»Die üblichen Verdächtigen.«
   »Ja, aber es ergibt alles keinen Sinn. Quallen, Algen und ähnliches Viehzeug sind schon vor Jahren im Ballastwasser von Schiffen um die Welt gereist. Wir kennen die Phänomene.«
   »Schon klar«, sagte Johanson. »Siehst du, darauf will ich hinaus. Wenn irgendwo Horden von Seewespen einfallen, ist das eine Sache. Wenn rund um den Globus die unwahrscheinlichsten Dinge gleichzeitig passieren, ist das ganz was anderes.«
   Olsen legte die Fingerspitzen aufeinander und sah nachdenklich drein. »Also, wenn du unbedingt Zusammenhänge herstellen willst, würde ich nicht von biologischen Invasionen sprechen. Sondern eher von Verhaltensanomalien. Das sind Angriffsmuster. Und zwar solche, wie man sie bislang nicht kannte.«
   »Sonst hast du nichts rausgefunden über irgendwelche neuen Spezies?«
   »Du lieber Gott. Reicht das nicht?«
   »Ich frage ja nur.«
   »Was schwebt dir denn vor?«, fragte Olsen gedehnt.
   Wenn ich jetzt nach Würmern frage, dachte Johanson, weiß er Bescheid. Er weiß zwar nicht, was er mit der Information anfangen soll, aber ihm wird augenblicklich klar sein, dass irgendwo auf der Welt Wurminvasionen stattfinden.
   »Nichts Konkretes«, sagte er.
   Olsen sah ihn scheel an. Dann reichte er ihm den restlichen Packen Papier hinüber. »Erzählst du mir bei Gelegenheit, was du mir ganz offensichtlich nicht erzählen willst?«
   Johanson nahm die Ausdrucke und erhob sich. »Wir trinken einen drauf.«
   »Klar doch. Wenn ich mal Zeit habe. Du weißt, mit der Familie …«
   »Danke, Knut.«
   Olsen zuckte die Achseln. »Keine Ursache.«
   Johanson trat hinaus auf den Flur. Aus einem Hörsaal strömten Studenten an ihm vorbei, einige lachend und schwatzend, andere mit angestrengten Gesichtern.
   Er blieb stehen und sah ihnen nach.
   Plötzlich kam ihm die Idee, alles sei gesteuert, gar nicht mehr so abwegig vor.
 
Vor Svalbard, Spitsbergen, Grönländische See
 
   Auf dem Wasser lag das Mondlicht.
   Es war ein Anblick, der die Mannschaft an Deck trieb, so atemberaubend schön präsentierte sich das Eismeer in dieser Nacht. Selten sah man es so, aber Lukas Bauer bekam nichts davon mit. Er saß in seiner Kammer über seinen Unterlagen und kam sich vor wie jemand, der die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen sucht, nur dass der Heuhaufen die Größe zweier Meere besaß.
   Karen Weaver hatte ihre Sache gut gemacht und ihn wirklich entlastet, aber vor zwei Tagen war sie im spitsbergischen Longyearby von Bord gegangen, um dort Recherchen anzustellen. Sie führte ein unruhiges Leben, wie Bauer fand, obschon sein eigenes nicht eben ruhiger verlief. Als Wissenschaftsjournalistin hatte sie sich vor allem auf marine Themen verlegt. Bauer vermutete, dass Weavers Berufswahl einzig dem Umstand zu verdanken war, dass sie auf diese Weise kostenlos in die unwirtlichsten Regionen der Welt reisen konnte. Sie liebte das Extreme. Darin unterschied sie sich von ihm, der das Extreme von Herzen verabscheute, jedoch von solchem Forscherdrang besessen war, dass ihm Erkenntnis über Bequemlichkeit ging. Viele Forscher waren so. Missverstanden als Abenteurer, nahmen sie das Abenteuer in Kauf, um in den Besitz von Wissen zu gelangen.
   Bauer vermisste einen bequemen Sessel, Bäume und Vögel und ein frisch gezapftes deutsches Bier. Vor allem aber vermisste er Weavers Gesellschaft. Er hatte das störrische Mädchen ins Herz geschlossen, und außerdem begann er, den Sinn und Zweck von Pressearbeit zu begreifen — dass man sich, wenn man eine breite Öffentlichkeit für die eigene Tätigkeit interessieren wollte, auf ein vielleicht nicht hoch präzises, dafür jedoch verständliches Vokabular verlegen musste. Weaver hatte ihm klargemacht, dass viele Menschen seine Arbeit schon darum nicht verstehen würden, weil sie gar nicht wussten, wie und wo der Golfstrom entsprang, um den sich alles drehte, was er in diesen Tagen unternahm. Er hatte das nicht glauben können. Er hatte auch nicht glauben können, dass keiner wusste, was ein Autarker Drifter war, bis Weaver ihn davon überzeugte, dass es kaum jemand wissen konnte, weil Drifter viel zu neu und zu speziell waren. Das hatte er schließlich akzeptiert. Aber der Golfstrom! Was lernten die Kinder bloß in der Schule?
   Doch Weaver hatte Recht. Schließlich wollte er die Öffentlichkeit gewinnen, um sie teilhaben zu lassen an seiner Sorge, und um den Verantwortlichen Druck zu machen.
   Und Bauer sorgte sich sehr.
   Seine Sorge entsprang im Golf von Mexiko. Dorthin strömte entlang der südamerikanischen Küste und vom Süden Afrikas her warmes Oberflächenwasser. In der Karibik wurde es aufgeheizt und floss weiter nach Norden. Einladend warmes Wasser, zwar ziemlich salzig, aber weil es so warm war, blieb es an der Oberfläche.
