Als Folge begannen die Kontinentalhänge in sich zusammenzustürzen und große Teile des Schelfs mit sich zu reißen. Unvorstellbare Mengen Material rasten in Schlammlawinen hunderte von Kilometern weit in die Tiefsee. Das Gas gelangte in die Atmosphäre und leitete dort umwälzende Klimaveränderungen ein, aber die Rutschungen hatten noch andere, unmittelbare Auswirkungen — nicht allein auf das Leben im Meer, sondern ebenso auf die Küstenregionen des Festlands und der Inseln.
   Es geschah in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, dass Wissenschaftler vor der Küste Mittelnorwegens eine unheimliche Entdeckung machten. Sie stießen auf die Spuren einer solchen Rutschung. Genauer gesagt waren es mehrere Rutschungen gewesen, die einen großen Teil des dortigen Kontinentalhangs abgetragen hatten, und sie hatten sich im Verlauf von über vierzigtausend Jahren ereignet. Viele Faktoren hatten dazu beigetragen, Warmzeiten, in denen die durchschnittliche Temperatur der hangnahen Meeresströmungen angestiegen war, oder eben jene Vereisungsperioden wie vor 18000 Jahren, innerhalb derer es zwar kalt blieb, der Wasserdruck jedoch abnahm. Genau genommen bildeten die Phasen der Hydratstabilität — erdhistorisch betrachtet — die Ausnahme.
   Aber in einer solchen Ausnahme lebten die Menschen der sogenannten Neuzeit. Und sie waren allzu sehr geneigt, den trügerischen Zustand der Ruhe als Regel misszuverstehen.
   Insgesamt waren damals mehr als fünfeinhalbtausend Kubikkilometer Meeresboden des norwegischen Schelfs in die Tiefe gerissen worden, in mehreren gewaltigen Lawinen. Zwischen Schottland, Island und Norwegen fanden die Forscher eine Schlammhalde von achthundert Kilometern Länge vor. Das eigentlich Beunruhigende daran war die Erkenntnis, dass der größte der Hangabbrüche gar nicht sonderlich lange zurücklag, nicht einmal zehntausend Jahre. Man gab dem Ereignis den Namen Storegga-Rutschung und hoffte, dass sich dergleichen nie wieder ereignen möge.
   Natürlich war es eine unsinnige Hoffnung. Aber vielleicht wären weitere Jahrtausende der Ruhe vergangen. Und womöglich hätten neue Eiszeiten oder Warmzeiten lediglich Rutschungen in verträglichen Schuhen freigesetzt, wäre nicht über Nacht ein gewisser Wurm samt seiner Bakterienfracht erschienen und hätten nicht begleitende Umstände zu dem geführt, was nun passierte.
   Jean-Jacques Alban an Bord der Thorvaldson ahnte, dass er das Tauchboot nie wieder sehen würde, als der Kontakt abbrach. Aber er machte sich keine Vorstellung vom Ausmaß dessen, was soeben wenige hundert Meter unter dem Rumpf des Forschungsschiffs geschah. Unzweifelhaft war die Zersetzung der Hydrate in ein verheerendes Stadium getreten — während der letzten Viertelstunde hatte der Gestank nach faulen Eiern auf unerträgliche Weise zugenommen, und auf den höher werdenden Sturmwellen trieben schäumende weiße Brocken, die immer größer wurden. Alban wusste auch, dass jedes weitere Verweilen am Kontinentalhang kollektivem Selbstmord gleichkam. Noch mehr Gas würde die Oberflächenspannung des Wassers herabsetzen, und sie würden sinken. Was immer in der Tiefe geschah, lag außerhalb jeder Berechenbarkeit. Alban hasste den Gedanken, das Deep Rover und seine Insassen aufzugeben, aber etwas sagte ihm unmissverständlich, dass Stone und der Pilot verloren waren.
   Unter den Wissenschaftlern und der Besatzung herrschte mittlerweile helle Aufregung. Nicht jeder wusste das Schäumen und den Gestank richtig zu deuten. Der Sturm trug das Seine zur allgemeinen Verunsicherung bei. Er hatte sich wie ein erzürnter Gott aus den Himmeln gestürzt und blies mit zunehmender Heftigkeit immer steilere Wellen über die norwegische See. Sie krachten gegen den Rumpf der Thorvaldson und zerstoben in Myriaden funkelnder Tropfen. Bald würde es kaum noch möglich sein, sich auf den Beinen zu halten.
   In dieser Situation hatte Alban vieles gegeneinander abzuwägen. Die Sicherheit der Thorvaldson ließ sich nicht durch die Brille der Reederei betrachten oder am Wert für die Wissenschaft messen. Sie bemaß sich einzig am Wert menschlichen Lebens. Dazu gehörten auch die Leben der beiden Menschen in dem Tauchboot, über deren Schicksal Albans Bauch beredtere Aussagen traf als sein Kopf. Bleiben und Fliehen war gleichermaßen falsch, und beides war gleichermaßen richtig.
   Alban sah mit zusammengekniffenen Augen in den schwarzen Himmel und wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht. Im selben Moment beruhigte sich die aufgewühlte See für die Dauer weniger Augenblicke. Es war kein wirkliches Nachlassen des Sturms, eher eine Verschnaufpause, bevor es mit doppelter Wucht weiterging. Alban beschloss zu bleiben.
   Unten vollzog sich ein Desaster.
   Von einem Moment auf den anderen waren die zerstörten Hydrate — vormals stabile Eisfelder und Adern in den Poren der Sedimente, nun von Würmern und Bakterien zerfressene Ruinen — auseinander gefallen. Auf einer Strecke von einhundertfünfzig Kilometern verwandelte sich die eisartige Verbindung von Wasser und Methan explosionsartig in Gas. Während Alban sich dazu durchrang, die Stellung zu halten, bahnte sich das Gas seinen Weg ins Freie, sprengte Steilwände, riss Felsen auseinander, ließ den Schelf erbeben und nach vorne wegsacken. Kubikkilometer Gestein stürzten binnen Sekunden in sich zusammen. Der gesamte obere Kontinentalrand geriet in Bewegung, während tief unten immer neue Schichten kollabierten, und drängte nach. In einer gewaltigen Kettenreaktion rissen die abrutschenden Massen einander mit, krachten auf die letzten festen Strukturen und zermahlten sie zu Schlamm.
   Der Schelf zwischen Schottland und Norwegen mit seinen Pumpen, Pipelines und Plattformen zeigte erste Risse.
