wahnsinn treiben.«
»Mir ist noch was eingefallen«, sagte Delaware beim Nachtisch. »Die Orcas mögen ja ihren Spaß an der Sache haben, aber die Großwale ganz sicher nicht.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Anawak.
»Na ja«, sagte sie mit Backen voller Mousse au Chocolat. »Stell dir vor, du rennst ständig irgendwo gegen, um es umzuwerfen. Oder lässt dich auf was drauffallen, was Ecken und Kanten hat. Wie groß ist die Gefahr, dass du dich selber verletzt?«
»Sie hat Recht«, sagte Ford. »Die Tiere könnten sich verletzt haben. Und kein Tier verletzt sich selber, wenn es nicht der Arterhaltung oder dem Schutz des Nachwuchses dient.« Er nahm seine Brille ab und putzte sie umständlich. »Sollen wir mal ein bisschen rumspinnen?
Was wäre denn, wenn die ganze Aktion ein Protest ist?«
»Wogegen?«
»Walfang.«
»Walproteste gegen Walfang?«, rief Delaware ungläubig.
»Früher sind Walfänger hin und wieder angegriffen worden«, sagte Ford. »Speziell, wenn sie auf die Kälber aus waren.«
Anawak schüttelte den Kopf. »Das glaubst du selber nicht.«
»War ‘n Versuch.«
»Kein guter. Bis heute ist nicht erwiesen, ob Wale überhaupt begreifen, was Walfang ist.«
»Du meinst, sie erkennen nicht, dass sie gejagt werden?«, fragte Delaware. »Das ist dummes Zeug.«
Anawak verdrehte die Augen.
»Sie erkennen nicht unbedingt eine Systematik darin. Grindwale stranden immer wieder in denselben Buchten. Auf den Färöern treiben Fischer ganze Herden von ihnen zusammen und hauen wahllos mit Eisenstangen auf sie ein. Regelrechte Massaker. Oder schau nach Japan, nach Futo, wo sie Tümmler und Schweinswale abschlachten. Die Tiere wissen seit Generationen, was sie erwartet. Warum kommen die trotzdem immer wieder zurück?«
»Das ist sicher kein Zeichen sonderlicher Intelligenz«, sagte Ford. »Andererseits werden jährlich wider besseres Wissen Treibgase versprüht und Regenwälder abgeholzt. Ebenso wenig ein Zeichen besonderer Intelligenz, findet ihr nicht auch?«
Delaware runzelte die Stirn und kratzte den Rest Mousse au Chocolat aus ihrem Teller.
»Stimmt schon«, sagte Anawak nach einer Weile.
»Was?«
»Licias Hinweis, dass sich die Tiere verletzt haben könnten, als sie auf die Boote sprangen oder dagegen. — Ich meine, wenn du plötzlich auf die Idee kommst, Leute abzuknallen, was tust du? Du setzt dich irgendwo hübsch hin, wo du einen guten Überblick hast, legst an und feuerst. Aber du wirst aufpassen, dass du dir nicht selber dabei in den Fuß ballerst.«
»Es sei denn, du bist beeinflusst.«
»Hypnotisiert.«
»Oder krank. Verwirrt. Sag ich doch. Sie sind verwirrt.«
»Vielleicht Gehirnwäsche?«
»Nun hört mal auf zu spinnen.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Jeder am Tisch hing seinen Gedanken nach, während der Lärmpegel im Cardero’s anstieg. Gesprächsfetzen von Nebentischen drangen herüber. Die Geschehnisse beherrschten die Presse und das öffentliche Leben. Jemand stellte lautstark einen Zusammenhang her zwischen den Vorfällen entlang der Küste und Havarien in asiatischen Gewässern. Vor Japan und in der Malakkastraße war es in rascher Folge zu einigen der schwersten Schiffskatastrophen der letzten Jahrzehnte gekommen. Man fachsimpelte und tauschte Theorien aus, ohne dass es den Anschein hatte, als ließen sich die Gäste von alldem sonderlich den Appetit verderben.
»Und wenn es doch an den Giften liegt?«, meinte Anawak schließlich. »PCB, der ganze Mist. Wenn irgendwas die Tiere rasend macht?«
»Allenfalls rasend vor Wut«, frotzelte Ford. »Ich sage ja, sie protestieren. Weil die Isländer Fangquoten beantragen, die Japaner ihnen zu Leibe rücken, die Norweger sich einen Scheiß um die IWC kümmern. — Weil selbst die Makah sie wieder jagen wollen. Hey! Das ist es!« Er grinste. »Vermutlich haben sie’s in der Zeitung gelesen.«
»Für den Leiter des Wissenschaftlichen Beirats bist du irgendwie nicht richtig bei der Sache«, meinte Anawak.
»Ganz abgesehen von deinem Ruf als seriöser Wissenschaftler.«
»Makah?«, echote Delaware.
»Ein Stamm der Nuu-Chah-Nulth«, sagte Ford.
»Indianer im Westen Vancouver Islands. Sie versuchen seit Jahren schon juristisch durchzusetzen, dass sie den Walfang wieder aufnehmen dürfen.«
»Was? Wo leben die? Sind die wahnsinnig?«
»Der Herr erhalte dir deine zivilisierte Empörung, aber die Makah haben das letzte Mal 1928 Wale gejagt«, gähnte Anawak. Er konnte seine Augen kaum noch offen halten. »Sie waren es nicht, die Grauwale, Blauwale, Buckelwale und so weiter an den Rand des Aussterbens gebracht haben. Den Makah geht es um die Tradition und die Erhaltung ihrer Kultur. Sie argumentieren damit, dass kaum noch ein Makah den traditionellen Walfang beherrscht.«
»Na und? Wer essen will, soll in den Supermarkt gehen.«
»Bring Leons edle Fürsprache nicht durcheinander«, sagte Ford und schüttete sich Wein nach.
Delaware starrte Anawak an. Etwas in ihren Augen veränderte sich.
Bitte nicht, dachte er.
Dass er wie ein Indianer aussah, war offenkundig, aber nun begann sie die falschen Schlüsse zu ziehen. Er konnte die Frage förmlich heranrauschen hören. Er würde sich erklären müssen. Nichts hasste er mehr als den Gedanken daran. Er hasste ihn und wünschte, Ford hätte niemals von den Makah angefangen.
Schnell wechselte er einen Blick mit dem Direktor.
Ford verstand.
»Reden wir ein andermal darüber«, schlug er vor. Und bevor Delaware etwas erwidern konnte, sagte er: »Die Vergiftungstheorie sollten wir mit Oliviera, Fenwick oder Rod Palm besprechen, aber offen gesagt, ich glaube nicht dran. Die Belastung entsteht durch auslaufendes Öl und die Verklappung von Chlorkohlenwasserstoffen. Du weißt ebenso gut wie ich, wozu das führt. Schwächung des Immunsystems, Infektionen, vorzeitiger Tod. Nicht zum Wahnsinn.«
»Hat nicht irgendein Wissenschaftler ausgerechnet, dass die Orcas vor der Westküste in 30 Jahren ausgestorben sein werden?«, brachte sich Delaware wieder ins Gespräch.
Anawak nickte düster.
»In 30 bis 120 Jahren. Wenn es so weitergeht. Übrigens nicht allein wegen der Vergiftungen. Die Orcas verlieren ihre Nahrungsquelle, den Lachs. Wenn sie nicht am Gift zugrunde gehen, wandern sie aus. Sie müssen ihre Nahrung in Gebieten suchen, die sie nicht kennen, verfangen sich in Fischereigeschirr … Es kommt alles zusammen.«
»Vergiss die Vergiftungstheorie«, meinte Ford. »Wenn es nur die Orcas wären, könnten wir darüber reden. Aber Orcas und Buckelwale in strategischer Eintracht … Ich weiß nicht, Leon.«
Anawak dachte nach.
»Ihr kennt meine Einstellung«, sagte er leise. »Ich bin weit davon entfernt, Tieren Absichten zu unterstellen oder ihre Intelligenz zu überschätzen, aber … habt ihr nicht auch mitunter das Gefühl, dass sie uns loswerden wollen?«
Sie sahen ihn an. Er hatte erwartet, auf heftige Widerrede zu stoßen. Stattdessen nickte Delaware.
»Ja. Bis auf die Residents.«
»Bis auf die Residents. Weil sie nicht dort gewesen sind, wo die anderen waren. Wo etwas mit den anderen passiert ist. Die Wale, die den Schlepper versenkt haben … Ich sag’s euch! Die Antwort liegt draußen.«
»Mein Gott, Leon.« Ford lehnte sich zurück und ließ einen großzügigen Schluck Wein die Kehle heruntergurgeln. »In welchem Film sind wir denn jetzt gelandet? Gehet hin und bekämpfet die Menschheit?«
Anawak schwieg.
Auf Dauer brachte sie das Video der Frau nicht weiter.
Als er spätabends im Bett seines kleinen Apartments in Vancouver lag, ohne Schlaf zu finden, reifte in Anawak der Gedanke, einen der veränderten Wale selber zu präparieren. Was immer die Tiere übernommen hatte, es beherrschte sie nach wie vor. Mit Kamera und Sender versehen, würde eines davon vielleicht die dringend erforderlichen Antworten liefern.
Die Frage war, wie sie etwas an einem wild gewordenen Buckelwal befestigen sollten, wenn schon die friedlichen kaum stillhielten?
Und dann dieses Problem mit der Haut …
Einen Seehund zu bestücken war etwas völlig anderes, als einen Wal mit einem Sender zu versehen. Seehunde und Robben ließen sich problemlos auf ihren Ruheplätzen fangen. Der biologisch abbaubare Kleber, mit dem die Sender befestigt wurden, haftete im Fell, trocknete schnell und löste sich irgendwann durch einen integrierten Auslösemechanismus. Spätestens beim alljährlichen Fellwechsel verschwanden auch die Klebstoffreste.
Aber Wale und Delphine hatten kein Fell. Es gab kaum etwas Glatteres als die Haut von Orcas und Delphinen, die sich anfühlte wie ein frisch gepelltes Ei und mit einem dünnen Gel überzogen war, um Strömungswiderstände auszuschließen und Bakterien fern zu halten. Ständig wurde die oberste Hautschicht ersetzt. Enzyme lösten sie, sodass sie bei Sprüngen in großen, dünnen Fetzen abfiel — mitsamt allen unerwünschten Bewohnern und Sendern. Und die Haut von Grau— und Buckelwalen bot kaum besseren Halt.
Anawak stand auf, ohne Licht zu machen, und trat zum Fenster. Das Apartment lag in einem der älteren Hochhäuser mit Blick auf Granville Island, und er konnte auf die glitzernde, nächtliche Stadt blicken. Nacheinander ging er die Möglichkeiten durch. Natürlich gab es Tricks. Amerikanische Wissenschaftler griffen zu einer Methode, bei der Sender und Messgeräte mit Saugnäpfen befestigt wurden. Unter Zuhilfenahme langer Stangen setzten sie die Sonde vom Boot auf nahe schwimmende oder in der Bugwelle reitende Tiere. Das ging oft genug daneben. Immerhin ein Weg. Allerdings widerstanden auch die Saugnapf-Sender dem Strömungsdruck nur wenige Stunden. Andere klemmten die Geräte an die Rückenflosse. Hier wie da stellte sich die Frage, wie man in diesen Tagen überhaupt mit einem Boot an einen Wal gelangen sollte, ohne sofort versenkt zu werden.