   Dieses Wasser bildete Europas Fernheizung, den Golfstrom. Bis Neufundland wälzte er sich und transportierte dabei eine Milliarde Megawatt Wärme, was der thermischen Leistung von 250000 Kernkraftwerken entsprach, wo ihm der kalte Labradorstrom in die Seite fiel und ihn auflöste. Dabei wurden sogenannte Eddies abgeschnürt, kreisende, warme Wassermassen, die weiter nach Norden trieben, nun Nordatlantische Drift genannt. Westwinde sorgten dafür, dass reichlich Wasser verdunstete, was Europa ergiebige Regenfälle bescherte und zugleich den Salzgehalt in die Höhe trieb. Die Drift zog weiter die norwegische Küste hoch, firmierte dort als Norwegenstrom und brachte immer noch genug Wärme in den äußersten Nordatlantik, dass Schiffe selbst im Winter Südwestspitsbergen anlaufen konnten. Erst zwischen Grönland und Nordnorwegen endete der Wärmezufluss. Hier stieß der Norwegenstrom alias Nordatlantische Drift alias Golfstrom auf eiskaltes Arktiswasser, das ihn, unterstützt von kalten Winden, rapide abkühlte. Das ohnehin sehr salzige, nun auch sehr kalte Wasser wurde schwer und sackte ab. So schwer wurde es, dass seine Massen steil in die Tiefe stürzten. Das geschah nicht auf ganzer Front, sondern in Kanälen, sogenannten Schloten, die je nach Wellengang ihre Position wechselten und darum nicht auf Anhieb zu finden waren. Sinkschlote hatten einen Durchmesser zwischen 20 und 50 Metern. Etwa zehn von ihnen kamen auf einen Quadratkilometer, aber wo genau sie lagen, hing von der Tagesform des Meeres und der Winde ab. Entscheidend war der ungeheure Sog, den die absinkenden Wassermassen erzeugten. Hierin lag das ganze Geheimnis des Golfstroms und seiner Ausläufer. Er floss nicht wirklich nach Norden, sondern wurde dorthin gezogen, angesaugt von der gewaltigen Pumpe unterhalb der Arktis. In 2000 bis 3000 Metern Tiefe trat das eisige Wasser dann seinen Rückweg an, eine Reise, die es einmal um den Erdball führte.
   Bauer hatte eine Reihe von Driftern ausgesetzt in der Hoffnung, dass sie dem Verlauf der Schlote folgen würden. Aber inzwischen drohte ihn der Mut zu verlassen, überhaupt auf Schlote zu stoßen. Überall hätten sie sein müssen. Stattdessen schien die große Pumpe ihren Betrieb eingestellt oder in unbekannte Regionen verlegt zu haben.
   Bauer war hier, weil er um diese Probleme wusste und um ihre Auswirkungen. Er hatte nicht erwartet, alles in bester Ordnung vorzufinden. Aber gar nichts vorzufinden hatte er noch viel weniger erwartet.
   Und es bereitete ihm wirklich sehr, sehr große Sorgen.
   Er hatte Weaver seine Sorgen mitgeteilt, bevor sie von Bord gegangen war. Seither mailte er ihr folgsam in regelmäßigen Abständen Statusberichte und ließ sie an seinen geheimsten Befürchtungen teilhaben. Schon vor Tagen hatte sein Team festgestellt, dass die Gaskonzentrationen im Nordmeer sprunghaft angestiegen waren, und er brütete über der Frage, ob es womöglich einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der Sinkschlote gab.
   Jetzt, allein in seiner Kammer, war er dessen fast sicher.
   Er arbeitete ohne Pause, während die Polarnacht hart gesottene Seeleute dazu brachte, einfach an der Reling zu lehnen und hinauszusehen. Mit rundem Rücken saß er über Stapeln von Berechnungen, Ausdrucken mit Diagrammen und Karten. Zwischendurch schickte er eine E-Mail an Karen Weaver, einfach um Hallo zu sagen und sie mit seinen letzten Erkenntnissen vertraut zu machen.
   So versunken war er in seine Arbeit, dass er es eine ganze Weile schaffte, das Zittern zu ignorieren — so lange, bis der Becher Tee auf seinem Schreibtisch zur Kante gewandert war und sich im Kippen auf seine Hose ergoss.
   »Teufel auch!«, zeterte er. Der Tee lief heiß in seinen Schritt und an den Schenkeln herab. Er schob den Stuhl zurück und stand auf, um das Malheur näher in Augenschein zu nehmen.
   Dann verharrte er, die Hände um die Stuhllehnen gekrallt, und horchte hinaus.
   Täuschte er sich?
   Nein, er hörte Schreie. Schwere Stiefel rannten über das Deck. Irgendetwas ging da draußen vor sich. Das Zittern wurde heftiger. Das Schiff verfiel in Vibrationen, und plötzlich hebelte ihn etwas aus dem Gleichgewicht. Ächzend stolperte er gegen seinen Schreibtisch. Im nächsten Moment sackte der Boden unter ihm weg, als ob das komplette Schiff in ein Loch fiele. Bauer wurde rücklings zu Boden geschleudert. Angst nahm Besitz von ihm, tiefe, schreckliche Angst. Er rappelte sich auf und taumelte aus seiner Kammer hinaus auf den Gang. Lautere Schreie drangen an sein Ohr. Die Maschine wurde angeworfen. Jemand brüllte etwas auf Isländisch, das Bauer nicht verstand, weil er nur Englisch sprach, aber er hörte das Entsetzen in der Stimme, und noch größeres Entsetzen in der Stimme, die antwortete.
   Ein Seebeben?
   Hastig lief er den Gang entlang und die Treppe hinauf zum Deck. Das Schiff schwankte wie wild hin und her. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Als er nach draußen wankte, schlug ihm ein entsetzlicher Gestank entgegen, und mit einem Mal wusste Lukas Bauer, was los war.
   Er schaffte es zur Reling und sah hinaus. Ringsum brodelte weiß die See. Als säßen sie in einem Kochtopf.
   Das waren keine Wellen. Kein Sturm. Es waren Blasen. Riesige, aufsteigende Blasen.
   Wieder sackte der Schiffsboden weg. Bauer fiel nach vorn und schlug mit dem Gesicht hart auf die Planken. In seinem Kopf explodierte der Schmerz. Als er wieder aufsah, war seine Brille zu Bruch gegangen. Ohne Brille war er so gut wie blind, aber er sah auch so, dass die See über dem Schiff zusammenschlug.
   Oh Gott!, dachte er. Oh Gott, hilf uns.
 

30. April

Vancouver Island, Kanada
 
   Die Nacht erstrahlte in düsterem Grün.
 
   Weder war es kalt noch warm, vielmehr herrschte eine Art wohliger Temperaturlosigkeit. Das Atmen schien zu den Akten verfehlter Entwicklungen gelegt und durch eine übergreifende Funktion ersetzt worden zu sein, die es gestattete, sich frei in den Elementen zu bewegen. Nachdem Anawak nun schon eine ganze Weile durch das tiefdunkelgrüne Universum gefallen war, befiel ihn eine regelrechte Euphorie, und er reckte die Arme wie ein Ikarus, der sich den Abgrund zum Himmel erkoren hat, berauschte sich am Gefühl der Schwerelosigkeit und sank tiefer und tiefer. Am Grund schimmerte ihm etwas entgegen, eine weite, eisige Landschaft, und der dunkle, grüne Ozean verwandelte sich in einen nächtlichen Himmel.
