Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, fiel auf den Hintern und streckte die Beine aus. In rasender Fahrt ging es abwärts. Krampfhaft umklammerte sie die beiden Torpedos, spürte schmerzhaft die raue Oberfläche der Rampe und die Streben, die ihr ins Kreuz hämmerten, überschlug sich und sah schwarzes Wasser auf sich zustürzen.
   Es spritzte nach allen Seiten. Der Untergrund wich zurück. Li wurde herumgewirbelt, tauchte auf und schnappte nach Luft.
   Sie hatte die Röhren nicht losgelassen!
   Dumpfes Jammern erscholl aus den Tunnelwänden. Sie stieß sich ab und schwamm geräuschlos in den Trakt hinein, um die Biegung herum und auf das Welldeck zu. Das Wasser war temperiert, es musste aus dem Becken stammen. Im Tunnel war das Licht ausgefallen, aber das Welldeck verfügte über ein eigenes Versorgungssystem. Weiter vorne wurde es heller. Im Näherkommen erkannte sie die schräg aufsteigenden Piers, die Heckverschlussklappe, die jetzt drohend über dem künstlichen Hafenbecken hing, die zwei Tauchboote, von denen eines auf Pierhöhe schwebte.
   Zwei Boote?
   Deepflight 2 war verschwunden.
   Und auf Deepflight 3 turnte, bekleidet mit einem Neoprenanzug, Johanson herum.
 
Flugdeck
 
   Crowe hielt es nicht mehr aus.
   Der pakistanische Koch hatte zwar Zigaretten, aber darüber hinaus war er keine große Hilfe. Er saß jammernd und zusammengekauert an der Heckkante und war nicht in der Lage, Pläne zu machen. Genau genommen sah sich Crowe ebenso wenig dazu imstande, weil sie schlicht nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Ratlos starrte sie auf die tosenden Flammen. Aber den Gedanken aufzugeben, hasste sie aus tiefstem Herzen. Für jemanden, der Jahre und Jahrzehnte ins Weltall gehorcht hatte in der Hoffnung, Signale einer fremden Intelligenz zu empfangen, nahm sich der Gedanke an Aufgeben absurd aus. Er gehörte einfach nicht ins Repertoire.
   Plötzlich gab es einen donnernden Knall. Über der Insel breitete sich eine riesige Glutwolke aus, in der es blitzte und knatterte wie von einem Feuerwerk. Eine Welle heftiger Vibrationen erfasste das Deck, dann rasten aus dem Inferno Flammenfontänen auf sie zu.
   Der Koch stieß einen Schrei aus. Er sprang auf, machte einen Satz zurück, taumelte und kippte über die Kante. Crowe versuchte, seine ausgestreckten Hände zu fassen. Eine Sekunde hielt der Mann das Gleichgewicht, das Gesicht von Todesangst verzerrt, wankte und stürzte schreiend in die Tiefe. Sein Körper schlug auf die schräg stehende Heckklappe, dann wurde er darüber hinweggetragen und entzog sich Crowes Blicken. Das Schreien brach ab. Sie hörte ein Aufklatschen, wich entsetzt von der Kante zurück und wandte den Kopf.
   Sie stand inmitten von Flammen. Um sie herum brannte der Asphalt. Es war unerträglich heiß. Einzig die Steuerbordseite war von dem feurigen Regen verschont geblieben. Jetzt fühlte sie erstmals wahre Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in sich aufsteigen. Die Situation war aussichtslos. Sie konnte es hinauszögern, aber ändern konnte sie es nicht.
   Die Hitze zwang sie zum Zurückweichen. Sie lief zur Steuerbordseite und daran entlang.
   Dort war die Anschlussstelle für den Außenlift.
   Was sollte sie bloß tun?
   »Sam!«
   Jetzt suchten sie schon Halluzinationen heim! Hatte da jemand ihren Namen gerufen? Unmöglich.
   »Sam Crowe!«
   Nein, sie halluzinierte nicht. Jemand rief ihren Namen.
   »Hier!«, schrie sie. »Ich bin hier!«
   Mit aufgerissenen Augen sah sie sich um. Wo war die Stimme hergekommen? Sie sah niemanden auf dem Flugdeck.
   Dann begriff sie.
   Vorsichtig, um nicht herunterzufallen, beugte sie sich über die Kante. Die Luft hing voller Ruß, aber dennoch sah sie deutlich die schräg stehende Plattform des Außenlifts unter sich.
   »Sam?«
   »Hier! Hier oben!«
   Sie schrie sich die Seele aus dem Leib. Plötzlich kam jemand auf die Plattform hinausgelaufen und legte den Kopf in den Nacken.
   Es war Anawak.
   »Leon!«, rief sie. »Ich bin hier!«
   »Mein Gott, Sam.« Er starrte zu ihr hinauf. »Warte. Bleib da, ich komme dich holen.«
   »Wie denn, Junge?«
   »Ich komme rauf.«
   »Es gibt kein Raufkommen mehr«, rief Crowe. »Hier brennt alles lichterloh. Die Insel, das Flugdeck. Wir haben hier ein flammendes Inferno, dass die Hollywood-Version ein müder Scheiß dagegen ist.«
   Anawak lief aufgeregt hin und her.
   »Wo ist Murray?«
   »Tot.«
   »Wir müssen weg, Sam.«
   »Danke, dass du mich drauf aufmerksam machst.«
   »Bist du sportlich?«
   »Was?«
   »Kannst du springen?«
   Crowe starrte hinab. Sportlich! Du liebe Güte. Das war sie mal gewesen. Irgendwann in einem Leben, bevor die Zigaretten erfunden wurden. Und das da waren mindestens acht Meter, vielleicht zehn. Zu allem Überfluss hatte die Neigung aus der Plattform eine Rutschbahn gemacht.
   »Ich weiß nicht.«
   »Ich auch nicht. Hast du eine bessere Idee, die innerhalb der nächsten zehn Sekunden funktionieren könnte?« »Nein.« »Ich kann uns mit dem Tauchboot rausbringen.«
   Anawak breitete die Arme aus. »Spring endlich! Ich fange dich auf.« »Vergiss es, Leon. Am besten gehst du zur Seite.« »Halt keine Volksreden. Spring!«
   Crowe warf einen letzten Blick über ihre Schulter. Die Flammen rückten näher. Sie griffen nach ihr, züngelten hungrig heran.
   Kurz schloss sie die Augen und öffnete sie wieder.
   »Ich komme, Leon!«
 