Man konnte die Tiere betäuben …
Alles viel zu kompliziert. Außerdem würden Fahrtenschreiber nicht reichen. Sie brauchten Kameras. Satellitentelemetrie und Videobilder.
Plötzlich kam ihm eine Idee.
Es gab eine Methode.
Sie erforderte einen guten Schützen. Wale gaben großflächige Ziele ab Dennoch empfahl sich jemand, der wirklich schießen konnte.
Mit einem Mal war Anawak wie im Fieber. Er hastete zum Schreibtisch, loggte sich ins Internet ein und rief nacheinander verschiedene Adressen auf. Ihm war eine weitere Möglichkeit eingefallen, von der er gelesen hatte. Eine Weile kramte er in einer Schublade mit Zetteln, bis er die Internet-Adresse des Underwater Robotics amp; Application Laboratory Teams in Tokio gefunden hatte.
Nach kurzer Zeit wusste er, wie es funktionieren konnte. Sie mussten die beiden Wege koppeln. Der Krisenstab würde einen Haufen Geld in die Hand nehmen müssen, aber augenblicklich schien man davor nicht zurück zuschrecken, solange es der Klärung der Probleme diente. In seinem Schädel kreiste es. Gegen Morgen fand er endlich Schlaf. Sein letzter Gedanke galt der Barrier Queen und Roberts. Auch so eine Sache. Der Manager hatte ihn nicht zurückgerufen, trotz mehrfachen Nachfragens. Er hoffte, dass Inglewood wenigstens die Proben nach Nanaimo geschickt hatte.
Und was war überhaupt mit dem Bericht?
Er würde sich nicht damit zufrieden geben, ständig abgewimmelt zu werden. Was wollte er morgen alles tun? Ich werde wohl nochmal aufstehen und mir Notizen machen, dachte er. Dass ich als Erstes … In derselben Sekunde schlief er ein, zu Tode erschöpft.
20. April
Bernard Roche machte sich Vorwürfe, weil er sich mit der Untersuchung der Wasserproben zu viel Zeit gelassen hatte, aber er konnte es nicht ändern. Wie hatte er ahnen sollen, dass ein Hummer in der Lage war, einen Menschen zu töten? Oder möglicherweise mehrere?
Jean Jérôme, der Fischkoch des Troisgros in Roanne, war nicht mehr aus dem Koma erwacht, 24 Stunden, nachdem ihm ein verseuchter bretonischer Hummer um die Ohren geflogen war. Was genau seinen Tod herbeigeführt hatte, ließ sich immer noch nicht sagen. Fest stand, dass sein Immunsystem versagt hatte, offenbar als direkte Folge eines schweren toxischen Schocks. Ebenso wenig ließ sich beweisen, dass der Hummer daran schuld war, beziehungsweise das Zeug in seinem Innern, aber es sah ganz danach aus. Auch andere Mitglieder des Küchenpersonals waren erkrankt, am schwersten der Lehrling, der die merkwürdige Substanz berührt und konserviert hatte. Sie alle litten an Schwindelgefühl, Übelkeit und Kopfweh und klagten über Probleme mit der Konzentration. Das alleine wäre schlimm genug gewesen, zumal für das Troisgros, dessen Betrieb mittlerweile in einige Bedrängnis geriet. Was Roche jedoch viel mehr beunruhigte, war die Vielzahl ähnlicher Beschwerden, mit denen Leute aus Roanne ihren Arzt aufsuchten, seit Jérôme gestorben war. Ihre Symptome waren weniger stark ausgeprägt. Dennoch befürchtete Roche das Schlimmste, nachdem er herausgefunden hatte, was mit dem Wasser geschehen war, in dem Jérôme die Hummer zwischengelagert hatte.
Die Presse hielt den Vorfall klein, schon aus Rücksicht auf das Restaurant, aber natürlich wurde darüber berichtet, und auch von anderswoher drangen Gerüchte an Roches Ohr. Offenbar war das Troisgros bei weitem nicht allein betroffen. In Paris waren gleich mehrere Menschen gestorben, durch den Genuss verdorbenen Hummerfleischs, wie es hieß, aber Roche ahnte, dass dies nicht ganz den Tatsachen entsprach. Meldungen erreichten ihn aus Le Havre, Cherbourg, Caen, Rennes und Brest. Mittlerweile hatte er einen Assistenten darauf abgestellt, den Dingen hinterherzuforschen. Ein Bild begann sich abzuzeichnen, in dem bretonische Hummer eine unrühmliche Rolle spielten, sodass Roche schließlich alles andere beiseite schob und sich nur noch der Analyse der Wasserprobe widmete.
Wieder stieß er auf ungewöhnliche Verbindungen, die ihm Rätsel aufgaben. Es war dringend erforderlich, an weitere Proben zu gelangen, und er ließ Kontakte herstellen in die betroffenen Städte. Unglücklicherweise war bis dahin niemand auf die Idee gekommen, etwas von dem Zeug aufzubewahren. Es war auch nirgendwo ein Hummer explodiert wie in Roanne, allerdings war die Rede von ungenießbaren Tieren, deren Fleisch man weggeworfen habe, und anderen, die schon vor dem Kochen keinen guten Eindruck gemacht hätten, weil etwas aus ihnen hervorgequollen sei. Roche wünschte sich, jemand anderer wäre so klug gewesen wie der Lehrling, aber Fischer, Großmarkthändler und Küchenpersonal waren nun mal keine Laborarbeiter. So war er fürs Erste auf Spekulationen angewiesen. Ihm schien, dass im Körper des Hummers nicht nur ein Organismus, sondern gleich zwei gelauert haben mussten. Zum einen die Gallerte. Sie hatte sich zersetzt und war offenbar vollständig verschwunden.
Der andere Organismus hingegen lebte, trat in großer Dichte auf und kam Roche auf unheilvolle Weise bekannt vor.
Er starrte durch das Mikroskop.
Tausende transparente Kugeln wirbelten wie Tennisbälle kreuz und quer durcheinander. Falls seine Vermutung zutraf, befand sich in ihrem Innern ein zusammengerollter Pedunculus, eine Art Rüssel.
Hatten diese Lebewesen Jean Jérôme getötet?
Roche griff nach einer sterilisierten Glasnadel und stach sich rasch in die Daumenspitze. Ein kleiner Tropfen Blut trat aus. Vorsichtig injizierte er es in die Probe auf dem Objektträger und sah wieder durch die Linsen des Mikroskops. Bei 700-facher Vergrößerung wirkten Roches Blutkörperchen wie rubinrote Blütenblätter. Sie taumelten im Wasser, jedes angefüllt mit Hämoglobin. Sofort wurden die transparenten Kugeln aktiv. Sie stülpten ihre Rüssel aus und fielen blitzartig über die menschlichen Zellen her. Die Pedunkel stachen wie Kanülen hinein. Langsam färbten sich die unheimlichen Mikroben rötlich, während sie die Blutkörperchen aussaugten. Immer mehr von ihnen stürzten sich auf Roches Blut. War ein Blutkörperchen leer gesaugt, wechselten sie zum nächsten. Dabei schwollen sie an, exakt so, wie Roche es befürchtet hatte. Jedes der Wesen würde bis zu zehn Blutkörperchen in sich aufnehmen. In spätestens einer Dreiviertelstunde würden sie ihr Werk vollendet haben. Er sah weiterhin fasziniert zu und stellte fest, dass es sogar noch schneller ging, viel schneller, als er gedacht hatte.
Nach fünfzehn Minuten hatte der Spuk ein Ende.
Roche saß starr vor seinem Mikroskop. Dann notierte er: Vermutlich Pfiesteria piscicida.
Das ›vermutlich‹ stand für letzte Reste von Zweifel, obschon Roche sicher war, soeben den Erreger klassifiziert zu haben, der für die Krankheits— und Todesfälle verantwortlich war. Was ihn störte, war der Eindruck, es mit einer Monsterausgabe von Pfiesteria piscicida zu tun zu haben. Das barg den Superlativ im Superlativ, weil Pfiesteria vielen an sich schon als Monster galt. Ein Monster von eben mal einem hundertstel Millimeter Durchmesser. Eines der kleinsten Raubtiere der Welt. Und zugleich eines der gefährlichsten.
Pfiesteria piscicida war ein Vampir.
Er hatte viel darüber gelesen. Die erste Begegnung der Wissenschaft mit Pfiesteria lag gar nicht so lange zurück. Es hatte in den Achtzigern begonnen, mit dem Tod von 50 Laborfischen an der North Carolina State University. An der Qualität des Wasser, in dem sie geschwommen waren, gab es augenscheinlich nichts zu beanstanden, sah man von Wolken winziger Einzeller ab, die sich im Aquarium tummelten. Man wechselte das Wasser und setzte neue Fische aus. Sie überlebten keinen Tag. Irgendetwas mordete sie mit großer Effizienz dahin. Es tötete Goldfische, Streifenbarsche, afrikanische Tilapias, oft binnen Stunden, manchmal in Minuten. Jedes Mal beobachteten die Wissenschaftler, wie sich die Opfer in Zuckungen wanden, bevor sie qualvoll krepierten. Jedes Mal tauchten aus dem Nichts die rätselhaften Mikroben auf, und ebenso schnell verschwanden sie wieder.
Allmählich wurde das Bild klarer. Eine Botanikerin erkannte den unheimlichen Organismus als Geißeltierchen einer bislang unbekannten Spezies. Ein Dinoflagellat, eine Alge. Davon gab es viele. Die meisten waren harmlos, aber einige hatten sich schon lange als regelrechte Giftschleudern geoutet. Sie verseuchten ganze Muschelfarmen. Andere Dinoflagellaten lösten die weit gefährlicheren ›Roten Tiden‹ aus, die das Meer blutrot oder braun färbten. Auch von ihnen wusste man, dass sie Schalentiere befielen. Dennoch nahmen sich solche Vertreter harmlos aus gegen den neu entdeckten Organismus.
Denn Pfiesteria piscicida unterschied sich von ihren Artgenossen. Sie griff aktiv an. In gewisser Weise erinnerte sie an Zecken. Nicht der Form halber, sondern weil sie sich durch ebensolche Geduld auswies. Scheinbar leblos lauerte sie auf dem Grund von Gewässern. Jeden einzelnen Organismus umgab eine Kapsel, eine Art Zyste, die ihn schützte. Auf diese Weise konnte Pfiesteria jahrelang ohne Nahrung ausharren. Bis ein Schwarm Fische vorbeizog, deren Ausscheidungen zu Boden sanken und den Appetit des scheintoten Einzellers weckten.
Was nun geschah, ließ sich nur als Blitzangriff beschreiben. Zu Milliarden lösten sich die Algen aus ihren Zysten und stiegen empor. Die beiden Geißeln am Körperende dienten dabei als Antriebssystem. Die eine rotierte wie ein Propeller, die andere steuerte den Organismus in die gewünschte Richtung. Heftete sich Pfiesteria an den Körper eines Fisches, setzte sie ein Gift frei, das die Nerven lähmte und zugleich münzgroße Löcher in die Haut fraß. Dann schob sie ihren Saugrüssel in die Wunden und nahm die Körpersäfte der sterbenden Beute in sich auf. War sie gesättigt, ließ sie von ihrem Opfer ab und verzog sich wieder auf den Grund, um sich erneut einzukapseln.