   Jemand schrie durch den Sturm zu Alban hinüber. Er wirbelte herum und sah den stellvertretenden wissenschaftlichen Leiter wild mit den Armen fuchteln. Seine Worte waren im Sturm kaum zu verstehen.
   »Der Hang«, hörte Alban nur. »Der Hang.«
   Nach der kurzen trügerischen Ruhe war das Meer jetzt richtig wild geworden. Schwere Seen setzten der Thorvaldson zu. Alban warf einen verzweifelten Blick in Richtung Ausleger, wo sie das Deep Rover zu Wasser gelassen hatten. Die Fluten schäumten. Der Methangestank war unerträglich geworden. Er riss seinen Blick los und rannte mittschiffs. Der Mann packte ihn am Jackenärmel.
   »Kommen Sie, Alban! Mein Gott! Das müssen Sie sich ansehen.«
   Das Schiff erzitterte. Ein dumpfes Grollen drang an Albans Ohr, ein Geräusch tief aus dem Innern der See. Sie taumelten durch das enge, schwankende Treppenhaus hinauf zur Brücke.
   »Da!«
   Alban starrte auf das Instrumentenpult mit dem Sonar, das fortgesetzt den Meeresboden abtastete. Er traute seinen Augen nicht.
   Da war kein Boden mehr.
   Es war, als blicke er in einen Mahlstrom.
   »Der Hang rutscht ab«, flüsterte er.
   Im selben Moment erkannte er, dass er nichts mehr für den verrückten Ingenieur und Eddie tun konnte. Was er geahnt hatte, wurde zur schrecklichen Gewissheit.
   »Wir müssen hier weg«, sagte er. »Sofort.«
   Der Steuermann wandte ihm den Kopf zu. »Und wohin?«
   Alban dachte fieberhaft nach. Er hatte nun völlige Gewissheit. Er wusste, was dort unten geschah, und darum wusste er auch, was ihnen als Nächstes blühte. Einen Hafen anzulaufen schloss sich aus. Der Thorvaldson blieb nur die Chance, möglichst schnell tiefere Gewässer anzusteuern.
   »Funksprüche durchgeben«, sagte er. »Norwegen, Schottland, Island, sämtliche Anrainer. Sie sollen die Küsten evakuieren. Unablässig senden! Erreichen, wen immer wir erreichen können.«
   »Was ist mit Stone und …«, begann der stellvertretende Leiter.
   Alban sah ihn an. »Sie sind tot.«
   Er wagte sich nicht auszumalen, wie gewaltig die Rutschung war. Aber allein was das Sonar zeigte, reichte, ihm Schauer über den Rücken zu jagen. Noch waren sie im kritischen Bereich. Wenige Kilometer schelfeinwärts, und sie würden kentern. Weiter draußen stand zu erwarten, dass sie mit einem blauen Auge davonkamen. Sie würden sich dem Wüten des Sturms aussetzen müssen, aber damit ließ sich zurechtkommen.
   Alban rief sich die Morphologie des Hangs in Erinnerung. Zum Nordwesten hin fiel der Meeresboden in mehreren großen Terrassen ab. Wenn sie Glück hatten, kam die Lawine im oberen Bereich zum Stillstand. Aber bei einem Storegga-Effekt gab es kein Halten mehr. Der komplette Hang würde in die Tiefsee rutschen, Hunderte von Kilometer weit und bis in dreieinhalbtausend Meter Tiefe. Bis in die Abyssale östlich von Island würden die Massen dringen und dabei die Nordsee und die norwegische See erschüttern wie ein Jahrtausendbeben.
   Wohin sollten sie fahren?
   Alban wandte den Blick von den Instrumenten.
   »Kurs Island«, sagte er.
   Millionen Tonnen Schlamm und Schutt rasten nach unten.
   Als die ersten Ausläufer der Lawine in den Färöer-Shetland-Kanal stürzten, gab es zwischen Schottland und der Norwegischen Rinne schon keine Hangterrassen mehr, nur noch eine aufgelöste Masse, die mit Wucht tiefer und tiefer krachte und alles mit sich riss, was bis dahin Struktur und Form besessen hatte. Ein Teil der Rutschung verteilte sich westlich der Färöer-Inseln und wurde schließlich an den unterseeischen Bänken gestoppt, die das Isländische Becken umgaben. Ein anderer Teil der Lawine verteilte sich entlang des Höhenzugs zwischen Island und den Färöern.
   Das meiste jedoch donnerte den Färöer-Shetland-Kanal hinab wie auf einer gigantischen Rutsche. Nichts stoppte den Niedergang. Dasselbe Tiefseebecken, das Tausende von Jahren zuvor die Storegga-Rutschung in sich aufgenommen hatte, füllte sich jetzt mit einer noch größeren Lawine, die unaufhaltsam vordrang und dabei einen gewaltigen Sog erzeugte.
   Dann brach die Schelfkante ab.
   Sie riss auf einer Breite von fünfzig Kilometern einfach weg. Und das war nur der Beginn von allem.
 
Sveggesundet, Norwegen
 
   Direkt nach Johansons Abflug hatte Tina Lund ihr Gepäck in Johansons Jeep verladen und war losgefahren.
   Sie fuhr schnell. Beginnender Regen verschmierte die Straße. Johanson hätte wahrscheinlich protestiert, aber Lund war der Meinung, was der Wagen hergab, sollte man ihm auch abverlangen. Im dem trüben Wetter gab es ohnehin nicht viel zu sehen.
   Mit jedem Kilometer, den sie sich Sveggesundet näherte, fühlte sie sich leichter werden.
   Der Knoten war geplatzt. Nachdem die Sache mit Stone geklärt war, hatte sie unverzüglich Kare Sverdrup angerufen und ihm vorgeschlagen, ein paar Tage zusammen am Meer zu verbringen. Sverdrup war erfreut gewesen und auch einigermaßen verblüfft, wie ihr schien. Etwas an seiner Reaktion ließ sie ahnen, dass Johanson Recht behalten hatte. Dass sie den Zickzackkurs der vergangenen Wochen in letzter Sekunde begradigt hatte, weil Kare Sverdrup sonst weg gewesen wäre. Einen Moment lang hatte sie die Angst gepackt, es verpatzt zu haben, und sie hatte sich Worte sagen hören, die für ihre Verhältnisse geradezu beunruhigend verbindlich klangen.
   Johanson hatte ein Haus niedergerissen. Nun gut. Man könnte ja mal versuchen, eines zu bauen.