Welldeck
 
   Wo zum Teufel blieb Anawak? Johanson hockte auf dem sacht hin und her schaukelnden Tauchboot und sah hinab. Im dunklen Wasser der Schleuse war bis jetzt nichts aufgetaucht, was auf die unmittelbare Anwesenheit von Yrr schließen ließ. Wozu auch? Warum hätten sie noch angreifen sollen? Sie mussten nur abwarten, bis das Schiff gesunken war. Am Ende hatten die Yrr sogar die Independence kleingekriegt.
   Die fünf Minuten waren um.
   Im Grunde konnte er sich davonmachen. Es blieb immer noch ein Tauchboot zurück, um Anawak und Crowe herauszubringen.
   Und Shankar?
   Dann wären sie zu viert. Er konnte nicht weg. Wenn Anawak mit Crowe und Shankar kam, würden sie beide Boote brauchen.
   Leise begann er Mahlers Erste Symphonie zu summen.
   »Sigur!«
   Johanson fuhr herum. Stechender Schmerz peitschte durch seinen Oberkörper und schnürte ihm die Luft ab. Direkt hinter dem Boot stand Li auf dem Pier und hielt eine Pistole auf ihn gerichtet. Neben ihr lagen zwei schlanke Röhren.
   »Kommen Sie da runter, Sigur. Zwingen Sie mich nicht, Sie zu erschießen.«
   Johanson packte den Seilzug, an dem das Deepflight aufgehängt war.
   »Wieso zwingen? Ich dachte, Sie haben Spaß an so was.«
   »Runter da.«
   »Wollen Sie mir drohen, Jude?« Er lachte trocken, während seine Gedanken rasten. Er musste sie irgendwie hinhalten. Improvisieren. Bluffen, so gut es eben ging, bis Anawak kam. »Ich würde an Ihrer Stelle nicht abdrücken, sonst hat sich Ihre kleine Tauchfahrt erledigt.«
   »Was meinen Sie damit?«
   »Das werden Sie dann schon sehen.«
   »Reden Sie.«
   »Reden ist langweilig. Kommen Sie, General Commander Li. Nicht so zimperlich. Erschießen Sie mich und finden Sie’s raus.«
   Li zögerte. »Was haben Sie mit dem Boot angestellt, Sie verdammter Idiot?«
   »Wissen Sie was? Ich sag’s Ihnen.« Johanson zog sich unter Mühen hoch. »Ich helfe Ihnen sogar, es wieder in Ordnung zu bringen, aber vorher werden Sie mir was erklären.«
   »Dafür ist keine Zeit.«
   »Tja. Wie dumm.«
   Li funkelte ihn wutentbrannt an. Sie ließ die Waffe sinken. »Fragen Sie.«
   »Sie kennen die Frage schon. — Warum?«
   »Das fragen Sie ernsthaft?« Li schnaubte. »Strengen Sie doch mal Ihr hoch entwickeltes Hirn an. Was glauben Sie denn, wo die Welt ohne die Vereinigten Staaten von Amerika stünde? Wir sind der einzige verbliebene Stabilitätsfaktor. Es gibt nur ein einziges nachhaltiges Modell für den nationalen und internationalen Erfolg, das für jede Person in jeder Gesellschaft wahr und uneingeschränkt gültig ist, nämlich das amerikanische. Wir können der Welt nicht gestatten, das Problem der Yrr zu lösen. Wir können es den Vereinten Nationen nicht gestatten. Die Yrr haben der Menschheit großen Schaden zugefügt, aber sie halten auch ein ungeheures Potenzial an Wissen und Erkenntnissen bereit. In wessen Händen wollen Sie dieses Wissen sehen, Sigur?«
   »In den Händen desjenigen, der am besten damit umgehen kann.«
   »Ganz richtig.«
   »Aber daran haben wir alle gearbeitet, Jude! Stehen wir nicht auf derselben Seite? Wir können zu einer Einigung mit den Yrr kommen. Wir können …«
   »Begreifen Sie denn immer noch nicht? Die Möglichkeit einer Einigung ist uns verwehrt. Sie widerspricht den Interessen meines Landes. Wir, die Vereinigten Staaten, müssen an dieses Wissen gelangen, und zugleich müssen wir alles daransetzen, dass es niemand anderer erlangt. Es gibt keine Alternative, als die Welt von den Yrr zu befreien. Schon eine Koexistenz wäre das Eingeständnis unserer Niederlage, einer Niederlage der Menschheit, des Glaubens an Gott, des Vertrauens in unsere Vorherrschaft. Aber das Schlimmste an einer Koexistenz wäre, dass sie eine neue Weltordnung nach sich zöge. Vor den Yrr wären wir alle gleich. Jedes hoch technisierte Land könnte mit ihnen kommunizieren. Alle würden darauf spekulieren, Bündnisse mit ihnen zu schließen, in den Besitz ihrer Kenntnisse zu gelangen, sie am Ende vielleicht doch noch zu bezwingen. — Wem das gelänge, der würde fortan den Planeten beherrschen.