An sich galten toxische Algen als normales Phänomen. Etwa so wie Pilze im Wald. Man wusste seit langem um die Giftstoffe mancher Algen, genau genommen seit biblischen Zeiten. Im Zweiten Buch Mose wurde ein Phänomen beschrieben, das mit verblüffender Genauigkeit auf eine ›Rote Tide‹ zu passen schien: Und alles Wasser wurde in Blut verwandelt. Die Fische starben, und der Strom stank, sodass die Ägypter das Wasser aus dem Nil nicht trinken konnten. Es war also nichts Besonderes, wenn Einzeller Fische mordeten. Nur wie und mit welcher Brutalität es geschah, war neu. Es schien, als habe eine Krankheit von den Gewässern der Welt Besitz ergriffen, deren spektakulärstes Symptom vorerst den Namen Pfiesteria piscicida trug. Giftattacken auf Meerestiere, neuartige Korallenkrankheiten, infizierte Seegraswiesen, all das spiegelte den Zustand wider, in den die Weltmeere insgesamt geraten waren — geschwächt durch Ströme von Schadstoffen, Überfischung, die rücksichtslose Erschließung der Küsten und die Folgen der globalen Klimaerwärmung. Man stritt, ob Invasionen von Killeralgen etwas Neues oder periodisch Auftretendes waren — fest stand, dass sie den Globus auf nie dagewesene Art vereinnahmten und dass sich die Natur als ausgesprochen kreativ erwies, was das Hervorbringen neuer Spezies anging. Während die Europäer noch frohlockten, in ihren Breiten trete Pfiesteria nicht auf, starben vor Norwegen tausende von Fischen, und die norwegischen Lachszüchter gerieten an den Rand des Ruins. Diesmal hieß der Mörder Chrysochromulina polylepis, eine Art eifriger kleiner Bruder von Pfiesteria, und niemand wagte vorherzusagen, womit man es noch zu tun bekommen würde.
Nun hatte Pfiesteria piscicida also bretonische Hummer befallen.
Aber war es wirklich Pfiesteria piscicida?
Zweifel nagten an Roche. Das Verhalten der Einzeller sprach dafür, wenngleich sie ihm weit aggressiver erschienen als in bisherigen Dokumentationen beschrieben. Vor allem aber fragte er sich, wie der Hummer überhaupt so lange hatte überleben können. Stammten die Algen aus seinem Innern? Zusammen mit der Substanz? Die gallertige Masse, die an der Luft zerfiel, schien jedenfalls etwas völlig anderes zu sein als diese Algen, etwas definitiv Unbekanntes. Entstammte überhaupt beides dem Innern des Hummers? Aber was war dann mit dem Hummerfleisch geschehen?
War das überhaupt ein Hummer gewesen?
Roche verfiel in tiefe Ratlosigkeit. Nur eines wusste er mit absoluter Sicherheit. Was immer es gewesen war — Teile davon befanden sich jetzt im Trinkwasser von Roanne.
22. April
Auf See enthielt die Welt nichts als Wasser und einen mehr oder weniger klar abgegrenzten Himmel. Es gab keine Bezugspunkte, sodass einen die Unendlichkeit an schönen Tagen förmlich in den Weltraum zu saugen schien, während man bei Regen mitunter nicht wusste, ob man sich noch an der Wasseroberfläche oder schon halb darunter befand. Selbst hartgesottene Seeleute empfanden eintönig niederfallenden Regen als deprimierend. Der Horizont verwischte, das Schwarz der Wellen verlief im Grau konturloser Wolkenmassen und hinterließ die bedrückende Vorstellung eines Universums ohne Licht, Gestalt und Hoffnung.
Die Nordsee und das norwegische Meer boten dem Auge immerhin auf weiter Strecke Anhaltspunkte in Gestalt von Bohrtürmen. Draußen am Kontinentalhang, über dem das Forschungsschiff Sonne nun seit zwei Tagen kreuzte, waren die meisten Plattformen allerdings zu weit entfernt, um mit bloßem Auge wahrgenommen zu werden. Selbst die wenigen Türme in Sichtweite verschwanden heute im feinen Sprühregen. Alles war pitschnass. Klamme Kälte zog unter die wasserdichten Jacken und Overalls der Wissenschaftler und des Schiffspersonals. Anständiger, ehrlicher Regen aus dicken, klatschenden Tropfen wäre allen lieber gewesen als die nieselige Brühe. Nicht nur aus den Himmeln schien das Wasser zu kommen, sondern zugleich aus der See nach oben zu steigen. Es war einer der schäbigsten Tage, an die Johanson sich erinnern konnte. Er zog die Kapuze über die Stirn und ging ins Heck, wo das technische Personal mit dem Einholen der Multisonde befasst war. Auf halbem Weg gesellte sich Bohrmann an seine Seite.
»Träumen Sie nicht allmählich von Würmern?«, fragte Johanson.
»Es geht noch«, erwiderte der Geologe. »Und Sie?«
»Ich flüchte mich in die Vorstellung, in einem Film mitzuspielen.«
»Gute Idee. Welcher Regisseur?«
»Wie wär’s mit Hitchcock?«
»Die Vögel in der Version für Tiefseegeologen?« Bohrmann grinste säuerlich. »Schöne Vorstellung — ah, es ist so weit!«
Er ließ Johanson stehen und ging rasch weiter ins Heck. Am Kran hängend tauchte ein großes, kreisrundes Gestänge auf, dessen obere Hälfte mit Kunststoffröhren bestückt war. Sie enthielten Wasserproben aus verschiedenen Meerestiefen. Johanson sah eine Weile zu, wie die Multisonde eingeholt und der Probensatz entnommen wurde, dann betraten Stone, Hvistendahl und Lund das Deck. Stone eilte auf ihn zu.
»Was sagt Bohrmann?«, fragte er.
»Houston, wir haben ein Problem.« Johanson zuckte die Achseln. »Viel sagt er nicht.«
Stone nickte. Seine Aggressivität hatte tiefer Niedergeschlagenheit Platz gemacht. Im Verlauf der Messungen war die Sonne dem südwestlichen Verlauf des Kontinentalhangs bis oberhalb Schottlands gefolgt, während der Videoschlitten Bilder aus der Tiefe sandte. Der Schlitten, ein klobiges Gestell, das aussah wie ein Stahlregal voll unordentlich hineingestopfter Apparaturen, verfügte über diverse Messinstrumente, starke Scheinwerfer und ein elektronisches Auge, das den Meeresboden filmte und die Eindrücke per Lichtwellenkabel ins Monitorlabor schickte, während er hinter dem Schiff hergezogen wurde.
An Bord der Thorvaldson lieferte der modernere Victor das Bildmaterial. Das norwegische Forschungsschiff folgte dem Hangverlauf in nordöstliche Richtung und analysierte das Wasser der norwegischen See bis hinauf nach Tromsø. Beide Schiffe hatten ihre Fahrt vom Standort der geplanten Fabrik aus begonnen. Mittlerweile hielten sie wieder aufeinander zu. Mit ihrem Rendezvous in zwei Tagen würden sie zu dem den kompletten Hang des norwegischen Sockels und der Nordsee neu vermessen haben. Bohrmann und Skaugen hatten vorgeschlagen, die Region so anzugehen, als habe man es mit unerforschtem Gebiet zu tun, und das war es seit kurzem auch. Nichts erschien mehr in vertrautem Licht, seit Bohrmann die ersten Messwerte präsentiert hatte.
Das war am Vortag gewesen, am frühen Morgen, noch ehe die ersten Bilder vom Videoschlitten auf dem Monitor erschienen waren. Sie hatten in der feuchtkalten Dämmerung die Multisonde hinuntergelassen, und Johanson hatte versucht, das Fahrstuhlgefühl zu ignorieren, wenn die Sonne in den Wogen plötzlich wegsackte. Die ersten Wasserproben waren umgehend ins Seismiklabor gewandert und dort analysiert worden. Wenig später hatte Bohrmann das Team in den Konferenzraum aufs Hauptdeck gebeten, wo sie sich um den polierten Holztisch scharten, nun nicht mehr augenreibend und gähnend, sondern stumm vor Neugierde, Becher mit Kaffee umklammernd, dessen Wärme sich langsam in den Fingern auszubreiten begann.
Bohrmann hatte geduldig gewartet, bis alle versammelt waren. Seine Augen waren auf ein Blatt Papier gerichtet.
»Ich kann mit einem ersten Resultat aufwarten«, sagte er. »Es ist nicht repräsentativ, nur eine Momentaufnahme.« Er schaute auf. Sein Blick blieb eine Sekunde an Johanson hängen und wanderte weiter zu Hvistendahl. »Ist jeder mit dem Begriff Methanfahne vertraut?«
Ein junger Mann aus Hvistendahls Stab schüttelte unsicher den Kopf.
»Methanfahnen entstehen, wenn Gas aus dem Meeresboden austritt« erläuterte Bohrmann. »Es vermischt sich mit Wasser, treibt in der Strömung und steigt auf. Im Allgemeinen messen wir solche Fahnen dort, wo eine Erdplatte sich unter die andere schiebt, sodass der Druck das Sediment zusammenquetscht und aufwirft. Als Folge quellen dort Fluide und Gase hervor. Ein weitgehend bekanntes Phänomen.« Er räusperte sich. »Aber sehen Sie, im Unterschied zum Pazifik gibt es solche Bereiche hohen Drucks nicht im Atlantik, also auch nicht vor Norwegen. Die Kontinentalränder sind weitgehend passiv. Dennoch haben wir heute Morgen in diesem Gebiet eine hoch konzentrierte Methanfahne gemessen. In früheren Messungen taucht sie nicht auf.«
»Wie hoch ist die Konzentration jetzt?«, fragte Stone.