   Als der Jeep nach rascher Fahrt die uferwärts führende Hauptstraße von Sveggesundet entlangrollte, fühlte sie, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie parkte den Wagen auf einem öffentlichen Platz oberhalb des Fiskehuset. Von dort führten eine Zufahrt und ein Fußweg zum Strand. Ein richtiger Sandstrand war es nicht. Moose und Farne überwucherten Geröll und flaches Gestein. Die Landschaft um Sveggesundet war zwar flach, aber romantisch wild, und das Fiskehuset mit seiner Terrasse, direkt am Meer gelegen, bot einen besonders schönen Ausblick, selbst heute im Regen und bei schlechter Sicht.
   Lund schlenderte die paar Schritte bis zum Restaurant und trat ein. Sverdrup war nicht dort, und geöffnet war auch noch nicht. Eine Küchenhilfe trug Kisten mit Gemüse hinein und ließ sie wissen, Sverdrup habe im Ort zu tun. Vielleicht sei er auf der Bank oder beim Friseur oder sonst wo, jedenfalls habe er keine Aussage darüber getroffen, wann mit seiner Rückkehr zu rechnen sei.
   Selber schuld, dachte Lund.
   Sie hatten sich hier verabredet. Vielleicht lag es an der Raserei in Johansons Jeep, aber sie war eine Stunde zu früh dran. Wie hatte sie sich so verschätzen können? Sie würde sich ins Restaurant setzen und warten müssen. Aber das war blöde. Es würde unpassend aussehen: Kuckuck, schau mal, wer schon da ist! Oder schlimmer noch: He, Kare, wo warst du, ich warte die ganze Zeit auf dich!
   Sie trat hinaus auf die Terrasse des Fiskehuset. Regen schlug ihr ins Gesicht. Andere wären sofort wieder ins Innere gegangen, aber Lund besaß kein Empfinden für schlechtes Wetter. Sie hatte ihre Kindheit auf dem Land verbracht. Sie liebte sonnige Tage, aber Sturm und Regen taten’s auch. Genau genommen fiel ihr erst jetzt auf, dass die Böen, die den Jeep während der letzten halben Stunde durchgerüttelt hatten, in einen handfesten Sturm umgeschlagen waren. Es war nicht mehr so dunstig, dafür jagten die Wolken nun tiefer über den Himmel. So weit sie blicken konnte, war die See gefurcht und mit weißer Gischt überzogen.
   Etwas kam ihr seltsam vor.
   Sie war oft genug hier gewesen, um die Gegend hinreichend zu kennen. Dennoch schien es ihr, als sei das Ufer breiter als sonst. Kies und Felsen erstreckten sich weiter ins Meer als gewöhnlich, trotz der hereinrollenden Wellen. Es hatte beinahe den Anschein, als finde eine außerplanmäßige Ebbe statt.
   Du musst dich irren, dachte sie.
   Kurz entschlossen zog sie ihr Handy hervor und wählte Sverdrups Mobilnummer. Sie konnte ihm ebenso gut sagen, dass sie schon hier war. Besser, als wenn die Überraschung misslang. Wahrscheinlich sah sie Gespenster, aber es war ihr lieber, dass er es wusste. Ein langes Gesicht oder auch nur den geringsten Mangel an Freude konnte sie heute schlecht vertragen.
   Es schellte viermal, dann meldete sich seine Mailbox.
   Auch gut. Das Schicksal hatte es anders gewollt.
   Dann eben warten.
   Sie strich sich das nass gewordene Haar aus der Stirn und ging wieder nach drinnen in der Hoffnung, wenigstens die Kaffeemaschine in Bereitschaft vorzufinden.
 
Tsunami
 
   Das Meer war voller Ungeheuer.
   Seit Menschengedenken bot es Raum für Mythen, Metaphern und Urängste. Odysseus’ Gefährten fielen der sechsköpfigen Scylla zum Opfer. Poseidon schuf aus Ärger über Cassiopeias Hochmut das Ungeheuer Cetus und schickte Laokoon aus Rache für den Verrat an Troja eine riesige Seeschlange auf den Hals. Den Sirenen ließ sich nur mit Wachs in den Ohren beikommen. Nixen, Meeressaurier und Riesenkraken machten die Phantasie unsicher. Vampyrotheutis infernalis schließlich wurde zum Antipoden aller menschlichen Werte. Selbst das gehörnte Tier aus der Bibel war dem Meer entstiegen. Und ausgerechnet die Wissenschaft, ihrem Wesen nach der Skepsis verschrieben, predigte neuerdings den wahren Kern all der Legenden und atemlosen Berichte, seit man den Quastenflosser wieder gefunden und die Existenz des Riesenkalmars bewiesen hatte. Nachdem die Menschen jahrtausendelang Furcht empfunden hatten vor den Bewohnern der Abyssale, heftete man sich nun begeistert an ihre Fersen. Dem aufgeklärten Geist war nichts heilig, nicht einmal mehr die Angst. Die Ungeheuer waren zu besseren Spielkameraden geworden, die echten ebenso wie die eingebildeten, Plüschtiere der Forschung.
   Bis auf eines.
   Es war das schlimmste von allen. Es versetzte auch den abgeklärtesten Verstand in Panik. Wann immer es sich aus dem Meer erhob und über das Land kam, brachte es Tod und Zerstörung. Seinen Namen verdankte es japanischen Fischern, die auf hoher See nichts von seinem Schrecken mitbekamen, um bei ihrer Rückkehr ihr Dorf verwüstet und ihre Angehörigen tot vorzufinden. Sie hatten ein Wort für das Ungeheuer gefunden, das wörtlich übersetzt »Welle im Hafen« bedeutete. Tsu für Hafen, Nami für Welle.
   Tsunami.
   Albans Entscheidung, Kurs auf tiefe Gewässer zu nehmen, zeigte, dass er das Ungeheuer und seine Eigenarten kannte. Der größte Fehler wäre gewesen, den vermeintlich schützenden Hafen anzulaufen.
   Also tat er das einzig Richtige.
   Während sich die Thorvaldson durch schwere Seen kämpfte, stürzten Kontinentalhang und Schelfkante weiter in die Tiefe. Der entstehende Sog senkte den Meeresspiegel auf großer Fläche ab. Wellen breiteten sich um die Absturzstelle aus und rasten ringförmig nach allen Seiten los. Über dem Zentrum der Erschütterung, einem Gebiet von immerhin mehreren tausend Quadratkilometern, waren sie noch so flach, dass sie sich in dem tobenden Sturm nicht bemerkbar machten. Die Amplitude betrug knapp einen Meter über dem Meeresspiegel.