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Diese Rasse da unten verfügt über eine Biotechnologie, von der wir bis heute nicht einmal zu träumen wagten. Man kann nur auf biologischem Weg mit ihnen in Verbindung treten, also würde überall auf der Welt vollkommen legitim mit Mikroben herumexperimentiert. Dies können wir nicht zulassen. Es gibt keine Alternative, als die Yrr zu vernichten, und keine Alternative zu Amerika! Niemandem sonst dürfen wir das überlassen, nicht einmal den Waschlappen von der UNO, in der jeder Lump einen Platz und eine Stimme hat.«
   »Sie sind doch nicht bei Trost«, sagte Johanson. Er musste husten. »Was sind Sie überhaupt für ein Mensch, Li?«
   »Ich bin ein Mensch, der Gott liebt …«
   »Sie lieben Ihre Karriere! Sie sind komplett größenwahnsinnig!«
   »Und mein Land!«, schrie Li. »Woran glauben Sie denn? Ich kenne meinen Glauben. Nur den Vereinigten Staaten von Amerika kommt es zu, die Menschheit zu retten …«
   »Um ein für alle Mal klarzustellen, wie die Rollen verteilt sind, was?«
   »Na und? Immer will alle Welt, dass die USA den Drecksjob machen, und jetzt machen wir ihn eben! Und genau so ist es richtig! Wir dürfen nicht zulassen, dass die Welt das Wissen der Yrr untereinander aufteilt, also müssen wir sie vernichten und dieses Wissen bewahren. Danach werden wir endgültig die Geschicke des Planeten lenken, und kein Diktator und kein Regime, das uns nicht freundlich gesonnen ist, wird diese Vorherrschaft je noch einmal in Frage stellen können.«
   »Was Sie vorhaben, ist die Vernichtung der Menschheit!«
   Li fletschte die Zähne.
   »Oh, diese Argumente kommen euch Wissenschaftlern ja so gut von den Lippen. Ihr habt nie daran geglaubt, dass man diesen Feind bezwingen kann, noch, dass seine Vernichtung unser Problem löst. Ihr bibbert und jammert nur rum, dass die Ausrottung der Yrr die Ökosysteme des Planeten zerstören könnte. Aber die Yrr zerstören ihn ja bereits! Sie rotten uns aus! Sollten wir also nicht lieber ein bisschen Schaden an der Umwelt in Kauf nehmen, wenn wir dadurch langfristig wieder zur vorherrschenden Rasse werden?«
   »Sie sind die Einzige, die hier vorherrschen will, Sie arme Irre. Wie wollen Sie der Würmer Herr werden und verhindern, dass …«
   »Wir vergiften erst die einen, dann die anderen. Sobald uns die Yrr nicht mehr im Wege stehen, haben wir unten freie Hand.«
   »Sie vergiften die Menschheit!«
   »Wissen Sie was, Sigur? In der Dezimierung der Menschheit liegt auch eine Chance. Eigentlich tut es dem Planeten doch ganz gut, wenn er insgesamt ein bisschen luftiger wird.« Lis Augen verengten sich. »Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg.«
   Johanson rührte sich nicht. Er hielt sich am Seilzug fest und schüttelte langsam den Kopf.
   »Das Boot ist nicht benutzbar«, sagte er.
   »Ich glaube Ihnen kein Wort.«
   »Dann müssen Sie’s wohl drauf ankommen lassen.«
   Li nickte. »Das tue ich.«
   Sie riss den Arm mit der Pistole hoch und schoss. Johanson versuchte auszuweichen. Er fühlte, wie die Kugel sein Brustbein durchschlug und ihn eine Welle aus Kälte und Schmerz überflutete.
   Das Miststück hatte abgedrückt.
   Sie hatte ihn erschossen.
   Seine Finger lösten sich einer nach dem anderen vom Seilzug. Er wankte, versuchte etwas zu sagen, drehte sich und kippte bäuchlings in die Pilotenröhre.
 