»Bedenklich. Wir haben ähnliche Werte vor Oregon gemessen. In einem Gebiet mit äußerst starken Verwerfungen.«
»Schön.« Stone versuchte, die Falten auf seiner Stirn zu glätten. »Meines Wissens tritt vor Norwegen permanent Methan aus. Wir kennen das von früheren Projekten. Es ist bekannt, dass der Meeresboden immer irgendwo Gase durchlässt, und es ist jedes Mal erklärbar, also wozu machen wir die Pferde scheu?«
»Ihre Darstellung trifft nicht ganz den Kern der Sache.«
»Hören Sie«, seufzte Stone. »Alles, was mich interessiert, ist, ob Ihre Messungen wirklich Anlass zur Besorgnis geben. Bislang kann ich das nicht erkennen. Wir verschwenden unsere Zeit.«
Bohrmann lächelte verbindlich. »Dr. Stone, in diesem Gebiet, insbesondere nördlich von hier, sind ganze Stockwerke des Kontinentalhangs mit Methanhydraten regelrecht zementiert. Jede dieser Hydratschichten ist sechzig bis einhundert Meter dick, das sind gewaltige Deckel aus Eis. Aber wir wissen auch, dass diese Schichten stellenweise von senkrechten Zonen durchbrochen werden. Dort tritt seit Jahren Gas aus, das unseren Stabilitätsberechnungen zufolge eigentlich nicht austreten dürfte. Legt man Druck und Temperatur zugrunde, müsste es am Boden gefrieren, aber das tut es nicht. Da haben Sie Ihre Gasaustritte. Es lässt sich mit ihnen leben, man kann sogar entscheiden, sie zu ignorieren. Aber wir sollten uns nicht in Sicherheit wiegen, bloß weil wir ein paar Diagramme und Kurven entwickelt haben. Ich sage noch einmal, die Konzentration freien Methans in der Wassersäule ist unverhältnismäßig hoch.«
»Sind es denn wirklich Gasaustritte?«, fragte Lund. »Ich meine, steigt Methan aus dem Erdinnern nach oben, oder stammt das Gas vielleicht von …«
»Schmelzenden Hydraten?« Bohrmann zögerte. »Das ist die entscheidende Frage. Wenn sich Hydrat zu zersetzen beginnt, müsste sich an den lokalen Parametern etwas geändert haben.«
»Und Sie glauben, das ist hier der Fall?«, fragte Lund.
»Es gibt eigentlich nur zwei Parameter. Druck und Temperatur. Wir haben aber weder eine Erwärmung des Wassers gemessen, noch ist der Meeresspiegel gesunken.«
»Das sage ich doch«, rief Stone. »Wir suchen Antworten auf Fragen, die kein Mensch gestellt hat. Ich meine, wir haben eine Probenentnahme.« Er sah sich nach Zustimmung heischend um. »Eine einzige verdammte Probe!«
Bohrmann nickte. »Sie haben vollkommen Recht, Dr. Stone. Alles ist spekulativ. Aber um die Wahrheit herauszufinden, sind wir hier.«
»Stone geht mir auf die Nerven«, hatte Johanson zu Lund gesagt, als sie kurz darauf in die Messe gegangen waren. »Was hat er eigentlich? Er scheint diese Tests regelrecht verhindern zu wollen? Dabei leitet er das Projekt.«
»Wir können ihn ja über Bord werfen.«
»Es reicht schon, was wir sonst ins Meer kippen.«
Sie holten sich frischen Kaffee und verzogen sich damit auf Deck. »Und was hältst du von diesem Resultat?«, fragte Lund zwischen zwei Schlucken.
»Es ist kein Resultat. Es ist ein Zwischenwert.«
»Na schön. Was hältst du von dem Zwischenwert?«
»Ich weiß es nicht.«
»Komm schon.«
»Bohrmann ist der Experte.«
»Glaubst du wirklich, es hat was mit diesen Würmern zu tun?«
Johanson dachte an sein zurückliegendes Gespräch mit Olsen.
»Ich glaube erst mal gar nichts«, sagte er vorsichtig. »Es wäre absolut verfrüht, etwas zu glauben.« Er blies in seinen Kaffee und legte den Kopf in den Nacken. Über ihnen spannte sich ein trüber Himmel. »Ich weiß nur eines: dass ich jetzt lieber zu Hause säße als auf diesem Schiff.«
Das war am Vortag gewesen.
Während die letzten Wasserproben analysiert wurden, verzog sich Johanson in den Funkraum hinter der Brücke. Über Satellit konnte er vom Schiff aus mit aller Welt Kontakt aufnehmen. In den vergangenen Tagen hatte er begonnen, eine Datenbank aufzubauen, E-Mails an Institute und Wissenschaftler zu verschicken und das Ganze als persönliches Interesse zu tarnen. Die ersten Antworten fielen enttäuschend aus. Niemand hatte den neuen Wurm beobachtet. Vor wenigen Stunden hatte er außerdem Kontakt zu Expeditionen aufgenommen, die gerade auf See waren. Er zog einen Stuhl heran, platzierte den Laptop zwischen den Funkgeräten und öffnete den E-Mail-Speicher. Auch diesmal war die Ausbeute mager. Die einzig interessante Nachricht stammte von Olsen, der ihm mitteilte, dass die Qualleninvasionen vor Südamerika und Australien offenbar außer Kontrolle geraten waren.
Weiß nicht, ob ihr da draußen Nachrichten hört, schrieb Olsen. Aber gestern Nacht brachten sie einen Sonderbericht. Die Quallen ziehen in riesigen Schwärmen die Küsten entlang. Es sieht so aus, sagt der Nachrichtenonkel, als steuerten sie gezielt von Menschen besiedelte Gegenden an. Natürlich völliger Blödsinn. Ach ja, und es hat wieder gekracht. Zwei Containerfrachter vor Japan. Außerdem verschwinden weiterhin Boote, aber diesmal wurden Notrufe aufgezeichnet. Die komischen Geschichten ans British Columbia geistern nach wie vor durch die Presse, ohne dass man was Konkretes erfährt. Würde man glauben, was da kolportiert wird, jagen in Kanada die Wale zur Abwechslung Menschen. Aber gottlob muss man ja nicht alles glauben. So weit das kleine Gute-Laune-Programm aus Trondheim. Ersauf mir nicht.
»Danke«, knurrte Johanson übellaunig.
Sie hörten tatsächlich zu selten Nachrichten. Forschungsschiffe waren wie Löcher in Zeit und Raum. Offiziell hörte man keine Nachrichten, weil man zu viel zu tun hatte. Tatsächlich wollte man einfach in Ruhe gelassen werden von Städten, Politikern und Kriegen, sobald die wellen unter den Kiel schlugen. Bis man nach ein bis zwei Monaten auf See plötzlich zu verblassen schien und einen die Sehnsucht nach der eigenen Bedeutung überkam, nach dem festen Platz im Gefüge, das dem Menschen eben nur die Zivilisation liefern kann, nach Hierarchien, Hightech, Kinos und McDonald’s und nach einem Boden, der nicht ständig auf und nieder schwankte.
Johanson stellte fest, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er, was sie nun seit zwei Tagen pausenlos auf den Monitoren sahen.
Würmer.
Mittlerweile hatten sie Gewissheit: Der Kontinentalhang wimmelte von ihnen. Die Flächen und Adern aus gefrorenem Methan waren verschwunden unter Millionen zuckender rosa Leiber, die versuchten, sich ins Eis zu bohren, eine einzige, wahnsinnig gewordene Masse. Das war kein lokales Phänomen mehr. Sie wurden Zeuge einer flächendeckenden Invasion, und sie vollzog sich entlang der gesamten norwegischen Küste.
Delaware hatte Recht gehabt. Das Video war eine Spur.
Anawaks Wut auf die Studentin war ziemlich rasch verflogen. Sie mochte eine vorlaute Klappe haben und schneller reden, als sie dachte, aber hinter der forschen Art erkannte er einen hochintelligenten, analytischen Verstand. Außerdem hatte sie Zeit. Ihre Eltern lebten in den British Properties, Vancouvers elitärem Wohnviertel für die Reichen. Sie boten Alicia ein Leben im Überfluss, ohne sich je blicken zu lassen. Anawak schätzte, dass sie den eklatanten Mangel an Interesse und gemeinsam verbrachter Zeit mit Geld ausglichen, was ihre Tochter nicht sonderlich zu bekümmern schien — versetzte es sie doch in die Lage, einen Haufen davon auszugeben und ansonsten eigene Wege zu gehen. Im Grunde hätte es besser nicht kommen können. Delaware sah die unverhoffte Zusammenarbeit als Chance, ihr Biologiestudium mit Praxis zu unterfüttern, und Anawak brauchte eine Assistentin, nachdem Susan Stringer tot war.
Stringer …
Jedes Mal, wenn er an die Skipperin dachte, überkamen ihn Scham und Schuldgefühle, weil er sie nicht hatte retten können. Regelmäßig sagte er sich, dass nichts und niemand auf der Welt Stringer hätte retten können, nachdem der Orca sie gepackt hatte. Ebenso regelmäßig stellten sich nagende Zweifel ein. Was wusste er, der Elaborate und Traktate über das Selbstbewusstsein von Tümmlern veröffentlicht hatte, denn wirklich über die Gedankengänge eines Wals? Wie überzeugte man einen Orca, von seinem Opfer abzulassen? Welchen Argumenten war ein intelligenter Verstand zugänglich, der anders funktionierte als der menschliche?
Hätte es doch einen Weg gegeben?
Dann wieder sagte er sich, dass Orcas Tiere waren. Hochintelligent zwar, aber Tiere. Und Beute war Beute.
Andererseits gehörten Menschen eindeutig nicht ins Beuteschema von Schwertwalen. Hatten die Orcas die im Wasser treibenden Passagiere also überhaupt gefressen?
Oder einfach nur getötet?
Ermordet.
Konnte man einen Orca des Mordes bezichtigen?
Anawak seufzte. Er drehte sich im Kreis. Seine Augen brannten mit jeder Minute schlimmer. Lustlos griff er nach einer weiteren CD mit digitalen Bilddaten, drehte sie unentschlossen hin und her und legte sie wieder weg. Seine Konzentration war am Ende. Den ganzen Tag hatte er im Aquarium verbracht. Ständig hatte er sich mit irgendjemandem besprochen oder in der Gegend herumtelefoniert, ohne dass sich Fortschritte einstellen wollten. Er fühlte sich ausgelaugt und leer. Müde schaltete er den Bildschirm aus und sah auf die Uhr. Sieben durch. Er stand auf und ging John Ford suchen. Der Direktor war in einer Besprechung, also schaute er bei Delaware vorbei. Sie saß in einem umfunktionierten Besprechungsraum über Fernschreiberdaten.
»Lust auf ein saftiges Pottwalsteak?«, fragte er säuerlich.
Sie schaute auf und zwinkerte. Die blaue Brille hatte sie mit Kontaktlinsen vertauscht, die ebenfalls verdächtig blau wirkten. Wenn man versuchte, die Hasenzähne zu ignorieren, sah sie richtig gut aus.
»Klar. Wohin?«
»Es gibt einen ganz manierlichen Imbiss um die Ecke.«
»Quatsch, Imbiss!«, rief sie vergnügt. »Ich lad dich ein.«
»Das ist nicht nötig.«
»Ins Cardero’s.«
»Ach du meine Güte.«
»Es ist gut !«
»Ich weiß, dass es gut ist. Aber erstens musst du mich nicht einladen, und zweitens finde ich Cardero’s … na ja, wie soll ich sagen …«
»Ich find’s klasse!«
Cardero’s Restaurant und Bar lagen inmitten des Yachthafens Coal Harbour, groß und luftig, mit hohen Decken und Fenstern. Ein ziemlich angesagter Ort. Man genoss einen herrlichen Blick auf die Umgebung und bekam ordentliche West-Coast-Küche vorgesetzt. In der angrenzenden Bar flossen reichlich Drinks, die von jungen Menschen in gut sitzender Garderobe hinuntergespült wurden. Anawak wusste, dass er mit seinen ausgefransten Jeans und dem verschossenen Pullover denkbar unpassend gekleidet war, und außerdem fühlte er sich in angesagten Lokalen unbehaglich und fehl am Platze. Delaware hingegen war für Cardero’s, wie er zugeben musste, nachgerade prädestiniert.