   Dann jedoch erreichten sie flaches Schelfgebiet.
   Alban hatte beizeiten gelernt, was Tsunamiwellen von herkömmlichen Wellen unterschied, nämlich so ziemlich alles. Üblicherweise entstand Seegang durch Luftbewegung. Wenn die Sonneneinstrahlung die Atmosphäre aufheizte, verteilte sich die Erwärmung nicht immer gleichmäßig über die ganze Erdoberfläche. Ausgleichende Winde entstanden, die an der Wasseroberfläche Reibung und dadurch Wellen erzeugten. Selbst Orkane schaukelten die See kaum fünfzehn Meter auf. Riesenwellen wie die berüchtigten Freak Waves bildeten die Ausnahme. Die Spitzengeschwindigkeit normaler Sturmwellen lag bei neunzig Stundenkilometern, und die Wirkung des Windes blieb auf die oberen Meeresschichten beschränkt. Ab einer Tiefe von zweihundert Metern war alles ruhig.
   Aber Tsunamiwellen wurden nicht an der Oberfläche erzeugt, sondern in der Tiefe. Sie waren nicht das Resultat von Windgeschwindigkeiten, sondern entsprangen einem seismischen Schock, und Schockwellen bewegten sich mit ganz anderen Geschwindigkeiten fort. Vor allem aber wurde die Energie der Tsunamiwelle von der Wassersäule bis zum Meeresboden weitergeleitet. Die Welle hatte damit an jedem Punkt des Meeres, wie tief er auch liegen mochte, Bodenkontakt. Die gesamte Wassermasse geriet in Schwingung.
   Das beste Beispiel, wie man sich einen Tsunami vorzustellen hatte, war Alban indes nicht am Computer demonstriert worden, sondern auf viel einfachere Weise. Jemand hatte einen Blecheimer mit Wasser gefüllt und von unten dagegengetreten. Als Folge breiteten sich an der Oberfläche mehrere konzentrische Wellen aus. Die Erschütterung des Bodens übertrug sich auf den kompletten Inhalt und wurde als Wellenform nach außen getragen.
   Diesen Effekt, hatte man ihm gesagt, müsse er sich einfach in einem millionenfach größeren Maßstab vorstellen.
   Einfach.
   Der Tsunami, den die Rutschung auslöste, raste mit einer Anfangsgeschwindigkeit von siebenhundert Stundenkilometern nach allen Seiten los, mit extrem lang gestreckten, flachen Kämmen. Schon die erste Welle transportierte eine Million Tonnen Wasser und eine entsprechend gewaltige Menge an Energie. Nach wenigen Minuten traf sie auf die Abbruchkante des Schelfs. Der Meeresboden wurde flacher und bremste die Welle ab, verlangsamte ihre Front, ohne dass sich die mitgeführte Energie wesentlich verringerte. Die Wassermassen drängten weiter, und weil sie nicht mehr so schnell vorankamen, begannen sie sich aufzutürmen. Je flacher es wurde, desto höher wuchs der Tsunami, während seine Wellenlänge zugleich dramatisch schrumpfte. Sturmwellen ritten auf seinem Kamm mit. Als er die ersten Bohrplattformen auf dem Nordseeschelf erreichte, war er nur noch vierhundert Stundenkilometer schnell, dafür aber bereits fünfzehn Meter hoch.
   Fünfzehn Meter waren nichts, weswegen man sich auf Plattformen ernsthaft Sorgen machte — solange es sich um eine gewöhnliche Sturmwelle handelte.
   Eine Schockwelle hingegen, die vom Meeresboden bis zur Wasseroberfläche schwang, gekrönt von einem fünfzehn Meter hohen Wasserberg und mit vierhundert Sachen unterwegs, besaß die Wirkung eines aufprallenden Jumbo-Jets.
 
Gullfaks C, norwegischer Schelf
 
   Einen Moment lang dachte Lars Jörensen, er sei sogar zu alt, um noch die letzten paar Monate auf Gullfaks zu überstehen. Er zitterte am ganzen Leibe. Was war los? Er zitterte so sehr, dass das Geländer mitzuzittern schien, und er hatte nicht die geringste Ahnung, warum. An sich fühlte er sich gar nicht übel. Deprimiert vielleicht, aber nicht krank. War es so, wenn man einen Herzanfall bekam?
   Dann dämmerte ihm, dass es tatsächlich das Geländer war, das zitterte. Nicht er.
   Gullfaks C bebte.
   Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock.
   Er starrte auf den Förderturm, dann wieder hinaus aufs Meer. Unten wütete der Sturm, aber er hatte schon Schlimmeres erlebt. Weitaus Schlimmeres, ohne dass man auf der Plattform viel davon gemerkt hatte. Dieses Zittern kannte Jörensen nur aus Erzählungen, wenn eine falsch durchgeführte Bohrung einen Blowout erzeugte und Öl oder Gas unter Hochdruck nach oben schoss. Dann konnte es passieren, dass die komplette Plattform in heftige Vibrationen verfiel. Aber auf Gullfaks war so etwas nicht möglich. Sie pumpten das Öl aus halb leeren Reservoirs in unterseeische Tanks, und es geschah nicht direkt unter der Plattform, sondern in weitem Umkreis drum herum.
   Im Offshoregeschäft gab es so etwas wie eine Top Ten potenzieller Katastrophen. Querverstrebungen von Stahlskeletten, auf denen viele Plattformen ruhten, konnten brechen. Freak Waves, die höchsten Wellen, zu denen Wind und Strömung das Meer mitunter auftürmten, galten als GAU der Ölindustrie. Ebenso fürchtete man Kollisionen mit losgerissenen Pontons und manövrierunfähigen Tankern. All das verteilte sich auf der Hitliste des Schreckens, und ganz oben stand das Gasleck. Lecks waren kaum detektierbar. Man bemerkte sie oft erst, wenn es zu spät war und sie mit Feuer in Berührung kamen. In diesem Fall explodierte die komplette Plattform, so wie damals die Piper Alpha auf der britischen Seite, als die größte Katastrophe in der Geschichte der Ölindustrie über hundertsechzig Menschenleben forderte.
   Doch Seebeben waren der Alptraum schlechthin.
   Und dies, erkannte Jörensen, war ein Beben.