Außenlift
 
   Im Moment, als er Crowe springen sah, bezweifelte Anawak plötzlich, ob es gut gehen würde. Sie zappelte in der Luft und sprang viel zu weit links. Er hechtete zur Seite und rückwärts, breitete die Arme aus und hoffte, dass sie der Aufprall nicht beide ins Meer schleudern würde.
   Für jemanden, der so zierlich war, traf sie ihn mit der Wucht eines heransausenden Omnibusses.
   Anawak fiel auf den Rücken. Crowe lag auf ihm. Gemeinsam schlitterten sie die Schräge hinab. Er hörte sie schreien und sein eigenes Schreien dazu, versuchte mit aller Kraft, die Absätze gegen den Boden zu stemmen, während sein Hinterkopf über den Asphalt rumpelte. Es war das zweite Mal, dass er an diesem Tag unerfreuliche Bekanntschaft mit dem Außenlift machte, und er hoffte inständig, dass es das letzte Mal sein möge — so oder so.
   Knapp vor der Kante kamen sie zum Stillstand.
   Crowe starrte ihn an.
   »Geht’s dir gut?«, fragte sie heiser.
   »Mir ging’s nie besser.«
   Sie rollte sich von ihm herunter, versuchte aufzustehen, verzog das Gesicht und fiel zurück. »Geht nicht«, sagte sie. Anawak sprang auf. »Was ist los?« »Mein Fuß. Der rechte Fuß.« Er kniete neben ihr nieder und betastete das Fußgelenk. Crowe stöhnte auf. »Ich glaube, er ist gebrochen.« Anawak hielt inne. Täuschte er sich, oder hatte sich das Schiff soeben wieder ein Stück vorgeneigt?
   Die Plattform quietschte in ihren Laufschienen.
   »Leg deinen Arm um meinen Nacken.«
   Er half Crowe, sich aufzurichten. Wenigstens konnte sie auf einem Bein neben ihm herhüpfen. Umständlich gelangten sie ins Innere des Hangars. Man sah kaum die Hand vor Augen. Dafür war es noch abschüssiger geworden.
   Wie sollen wir bloß über die Rampe kommen, dachte Anawak. Sie muss sich in den reinsten Steilhang verwandelt haben.
   Plötzlich fühlte er Wut in sich aufsteigen.
   Das hier war die Grönländische See. Der Hohe Norden. Er kam aus dem Hohen Norden. Ein Inuk. Hundert Prozent ein Inuk! Er war in der Arktis geboren worden und gehörte hierher. Aber er würde ganz gewiss nicht hier sterben, und Crowe auch nicht.
   »Los«, sagte er. »Weiter.«
 
Deepflight 3
 
   Li lief zum Kontrollpult. Viel zu viel Zeit verloren, dachte sie. Ich hätte mich nicht mit Johanson auf diesen unsinnigen Disput einlassen dürfen.
   Sie ließ das Deepflight ein Stück hoch fahren und über den Pier schwenken, bis es dicht über ihr hing. Sofort sah sie die beiden freien Schächte. Die Panzerbrecher steckten in ihren Halterungen, die zwei kleineren Torpedos waren entfernt worden, um Platz für die giftgefüllten Röhren zu schaffen. Ausgezeichnet! Damit verfügte das Deepflight immer noch über eine stattliche Bewaffnung.
   Schnell schob sie die Röhren in die Schächte und arretierte sie. Das System war perfekt durchgeplant.
   Sobald sie abgeschossen wurden, etwa in die blaue Wolke, sorgte eine kleine Sprengkapsel dafür, dass der Giftstoff unter Hochdruck herausgespritzt wurde. Die Verteilung übernahm das Wasser, den Rest besorgten — unfreiwillig — die Yrr selber. Das war das Beste an dem Plan: Rubins Programmierter Zelltod. Einmal infiziert, würde das Kollektiv sich in einer wunderbaren Kettenreaktion selbst vernichten.
   Rubin hatte gut gearbeitet.
   Sie überprüfte ein letztes Mal die Arretierung, manövrierte das Deepflight zurück über die Schleuse und senkte es ab, bis es auf der Wasseroberfläche dümpelte. Keine Zeit mehr, Neoprenkleidung anzulegen. Sie musste eben aufpassen. Über die Steigleiter hastete sie nach unten, lief zum Boot und kletterte hinauf. Das Deepflight schaukelte. Ihr Blick fiel in die offene Pilotenröhre, und sie sah Johanson darin liegen, bewegungslos, mit dem Gesicht nach unten.
   Dieser renitente Idiot. Warum hatte er nicht zur Seite kippen und in die Schleuse fallen können? Jetzt musste sie zu allem Überfluss seine Leiche loswerden.
   Plötzlich fühlte sie ein gewisses Bedauern. Auf eine Weise hatte sie den Mann gemocht und bewundert.
   Unter anderen Umständen vielleicht …
   Ein Rumpeln ging durch das Schiff.
   Nein, es war zu spät, ihn zu entsorgen. Und eigentlich spielte es auch keine Rolle. Das Boot ließ sich ebenso gut vom Platz des Copiloten aus steuern. Die Funktionen waren übertragbar. Unter Wasser konnte sie Johanson immer noch loswerden.
   Irgendwo barst geräuschvoll Stahl.
   Li kroch hastig in die Röhre und schloss die Hauben.
   Simultan senkten sie sich herab und rasteten ein. Ihre Finger glitten über die Armaturen. Leises Summen erfüllte den Innenraum, Reihen von Lichtern und zwei kleine Monitore flammten auf. Alle Systeme waren in Bereitschaft. Ruhig lag das Deepflight über dem schwarzgrünen Wasser der Grönländischen See, bereit, durch den drei Meter dicken Schacht in die Tiefe zu sinken, und Li fühlte sich von Euphorie durchdrungen. Sie hatte es doch noch geschafft!
 