Also Cardero’s.
Sie fuhren in seinem alten Ford zum Hafen und hatten Glück. Cardero’s machte im Allgemeinen eine frühzeitige Reservierung erforderlich, aber in einer Ecke war ein Tisch ungebucht geblieben, etwas abseits und damit nach Anawaks Geschmack. Sie nahmen die Spezialität des Hauses, auf Zedernholz gegrillten Lachs mit Soja, braunem Zucker und Limonen.
»Okay«, sagte Anawak, nachdem die Bedienung gegangen war. »Was haben wir?«
»Nichts außer Hunger, soweit es mich betrifft.« Delaware zuckte die Achseln. »Ich bin kein bisschen schlauer als zuvor.«
Anawak massierte sein Kinn. »Vielleicht hab ich ja was herausgefunden. Das Video dieser Frau hat mich darauf gebracht.«
»Mein Video.«
»Schon klar«, sagte er spöttisch. »Wir verdanken dir alles.«
»Ihr verdankt mir zumindest eine Idee. Was hast du denn herausgefunden?«
»Es hängt mit den identifizierten Walen zusammen. Mir ist aufgefallen, dass ausschließlich Transient Orcas an den Attacken beteiligt waren. Kein einziger Resident.«
»Hm.« Sie krauste die Nase. »Stimmt. Von den Residents hat man eigentlich überhaupt nichts Schlechtes gehört.«
»Eben. In der Johnstone Strait gab es keine Angriffe.
Und da waren Kajaks unterwegs.«
»Also geht die Gefahr von wandernden Tieren aus.«
»Transients und möglicherweise Offshore Orcas. Die identifizierten Buckelwale und der Grauwal sind ebenfalls Wanderer. Alle drei haben den Winter in der Baja California verbracht, das ist sogar dokumentiert. Wir haben die Bilder ihrer Fluken nach Seattle ins Meeresbiologische Institut gemailt. Sie bestätigen, dass die Tiere mehrfach in den letzten Jahren dort gesichtet wurden.«
Delaware sah ihn irritiert an.
»Dass Grau— und Buckelwale wandern, ist aber doch nichts Neues.«
»Nicht alle.«
»Oh. Ich dachte …«
»An dem Tag, als wir nochmal rausfuhren, Shoemaker, Greywolf und ich, ist was Komisches passiert. Ich hatte es fast schon wieder vergessen. Wir mussten die Leute von der Lady Wexham runterkriegen. Das Schiff sank, und außerdem wurden wir von einer Gruppe Grauwale angegriffen. Ich bin sicher, dass wir definitiv keine Chance mehr hatten, selber mit heiler Haut davonzukommen, geschweige denn jemanden zu retten. — Aber dann tauchten plötzlich zwei Grauwale neben uns auf, die uns nichts taten. Sie lagen einfach nur eine Weile im Wasser, und die anderen zogen sich zurück.«
»Und das waren Residents?«
»Etwa ein Dutzend Grauwale sind immer vor der Westküste, das ganze Jahr hindurch. Sie sind zu alt, um noch die strapaziösen Wanderungen anzutreten. Wenn die Herden aus dem Süden eintreffen, werden die Alten wieder aufgenommen, mit Begrüßungsritual und allem Drum und Dran. Einen dieser Residents habe ich erkannt, und er hegte eindeutig keine feindlichen Absichten gegen uns. Im Gegenteil. Ich glaube, wir verdanken den beiden unser Leben.«
»Ich bin sprachlos! Die haben euch beschützt!«
»Tz, tz, Licia.« Anawak hob die Brauen. »So viel Vermenschlichung aus deinem Munde?«
»Seit drei Tagen glaube ich fast alles.«
»Beschützt erscheint mir zu dick aufgetragen. Aber ich denke, sie haben die anderen fern gehalten. Sie mochten die Angreifer nicht. Man könnte mit einiger Vorsicht schlussfolgern, dass nur wandernde Tiere betroffen sind. Residents — gleich welcher Art — verhalten sich friedlich. Sie scheinen zu erkennen, dass die anderen nicht mehr ganz richtig im Kopf sind.«
Delaware kratzte mit grüblerischem Gesichtsausdruck ihre Nase. »Würde passen. Ich meine, eine große Anzahl von Tieren verschwindet auf dem Weg von Kalifornien hierher. Auf offener See. Die aggressiven Orcas leben ebenfalls im offenen Pazifik.«
»Eben. Was immer sie verändert hat, wird genau dort zu finden sein. Im tiefen blauen Meer. Weit draußen.«
»Aber was?«
»Das finden wir schon raus«, sagte John Ford. Er war unvermittelt neben ihnen aufgetaucht, zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Und zwar, bevor mich diese Regierungstypen mit ihren ständigen Anrufen in den Wahnsinn treiben.«
»Mir ist noch was eingefallen«, sagte Delaware beim Nachtisch. »Die Orcas mögen ja ihren Spaß an der Sache haben, aber die Großwale ganz sicher nicht.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Anawak.
»Na ja«, sagte sie mit Backen voller Mousse au Chocolat. »Stell dir vor, du rennst ständig irgendwo gegen, um es umzuwerfen. Oder lässt dich auf was drauffallen, was Ecken und Kanten hat. Wie groß ist die Gefahr, dass du dich selber verletzt?«
»Sie hat Recht«, sagte Ford. »Die Tiere könnten sich verletzt haben. Und kein Tier verletzt sich selber, wenn es nicht der Arterhaltung oder dem Schutz des Nachwuchses dient.« Er nahm seine Brille ab und putzte sie umständlich. »Sollen wir mal ein bisschen rumspinnen?
Was wäre denn, wenn die ganze Aktion ein Protest ist?«
»Wogegen?«
»Walfang.«
»Walproteste gegen Walfang?«, rief Delaware ungläubig.
»Früher sind Walfänger hin und wieder angegriffen worden«, sagte Ford. »Speziell, wenn sie auf die Kälber aus waren.«
Anawak schüttelte den Kopf. »Das glaubst du selber nicht.«
»War ‘n Versuch.«
»Kein guter. Bis heute ist nicht erwiesen, ob Wale überhaupt begreifen, was Walfang ist.«
»Du meinst, sie erkennen nicht, dass sie gejagt werden?«, fragte Delaware. »Das ist dummes Zeug.«
Anawak verdrehte die Augen.
»Sie erkennen nicht unbedingt eine Systematik darin. Grindwale stranden immer wieder in denselben Buchten. Auf den Färöern treiben Fischer ganze Herden von ihnen zusammen und hauen wahllos mit Eisenstangen auf sie ein. Regelrechte Massaker. Oder schau nach Japan, nach Futo, wo sie Tümmler und Schweinswale abschlachten. Die Tiere wissen seit Generationen, was sie erwartet. Warum kommen die trotzdem immer wieder zurück?«
»Das ist sicher kein Zeichen sonderlicher Intelligenz«, sagte Ford. »Andererseits werden jährlich wider besseres Wissen Treibgase versprüht und Regenwälder abgeholzt. Ebenso wenig ein Zeichen besonderer Intelligenz, findet ihr nicht auch?«
Delaware runzelte die Stirn und kratzte den Rest Mousse au Chocolat aus ihrem Teller.
»Stimmt schon«, sagte Anawak nach einer Weile.
»Was?«
»Licias Hinweis, dass sich die Tiere verletzt haben könnten, als sie auf die Boote sprangen oder dagegen. — Ich meine, wenn du plötzlich auf die Idee kommst, Leute abzuknallen, was tust du? Du setzt dich irgendwo hübsch hin, wo du einen guten Überblick hast, legst an und feuerst. Aber du wirst aufpassen, dass du dir nicht selber dabei in den Fuß ballerst.«
»Es sei denn, du bist beeinflusst.«
»Hypnotisiert.«
»Oder krank. Verwirrt. Sag ich doch. Sie sind verwirrt.«
»Vielleicht Gehirnwäsche?«
»Nun hört mal auf zu spinnen.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Jeder am Tisch hing seinen Gedanken nach, während der Lärmpegel im Cardero’s anstieg. Gesprächsfetzen von Nebentischen drangen herüber. Die Geschehnisse beherrschten die Presse und das öffentliche Leben. Jemand stellte lautstark einen Zusammenhang her zwischen den Vorfällen entlang der Küste und Havarien in asiatischen Gewässern. Vor Japan und in der Malakkastraße war es in rascher Folge zu einigen der schwersten Schiffskatastrophen der letzten Jahrzehnte gekommen. Man fachsimpelte und tauschte Theorien aus, ohne dass es den Anschein hatte, als ließen sich die Gäste von alldem sonderlich den Appetit verderben.
»Und wenn es doch an den Giften liegt?«, meinte Anawak schließlich. »PCB, der ganze Mist. Wenn irgendwas die Tiere rasend macht?«
»Allenfalls rasend vor Wut«, frotzelte Ford. »Ich sage ja, sie protestieren. Weil die Isländer Fangquoten beantragen, die Japaner ihnen zu Leibe rücken, die Norweger sich einen Scheiß um die IWC kümmern. — Weil selbst die Makah sie wieder jagen wollen. Hey! Das ist es!« Er grinste. »Vermutlich haben sie’s in der Zeitung gelesen.«
»Für den Leiter des Wissenschaftlichen Beirats bist du irgendwie nicht richtig bei der Sache«, meinte Anawak.
»Ganz abgesehen von deinem Ruf als seriöser Wissenschaftler.«
»Makah?«, echote Delaware.
»Ein Stamm der Nuu-Chah-Nulth«, sagte Ford.
»Indianer im Westen Vancouver Islands. Sie versuchen seit Jahren schon juristisch durchzusetzen, dass sie den Walfang wieder aufnehmen dürfen.«
»Was? Wo leben die? Sind die wahnsinnig?«
»Der Herr erhalte dir deine zivilisierte Empörung, aber die Makah haben das letzte Mal 1928 Wale gejagt«, gähnte Anawak. Er konnte seine Augen kaum noch offen halten. »Sie waren es nicht, die Grauwale, Blauwale, Buckelwale und so weiter an den Rand des Aussterbens gebracht haben. Den Makah geht es um die Tradition und die Erhaltung ihrer Kultur. Sie argumentieren damit, dass kaum noch ein Makah den traditionellen Walfang beherrscht.«
»Na und? Wer essen will, soll in den Supermarkt gehen.«
»Bring Leons edle Fürsprache nicht durcheinander«, sagte Ford und schüttete sich Wein nach.
Delaware starrte Anawak an. Etwas in ihren Augen veränderte sich.
Bitte nicht, dachte er.
Dass er wie ein Indianer aussah, war offenkundig, aber nun begann sie die falschen Schlüsse zu ziehen. Er konnte die Frage förmlich heranrauschen hören. Er würde sich erklären müssen. Nichts hasste er mehr als den Gedanken daran. Er hasste ihn und wünschte, Ford hätte niemals von den Makah angefangen.
Schnell wechselte er einen Blick mit dem Direktor.
Ford verstand.