   Er stand am Rande eines Eisfeldes und blickte hinaus auf schwarzes, still daliegendes Wasser, über sich eine Fülle von Sternen.
   Frieden erfasste ihn.
   Wie wunderbar war es, einfach hier zu stehen. Der Eisrand würde sich vom Festland ablösen und als Scholle durch die nördlichen Meere treiben, immer höher hinauf, mit ihm als Passagier, dorthin, wo keine erdrückende Fragenlast mehr auf ihn wartete, sondern ein Zuhause. Sein Zuhause. Er würde zu Hause sein. Sehnsucht legte sich auf Anawaks Brust und trieb ihm Tränen in die Augen, funkelnde, grelle Tränen, die ihn blendeten, sodass er versuchte, sie abzuschütteln — und tatsächlich spritzten sie in die schwarze See und begannen sie zu erleuchten. Etwas stieg aus der Tiefe zu ihm empor. Das Wasser formte sich zu einer Gestalt, die in einiger Entfernung auf ihn zu warten schien, dort, wo er nicht hingehen konnte. Starr und kristallen stand sie da, das Licht der Sterne gefangen in ihrer Oberfläche.
   Ich hab sie gefunden, sagte die Gestalt.
   Sie hatte kein Gesicht und keinen Mund, doch ihre Stimme kam Anawak bekannt vor. Er trat näher heran, aber da war der Eisrand, und im schwarzen Wasser schwamm etwas Großes, Furcht Einflößendes.
   Du hast was gefunden?, fragte er.
   Seine eigene Stimme versetzte ihm einen Schrecken. Die Worte kamen zäh über seine Lippen. Sie quälten sich hervor wie grobschlächtige Tiere. Im Gegensatz zu dem, was die Gestalt gesagt oder vielleicht nur gedacht hatte, verwundeten sie die perfekte Stille über der Landschaft aus Eis, und plötzlich griff schneidende Kälte nach Anawak. Sein Blick suchte das Ding im Wasser, aber es war verschwunden.
   Na, was schon, sagte jemand neben ihm.
   Er wandte den Kopf und erblickte die zierliche Gestalt Samantha Crowes, der SETI-Forscherin.
   Du bist ziemlich ungeübt im Reden, sagte sie. Alles andere kannst du besser. Offen gestanden, es klingt schrecklich!
   Tut mir Leid, stammelte Anawak.
   So? Na ja. Vielleicht solltest du anfangen zu üben. Ich habe meine Außerirdischen gefunden. Weißt du noch? Wir haben endlich Kontakt aufnehmen können. Ist das nicht großartig?
   Anawak erzitterte. Er fand es keineswegs großartig, vielmehr verspürte er klamme Angst vor Crowes Außerirdischen, ohne zu wissen, warum.
   Und … wer sind sie? Was sind sie?
   Die SETI-Forscherin deutete hinaus auf das schwarze Wasser jenseits des Eisrandes.
   Sie sind dort draußen, sagte sie. Ich denke, sie würden sich freuen, dich kennen zu lernen, sie lieben es nämlich, Kontakt aufzunehmen, aber dafür müsstest du dich zu ihnen hinbemühen.
   Ich kann nicht, sagte Anawak.
   Du kannst nicht? Crowe schüttelte verständnislos den Kopf. Warum kannst du nicht?
   Anawak starrte auf die dunklen, gewaltigen Rücken, die das Wasser durchpflügten. Es waren Dutzende, Hunderte. Ihm war klar, dass sie nur seinetwegen dort waren, und er wusste plötzlich, dass sie sich von seiner Angst nährten.
   Sie fraßen Angst.
   Ich … kann einfach nicht.
   Du musst doch nur losgehen, Feigling!, spottete Crowe. Das ist doch nun wirklich das Einfachste von der Welt, Du hast es viel einfacher als wir, wir mussten den ganzen verdammten Weltraum abhorchen.
   Anawak zitterte noch stärker. Er trat bis dicht an den Rand und schaute hinaus. Am Horizont, wo die schwarze See den sternübersäten Himmel in sich aufnahm, erstrahlte ein fernes Leuchten.
   Geh einfach, sagte Crowe.
   Ich bin geflogen, dachte Anawak. Durch einen dunkelgrünen Ozean, der voller Leben war, und ich hatte nicht die geringste Angst. Was soll passieren? Das Wasser wird wie fester Boden sein, ich werde in dieses Licht gelangen, getragen von meinem Willen. Sam hat Recht. Es ist ganz einfach. Es gibt nichts, wovor man sich fürchten müsste.
   Vor seinen Augen tauchte eines der Riesentiere ab, und eine kolossale, zweizipfelige Fluke reckte sich den Sternen entgegen.
   Nichts, wovor ich mich fürchten müsste.
   Aber er hatte zu lange gezögert, und der Anblick der Fluke hatte ihn verunsichert. Weder trug ihn sein Wille noch die Macht des Traumes, Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Als er endlich einen Schritt nach vorn machte, versank er augenblicklich in der Eiseskälte der See. Sie schlug über seinem Kopf zusammen, und alles war nur noch schwarz. Er wollte schreien und schluckte Wasser. Es drang schmerzhaft in seine Lungen. Unerbittlich zog es ihn nach unten, wie sehr er auch um sich schlug. Sein Herz pochte wie wild, in seinen Schläfen pochte es, ein Dröhnen wie von Hammerschlägen …
   Anawak fuhr hoch und knallte mit dem Kopf gegen die Bohlen. »Verdammt«, stöhnte er.
   Wieder das Pochen. Keine Spur von Dröhnen. Eher ein gemäßigtes Pochen, Fingerknöchel auf Holz. Er rollte sich auf die Seite und sah Alicia Delaware, die leicht gebückt in seine Koje spähte.
   »‘tschuldige«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass du gleich hochgehst wie eine Rakete.«
   Anawak starrte sie an. Delaware?
   Ach ja. Langsam setzte sich die Erinnerung daran zusammen, wo er war. Er hielt sich den Schädel, gab ein gepeinigtes Grunzen von sich und ließ sich zurückfallen.
   »Wie viel Uhr ist es?«
   »Halb zehn.«
   »Mist.«
   »Du siehst furchtbar aus. Hast du schlecht geträumt?«
   »Irgendeinen Käse.«
   »Ich kann Kaffee machen.«
   »Kaffee? Ja, gute Idee.« Seine Finger betasteten die Stelle, an der er sich den Schädel gerammt hatte, und zuckten zurück. Das würde eine ansehnliche Beule geben. »Wo ist der blöde Wecker? Ich weiß genau, dass ich ihn gestellt habe. Auf sieben.«
   »Du hast ihn überhört. Kein Wunder, nach allem, was passiert ist.« Delaware ging hinüber zu der kleinen Küchenzeile und sah sich prüfend um. »Wo ist …«
   »Hängeschrank, linke Seite. Kaffee, Filter, Milch und Zucker.«
   »Hast du Hunger? Ich kann prima Frühstück …«
   »Nein.«
   Sie zuckte die Achseln und füllte Wasser in die Kanne der Kaffeemaschine. Anawak sah ihr einige Sekunden zu, dann stemmte er sich aus der Koje.