Refugium
 
   Johanson saß am See.
   Still lag er vor ihm, voller Sterne. Wie sehr hatte er sich gewünscht, noch einmal dorthin zurückzukehren. Er blickte auf die Landschaft seiner Seele und war durchdrungen von Ehrfurcht und Glück. Seltsam körperlos fühlte er sich, ohne eine Empfindung von Kälte oder Wärme. Etwas war anders als sonst. Ihm schien, als sei er selber der See, das kleine, dahinter liegende Haus, der verschwiegene, schwarze Wald ringsum, die Geräusche im Unterholz, der gescheckte Mond, alles. Er war all das, und alles war in ihm.
   Tina Lund.
   Wie jammerschade. Wie bedauerlich, dass sie nicht hier war. Er hätte ihr diese Ruhe gegönnt, den tiefen Frieden. Aber sie war tot. Gestorben in einer gewaltigen Auflehnung der Natur gegen den schimmelartigen Befall von Zivilisation, der sich die Küsten entlang zog. Einfach hinweggewischt, so wie alles hinweggewischt worden war, nur nicht dieses Bild auf seiner Netzhaut. Der See war ewig. Diese Nacht würde kein Ende finden. Und dem Alleinsein würde sich wohl tuendes Nichts anschließen, der finale Genuss des Egoisten.
   Wollte er das? Wollte er wirklich allein sein?
   Einerseits, warum nicht? Das Alleinsein hatte eine Reihe unschätzbarer Vorzüge. Man teilte die wertvolle Zeit mit sich selber. Man lauschte in sich hinein und bekam erstaunliche Dinge zu hören.
   Andererseits, wo verlief die Grenze zur Einsamkeit?
   Plötzlich verspürte er Furcht.
   Die Furcht schmerzte. Sie fraß sich in seine Brust, raubte ihm den Atem. Mit einem Mal war ihm kalt. Er begann zu schlottern. Die Sterne im See blähten sich zu roten und grünen Lichtern und gaben ein elektronisches Summen ab. Das ganze Bild verschwamm zu etwas Glänzendem, Eckigem, und er saß nicht mehr am See, war nicht mehr der See, sondern lag eingeengt in einem Tunnel, einem Rohr, einer Röhre.
   Schlagartig kehrte sein Bewusstsein zurück.
   Du bist tot, dachte er.
   Nein, ganz tot war er nicht. Aber er spürte, dass ihm nur noch wenige Sekunden blieben. Er lag im Innern des Tauchboots, das den Giftstoff in die Tiefe bringen sollte, um dem Verbrechen der Yrr, falls es eines war, mit einem noch größeren Verbrechen zu begegnen — einem Verbrechen an den Yrr und an der Menschheit.
   Vor ihm blinkten keine Sterne, sondern die Armaturen des Deepflight. Sie waren in Betrieb. Er hob den Blick, schaute durch die gläserne Kuppel und sah, wie die Kante des Welldecks nach oben verschwand.
   Sie waren in der Schleuse.
   Mit unglaublicher Willensanstrengung schaffte er es, den Kopf zu drehen. In der Nachbarröhre erkannte er Lis schönes Profil.
   Li.
   Judith Li hatte ihn erschossen.
   Fast erschossen.
   Das Boot sank tiefer. Vernietete Stahlplatten zogen vorbei. Gleich würden sie draußen sein. Nichts und niemand konnte Li dann noch hindern, ihre tödliche Fracht ins Meer zu entlassen.
   Es durfte nicht sein.
   Der Schweiß brach ihm aus, als er seine Hände unter seinem Oberkörper hervorschob und die Finger streckte. Fast verlor er darüber die Besinnung. Dort waren die Konsolen. Er lag in der Röhre des Piloten. Li hatte die Kontrollen zu sich hinübergeschaltet. Sie steuerte das Boot vom Platz des Copiloten aus, aber das ließ sich ändern.
   Ein Tastendruck, und die Kontrolle lag wieder bei ihm.
   Wo war die Umschaltfunktion?
   Roscovitz’ Cheftechnikerin, Kate Ann Browning, hatte ihn geschult. Sie war sehr gründlich vorgegangen, und er hatte gut aufgepasst. Solche Dinge interessierten ihn. Das Deepflight verhieß den Beginn einer neuen Ära in der Tieftauchtechnik, und die Zukunft hatte Johanson seit eh und je interessiert. Er wusste, wo diese Funktion war! Er wusste auch, wozu die anderen Instrumente dienten, und was man tun musste, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Er musste sich lediglich erinnern.
   Erinnere dich.
   Wie sterbende Spinnen krochen seine Finger über die Tastatur, verschmiert von Blut. Seinem Blut.
   Erinnere dich!
   Dort. Die Funktion. Und daneben …
   Viel konnte er nicht mehr tun. Das Leben strömte aus ihm heraus, aber ein letzter Rest Kraft verblieb ihm noch.
   Es würde reichen. Fahr zur Hölle, Li!
 
Li
 
   Judith Li starrte aus der Kuppel. Wenige Meter vor ihr erstreckte sich die Stahlwand der Schleuse. Das Boot sank gemächlich der offenen See entgegen. Einen Meter noch, vielleicht weniger, und sie würde die Propeller starten. Dann steil nach unten seitlich wegziehen. Falls die Independence innerhalb der nächsten paar Minuten sank, wollte sie möglichst weit entfernt sein.
   Wann würde sie auf die ersten Yrr-Kollektive stoßen? Ein größeres Kollektiv konnte Probleme machen, das wusste sie, und sie hatte keine Vorstellung davon, wie groß sie wurden. Vielleicht griffen auch Orcas an. In beiden Fällen würde ihr die Bewaffnung den Weg frei schießen. Kein Grund zur Sorge.
   Sie musste auf die blaue Wolke warten. Der richtige Moment, das Gift abzuschießen, lag unmittelbar vor der Verschmelzung.
   Diese verfluchten Einzeller würden sich wundern.
   Spaßiger Gedanke. Konnten sich Einzeller wundern?
   Plötzlich wunderte sie sich selber. Etwas an den Armaturen hatte sich gerade verändert. Eines der Kontrolllämpchen war erloschen, das ihr anzeigte, dass die Steuerung auf ihrer Seite …
   Die Steuerung!
   Sie hatte die Kontrolle über die Steuerung verloren! Alle Funktionen waren zum Piloten zurückgeschaltet worden. Stattdessen blinkte ein Display auf, das in grafischer Anordnung vier Torpedos zeigte, zwei schmale und zwei größere, die Panzerbrecher.
   Einer der Panzerbrecher leuchtete.
   Li stöhnte entsetzt auf. Mit dem Handballen schlug sie auf die Konsole, um die Kontrolle wieder auf ihren Platz zurückzulegen, aber der Befehl zum Abschuss ließ sich nicht rückgängig machen. Im Wasserblau ihrer Augen leuchtete die Anzeige weiter und zählte unerbittlich rückwärts:
   00.03 … 00.02 … 00.01 … »Nein!«
   00.00.
   Ihr Gesicht versteinerte.
 