   Alles konnte nun geschehen. Wenn die Erde bebte, verlor man jede Kontrolle. Material deformierte sich und riss. Lecks entstanden, Brände brachen aus. Wenn ein Beben eine Plattform zum Erzittern brachte, konnte man nur hoffen, dass es nicht noch schlimmer wurde, dass der Meeresboden nicht einbrach oder abrutschte, dass die verankerten Konstruktionen den Stößen standhielten. Aber selbst dann gab es ein weiteres Problem, das mit dem Beben einherging, und dagegen gab es gar nichts, was man tun konnte, nicht das Geringste.
   Und dieses Problem kam gerade auf die Plattform zu.
   Jörensen sah es herannahen und wusste, dass seine Chancen mehr als schlecht standen. Er drehte sich um und wollte die stählerne Treppe hinuntereilen, um wegzukommen von der luftigen Empore.
   Alles ging sehr schnell.
   Seine Füße verloren den Halt, und er stürzte. Instinktiv krallten sich seine Hände ins Bodengitter. Infernalischer Lärm brach los, ein Tosen und Krachen, als breche die ganze Plattform auseinander. Schreie waren zu hören, dann zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Luft, und Jörensen wurde gegen das Geländer geschleudert. Heftiger Schmerz durchfuhr seinen Körper. Im Gitter hängend gewahrte er, wie sich die See plötzlich aufzustellen schien. Über ihm zerbarst kreischend Metall. Voller Entsetzen begriff er, dass sich die riesige Plattform in Schräglage begab, und sein Verstand setzte aus. Übrig blieb ein Wesen in Panik, das unsinnigerweise den Versuch unternahm, nach oben davonzukriechen, weg vom näher kommenden Wasser. Er zog sich die Schräge hinauf, die eben noch ein Boden gewesen war, doch die Schräge wurde steiler, und Jörensen begann zu schreien.
   Seine Kraft erlahmte. Die Finger der Rechten lösten sich aus den Metallstreben, und er rutschte tiefer. Ein fürchterlicher Ruck ging durch seinen linken Arm. Er hing nun an einer Hand. Immer noch schreiend legte er den Kopf in den Nacken und sah den kippenden Förderturm und den Ausleger mit der Gasflamme, der nicht länger übers Wasser hinausragte, sondern steil in den rabenschwarzen Himmel.
   Einen Moment lang wirkte die einsame Flamme fast erhaben. Ein Gruß an die Götter. Hallo da oben. Wir kommen.
   Dann flog alles in einer hellgelben Glutwolke auseinander, und Jörensen wurde in die See geschleudert. Er spürte den Schmerz nicht dort, wo es ihm den Unterarm abgerissen hatte, sodass seine Linke immer noch ins Gitter der Empore gekrallt war. Bevor ihn die Feuerwalze erfassen konnte, krachte schon der heranrasende Tsunami in die versinkende Plattform, und Gullfaks C wurde zerschmettert, während die Betonpfeiler zusammen mit dem abstürzenden Schelfrand in der Tiefe verschwanden.
   Opa, erzähl uns eine Geschichte …
 
Oslo, Norwegen
 
   Die Frau hörte mit gefurchter Stirn zu. »Was meinen Sie?«, fragte sie. »So etwas wie eine Kettenreaktion?« Sie gehörte dem ständigen Katastrophenstab des Umweltministeriums an und war es gewohnt, mit den abenteuerlichsten Theorien konfrontiert zu werden. Das Geomar-Institut war ihr bekannt und auch, dass man sich dort nicht zu Spinnereien verstieg, also versuchte sie möglichst rasch zu begreifen, was der deutsche Wissenschaftler am Telefon ihr erzählte.
   »Nicht direkt«, antwortete Bohrmann. »Eher einen simultanen Ablauf. Die Zerstörungen schreiten entlang des gesamten Hangs voran. Es geschieht überall zur gleichen Zeit.«
   Die Frau schluckte. »Und … welche Gebiete wären davon betroffen?«
   »Kommt drauf an, wo genau der Abbruch stattfindet und auf welcher Länge. Große Teile der norwegischen Küste, schätze ich. Tsunamiwellen breiten sich über Tausende von Kilometern aus. Wir informieren sämtliche Anrainer, Island, Großbritannien, Deutschland, alle.«
   Die Frau starrte aus dem Fenster des Regierungsgebäudes. Sie dachte an die Plattformen da draußen. Hunderte bis hinauf nach Trondheim.
   »Was wäre die Folgen für die Küstenstädte?«, fragte sie tonlos.
   »Sie sollten Evakuierungen ins Auge fassen.«
   »Und für die Offshore-Industrie?«
   »Glauben Sie mir, das ist alles schwer zu sagen. Im besten Fall gibt es eine Serie kleiner Rutschungen. Dann wird es einfach nur ein bisschen wackeln. Schlimmstenfalls bedeutet es …«
   Im selben Moment ging die Türe auf, und ein Mann mit bleichem Gesicht kam hereingestürzt. Er legte ein Blatt Papier vor die Frau und machte ihr Zeichen, das Gespräch zu beenden. Sie nahm den Ausdruck und überflog den kurzen Text. Es war der Abschrift eines Funkspruchs. Ein Schiff hatte ihn abgegeben.
   Thorvaldson, las sie.
   Dann las sie weiter und fühlte, wie der Boden unter ihren Füßen zu schwinden drohte.
   »Es gibt warnende Anzeichen«, sagte Bohrmann gerade. »Falls es passieren sollte, müssen die Menschen an der Küste wissen, worauf sie zu achten haben. Tsunamis kündigen sich an. Eine Weile vor ihrem Eintreffen kann man ein schnelles Ansteigen und Fallen des Meeresspiegels beobachten. Mehrmals hintereinander. Dem geübten Auge fällt es auf. Nach zehn oder zwanzig Minuten weicht das Wasser dann plötzlich weit vom Ufer zurück. Riffe und Felsen werden sichtbar. Sie werden Meeresboden sehen, der normalerweise nie zu sehen ist. Spätestens jetzt müssen Sie höheres Gelände aufsuchen.«
   Die Frau sagte nichts mehr, und sie hörte kaum noch zu. Sie hatte sich vorzustellen versucht, was geschehen würde, wenn der Mann am Telefon die Wahrheit sagte. Jetzt versuchte sie sich vorzustellen, was soeben geschah.
 
Sveggesundet, Norwegen
 
   Lund verging vor Langeweile.
   Es war dämlich, in dem leeren Restaurant herumzusitzen und Kaffee zu trinken. Jede Form von Untätigkeit erschien ihr wie Folter. Die Küchenhilfe war freundlich gewesen und hatte ihretwegen extra die Maschine angeworfen, mit der man Espresso und Cappuccino zubereitete. Der Kaffee schmeckte köstlich, und trotz des stürmischen Wetters und der schlechten Sicht war der Blick aus den großen Panoramafenstern aufs Meer beeindruckend. Dennoch fand Lund die Warterei ungemein öde.