   »Dreh dich um. Ich muss mir was anziehen.«
   »Mach nicht so ein Theater. Ich guck dir schon nichts weg.«
   Er verzog das Gesicht, während er Ausschau nach seinen Jeans hielt. Sie lagen zusammengeknüllt auf der Sitzbank, die sich um den Kajüttisch bog. Das Anziehen erwies sich als schwierig. Ihm war schwindelig, und sein verletztes Bein schmerzte, als er versuchte, es anzuwinkeln.
   »Hat John angerufen?«, fragte er.
   »Ja. Vorhin.«
   »So eine Scheiße.«
   »Was?«
   »Jeder Tattergreis kommt schneller in die Hose. — Zum Teufel, warum habe ich den Wecker überhört? Ich wollte unbedingt …«
   »Weißt du was? Du bist bescheuert, Leon. Echt bescheuert! Vor zwei Tagen hast du einen Flugzeugabsturz überlebt. Du hast ein dickes Knie, und bei mir ist das Gehirn ein bisschen verrutscht, na und? Wir hatten irrsinniges Glück. Wir könnten tot sein wie Danny und der Pilot, stattdessen leben wir. Und du maulst rum wegen deinem beschissenen Wecker und weil du gerade mal nicht das Rad schlagen kannst. — Fertig?«
   Anawak ließ sich auf die Sitzbank sinken. »Ist ja gut. Was sagt John?«
   »Er hat alle Daten beisammen. Und er hat sich das Video angesehen.«
   »Na toll. Und?«
   »Nichts und. Du sollst dir deine eigene Meinung bilden.«
   »Das ist alles?«
   Delaware füllte den Filter mit Kaffeepulver, setzte ihn auf die Kanne und stellte die Maschine an. Nach wenigen Sekunden erfüllte leises Schmatzen und Röcheln den Raum.
   »Ich habe ihm gesagt, dass du noch schläfst«, sagte sie. »Er meinte, ich soll dich nicht wecken.«
   »Warum denn das?«
   »Er sagt, du musst gesund werden. Womit er Recht hat.«
   »Ich bin gesund«, erwiderte Anawak trotzig.
   Tatsächlich war er sich dessen nicht wirklich sicher. Als die DHC-2 mit dem springenden Grauwal kollidiert war, hatte es der Maschine die rechte Tragfläche abgerissen. Danny, der Armbrustschütze, war vermutlich auf der Stelle tot gewesen — die Whistler hatte seine Leiche nicht gefunden, aber es konnte keinen Zweifel daran geben. Er war nicht rechtzeitig ins Innere gelangt, mit der Folge, dass die Seitentür des Flugzeugs beim Absturz offen gestanden hatte. Nur diesem Umstand verdankte es sich, dass Anawak überhaupt noch lebte. Beim Aufprall war er hinausgeschleudert worden. Danach konnte er sich an nichts mehr erinnern, auch nicht, was die üble Zerrung in seinem Knie verursacht hatte. Erst an Bord der Whistler war er wieder zu sich gekommen, ins Bewusstsein gerufen durch den pochenden Schmerz.
   Als Nächstes hatte er Delaware dort liegen sehen, und der Schmerz verlor jegliche Bedeutung. Sie sah aus wie tot. Bevor sein Entsetzen überhand nahm, hatte man ihn aufgeklärt, dass sie nicht tot sei, sondern noch größeres Glück gehabt habe als er. Der Körper des Piloten hatte sie abgefedert. Halb ohnmächtig war es ihr gelungen, sich aus dem sinkenden Wrack zu befreien. Innerhalb einer Minute war die kleine Maschine voll gelaufen. Die Besatzung der Whistler hatte Anawak und Delaware aus dem Wasser fischen können, aber der unglückliche Pilot war mit seiner DHC-2 in der Tiefe verschwunden.
   Bei aller Tragik ließ sich die Aktion dennoch als Erfolg verbuchen. Danny hatte den Sender platziert. Der URA war den Walen gefolgt und hatte 24 Stunden Film auf Magnetband bannen können, ohne dass die Tiere den Roboter angegriffen hatten. Anawak wusste, dass die Aufzeichnungen in den frühen Morgenstunden an John Ford geschickt worden waren, und er hatte sich fest vorgenommen, dann im Aquarium zu sein. Außerdem hatte das Centre National d’Etudes Spatiales die bislang eingetroffenen telemetrischen Daten des Fahrtenschreibers freigegeben, den Lucy auf dem Rücken trug. Ohne den Absturz hätten sie allen Grund gehabt, sich auf die Schulter zu klopfen.
   Stattdessen wurde alles nur schrecklicher. Immer mehr Menschen starben. Er selber war zweimal knapp dem Tod entgangen. Vielleicht, weil seine Wut auf Greywolf jedes andere Empfinden ausbrannte, hatte er Stringers Tod erstaunlich schnell verkraftet. Jetzt, zwei Tage nach dem Absturz, fühlte er sich elend. Wie befallen von einer Krankheit, die nach Jahren der Unterdrückung ihr Recht beanspruchte, auszubrechen. Sie ging einher mit Unsicherheit, Selbstzweifel und einem beunruhigenden Mangel an Kraft. Möglicherweise hielt ihn nach wie vor der Schock gefangen, aber eigentlich glaubte Anawak nicht recht daran. Da war noch etwas anderes. Ein Schwindel, der ihn von Zeit zu Zeit überkam, seit er aus dem Flugzeugwrack geschleudert worden war, Schmerzen in der Brust und Anflüge von Panik.
   Nein, er war nicht wirklich gesund, und die Zerrung in seinem Knie war nicht das eigentliche Problem.
   Anawak fühlte sich im Innersten versehrt.
   Den Tag zuvor hatte er weitgehend verschlafen. Davie, Shoemaker und die Skipper waren ihn besuchen gekommen. Ford hatte mehrfach angerufen und sich nach ihm erkundigt. Ansonsten zeigte sich niemand sonderlich um ihn besorgt. Während Alicia Delaware von ihren Eltern und einem Haufen Bekannter gedrängt wurde, Vancouver Island zu verlassen — unvermittelt tauchte sogar ein fester Freund auf und machte eine zweijährige Beziehung geltend —, erschöpfte sich die Anteilnahme an Anawaks Schicksal auf den Kollegenkreis.