Torpedo
 
   Der Panzerbrecher, den Johanson abgeschossen hatte, raste aus seiner Röhre. Knapp drei Meter bahnte er sich seinen Weg durchs Wasser, dann prallte er gegen die Stahlwand der Schleuse und explodierte.
   Eine ungeheure Druckwelle erfasste das Deepflight. Es krachte gegen die rückwärtige Wand. Aus der Schleuse schoss eine riesige Wasserfontäne. Noch während sich das Tauchboot überschlug, ging der zweite Torpedo hoch. Mit ohrenbetäubendem Krachen flog das halbe Welldeck in die Luft. Ein Feuerball blähte sich, in dem das Deepflight, seine beiden Insassen und die giftige Fracht so vollständig vergingen, als habe es sie nie gegeben. Trümmerteile bohrten sich in Decke und Wände und zerfetzten die achterlichen Ballasttanks, die augenblicklich voll liefen, während durch den Krater, der einmal der Boden eines künstlichen Hafenbeckens gewesen war, Tausende Tonnen Meerwasser einströmten.
   Das Heck der Independence sackte ab.
   Sie begann in rasender Geschwindigkeit zu sinken.
 
Flucht
 
   Anawak und Crowe hatten es bis an den Rand der Rampe geschafft, als die Schockwelle der Explosion das Schiff durchlief.
   Die Erschütterung warf sie von den Beinen. Anawak wurde durch die Luft gewirbelt, sah die rauchverhangenen Wände des Rampentunnels um sich kreisen, bevor er Kopf voran in den schwarzen Schlund stürzte. Neben ihm drehte sich Crowe im freien Fall, verschwand aus seinem Sichtfeld. Der geriffelte Stahl drosch ihm gegen Schultern, Rücken, Brust und Becken und schürfte ihm die Haut von den Knochen. Er kam auf, schlug einen Salto, wurde von einer Druckwelle erfasst und herumgeschleudert, sodass er für die Dauer eines Augenblicks den Eindruck hatte, wieder zurückgeschossen zu werden nach oben. Unbeschreiblicher Lärm drang an sein Ohr, als ob das ganze Schiff in Fetzen ginge. Unaufhaltsam fiel er weiter, flog in hohem Bogen auf schäumendes Wasser zu und tauchte unter.
   Sofort erfasste ihn ein unerbittlicher Sog. In seinen Ohren brodelte es. Er strampelte mit Armen und Beinen, um dem Sog entgegenzuarbeiten, ohne jede Ahnung, wo oben und unten war. Hatte es nicht so ausgesehen, als werde die Independence Bug voran versinken? Wieso lief plötzlich das Heck voll?
   Das Welldeck. Es war explodiert.
   Johanson!
   Etwas schlug in sein Gesicht. Ein Arm. Er griff danach, hielt ihn fest umklammert, stieß sich mit den Füßen ab, ohne ein Gefühl des Vorwärtskommens, wurde auf die Seite geworfen und sofort wieder zurückgezerrt, in alle Richtungen gleichzeitig. Seine Lungen schmerzten, als atme er flüssiges Feuer. Er musste husten und fühlte, wie ihm schlecht wurde auf seiner Achterbahnfahrt unter Wasser.
   Plötzlich stieß sein Kopf über die Oberfläche.
   Dämmrig.
   Crowe tauchte neben ihm auf. Er hielt immer noch ihren Arm umklammert. Sie würgte und spuckte mit geschlossenen Augen, geriet wieder unter Wasser. Anawak zog sie zurück. Um ihn herum schäumte und strudelte es. Er legte den Kopf in den Nacken und sah, dass sie am Grund des Rampentunnels waren. Wo die Biegung zum Labor und zum Welldeck gelegen hatte, tobten die Fluten.
   Das Wasser stieg, und es war bitterkalt. Eisiges Wasser direkt aus der See. In seinem Neoprenanzug war er eine Weile vor der Auskühlung geschützt, aber Crowe trug nichts dergleichen am Leib.
   Wir werden ertrinken, dachte er. Oder erfrieren. So oder so, das ist das Ende. Wir sind eingeschlossen im Bauch dieses schrecklichen Schiffes, und es läuft voll. Wir werden mit der Independence untergehen.
   Wir werden sterben.
   Ich werde sterben.
   Namenlose Angst überkam ihn. Er wollte nicht sterben. Er wollte nicht, dass es vorbeiging. Er liebte das Leben, so sehr liebte er es, so viel hatte er nachzuholen. Er konnte jetzt nicht sterben. Keine Zeit. Ein andermal gern, aber gerade passte es überhaupt nicht.
   Die Angst war unerträglich.
   Wieder geriet er unter Wasser. Etwas hatte seinen Kopf gestreift. Nicht sonderlich hart, aber es drückte ihn nach unten. Anawak schlug mit den Beinen und kam frei. Er tauchte nach Luft schnappend auf und sah, was ihn da getroffen hatte, und sein Herz vollführte einen Sprung.
   Eines der Zodiacs war aus dem Welldeck gespült worden. Die Druckwelle der Explosion musste es losgerissen haben. Es trieb, sich drehend, auf dem schäumenden Wasser, das im Rampentunnel höher stieg. Ein intaktes Schlauchboot mit Außenborder und Regenkabine. Gedacht für acht Personen, allemal groß genug für zwei und voll gepackt mit Notausrüstung.
   »Sam!«, schrie er.
   Er sah sie nicht. Nur schwarzes, gurgelndes Wasser.
   Nein, dachte er, so läuft das nicht. Eben ist sie doch noch neben mir gewesen.
   »Sam!«
   Das Wasser stieg weiter. Über die Hälfte des Tunnels war überflutet. Er reckte die Arme, zog sich an der Gummiwulst des Zodiacs hoch und sah sich um. Crowe war verschwunden.