   Sie löffelte aufgeschäumte Milch aus ihrer Tasse, als jemand eintrat. Ein Windstoß fuhr ins Innere.
   »Hallo, Tina.«
   Sie sah auf. Der Mann war ein Freund von Sverdrup. Sie kannte ihn nur als Åke, seinen Nachnamen wusste sie nicht. Er hatte eine gut gehende Bootsvermietung in Kristiansund und verdiente in den Sommermonaten eine Menge Geld.
   Sie wechselten einige Worte über das Wetter, dann fragte Åke: »Was machst du hier? Besuchst du Kare?«
   »Das hatte ich vor«, sagte Lund mit schiefem Grinsen.
   Åke sah sie aus erstaunten Augen an.
   »Was sitzt du dann alleine hier herum? Warum ist der Schwachkopf nicht bei dir, wo er hingehört?«
   »Meine Schuld. Ich war zu früh.«
   »Ruf ihn an.«
   »Hab ich. Mailbox.«
   »Ach richtig!« Åke schlug sich gegen die Stirn. »Er hat keinen Empfang dort, wo er jetzt ist.«
   Lund horchte auf. »Du weißt, wo er ist?«
   »Ja, ich war eben noch mit ihm zusammen bei Hauffen.«
   »Hauffen? Die Brennerei?«
   »Ja. Er kauft Schnäpse ein. Wir haben das eine oder andere probiert, aber du kennst ja Kare. Er trinkt weniger Alkohol als ein Mönch in der Fastenzeit, ich musste die Verkostung alleine übernehmen.«
   »Ist er noch da?«
   »Als ich ging, standen sie unten im Keller beisammen und quatschten. Warum fährst du nicht rüber? Weißt du, wo Hauffen ist?«
   Lund wusste es. Die kleine Brennerei, die einen ausgezeichneten, nicht zum Export bestimmten Aquavit destillierte, lag zehn Gehminuten südlich auf einem flachen Plateau. Mit dem Auto würde sie in zwei Minuten dort sein, wenn sie die landeinwärts gelegene Straße nahm. Aber irgendwie gefiel ihr der Gedanke an einen kurzen Spaziergang besser. Sie hatte genug im Auto gesessen.
   »Ich gehe rüber«, sagte sie.
   »Bei dem Sauwetter?« Åke verzog das Gesicht. »Na, du musst es wissen. Schwimmhäute werden dir wachsen.«
   »Besser als Wurzeln.« Sie stand auf, dankbar für die Information. »Bis dann. Ich bringe ihn mit zurück.«
   Draußen stellte sie den Kragen ihrer Jacke hoch, ging hinunter zum Strand und stapfte los. Von hier aus war die Brennerei an klaren Tagen gut zu erkennen. Jetzt erschien sie als grauer Schemen im schräg einfallenden Regen.
   Würde er sich freuen, sie zu sehen?
   Unglaublich! Sie dachte wie ein verliebter Teenager. Tina Lund, nicht zurechnungsfähig. Klar würde er sich freuen. Was denn sonst?
   Während sie sich vom Fiskehuset entfernte, wanderte ihr Blick aufs Meer hinaus. Ihr fiel auf, dass sie sich geirrt haben musste vorhin. Sie hatte gedacht, der felsige Strand sei breiter als sonst, aber er war wie immer. Nein, eigentlich wirkte er sogar schmaler.
   Einen Moment lang verharrte sie.
   Wie konnte man sich derart täuschen?
   Vielleicht war der Sturm schuld. Die Wellen schlugen mal mehr, mal weniger herein. Wahrscheinlich wurde es gerade wieder heftiger. Sie zuckte die Achseln und ging weiter.
   Als sie völlig durchnässt die Brennerei betrat, fand sie niemanden in dem kleinen Empfangsraum vor. An der Rückwand stand eine Holztür offen. Lichtschein drang aus dem Keller nach oben. Sie zögerte nicht, sondern stieg hinab, wo sie zwei Männer antraf, die an Fässer gelehnt miteinander redeten, jeder ein Glas in der Hand. Es waren die beiden Brüder, denen die Brennerei gehörte, freundliche, alte Kerle mit wettergegerbten Gesichtern. Kare war nirgends zu sehen.
   »Tut mir Leid«, sagte einer der beiden. »Er ist vor zwei Minuten abgezogen. Du hast ihn gerade verpasst.«
   »War er zu Fuß hier?«, fragte sie. Womöglich konnte sie ihn einholen.
   »Nein.« Der andere schüttelte den Kopf. »Mit dem Lieferwagen. Er hat ein bisschen was gekauft. Zu viel, um’s zu tragen.«
   »Hat er gesagt, ob er zurück ins Restaurant fährt?«
   »Ja, da wollte er hin.«
   »Okay. Danke.«
   »He, warte mal.« Der Alte löste sich vom Fass und kam zu ihr herüber. »Wenn du schon umsonst gekommen bist, trink wenigstens einen mit uns. Das ist doch ein Unding, du kommst in eine Brennerei und gehst nüchtern wieder raus!«
   »Danke, das ist sehr nett, aber …«
   »Er hat Recht«, stimmte sein Bruder eifrig zu. »Du musst was trinken.«
   »Ich …«
   »Draußen geht die Welt unter, Kind. Wie willst du denn zurückfinden ohne was Warmes im Bauch?«
   Beide sahen sie mit Dackelaugen an. Lund wusste, dass sie den Alten eine Freude machte, wenn sie auf ein Glas blieb.
   Und warum eigentlich nicht?
   »Eines«, sagte sie.
   Die Brüder grinsten und nickten einander zu, als hätten sie soeben Konstantinopel eingenommen.
 
Shetland Islands, Großbritannien
 
   Der Helikopter setzte zur Landung an.
   Johanson sah hinaus. Sie hatten die Steilküste überflogen, waren ihrem Verlauf gefolgt und hielten nun auf den kleinen Landeplatz zu, an dem Karen Weaver ihn abholen wollte. Die Klippen fielen nach Osten sanft ab und endeten in einer geschwungenen Bucht. Ab hier war das Land flach. Endlose Sand— und Kiesstrände reihten sich aneinander, hinter denen die typische karge Mooslandschaft der Shetlands begann. Niedrige, lang gestreckte Hügel, zwischen denen sich die Straßen ausnahmen wie hineingekratzt.