   Er war krank und wusste, dass kein Arzt ihm würde helfen können.
   Delaware stellte einen Becher frisch gebrühten Kaffee vor ihn hin und musterte ihn durch ihre blauen Brillengläser. Anawak schlürfte, verbrannte sich die Zunge und verlangte nach dem Funktelefon. »Kann ich dich mal was Persönliches fragen, Leon?«, sagte sie.
   Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Später.«
   »Wann ist später?«
   Anawak zuckte die Achseln und wählte Fords Nummer.
   »Wir sind noch nicht durch mit den Sichtungen«, sagte der Direktor. »Lass dir Zeit und ruh dich aus.«
   »Du hast Licia gesagt, ich soll mir selber eine Meinung bilden.«
   »Ja, nachdem wir alles gesichtet haben. Das meiste ist langweilig. Bevor du extra herkommst deswegen, schauen wir lieber noch den Rest durch. Vielleicht kannst du dir den Weg dann sparen.«
   »Na schön. Wann seid ihr fertig?«
   »Keine Ahnung. Wir sitzen zu viert an den Bändern. Gib uns zwei Stunden. Nein, drei. Am besten, ich lasse dich am frühen Nachmittag rüberfliegen. Schick, was? Das ist wiederum der Vorteil von Krisenstäben. Man hat immer einen Hubschrauber parat.« Ford lachte. »Nicht, dass wir uns noch dran gewöhnen.« Er machte eine Pause. »Dafür hab ich was anderes für dich. Das heißt, mir fehlt im Augenblick die Zeit, es zu erzählen, aber besser wäre ohnehin, wenn du Rod Palm dazu anrufst.«
   »Palm? Wozu?«
   »Er hat vor einer Stunde mit Nanaimo und dem Institut für Ozeanische Wissenschaften konferiert. Du kannst auch mit Sue Oliviera sprechen, aber ich dachte, Palm sitzt direkt vor deiner Haustür.«
   »Verdammt, John! Warum ruft mich keiner an, wenn es was zu erzählen gibt?«
   »Ich wollte warten, bis du ausgeschlafen hast.«
   Anawak beendete mürrisch das Gespräch und rief Palm an. Der Leiter der Forschungsstation auf Strawberry Isle war sofort am Telefon.
   »Ah!«, rief er. »Ford hat mit dir gesprochen.«
   »Ja. Hat er. Angeblich seid ihr auf irgendwas Weltbewegendes gestoßen. Warum hast du mich nicht angerufen?« »Jeder weiß, dass du deine Ruhe brauchst.« »Ach, Quatsch.« »Doch, doch. Ich wollte warten, bis du ausgeschlafen hast.« »Das höre ich jetzt innerhalb einer Minute zum zweiten Mal. Nein, zum dritten Mal, wenn man Licias permanente Sorge dazunimmt. Es geht mir gut, verdammt nochmal.« »Warum kommst du nicht auf einen Sprung rüber?«, schlug Palm vor. »Mit dem Boot?« »Die paar hundert Meter, ich bitte dich. In der Bucht ist außerdem noch nichts passiert.« »Gut, ich kann in zehn Minuten drüben sein.« »Prima. Bis gleich.« Delaware sah ihn über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg an und runzelte die Brauen. »Was Neues?« »Alle Welt behandelt mich wie einen Pflegefall«, schimpfte Anawak. »Das meine ich nicht.« Er stand auf, zog die Schublade unter seiner Koje auf und kramte nach einem frischen Hemd. »Sie haben offenbar irgendwas entdeckt in Nanaimo«, brummte er. »Und was?«, wollte Delaware wissen. »Weiß ich nicht.«
   »Ah ja.«
   »Ich fahre rüber zu Rod Palm.« Er zögerte, dann sagte er: »Kannst ja mitkommen, wenn du Lust und Zeit hast.
   Okay?«
   »Du willst mich dabeihaben? Welche Ehre.«
   »Sei nicht blöde.«
   »Bin ich nicht.« Sie krauste die Nase. Die Kanten ihrer Schneidezähne ruhten auf der Unterlippe. Wieder dachte Anawak, dass man dringend etwas an diesen Zähnen machen müsste. Ständig fühlte er sich versucht, nach Mohrrüben Ausschau zu halten. »Du hast eine Scheißlaune seit zwei Tagen, dass man kaum ein manierliches Gespräch mit dir führen kann.«
   »Hättest du auch, wenn du …« Er brach ab.
   Delaware sah ihn an. »Ich habe mit im Flugzeug gesessen«, sagte sie ruhig. »Tut mir Leid.« »Ich bin vor Angst fast gestorben. Jeder andere wäre sofort heim zu Mama gefahren. Aber du hast deine Assistentin verloren, also fahre ich nicht zu Mama, sondern bleibe an deiner Seite, du dämlicher Muffel. Was wolltest du mir gerade erzählen?«
   Anawak betastete erneut die Beule auf seinem Schädel. Sie schmerzte und wurde dicker. Auch sein Knie schmerzte. »Nichts. Hast du dich abgeregt?«
   Sie hob die Brauen. »Ich rege mich gar nicht erst auf.«
   »Gut. Dann komm.«
   »Ich würde dich trotzdem gerne was Persönliches fragen.« »Nein.«
   Mit der Devilfish zu der kleinen Insel hinauszufahren, hatte etwas Unwirkliches. Fast, als hätte es die Angriffe der letzten Wochen nicht gegeben. Strawberry Island war wenig mehr als ein Hügel mit Tannenbewuchs, den man in fünf Minuten zu Fuß umrunden konnte. Heute lag das Wasser spiegelglatt da. Kein Wind blies. Eine fiebrige Sonne verstrahlte weißes Licht. Jeden Augenblick erwartete Anawak eine Fluke oder einen schwarzen Rücken mit hoher Finne auftauchen zu sehen, aber seit dem Beginn der Attacken hatten sich nur zweimal Orcas vor Tofino blicken lassen. Es waren Residents gewesen, die keinerlei Anzeichen von Aggressivität an den Tag legten. Offenbar bewahrheitete sich Anawaks Theorie, wonach nur wandernde Wale von der merkwürdigen Verhaltensänderung betroffen waren.
   Fragte sich, wie lange noch.