   »Nein«, heulte er. »Nein, verdammt, nein!«
   Er stemmte sich ins Boot. Es schaukelte heftig. Auf allen vieren kroch er zur anderen Seite und schaute hinab ins Wasser.
   Da war sie!
   Sie trieb mit halb geschlossenen Augen neben dem Boot. Die Wellen überspülten ihr Gesicht. Das Boot hatte ihm den Blick auf sie versperrt. Ihre Hände vollführten schwache, hilflose Bewegungen. Anawak beugte sich hinab, bekam ihre Handgelenke zu fassen und zog daran.
   »Sam!«, schrie er ihr ins Gesicht.
   Crowes Augenlider zuckten. Dann hustete sie und gab einen Wasserschwall von sich. Anawak stemmte sich mit den Füßen gegen die Wulst und zerrte an ihr. Seine Arme schmerzten so heftig, dass er glaubte, es nicht zu schaffen, aber sein Wille diktierte ihm als einzig akzeptablen Weg, Samantha Crowe zu retten.
   Komm mir bloß nicht ohne sie nach Hause, schien er zu sagen, sonst kannst du dich gleich wieder ins Wasser stürzen.
   Er stöhnte und wimmerte, heulte und fluchte, zog und zerrte, und dann war sie plötzlich im Boot.
   Anawak fiel auf den Hintern.
   Er hatte keine Kraft mehr.
   Nicht schlappmachen, sagte die innere Stimme. Dass du im Zodiac sitzt, nützt dir noch gar nichts. Du musst aus dem Schiff gelangen, bevor es dich mit in die Tiefe reißt.
   Das Zodiac drehte sich immer schneller. Es tanzte auf der steigenden Wassersäule dem Hangardeck entgegen. Nur noch ein kurzes Stück, und sie würden in die riesige Halle gespült werden. Anawak richtete sich auf und fiel sofort wieder hin. Auch gut, dachte er, dann kriechen wir eben. Auf Händen und Knien robbte er zur Fahrerkabine und zog sich an den Verstrebungen hoch. Sein Blick fiel auf die Instrumente. Um das kleine Lenkrad herum waren sie in ähnlicher Weise angeordnet wie bei der Blue Shark. Ein bekanntes Bild. Damit konnte er klarkommen.
   Er schaute auf. Sie schossen dem oberen Ende der Rampe entgegen. Er klammerte sich fest und wartete auf den richtigen Augenblick.
   Plötzlich waren sie raus aus dem Tunnel. Eine Flutwelle spuckte sie aus und spülte sie in den Hangar, der nun ebenfalls voll zu laufen begann.
   Anawak startete den Außenborder.
   Nichts.
   Komm schon, dachte er. Mach dich nicht wichtig, du Scheißteil! Spring endlich an.
   Wieder nichts.
   Spring an! Scheißteil! Scheißteil!!!
   Unvermittelt röhrte der Motor los, und das Zodiac schoss davon. Anawak kippte hintenüber. Er bekam eine der Verstrebungen des Fahrerhauses zu fassen und zog sich zurück in die Kabine. Seine Hände umschlossen das Lenkrad. Er jagte durch den Hangar, fuhr eine rasante Kurve und hielt mit voller Geschwindigkeit auf den Durchlass zur Steuerbordplattform zu.
   Vor seinen Augen schrumpfte er.
   Der Durchlass verlor an Höhe, je näher er ihm kam. Es war unglaublich, wie schnell sich das Deck füllte. Das Wasser strömte von unten und durch die Seiten herein, in grauen, zerklüfteten Wellen. Aus den acht Metern Deckhöhe des Hangars waren innerhalb von Sekunden vier geworden.
   Weniger als vier.
   Drei.
   Der Außenborder heulte gepeinigt auf.
   Weniger als drei.
   Jetzt!
   Wie eine Kanonenkugel schossen sie ins Freie. Das Kabinendach schrammte hart an der Oberkante des Durchlasses entlang, dann flog das Zodiac über einen Wellenkamm, hing einen Moment in der Luft und klatschte hart auf.
   Die See war stürmisch. Graue Ungetüme wälzten sich heran. Anawak klammerte sich ans Lenkrad, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er raste den nächsten Wellenberg hinauf und fiel in den dahinter liegenden Abgrund, stieg wieder empor, stürzte hinab. Dann drosselte er die Geschwindigkeit. Langsamer war besser. Jetzt sah er, dass die Wellen zwar hoch waren, aber nicht sehr steil. Er wendete das Zodiac um einhundertachtzig Grad, ließ sich von dem nächsten Berg, der heranrollte, hochheben, fuhr ganz langsam und sah hinaus.
   Der Anblick war gespenstisch.
   Aus der schieferfarbenen See ragte die in Flammen stehende Insel der Independence in einen düsteren Wolkenhimmel. Es sah aus, als sei mitten im Meer ein Vulkan ausgebrochen. Auch das Flugdeck lag inzwischen unter Wasser, nur die brennende Ruine behauptete sich noch trotzig gegen das unabwendbare Schicksal. Er hatte ein ordentliches Stück zwischen sich und das versinkende Schiff gebracht, aber das Donnern der Flammen drang bis zu ihnen hinüber.
   Atemlos sah er hinaus.
   »Intelligente Lebensformen.« Crowe tauchte neben ihm auf, leichenblass, mit blauen Lippen und heftig zitternd. Sie krallte sich in seine Jacke, das verletzte Bein angewinkelt. »Man hat nichts als Ärger mit ihnen.«
   Anawak schwieg. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Independence unterging.
 