»Reden wir ein andermal darüber«, schlug er vor. Und bevor Delaware etwas erwidern konnte, sagte er: »Die Vergiftungstheorie sollten wir mit Oliviera, Fenwick oder Rod Palm besprechen, aber offen gesagt, ich glaube nicht dran. Die Belastung entsteht durch auslaufendes Öl und die Verklappung von Chlorkohlenwasserstoffen. Du weißt ebenso gut wie ich, wozu das führt. Schwächung des Immunsystems, Infektionen, vorzeitiger Tod. Nicht zum Wahnsinn.«
»Hat nicht irgendein Wissenschaftler ausgerechnet, dass die Orcas vor der Westküste in 30 Jahren ausgestorben sein werden?«, brachte sich Delaware wieder ins Gespräch.
Anawak nickte düster.
»In 30 bis 120 Jahren. Wenn es so weitergeht. Übrigens nicht allein wegen der Vergiftungen. Die Orcas verlieren ihre Nahrungsquelle, den Lachs. Wenn sie nicht am Gift zugrunde gehen, wandern sie aus. Sie müssen ihre Nahrung in Gebieten suchen, die sie nicht kennen, verfangen sich in Fischereigeschirr … Es kommt alles zusammen.«
»Vergiss die Vergiftungstheorie«, meinte Ford. »Wenn es nur die Orcas wären, könnten wir darüber reden. Aber Orcas und Buckelwale in strategischer Eintracht … Ich weiß nicht, Leon.«
Anawak dachte nach.
»Ihr kennt meine Einstellung«, sagte er leise. »Ich bin weit davon entfernt, Tieren Absichten zu unterstellen oder ihre Intelligenz zu überschätzen, aber … habt ihr nicht auch mitunter das Gefühl, dass sie uns loswerden wollen?«
Sie sahen ihn an. Er hatte erwartet, auf heftige Widerrede zu stoßen. Stattdessen nickte Delaware.
»Ja. Bis auf die Residents.«
»Bis auf die Residents. Weil sie nicht dort gewesen sind, wo die anderen waren. Wo etwas mit den anderen passiert ist. Die Wale, die den Schlepper versenkt haben … Ich sag’s euch! Die Antwort liegt draußen.«
»Mein Gott, Leon.« Ford lehnte sich zurück und ließ einen großzügigen Schluck Wein die Kehle heruntergurgeln. »In welchem Film sind wir denn jetzt gelandet? Gehet hin und bekämpfet die Menschheit?«
Anawak schwieg.
Auf Dauer brachte sie das Video der Frau nicht weiter.
Als er spätabends im Bett seines kleinen Apartments in Vancouver lag, ohne Schlaf zu finden, reifte in Anawak der Gedanke, einen der veränderten Wale selber zu präparieren. Was immer die Tiere übernommen hatte, es beherrschte sie nach wie vor. Mit Kamera und Sender versehen, würde eines davon vielleicht die dringend erforderlichen Antworten liefern.
Die Frage war, wie sie etwas an einem wild gewordenen Buckelwal befestigen sollten, wenn schon die friedlichen kaum stillhielten?
Und dann dieses Problem mit der Haut …
Einen Seehund zu bestücken war etwas völlig anderes, als einen Wal mit einem Sender zu versehen. Seehunde und Robben ließen sich problemlos auf ihren Ruheplätzen fangen. Der biologisch abbaubare Kleber, mit dem die Sender befestigt wurden, haftete im Fell, trocknete schnell und löste sich irgendwann durch einen integrierten Auslösemechanismus. Spätestens beim alljährlichen Fellwechsel verschwanden auch die Klebstoffreste.
Aber Wale und Delphine hatten kein Fell. Es gab kaum etwas Glatteres als die Haut von Orcas und Delphinen, die sich anfühlte wie ein frisch gepelltes Ei und mit einem dünnen Gel überzogen war, um Strömungswiderstände auszuschließen und Bakterien fern zu halten. Ständig wurde die oberste Hautschicht ersetzt. Enzyme lösten sie, sodass sie bei Sprüngen in großen, dünnen Fetzen abfiel — mitsamt allen unerwünschten Bewohnern und Sendern. Und die Haut von Grau— und Buckelwalen bot kaum besseren Halt.
Anawak stand auf, ohne Licht zu machen, und trat zum Fenster. Das Apartment lag in einem der älteren Hochhäuser mit Blick auf Granville Island, und er konnte auf die glitzernde, nächtliche Stadt blicken. Nacheinander ging er die Möglichkeiten durch. Natürlich gab es Tricks. Amerikanische Wissenschaftler griffen zu einer Methode, bei der Sender und Messgeräte mit Saugnäpfen befestigt wurden. Unter Zuhilfenahme langer Stangen setzten sie die Sonde vom Boot auf nahe schwimmende oder in der Bugwelle reitende Tiere. Das ging oft genug daneben. Immerhin ein Weg. Allerdings widerstanden auch die Saugnapf-Sender dem Strömungsdruck nur wenige Stunden. Andere klemmten die Geräte an die Rückenflosse. Hier wie da stellte sich die Frage, wie man in diesen Tagen überhaupt mit einem Boot an einen Wal gelangen sollte, ohne sofort versenkt zu werden.
Man konnte die Tiere betäuben …
Alles viel zu kompliziert. Außerdem würden Fahrtenschreiber nicht reichen. Sie brauchten Kameras. Satellitentelemetrie und Videobilder.
Plötzlich kam ihm eine Idee.
Es gab eine Methode.
Sie erforderte einen guten Schützen. Wale gaben großflächige Ziele ab Dennoch empfahl sich jemand, der wirklich schießen konnte.
Mit einem Mal war Anawak wie im Fieber. Er hastete zum Schreibtisch, loggte sich ins Internet ein und rief nacheinander verschiedene Adressen auf. Ihm war eine weitere Möglichkeit eingefallen, von der er gelesen hatte. Eine Weile kramte er in einer Schublade mit Zetteln, bis er die Internet-Adresse des Underwater Robotics amp; Application Laboratory Teams in Tokio gefunden hatte.
Nach kurzer Zeit wusste er, wie es funktionieren konnte. Sie mussten die beiden Wege koppeln. Der Krisenstab würde einen Haufen Geld in die Hand nehmen müssen, aber augenblicklich schien man davor nicht zurück zuschrecken, solange es der Klärung der Probleme diente. In seinem Schädel kreiste es. Gegen Morgen fand er endlich Schlaf. Sein letzter Gedanke galt der Barrier Queen und Roberts. Auch so eine Sache. Der Manager hatte ihn nicht zurückgerufen, trotz mehrfachen Nachfragens. Er hoffte, dass Inglewood wenigstens die Proben nach Nanaimo geschickt hatte.
Und was war überhaupt mit dem Bericht?
Er würde sich nicht damit zufrieden geben, ständig abgewimmelt zu werden. Was wollte er morgen alles tun? Ich werde wohl nochmal aufstehen und mir Notizen machen, dachte er. Dass ich als Erstes … In derselben Sekunde schlief er ein, zu Tode erschöpft.
20. April
Lyon, Frankreich
Bernard Roche machte sich Vorwürfe, weil er sich mit der Untersuchung der Wasserproben zu viel Zeit gelassen hatte, aber er konnte es nicht ändern. Wie hatte er ahnen sollen, dass ein Hummer in der Lage war, einen Menschen zu töten? Oder möglicherweise mehrere?
Jean Jérôme, der Fischkoch des Troisgros in Roanne, war nicht mehr aus dem Koma erwacht, 24 Stunden, nachdem ihm ein verseuchter bretonischer Hummer um die Ohren geflogen war. Was genau seinen Tod herbeigeführt hatte, ließ sich immer noch nicht sagen. Fest stand, dass sein Immunsystem versagt hatte, offenbar als direkte Folge eines schweren toxischen Schocks. Ebenso wenig ließ sich beweisen, dass der Hummer daran schuld war, beziehungsweise das Zeug in seinem Innern, aber es sah ganz danach aus. Auch andere Mitglieder des Küchenpersonals waren erkrankt, am schwersten der Lehrling, der die merkwürdige Substanz berührt und konserviert hatte. Sie alle litten an Schwindelgefühl, Übelkeit und Kopfweh und klagten über Probleme mit der Konzentration. Das alleine wäre schlimm genug gewesen, zumal für das Troisgros, dessen Betrieb mittlerweile in einige Bedrängnis geriet. Was Roche jedoch viel mehr beunruhigte, war die Vielzahl ähnlicher Beschwerden, mit denen Leute aus Roanne ihren Arzt aufsuchten, seit Jérôme gestorben war. Ihre Symptome waren weniger stark ausgeprägt. Dennoch befürchtete Roche das Schlimmste, nachdem er herausgefunden hatte, was mit dem Wasser geschehen war, in dem Jérôme die Hummer zwischengelagert hatte.
Die Presse hielt den Vorfall klein, schon aus Rücksicht auf das Restaurant, aber natürlich wurde darüber berichtet, und auch von anderswoher drangen Gerüchte an Roches Ohr. Offenbar war das Troisgros bei weitem nicht allein betroffen. In Paris waren gleich mehrere Menschen gestorben, durch den Genuss verdorbenen Hummerfleischs, wie es hieß, aber Roche ahnte, dass dies nicht ganz den Tatsachen entsprach. Meldungen erreichten ihn aus Le Havre, Cherbourg, Caen, Rennes und Brest. Mittlerweile hatte er einen Assistenten darauf abgestellt, den Dingen hinterherzuforschen. Ein Bild begann sich abzuzeichnen, in dem bretonische Hummer eine unrühmliche Rolle spielten, sodass Roche schließlich alles andere beiseite schob und sich nur noch der Analyse der Wasserprobe widmete.
Wieder stieß er auf ungewöhnliche Verbindungen, die ihm Rätsel aufgaben. Es war dringend erforderlich, an weitere Proben zu gelangen, und er ließ Kontakte herstellen in die betroffenen Städte. Unglücklicherweise war bis dahin niemand auf die Idee gekommen, etwas von dem Zeug aufzubewahren. Es war auch nirgendwo ein Hummer explodiert wie in Roanne, allerdings war die Rede von ungenießbaren Tieren, deren Fleisch man weggeworfen habe, und anderen, die schon vor dem Kochen keinen guten Eindruck gemacht hätten, weil etwas aus ihnen hervorgequollen sei. Roche wünschte sich, jemand anderer wäre so klug gewesen wie der Lehrling, aber Fischer, Großmarkthändler und Küchenpersonal waren nun mal keine Laborarbeiter. So war er fürs Erste auf Spekulationen angewiesen. Ihm schien, dass im Körper des Hummers nicht nur ein Organismus, sondern gleich zwei gelauert haben mussten. Zum einen die Gallerte. Sie hatte sich zersetzt und war offenbar vollständig verschwunden.
Der andere Organismus hingegen lebte, trat in großer Dichte auf und kam Roche auf unheilvolle Weise bekannt vor.
Er starrte durch das Mikroskop.
Tausende transparente Kugeln wirbelten wie Tennisbälle kreuz und quer durcheinander. Falls seine Vermutung zutraf, befand sich in ihrem Innern ein zusammengerollter Pedunculus, eine Art Rüssel.
Hatten diese Lebewesen Jean Jérôme getötet?