   Das Zodiac legte am Landungspier der Insel an. Palms Station lag direkt gegenüber. Sie war in einem alten, gestrandeten Segelschiff untergebracht, der ersten British Columbia Ferry, die sich jetzt malerisch am Ufer breit machte, gestützt auf abgestorbene Bäume und umgeben von Treibholz und verrosteten Ankern. Sie diente Palm als Büro und Zuhause, das er zusammen mit zwei Kindern bewohnte.
   Anawak mühte sich verbissen, nicht zu humpeln. Delaware schwieg. Offenbar war sie sauer auf ihn.
   Wenig später saßen sie zu dritt auf dem Vorschiff um einen kleinen, geflochtenen Tisch aus Birkenrinde. Delaware nuckelte an einer Cola. Sie sahen hinüber auf die Stelzenhäuser des Orts. Obwohl Strawberry Island nur wenige hundert Meter von Tofino entfernt lag, war es hier viel stiller. Kaum drangen Geräusche herüber. Dafür bekam man alles Mögliche zu hören, was die Natur an Lauten hervorbrachte.
   »Was macht dein Knie?«, fragte Palm mitfühlend. Er war ein zuvorkommender Mann mit flockigem weißem Bart und Stirnglatze, der mit einer Pfeife im Mund auf die Welt gekommen zu sein schien.
   »Reden wir nicht davon.« Anawak reckte die Arme und versuchte das Wummern in seinem Schädel zu ignorieren. »Sag mir lieber, was ihr rausgefunden habt.«
   »Leon hat’s nicht gerne, wenn man sich nach seinem Wohlbefinden erkundigt«, bemerkte Delaware spitz.
   Anawak knurrte etwas Unverständliches. Sie hatte natürlich Recht. Seine Laune fiel wie ein Barometer bei Sturm.
   Palm räusperte sich. »Ich habe mich längere Zeit mit Ray Fenwick und Sue Oliviera unterhalten«, sagte er. »Seit der öffentlichen Obduktion von J-19 stehen wir in regem Kontakt. Aber nicht nur deswegen. Am Tag eurer Bruchlandung ist wieder ein Wal angeschwemmt worden. Ein Grauwal, den ich nicht kannte. Er ist nirgendwo verzeichnet. Fenwick hatte keine Zeit herzukommen, also habe ich das Tier selber mit einigen Leuten auseinander gesäbelt, um Nanaimo die üblichen Proben für die Analyse zu schicken. Eine Scheißarbeit, sage ich dir. Irgendwann stand ich aufrecht im Brustkorb, nachdem wir das Herz freigelegt hatten, und rutschte darin aus. Blut und Schleim liefen mir in die Stiefel, es tropfte von oben, wir haben ausgesehen wie Zombies bei der Mahlzeit. So viel zur romantischen Seite des Unterfangens. Natürlich haben wir auch Teile des Hirns entnommen.«
   Die Vorstellung, dass wieder ein Wal verendet war, erfüllte Anawak mit bohrender Trauer. Er schaffte es einfach nicht, die Tiere für ihre Taten zu hassen. Für ihn blieben sie, was sie immer gewesen waren — wunderbare Geschöpfe, die es zu verteidigen und zu schützen galt.
   »Woran ist er gestorben?«, fragte er.
   Palm breitete die Hände aus. »Ich würde sagen, an einer Infektion. Dasselbe hat Fenwick auch bei Dschinghis diagnostiziert. Das Komische ist nur, dass wir etwas bei den Tieren gefunden haben, das da unter keinen Umständen hingehört.« Er zeigte auf seine Schläfe und ließ seinen Zeigefinger kreisen. »Fenwick hat eine Art Gerinnsel im Hirn entdeckt. Am Hirnstamm, um genau zu sein. Mit Ausläufern, die sich zwischen Hirnmasse und Schädeldecke verteilen.«
   Anawak horchte auf. »Blutgerinnsel? Bei beiden Tieren?«
   »Blut nicht, obwohl wir das anfangs dachten. Fenwick und Oliviera finden nämlich Geschmack an der Theorie, wonach Lärm für die Anomalien verantwortlich ist. Sie wollten nicht darüber reden, solange keine weiteren Indizien vorliegen, aber Fenwick hatte sich zeitweise regelrecht festgebissen an den Folgen dieser Sonarversuche …«
   »Surtass LFA?«
   »Genau.«
   »Vergiss es. Im Leben nicht.«
   »Darf man erfahren, wovon ihr redet?«, hakte sich Delaware ein.
   »Die amerikanische Regierung hat der Navy vor ein paar Jahren eine Extrawurst gebraten«, erklärte Palm. »Sie hat ihr die Genehmigung für den Einsatz eines Niederfrequenz-Sonars zur Ortung von U-Booten erteilt. Es heißt Surtass LFA und wird fleißig erprobt.«
   »Wirklich?«, entsetzte sich Delaware. »Ich denke, die Navy ist an das Abkommen zum Schutz der Meeressäuger gebunden.«
   »Alle möglichen Leute sind an alle möglichen Abkommen gebunden«, sagte Anawak mit dünnem Lächeln.
   »Und es gibt alle möglichen Hintertüren. Die Vereinigten Staaten können der Versuchung offenbar nicht widerstehen, 80 Prozent der Weltmeere zu überwachen, und das ist mit Surtass LFA halt möglich. Also hat der amerikanische Präsident die Navy flugs von jeglichen Abkommen entbunden, weil das neue System schon 300 Millionen Dollar gekostet hat und die Verantwortlichen schwören, damit keinem Wal was zuleide zu tun.«
   »Aber Sonar ist schädlich für Wale. Das weiß jeder Idiot.«
   »Es ist leider nicht hinreichend bewiesen«, sagte Palm. »Die Vergangenheit zeigt, dass Wale und Delphine äußerst sensibel auf Sonar reagieren, aber welchen Einfluss das auf Beutejagd, Fortpflanzung und Wanderungen hat, lässt sich nicht eindeutig sagen.«
   »Lächerlich«, schnaubte Anawak. »Ab 180 Dezibel reißen bei einem Wal die Trommelfelle. Jeder einzelne Unterwasserlautsprecher des neuen Systems verursacht aber einen Lärm von 215 Dezibel. Die Gesamtsignalstärke liegt sogar noch höher.«
   Delaware sah von einem zum anderen. »Und … was passiert mit den Tieren?«
   »Das ist es eben, weshalb Fenwick und Oliviera auf die Lärmtheorie kamen«, sagte Palm. »Schon vor Jahren haben Sonarversuche der Navy Delphine und Wale in verschiedenen Teilen der Welt stranden lassen. Mehrere Wale starben. Alle wiesen starke Blutungen im Gehirn und an den Knöchelchen im Innenohr auf — Verletzungen, wie sie typisch sind für den Einfluss starken Lärms. Umweltschützer konnten jedes Mal nachweisen, dass im unmittelbaren Bereich der Todesfälle NATO-Übungen stattgefunden hatten, aber leg dich mal mit der Navy an!«
   »Die bestreiten es?«
   »Die Navy hat jahrelang jeden Zusammenhang bestritten. Inzwischen musste sie einräumen, zumindest in einigen Fällen die Verantwortung zu tragen. Der Punkt ist, dass wir immer noch zu wenig wissen. Wir kennen nur die Schädigungen bei toten Walen, und jeder entwickelt seine Theorie. Fenwick glaubt beispielsweise, unterseeischer Lärm könne auch zu kollektivem Wahnsinn führen.«
   »Unsinn«, knurrte Anawak. »Lärm raubt den Tieren die Orientierung. Sie greifen keine Schiffe an, sondern stranden.«
   »Ich finde Fenwicks Theorie erwägenswert«, sagte Delaware.