   Der Heliport gehörte zu einer meereskundlichen Station, die ein halbes Dutzend Wissenschaftler beherbergte, und verdiente die Bezeichnung kaum: ein annähernd rundes Schotterfeld inmitten der graugrünen Weite, die Station selbst wenig mehr als eine Ansammlung windschiefer Baracken. Eine schmale Straße führte aus den Hügeln herab und endete an einem Pier. Johanson sah keine Boote. Neben den Baracken parkten zwei Geländewagen und ein rostiger VW-Bus. Weaver schrieb an einem Artikel über Seehunde, darum hatte sie den Platz ausgewählt. Sie fuhr regelmäßig mit den Wissenschaftlern hinaus, tauchte mit ihnen und wohnte in einer der Hütten.
   Eine letzte Bö ließ den Bell erzittern, dann hatten die Räder Bodenberührung. Federnd setzte der Helikopter auf.
   »Das hätten wir überstanden«, sagte der Pilot.
   Johanson sah eine kleine Gestalt am Rand des Landefeldes stehen. Ihre Haare flatterten im Wind. Er schätzte, dass es Karen Weaver war. Es gefiel ihm, wie sie da in der Einöde wartete. Nicht weit von ihr war ein Motorrad aufgebockt. Alles nach seinem Geschmack. Eine archaische Insel mit einer einsamen Gestalt darin, beide einander beherrschend. Er reckte die Glieder, steckte das Buch mit den Gedichten Whitmans zurück in die Reisetasche und griff nach seinem Mantel.
   »Meinetwegen könnten wir noch ein paar Runden drehen«, sagte er, »aber ich würde die Dame ungern warten lassen.«
   Der Pilot drehte sich zu Johanson um und zog die Stirn in Falten. »Tun Sie eigentlich nur so cool, oder hat es Ihnen tatsächlich nichts ausgemacht?«
   Johanson versuchte, in die Ärmel seines Mantels zu gelangen. »Das müssen Sie schon selber rausfinden. Sie haben doch Ihre Erfahrungen mit Vorständen.«
   »Ja, sicher.«
   »Und? Bin ich cool?«
   »Ich weiß nicht. Vielleicht bluffen Sie einfach nur. Die meisten, mit denen ich unterwegs bin, hätten mir die Ohren voll gejammert.«
   »Auch Skaugen?«
   »Skaugen?« Der Pilot dachte einen Moment nach, während über ihnen das Flappen der Rotoren langsamer wurde. »Nein. Ich glaube, Skaugen ist durch gar nichts zu beeindrucken.«
   Das hätte mich auch gewundert, dachte Johanson.
   »Können Sie mich morgen Mittag wieder hier aufgabeln? Sagen wir, um zwölf.«
   »Kein Problem.«
   Er wartete, bis die Tür aufschwang, und stieg die kleine Leiter hinunter. War er cool? Tief im Innern war er froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Der Pilot musste weiter, aber er war heftige Wetterverhältnisse offenbar gewöhnt. Er würde nur eine kurze Pause einlegen und dann nach Lerwick fliegen, um aufzutanken. Johanson schulterte seine Reisetasche und ging hinüber zu der wartenden Gestalt. Sein Mantel blähte sich und schlug um seine Beine, aber wenigstens regnete es nicht.
   Karen Weaver kam ihm langsam entgegen.
   Mit jedem Schritt schien sie kurioserweise kleiner zu werden. Als sie schließlich vor ihm stand, schätzte er sie auf höchstens einsfünfundsechzig. Sie war auf attraktive Weise kompakt. Die Jeans spannten sich über muskulösen Beinen. Unter der Lederjacke zeichneten sich breite Schultern ab. Soweit Johanson erkennen konnte, trug sie keinerlei Make-up. Ihre Bräune war von der Art, wie man sie in Wind und Wetter erwirbt. Brennende Sonne und Salz hatten daran mitgearbeitet und zudem für Sommersprossen gesorgt, die sich zahlreich auf den breiten Wangenknochen und der Stirn verteilten. Der Wind zerrte an einer Flut kastanienfarbener Locken. Sie musterte ihn interessiert.
   »Sigur Johanson«, stellte sie fest. »Wie war der Flug?«
   »Lausig. Ich musste mich der tröstenden Gesellschaft von Walt Whitman versichern.« Er sah hinüber zum Helikopter. »Aber der Pilot meinte, ich wäre cool.«
   Sie lächelte. »Wollen Sie was essen?«
   Seltsame Frage, dachte er, so unmittelbar nach der Begrüßung. Dann fiel ihm auf, dass er tatsächlich Hunger hatte.
   »Gerne. Wo?«
   Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Motorrad.
   »Wir können in den nächsten Ort fahren. Wenn Ihnen die Fliegerei nicht allzu sehr zugesetzt hat, werden Sie auch die Harley überstehen. Schneller geht es in der Station, falls Sie mit Corned Beef aus der Dose und Erbsensuppe vorlieb nehmen.«
   Johanson sah sie an und stellte fest, dass ihre Augen von ungewöhnlich intensivem Blau waren. Das Blau der tiefen See.
   »Warum nicht?«, sagte er. »Sind Ihre Wissenschaftler rausgefahren?«
   »Nein. Zu stürmisch. Sie wollten in den Ort und Besorgungen machen. Ich kann hier tun und lassen, was ich will, und ich kann auch eine Büchse aufmachen. Ende meiner Kochkunst. Kommen Sie.«
   Johanson folgte ihr über die Schotterfläche des Heliports zur Station. Hier unten präsentierten sich die Gebäude nicht ganz so windschief wie aus der Vogelperspektive.
   »Wo sind eigentlich die Boote?«, fragte er.
   »Wir lassen sie nicht so gerne draußen.« Sie zeigte auf das Gebäude, das dem Wasser am nächsten stand. »Die Bucht ist kaum geschützt, darum verfrachten wir sie jedes Mal nach Gebrauch in die Baracke gleich am Meer.«
   Das Meer …
   Wo war das Meer?
   Johanson stutzte und blieb stehen. Wo eben noch Brandungswellen gegen den Strand geschlagen hatten, breitete sich eine schlammige Ebene aus, durchsetzt mit flachen Felsen. Das Meer hatte sich zurückgezogen, aber es musste innerhalb der letzten Minute passiert sein. Auf weiter Fläche war nur Boden zu sehen.
   Keine Ebbe konnte das in derart kurzer Zeit bewirken. Das Wasser war Hunderte von Metern zurückgewichen.