Roche griff nach einer sterilisierten Glasnadel und stach sich rasch in die Daumenspitze. Ein kleiner Tropfen Blut trat aus. Vorsichtig injizierte er es in die Probe auf dem Objektträger und sah wieder durch die Linsen des Mikroskops. Bei 700-facher Vergrößerung wirkten Roches Blutkörperchen wie rubinrote Blütenblätter. Sie taumelten im Wasser, jedes angefüllt mit Hämoglobin. Sofort wurden die transparenten Kugeln aktiv. Sie stülpten ihre Rüssel aus und fielen blitzartig über die menschlichen Zellen her. Die Pedunkel stachen wie Kanülen hinein. Langsam färbten sich die unheimlichen Mikroben rötlich, während sie die Blutkörperchen aussaugten. Immer mehr von ihnen stürzten sich auf Roches Blut. War ein Blutkörperchen leer gesaugt, wechselten sie zum nächsten. Dabei schwollen sie an, exakt so, wie Roche es befürchtet hatte. Jedes der Wesen würde bis zu zehn Blutkörperchen in sich aufnehmen. In spätestens einer Dreiviertelstunde würden sie ihr Werk vollendet haben. Er sah weiterhin fasziniert zu und stellte fest, dass es sogar noch schneller ging, viel schneller, als er gedacht hatte.
Nach fünfzehn Minuten hatte der Spuk ein Ende.
Roche saß starr vor seinem Mikroskop. Dann notierte er: Vermutlich Pfiesteria piscicida.
Das ›vermutlich‹ stand für letzte Reste von Zweifel, obschon Roche sicher war, soeben den Erreger klassifiziert zu haben, der für die Krankheits— und Todesfälle verantwortlich war. Was ihn störte, war der Eindruck, es mit einer Monsterausgabe von Pfiesteria piscicida zu tun zu haben. Das barg den Superlativ im Superlativ, weil Pfiesteria vielen an sich schon als Monster galt. Ein Monster von eben mal einem hundertstel Millimeter Durchmesser. Eines der kleinsten Raubtiere der Welt. Und zugleich eines der gefährlichsten.
Pfiesteria piscicida war ein Vampir.
Er hatte viel darüber gelesen. Die erste Begegnung der Wissenschaft mit Pfiesteria lag gar nicht so lange zurück. Es hatte in den Achtzigern begonnen, mit dem Tod von 50 Laborfischen an der North Carolina State University. An der Qualität des Wasser, in dem sie geschwommen waren, gab es augenscheinlich nichts zu beanstanden, sah man von Wolken winziger Einzeller ab, die sich im Aquarium tummelten. Man wechselte das Wasser und setzte neue Fische aus. Sie überlebten keinen Tag. Irgendetwas mordete sie mit großer Effizienz dahin. Es tötete Goldfische, Streifenbarsche, afrikanische Tilapias, oft binnen Stunden, manchmal in Minuten. Jedes Mal beobachteten die Wissenschaftler, wie sich die Opfer in Zuckungen wanden, bevor sie qualvoll krepierten. Jedes Mal tauchten aus dem Nichts die rätselhaften Mikroben auf, und ebenso schnell verschwanden sie wieder.
Allmählich wurde das Bild klarer. Eine Botanikerin erkannte den unheimlichen Organismus als Geißeltierchen einer bislang unbekannten Spezies. Ein Dinoflagellat, eine Alge. Davon gab es viele. Die meisten waren harmlos, aber einige hatten sich schon lange als regelrechte Giftschleudern geoutet. Sie verseuchten ganze Muschelfarmen. Andere Dinoflagellaten lösten die weit gefährlicheren ›Roten Tiden‹ aus, die das Meer blutrot oder braun färbten. Auch von ihnen wusste man, dass sie Schalentiere befielen. Dennoch nahmen sich solche Vertreter harmlos aus gegen den neu entdeckten Organismus.
Denn Pfiesteria piscicida unterschied sich von ihren Artgenossen. Sie griff aktiv an. In gewisser Weise erinnerte sie an Zecken. Nicht der Form halber, sondern weil sie sich durch ebensolche Geduld auswies. Scheinbar leblos lauerte sie auf dem Grund von Gewässern. Jeden einzelnen Organismus umgab eine Kapsel, eine Art Zyste, die ihn schützte. Auf diese Weise konnte Pfiesteria jahrelang ohne Nahrung ausharren. Bis ein Schwarm Fische vorbeizog, deren Ausscheidungen zu Boden sanken und den Appetit des scheintoten Einzellers weckten.
Was nun geschah, ließ sich nur als Blitzangriff beschreiben. Zu Milliarden lösten sich die Algen aus ihren Zysten und stiegen empor. Die beiden Geißeln am Körperende dienten dabei als Antriebssystem. Die eine rotierte wie ein Propeller, die andere steuerte den Organismus in die gewünschte Richtung. Heftete sich Pfiesteria an den Körper eines Fisches, setzte sie ein Gift frei, das die Nerven lähmte und zugleich münzgroße Löcher in die Haut fraß. Dann schob sie ihren Saugrüssel in die Wunden und nahm die Körpersäfte der sterbenden Beute in sich auf. War sie gesättigt, ließ sie von ihrem Opfer ab und verzog sich wieder auf den Grund, um sich erneut einzukapseln.
An sich galten toxische Algen als normales Phänomen. Etwa so wie Pilze im Wald. Man wusste seit langem um die Giftstoffe mancher Algen, genau genommen seit biblischen Zeiten. Im Zweiten Buch Mose wurde ein Phänomen beschrieben, das mit verblüffender Genauigkeit auf eine ›Rote Tide‹ zu passen schien: Und alles Wasser wurde in Blut verwandelt. Die Fische starben, und der Strom stank, sodass die Ägypter das Wasser aus dem Nil nicht trinken konnten. Es war also nichts Besonderes, wenn Einzeller Fische mordeten. Nur wie und mit welcher Brutalität es geschah, war neu. Es schien, als habe eine Krankheit von den Gewässern der Welt Besitz ergriffen, deren spektakulärstes Symptom vorerst den Namen Pfiesteria piscicida trug. Giftattacken auf Meerestiere, neuartige Korallenkrankheiten, infizierte Seegraswiesen, all das spiegelte den Zustand wider, in den die Weltmeere insgesamt geraten waren — geschwächt durch Ströme von Schadstoffen, Überfischung, die rücksichtslose Erschließung der Küsten und die Folgen der globalen Klimaerwärmung. Man stritt, ob Invasionen von Killeralgen etwas Neues oder periodisch Auftretendes waren — fest stand, dass sie den Globus auf nie dagewesene Art vereinnahmten und dass sich die Natur als ausgesprochen kreativ erwies, was das Hervorbringen neuer Spezies anging. Während die Europäer noch frohlockten, in ihren Breiten trete Pfiesteria nicht auf, starben vor Norwegen tausende von Fischen, und die norwegischen Lachszüchter gerieten an den Rand des Ruins. Diesmal hieß der Mörder Chrysochromulina polylepis, eine Art eifriger kleiner Bruder von Pfiesteria, und niemand wagte vorherzusagen, womit man es noch zu tun bekommen würde.
Nun hatte Pfiesteria piscicida also bretonische Hummer befallen.
Aber war es wirklich Pfiesteria piscicida?
Zweifel nagten an Roche. Das Verhalten der Einzeller sprach dafür, wenngleich sie ihm weit aggressiver erschienen als in bisherigen Dokumentationen beschrieben. Vor allem aber fragte er sich, wie der Hummer überhaupt so lange hatte überleben können. Stammten die Algen aus seinem Innern? Zusammen mit der Substanz? Die gallertige Masse, die an der Luft zerfiel, schien jedenfalls etwas völlig anderes zu sein als diese Algen, etwas definitiv Unbekanntes. Entstammte überhaupt beides dem Innern des Hummers? Aber was war dann mit dem Hummerfleisch geschehen?
War das überhaupt ein Hummer gewesen?
Roche verfiel in tiefe Ratlosigkeit. Nur eines wusste er mit absoluter Sicherheit. Was immer es gewesen war — Teile davon befanden sich jetzt im Trinkwasser von Roanne.
22. April
Norwegische See, Kontinentalrand
Auf See enthielt die Welt nichts als Wasser und einen mehr oder weniger klar abgegrenzten Himmel. Es gab keine Bezugspunkte, sodass einen die Unendlichkeit an schönen Tagen förmlich in den Weltraum zu saugen schien, während man bei Regen mitunter nicht wusste, ob man sich noch an der Wasseroberfläche oder schon halb darunter befand. Selbst hartgesottene Seeleute empfanden eintönig niederfallenden Regen als deprimierend. Der Horizont verwischte, das Schwarz der Wellen verlief im Grau konturloser Wolkenmassen und hinterließ die bedrückende Vorstellung eines Universums ohne Licht, Gestalt und Hoffnung.
Die Nordsee und das norwegische Meer boten dem Auge immerhin auf weiter Strecke Anhaltspunkte in Gestalt von Bohrtürmen. Draußen am Kontinentalhang, über dem das Forschungsschiff Sonne nun seit zwei Tagen kreuzte, waren die meisten Plattformen allerdings zu weit entfernt, um mit bloßem Auge wahrgenommen zu werden. Selbst die wenigen Türme in Sichtweite verschwanden heute im feinen Sprühregen. Alles war pitschnass. Klamme Kälte zog unter die wasserdichten Jacken und Overalls der Wissenschaftler und des Schiffspersonals. Anständiger, ehrlicher Regen aus dicken, klatschenden Tropfen wäre allen lieber gewesen als die nieselige Brühe. Nicht nur aus den Himmeln schien das Wasser zu kommen, sondern zugleich aus der See nach oben zu steigen. Es war einer der schäbigsten Tage, an die Johanson sich erinnern konnte. Er zog die Kapuze über die Stirn und ging ins Heck, wo das technische Personal mit dem Einholen der Multisonde befasst war. Auf halbem Weg gesellte sich Bohrmann an seine Seite.
»Träumen Sie nicht allmählich von Würmern?«, fragte Johanson.
»Es geht noch«, erwiderte der Geologe. »Und Sie?«
»Ich flüchte mich in die Vorstellung, in einem Film mitzuspielen.«
»Gute Idee. Welcher Regisseur?«
»Wie wär’s mit Hitchcock?«
»Die Vögel in der Version für Tiefseegeologen?« Bohrmann grinste säuerlich. »Schöne Vorstellung — ah, es ist so weit!«
Er ließ Johanson stehen und ging rasch weiter ins Heck. Am Kran hängend tauchte ein großes, kreisrundes Gestänge auf, dessen obere Hälfte mit Kunststoffröhren bestückt war. Sie enthielten Wasserproben aus verschiedenen Meerestiefen. Johanson sah eine Weile zu, wie die Multisonde eingeholt und der Probensatz entnommen wurde, dann betraten Stone, Hvistendahl und Lund das Deck. Stone eilte auf ihn zu.
»Was sagt Bohrmann?«, fragte er.