   »Ach ja?«
   »Warum denn nicht? Die Tiere drehen durch. Erst einige, dann nach Art einer Massenpsychose immer mehr.«
   »Licia, red keinen Mist! Wir wissen von Schnabelwalen, die vor den Kanaren strandeten, nachdem die NATO dort ihr Pow Wow durchführte. Kaum ein Tier reagiert auf Lärm so empfindlich wie ein Schnabelwal. Klar sind sie durchgedreht. Vor lauter Panik wussten sie sich nicht anders zu helfen, als ihr angestammtes Element zu verlassen, und schon lagen sie am Strand. Wale fliehen vor Lärm.«
   »Oder greifen den Urheber an«, hielt ihm Delaware trotzig entgegen.
   »Welchen Urheber? Schlauchboote mit Außenbordern? Wo bitte schön sind die denn laut?«
   »Dann hat’s eben anderen Lärm gegeben. Unterwassersprengungen.«
   »Nicht hier.«
   »Woher willst du das wissen?«
   »Ich weiß es eben.«
   »Hauptsache, du hast Recht.«
   »Das sagst gerade du!«
   »Außerdem hat es Strandungen schon vor Jahrhunderten gegeben. Auch vor British Columbia. Es gibt alte Überlieferungen, die …«
   »Weiß ich. Jeder weiß das.«
   »Und? Hatten die Indianer auch Sonar?«
   »Was um alles in der Welt hat das mit unserem Thema zu tun?«
   »Eine Menge. Walstrandungen lassen sich unreflektiert vor den ideologischen Karren spannen und …«
   »Ich bin also unreflektiert?«
   Delaware blitzte ihn zornig an. »Alles, was ich sagen will, ist, dass Massenstrandungen nicht notwendigerweise etwas mit künstlich erzeugtem Lärm zu tun haben müssen. Umgekehrt kann Lärm vielleicht auch zu etwas anderem führen als zu Strandungen.«
   »He!« Palm hob die Hände. »Ihr streitet euch umsonst. Fenwick findet seine Lärmtheorie mittlerweile selber etwas löchrig. Okay, er hängt am kollektiven Wahnsinn, aber … hört ihr mir überhaupt zu?«
   Sie sahen ihn an.
   »Also«, fuhr Palm fort, nachdem er sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit versichert hatte. »Fenwick und Oliviera fanden diese Gerinnsel und schlossen auf eine Deformation durch äußere Einwirkungen. Oberflächlich sahen sie aus wie Blutungen, also hielten sie sie auch dafür. Dann isolierten sie das Zeug und unterzogen es dem üblichen Procedere, wobei sie feststellten, dass die Substanz nur vom Blut der Wale durchtränkt war. Das Zeug selber ist eine farblose Masse, die sich an der Luft rasch zersetzt. Der Großteil war nicht mehr zu gebrauchen.« Palm beugte sich vor. »Aber einiges konnten sie doch untersuchen. Die Resultate decken sich mit den Ergebnissen einer Probenuntersuchung, die wenige Wochen zurückliegt. Sie hatten die Substanz aus den Köpfen der Wale schon einmal gesehen. In Nanaimo.«
   Anawak schwieg eine Sekunde.
   »Und was ist es?«, fragte er heiser.
   »Dasselbe, was du zwischen den Muscheln am Rumpf der Barrier Queen gefunden hast.«
   »Das Zeug aus den Walgehirnen und vom Schiffsrumpf …«
   »Ist identisch. Die gleiche Substanz. Organische Materie.«
   »Ein Fremdorganismus«, murmelte Anawak.
   »Irgendetwas Fremdes. Ja.«
   Anawak fühlte sich ausgelaugt, obwohl er nur wenige Stunden auf den Beinen war. Er fuhr mit Delaware zurück nach Tofino. Das Knie behinderte ihn, als sie die Holzstiege vom Anlegeplatz zum Pier emporstiegen. Es behinderte sein Handeln und sein Denken. Er fühlte sich hilflos, deprimiert und allem Unangenehmen ausgeliefert.
   Mit zusammengebissenen Kiefern humpelte er in den verlassenen Verkaufsraum von Davies Whaling Station, holte eine Flasche Orangensaft aus dem Eisschrank und ließ sich in den Sessel hinter der Theke fallen. In seinem Kopf jagten einander die Gedanken mit derselben Sinnlosigkeit, mit der Hunde versuchen, ihre Schwänze zu fangen.
   Delaware kam ihm nach. Sie sah sich unschlüssig um.
   »Nimm dir was.« Anawak wies auf den Eisschrank.
   »Irgendwas.«
   »Der Wal, der das Flugzeug zum Absturz gebracht hat …«, begann sie.
   Anawak öffnete die Flasche und nahm einen tiefen Schluck. »Entschuldige. Ich hab dir nichts angeboten. Wie gesagt, bedien dich.«
   »Er hat sich verletzt, Leon. Vielleicht ist er gestorben.«
   Er dachte darüber nach.
   »Ja«, sagte er. »Wahrscheinlich.«
   Delaware trat zu einem Regal, auf dem in Plastik gegossene Modelle von Walen angeboten wurden. Es gab sie in allen Größen. Von daumenlang bis zur Länge eines Unterarms. Mehrere Buckelwale stützten sich einträchtig auf ihre Flipper. Sie nahm einen davon hoch und drehte ihn in den Fingern hin und her. Anawak sah ihr lauernd dabei zu.
   »Sie tun das nicht freiwillig«, sagte sie.