   Weaver ging noch ein paar Schritte, dann drehte sie sich zu ihm um. »Was ist? Keinen Hunger?«
   Er schüttelte den Kopf. Ein Geräusch drang an seine Ohren, schwoll an, wurde lauter. Zuerst dachte er, es sei ein großes Flugzeug, das tief über dem Wasser dahinzog und auf die Insel zuhielt. Doch es klang nicht wie ein Flugzeug. Eher wie heranrollender Gewitterdonner, nur viel zu gleichmäßig für Donner, und es hörte nicht auf …
   Plötzlich wurde ihm klar, was es war.
   Weaver war seinem Blick gefolgt. »Was zum Teufel ist das?«
   Johanson setzte zu einer Antwort an. Im selben Moment sah er, wie sich der Horizont verfinsterte, und Weaver sah es auch.
   »Zum Helikopter!«, schrie er.
   Die Journalistin schien wie erstarrt. Dann lief sie los. Gemeinsam rannten sie auf den Helikopter zu. Hinter den Cockpitscheiben sah Johanson den Piloten die Instrumente checken. Es dauerte eine Sekunde, bis der Blick des Mannes auf die heraneilenden Gestalten fiel. Er hielt inne. Johanson machte ihm Zeichen, die Leiter herunterzulassen. Er wusste, dass der Pilot nicht sehen konnte, was vom Meer kam. Der Helikopter stand mit dem Cockpit landeinwärts.
   Der Mann runzelte die Stirn, dann nickte er. Mit einem Zischen öffnete sich die Tür, und die Leiter senkte sich herab.
   Das Donnern kam näher. Inzwischen klang es, als sei die komplette Welt jenseits der Insel in Bewegung geraten.
   Und genauso ist es, dachte Johanson.
   Falscher Ort, falsche Zeit.
   Hin— und hergerissen zwischen Entsetzen und Faszination verharrte er am Fuß der Leiter und sah zu, wie das Meer zurückkam und die schlammige Ebene wieder überspülte. Mein Gott, dachte er, es ist so unwahrscheinlich! Es gehört einfach nicht in diese Epoche, ist nicht für zivilisierte Menschen gedacht. Schulbuchzeug. Jeder wusste, dass Meteoriten, Erdbeben, Vulkanausbrüche und Flutwellen das Bild der Erde über Jahrmillionen verändert hatten, aber einem geheimen Abkommen zufolge schienen derartige Begebenheiten mit dem Beginn des technischen Zeitalters für immer ihr Ende gefunden zu haben.
   »Johanson!«
   Jemand versetzte ihm einen Stoß. Er riss sich los und hastete die Stufen hinauf, gefolgt von Weaver. Der Helikopter hatte zu zittern begonnen. Er sah die Bestürzung in den Augen des Piloten und rief:
   »Starten Sie. Sofort!«
   »Was ist das für ein Geräusch? Was passiert hier?«
   »Los, hoch mit der Kiste!«
   »Ich kann nicht zaubern. Was soll das überhaupt? Wohin soll ich fliegen?«
   »Egal. Höhe gewinnen.«
   Knatternd setzten sich die Rotoren in Bewegung. Der Bell löste sich schwankend vom Boden und stieg ein, zwei Meter. Dann siegte die Neugierde des Piloten über seine Angst. Er schwenkte den Helikopter um hundertachtzig Grad, sodass sie hinaus aufs Meer sehen konnten. Seine Gesichtszüge entgleisten.
   »Ach du heilige Scheiße«, stieß er hervor.
   »Da!« Weaver zeigte aus dem Fenster zu den Baracken. »Da draußen!«
   Johanson wandte den Kopf. Aus dem Hauptgebäude kam jemand auf sie zugelaufen. Ein Mann in Jeans und T-Shirt. Sein Mund stand weit offen. Er rannte aus Leibeskräften auf sie zu und ruderte mit den Armen.
   Johanson sah Weaver verblüfft an.
   »Ich dachte …«
   »Ich auch.« Sie starrte entsetzt auf die näher kommende Gestalt. »Wir müssen runter. Oh Gott, ich schwöre, ich wusste nicht, dass Steven hier geblieben ist, ich dachte wirklich, sie seien alle …«
   Johanson schüttelte energisch den Kopf. »Er schafft es nicht.«
   »Wir können ihn nicht zurücklassen.«
   »Schauen Sie nach draußen, verflucht nochmal. Er schafft es nicht. Wir schaffen es nicht.«
   Weaver stieß ihn zur Seite und drängte sich an ihm vorbei zur Tür. Im nächsten Moment verlor sie das Gleichgewicht, als der Pilot den Helikopter seitlich über den Sandstreifen auf den rennenden Mann zubewegte. Die Maschine begann sich zu drehen und erbebte, als sie nacheinander von einer Reihe schwerer Böen getroffen wurde. Der Pilot fluchte lautstark. Kurz verloren sie den Wissenschaftler aus den Augen, dann waren sie ihm plötzlich sehr nahe.
   »Er schafft es«, schrie Weaver. »Wir müssen runtergehen!«
   »Nein«, flüsterte Johanson.
   Sie hörte ihn nicht. Sie konnte ihn nicht hören. Selbst der Rotorenlärm ging nun unter im Donner des heranrollenden Meeres. Johanson wusste, dass sie den Wissenschaftler nicht mehr retten konnten, aber sie hatten wertvolle Zeit verloren, und inzwischen bezweifelte er, dass sie es selber schaffen würden. Er zwang sich, den Blick von der rennenden Gestalt zu lösen und nach vorn zu richten.
   Die Welle war riesig. Sie mochte an die dreißig Meter hoch sein, eine senkrechte Wand aus tosendem, schwarzgrünem Wasser. Wenige hundert Meter trennte sie noch vom Ufer, aber sie näherte sich mit der Geschwindigkeit eines Eilzuges, und das bedeutete, dass ihnen allenfalls Sekunden blieben bis zur Kollision. Die Zeit reichte eindeutig nicht aus, um den Mann an Bord zu nehmen und zugleich den heranstürmenden Wassermassen zu entkommen. Dennoch versuchte der Pilot ein letztes Mal, den Helikopter nah genug an den Flüchtenden heranzubringen. Vielleicht hoffte er, der Mann könne sich mit einem Sprung durch die offene Tür ins Innere retten, eine der Kufen zu fassen bekommen, irgendwas von dem, was man ständig im Kino sah und was dort regelmäßig klappte, wenn man Bruce Willis hieß oder Pierce Brosnan.