»Houston, wir haben ein Problem.« Johanson zuckte die Achseln. »Viel sagt er nicht.«
Stone nickte. Seine Aggressivität hatte tiefer Niedergeschlagenheit Platz gemacht. Im Verlauf der Messungen war die Sonne dem südwestlichen Verlauf des Kontinentalhangs bis oberhalb Schottlands gefolgt, während der Videoschlitten Bilder aus der Tiefe sandte. Der Schlitten, ein klobiges Gestell, das aussah wie ein Stahlregal voll unordentlich hineingestopfter Apparaturen, verfügte über diverse Messinstrumente, starke Scheinwerfer und ein elektronisches Auge, das den Meeresboden filmte und die Eindrücke per Lichtwellenkabel ins Monitorlabor schickte, während er hinter dem Schiff hergezogen wurde.
An Bord der Thorvaldson lieferte der modernere Victor das Bildmaterial. Das norwegische Forschungsschiff folgte dem Hangverlauf in nordöstliche Richtung und analysierte das Wasser der norwegischen See bis hinauf nach Tromsø. Beide Schiffe hatten ihre Fahrt vom Standort der geplanten Fabrik aus begonnen. Mittlerweile hielten sie wieder aufeinander zu. Mit ihrem Rendezvous in zwei Tagen würden sie zu dem den kompletten Hang des norwegischen Sockels und der Nordsee neu vermessen haben. Bohrmann und Skaugen hatten vorgeschlagen, die Region so anzugehen, als habe man es mit unerforschtem Gebiet zu tun, und das war es seit kurzem auch. Nichts erschien mehr in vertrautem Licht, seit Bohrmann die ersten Messwerte präsentiert hatte.
Das war am Vortag gewesen, am frühen Morgen, noch ehe die ersten Bilder vom Videoschlitten auf dem Monitor erschienen waren. Sie hatten in der feuchtkalten Dämmerung die Multisonde hinuntergelassen, und Johanson hatte versucht, das Fahrstuhlgefühl zu ignorieren, wenn die Sonne in den Wogen plötzlich wegsackte. Die ersten Wasserproben waren umgehend ins Seismiklabor gewandert und dort analysiert worden. Wenig später hatte Bohrmann das Team in den Konferenzraum aufs Hauptdeck gebeten, wo sie sich um den polierten Holztisch scharten, nun nicht mehr augenreibend und gähnend, sondern stumm vor Neugierde, Becher mit Kaffee umklammernd, dessen Wärme sich langsam in den Fingern auszubreiten begann.
Bohrmann hatte geduldig gewartet, bis alle versammelt waren. Seine Augen waren auf ein Blatt Papier gerichtet.
»Ich kann mit einem ersten Resultat aufwarten«, sagte er. »Es ist nicht repräsentativ, nur eine Momentaufnahme.« Er schaute auf. Sein Blick blieb eine Sekunde an Johanson hängen und wanderte weiter zu Hvistendahl. »Ist jeder mit dem Begriff Methanfahne vertraut?«
Ein junger Mann aus Hvistendahls Stab schüttelte unsicher den Kopf.
»Methanfahnen entstehen, wenn Gas aus dem Meeresboden austritt« erläuterte Bohrmann. »Es vermischt sich mit Wasser, treibt in der Strömung und steigt auf. Im Allgemeinen messen wir solche Fahnen dort, wo eine Erdplatte sich unter die andere schiebt, sodass der Druck das Sediment zusammenquetscht und aufwirft. Als Folge quellen dort Fluide und Gase hervor. Ein weitgehend bekanntes Phänomen.« Er räusperte sich. »Aber sehen Sie, im Unterschied zum Pazifik gibt es solche Bereiche hohen Drucks nicht im Atlantik, also auch nicht vor Norwegen. Die Kontinentalränder sind weitgehend passiv. Dennoch haben wir heute Morgen in diesem Gebiet eine hoch konzentrierte Methanfahne gemessen. In früheren Messungen taucht sie nicht auf.«
»Wie hoch ist die Konzentration jetzt?«, fragte Stone.
»Bedenklich. Wir haben ähnliche Werte vor Oregon gemessen. In einem Gebiet mit äußerst starken Verwerfungen.«
»Schön.« Stone versuchte, die Falten auf seiner Stirn zu glätten. »Meines Wissens tritt vor Norwegen permanent Methan aus. Wir kennen das von früheren Projekten. Es ist bekannt, dass der Meeresboden immer irgendwo Gase durchlässt, und es ist jedes Mal erklärbar, also wozu machen wir die Pferde scheu?«
»Ihre Darstellung trifft nicht ganz den Kern der Sache.«
»Hören Sie«, seufzte Stone. »Alles, was mich interessiert, ist, ob Ihre Messungen wirklich Anlass zur Besorgnis geben. Bislang kann ich das nicht erkennen. Wir verschwenden unsere Zeit.«
Bohrmann lächelte verbindlich. »Dr. Stone, in diesem Gebiet, insbesondere nördlich von hier, sind ganze Stockwerke des Kontinentalhangs mit Methanhydraten regelrecht zementiert. Jede dieser Hydratschichten ist sechzig bis einhundert Meter dick, das sind gewaltige Deckel aus Eis. Aber wir wissen auch, dass diese Schichten stellenweise von senkrechten Zonen durchbrochen werden. Dort tritt seit Jahren Gas aus, das unseren Stabilitätsberechnungen zufolge eigentlich nicht austreten dürfte. Legt man Druck und Temperatur zugrunde, müsste es am Boden gefrieren, aber das tut es nicht. Da haben Sie Ihre Gasaustritte. Es lässt sich mit ihnen leben, man kann sogar entscheiden, sie zu ignorieren. Aber wir sollten uns nicht in Sicherheit wiegen, bloß weil wir ein paar Diagramme und Kurven entwickelt haben. Ich sage noch einmal, die Konzentration freien Methans in der Wassersäule ist unverhältnismäßig hoch.«
»Sind es denn wirklich Gasaustritte?«, fragte Lund. »Ich meine, steigt Methan aus dem Erdinnern nach oben, oder stammt das Gas vielleicht von …«
»Schmelzenden Hydraten?« Bohrmann zögerte. »Das ist die entscheidende Frage. Wenn sich Hydrat zu zersetzen beginnt, müsste sich an den lokalen Parametern etwas geändert haben.«
»Und Sie glauben, das ist hier der Fall?«, fragte Lund.
»Es gibt eigentlich nur zwei Parameter. Druck und Temperatur. Wir haben aber weder eine Erwärmung des Wassers gemessen, noch ist der Meeresspiegel gesunken.«
»Das sage ich doch«, rief Stone. »Wir suchen Antworten auf Fragen, die kein Mensch gestellt hat. Ich meine, wir haben eine Probenentnahme.« Er sah sich nach Zustimmung heischend um. »Eine einzige verdammte Probe!«
Bohrmann nickte. »Sie haben vollkommen Recht, Dr. Stone. Alles ist spekulativ. Aber um die Wahrheit herauszufinden, sind wir hier.«
»Stone geht mir auf die Nerven«, hatte Johanson zu Lund gesagt, als sie kurz darauf in die Messe gegangen waren. »Was hat er eigentlich? Er scheint diese Tests regelrecht verhindern zu wollen? Dabei leitet er das Projekt.«
»Wir können ihn ja über Bord werfen.«
»Es reicht schon, was wir sonst ins Meer kippen.«
Sie holten sich frischen Kaffee und verzogen sich damit auf Deck. »Und was hältst du von diesem Resultat?«, fragte Lund zwischen zwei Schlucken.
»Es ist kein Resultat. Es ist ein Zwischenwert.«
»Na schön. Was hältst du von dem Zwischenwert?«
»Ich weiß es nicht.«
»Komm schon.«
»Bohrmann ist der Experte.«
»Glaubst du wirklich, es hat was mit diesen Würmern zu tun?«
Johanson dachte an sein zurückliegendes Gespräch mit Olsen.
»Ich glaube erst mal gar nichts«, sagte er vorsichtig. »Es wäre absolut verfrüht, etwas zu glauben.« Er blies in seinen Kaffee und legte den Kopf in den Nacken. Über ihnen spannte sich ein trüber Himmel. »Ich weiß nur eines: dass ich jetzt lieber zu Hause säße als auf diesem Schiff.«
Das war am Vortag gewesen.
Während die letzten Wasserproben analysiert wurden, verzog sich Johanson in den Funkraum hinter der Brücke. Über Satellit konnte er vom Schiff aus mit aller Welt Kontakt aufnehmen. In den vergangenen Tagen hatte er begonnen, eine Datenbank aufzubauen, E-Mails an Institute und Wissenschaftler zu verschicken und das Ganze als persönliches Interesse zu tarnen. Die ersten Antworten fielen enttäuschend aus. Niemand hatte den neuen Wurm beobachtet. Vor wenigen Stunden hatte er außerdem Kontakt zu Expeditionen aufgenommen, die gerade auf See waren. Er zog einen Stuhl heran, platzierte den Laptop zwischen den Funkgeräten und öffnete den E-Mail-Speicher. Auch diesmal war die Ausbeute mager. Die einzig interessante Nachricht stammte von Olsen, der ihm mitteilte, dass die Qualleninvasionen vor Südamerika und Australien offenbar außer Kontrolle geraten waren.
Weiß nicht, ob ihr da draußen Nachrichten hört, schrieb Olsen. Aber gestern Nacht brachten sie einen Sonderbericht. Die Quallen ziehen in riesigen Schwärmen die Küsten entlang. Es sieht so aus, sagt der Nachrichtenonkel, als steuerten sie gezielt von Menschen besiedelte Gegenden an. Natürlich völliger Blödsinn. Ach ja, und es hat wieder gekracht. Zwei Containerfrachter vor Japan. Außerdem verschwinden weiterhin Boote, aber diesmal wurden Notrufe aufgezeichnet. Die komischen Geschichten ans British Columbia geistern nach wie vor durch die Presse, ohne dass man was Konkretes erfährt. Würde man glauben, was da kolportiert wird, jagen in Kanada die Wale zur Abwechslung Menschen. Aber gottlob muss man ja nicht alles glauben. So weit das kleine Gute-Laune-Programm aus Trondheim. Ersauf mir nicht.
»Danke«, knurrte Johanson übellaunig.
Sie hörten tatsächlich zu selten Nachrichten. Forschungsschiffe waren wie Löcher in Zeit und Raum. Offiziell hörte man keine Nachrichten, weil man zu viel zu tun hatte. Tatsächlich wollte man einfach in Ruhe gelassen werden von Städten, Politikern und Kriegen, sobald die wellen unter den Kiel schlugen. Bis man nach ein bis zwei Monaten auf See plötzlich zu verblassen schien und einen die Sehnsucht nach der eigenen Bedeutung überkam, nach dem festen Platz im Gefüge, das dem Menschen eben nur die Zivilisation liefern kann, nach Hierarchien, Hightech, Kinos und McDonald’s und nach einem Boden, der nicht ständig auf und nieder schwankte.
Johanson stellte fest, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er, was sie nun seit zwei Tagen pausenlos auf den Monitoren sahen.
Würmer.
Mittlerweile hatten sie Gewissheit: Der Kontinentalhang wimmelte von ihnen. Die Flächen und Adern aus gefrorenem Methan waren verschwunden unter Millionen zuckender rosa Leiber, die versuchten, sich ins Eis zu bohren, eine einzige, wahnsinnig gewordene Masse. Das war kein lokales Phänomen mehr. Sie wurden Zeuge einer flächendeckenden Invasion, und sie vollzog sich entlang der gesamten norwegischen Küste.