   Er rieb sich das Kinn. Dann beugte er sich vor und schaltete den kleinen tragbaren Fernseher neben dem Funkgerät ein. Vielleicht würde sie ja von selber gehen, ohne dass er sie darum bitten musste. Er hatte nichts gegen ihre Gesellschaft. Im Grunde schämte er sich für seine üble Laune und dafür, dass er grob und abweisend zu ihr war, aber sein Bedürfnis, allein zu sein, wuchs mit jeder Minute.
   Delaware stellte den Plastikwal behutsam wieder ins Regal. »Darf ich dich was Persönliches fragen?«
   Schon wieder! Anawak setzte zu einer schroffen Antwort an. Dann zuckte er die Achseln. »Meinetwegen.«
   »Bist du ein Makah?«
   Vor Überraschung wäre ihm beinahe die Flasche aus der Hand gerutscht. Das also hatte sie ihn fragen wollen. Sie wollte wissen, warum er wie ein Indianer aussah. »Wie kommst du denn gerade darauf?«, stieß er hervor. »Du hast etwas gesagt, kurz bevor das Flugzeug startete.
   Etwas zu Shoemaker. Dass Greywolf es sich mit den Makah verderben würde, weil er so vehement gegen den Walfang wettert. Die Makah sind Indianer, richtig?«
   »Ja.«
   »Deine Leute?«
   »Die Makah? Nein. Ich bin kein Makah.«
   »Bist du …«
   »Hör zu, Licia, sei mir nicht böse, aber ich bin einfach nicht in der Stimmung für Familiengeschichten.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Okay.« »Ich ruf dich an, wenn Ford sich meldet.« Er grinste schief. »Oder du rufst mich an. Vielleicht meldet er sich ja wieder mal bei dir, um mich nicht zu wecken.«
   Delaware schüttelte ihren roten Schopf und ging langsam zur Tür. Dort blieb sie stehen. »Nur eines noch«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Bedank dich endlich bei Greywolf dafür, dass er dir das Leben gerettet hat. Ich war jedenfalls dort.«
   »Du warst …«, fuhr er auf. »Ja, natürlich. Du kannst ihn für alles andere verabscheuen, aber so viel Dank hat er verdient. Ohne ihn wärst du tot.« Damit ging sie. Anawak starrte ihr nach. Er knallte die Flasche auf den Tisch und atmete einmal tief durch. Bedanken. Bei Greywolf.
   Er saß noch immer dort, als er beim Zappen auf eine der vielen Sondersendungen stieß, die in diesen Tagen zur Situation vor British Columbia gebracht wurden. Ähnliche Sendungen empfing man aus den USA. Auch dort hatten Angriffe den regionalen Schiffsverkehr weitestgehend lahm gelegt. Im Fernsehstudio wurde eine Frau in Navy-Uniform interviewt. Ihre kurz geschnittenen schwarzen Haare hatte sie glatt zurückgekämmt. Das Gesicht war von strenger Schönheit, asiatisch geschnitten. Vielleicht eine Chinesin. Nein, eher Halbchinesin. Eine entscheidende Kleinigkeit passte nicht zum Rest. Es waren die Augen. Sie waren von einem hellen, völlig unasiatischen Wasserblau.
   Ein Balken wurde am unteren Bildrand eingeblendet:
   General Commander Judith Li, US Navy
   »Müssen wir die Gewässer vor British Columbia denn jetzt abschreiben?«, fragte der Moderator gerade. »Sozusagen zurückgeben an die Natur?«
   »Ich glaube nicht, dass wir der Natur etwas zurückzugeben haben«, erwiderte Judith Li. »Wir leben im Einklang mit der Natur, auch wenn es da noch einiges zu verbessern gibt.«
   »Augenblicklich lässt sich wohl kaum von Einklang sprechen.«
   »Nun, wir stehen mit den angesehensten Wissenschaftlern und Forschungsinstituten diesseits und jenseits der Grenze in engem Kontakt. Es ist Besorgnis erregend, wenn Tiere kollektive Verhaltensänderungen an den Tag legen, aber es wäre ebenso verkehrt, die Situation zu dramatisieren und in Panik zu verfallen.«
   »Sie glauben nicht an ein Massenphänomen?«
   »Darüber zu spekulieren, welcher Art ein Phänomen ist, setzt voraus, es überhaupt mit einem Phänomen zu tun zu haben. Augenblicklich würde ich von einer Kumulation ähnlicher Ereignisse sprechen …«
   »Die in der Öffentlichkeit so gut wie nicht stattfinden«, fuhr ihr der Moderator dazwischen. »Warum eigentlich nicht?«
   »Aber sie finden doch statt.« Li lächelte. »In diesem Augenblick.«
   »Was uns ebenso freut wie überrascht. Die Informationspolitik sowohl Ihres wie auch unseres Landes war in den letzten Tagen mehr als dürftig. Es ist kaum möglich, die Meinung von Fachleuten einzuholen, weil Ihre Dienststellen jeden Kontakt abblocken.«
   »Doch«, knurrte Anawak. »Greywolf hat seinen Sabber abgesondert. Nicht zugehört?«
   Aber hatte jemand Ford um ein Interview gebeten? Oder Ray Fenwick? Rod Palm gehörte zu den führenden Orca-Forschern, aber war er in den letzten Wochen je von einer Zeitung oder einem Fernsehsender angesprochen worden? Ihn selber, Leon Anawak, hatte Scientific American erst kürzlich in einem Artikel über Intelligenzforschung bei Meeressäugern gewürdigt, aber niemand war erschienen, um ihm ein Mikrophon unter die Nase zu halten.
   Erst jetzt fiel ihm die Absurdität des Ganzen auf. Unter anderen Umständen — Terroranschläge, Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen — wurde jeder Experte oder wer sich dafür hielt innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden vor die Kameras gezerrt.
   Sie hingegen arbeiteten im Stillen.
   Dann musste er sich eingestehen, dass auch Greywolf seit seinem letzten Zeitungsinterview nicht mehr öffentlich stattfand. In den Tagen zuvor hatte der radikale Umweltschützer kaum eine Chance ungenutzt verstreichen lassen, sich in Pose zu setzen, aber plötzlich war der Held von Tofino kein Thema mehr.
   »Das sehen Sie ein bisschen einseitig«, sagte Li ruhig. »Die Situation ist sicher ungewöhnlich. Es gibt so gut wie keine vergleichbaren Fälle. Natürlich achten wir darauf, dass nicht jeder sogenannte Experte voreilige Schlüsse äußert, alleine schon, weil wir mit den Dementis nicht nachkommen würden. Abgesehen davon sehe ich derzeit keine Bedrohung, der sich nicht entgegenwirken ließe.«