FÜNFTER TEIL
KONTAKT

   Die Suche nach fremder Intelligenz ist immer die Suche nach der eigenen.
Carl Sagan

 
Träume
 
   Wach auf!
   Ich bin wach.
   Wie kannst du das wissen? Um dich herum herrscht völlige Dunkelheit. Du näherst dich dem Urgrund der Welt. Was siehst du?
   Nichts.
   Was siehst du?
   Ich sehe die grünen und roten Lichter der Instrumente vor mir. Anzeigen, die mich über Innen— und Außendruck in Kenntnis setzen, über den Sauerstoffvorrat des Deepflight, über den Neigungswinkel, mit dem ich abwärts gleite, die Treibstoffreserven, die Geschwindigkeit. Das Boot misst die chemische Zusammensetzung des Wassers und zeigt sie mir in Daten und Tabellen an. Die Sensoren erfassen die Außentemperatur und liefern mir eine Zahl.
   Was siehst du noch?
   Ich sehe wirbelnde Partikel. Schneefall im Scheinwerferlicht. Organische Substanzen, die niedersinken. Das Wasser ist gesättigt mit organischen Verbindungen. Etwas trübe. Nein, sehr trübe.
   Du siehst noch zu viel. Willst du nicht alles sehen?
   Alles?
   Weaver hat knapp eintausend Meter Abstand zwischen sich und die Wasseroberfläche gebracht, ohne angegriffen worden zu sein. Weder ist sie Orcas noch Yrr begegnet. Das Deepflight arbeitet einwandfrei. In einer großen, ellipsoiden Spirale schraubt es sich nach unten. Hin und wieder geraten ein paar kleine Fische ins Licht und huschen gleich wieder davon. Detritus trudelt umher. Krill, winzige Krebschen, keines mehr als ein weißer Punkt im Kegel der Scheinwerfer. Der Partikelreichtum schickt alles Licht zurück an den Absender.
   Seit zehn Minuten starrt sie nun angestrengt in den schmutzig grauen, durchwirbelten Kokon, den die Scheinwerfer dem Deepflight vorausschicken. Künstlich beleuchtete Dunkelheit. Licht, das nichts erhellt. Zehn Minuten, in denen ihr jedes Gefühl für Oben und Unten abhanden gekommen ist. Alle paar Sekunden kontrolliert sie die Instrumente, die ihr sagen, was der Blick nach draußen nicht verrät — wie schnell sie ist, wie steil sie fliegt, wie viel Zeit vergeht.
   Die Verlässlichkeit des Computers.
   Natürlich weiß sie, dass es ihre Stimme ist, mit der sie unmerklich in einen Dialog gerät. Es ist die Quintessenz gemachter Erfahrungen, angelernten und erlebten Lebens, dämmernder Einsichten. Zugleich spricht etwas aus ihr und mit ihr, dessen Existenz ihr bislang verborgen war. Das Ding in ihrem Kopf stellt Fragen, unterbreitet Vorschläge, verwirrt sie.
   Was siehst du?
   Wenig.
   Wenig ist noch übertrieben. Nur Menschen kommen auf die absurde Idee, sich einem Wahrnehmungsapparat dort anzuvertrauen, wo er nachweislich versagt. Deine Instrumente in allen Ehren, aber um zu verstehen, wohin deine Reise geht, ist ein Lichtkegel denkbar ungeeignet, Karen. Dieses Licht dort ist ein enger Raum. Ein Gefängnis. Befreie deinen Verstand. Willst du alles sehen?
   Ja.
   Dann mach die Scheinwerfer aus.
   Weaver zögert. Sie hatte es ohnehin vor. Es ist notwendig, um das blaue Leuchten in der Dunkelheit zu sehen, wenn es so weit ist. Aber wann ist es so weit? Überrascht stellt sie fest, wie sehr sie sich an diesen lächerlichen Lichtkegel geklammert hat. Viel zu lange. Wie an eine Taschenlampe unter der Bettdecke. Der Reihe nach löscht sie die starken Spots, bis nur noch die Lämpchen der Instrumente übrig bleiben. Der Partikelregen ist verschwunden.
   Perfekte Schwärze umgibt sie.
   Polare Gewässer sind blau. Es gibt wenig chlorophyllhaltiges Leben im Nordpazifik, ebenso wie in bestimmten Gebieten rund um den antarktischen Kontinent. Dieses Blau wenige Meter unter der Oberfläche hat etwas von einem Himmel. So wie ein Astronaut in einem Raumschiff das vertraute Blau immer dunkler werden sieht, je weiter er sich von der Erdoberfläche entfernt, bis ihn schließlich die Schwärze des Weltraums umgibt, so sinkt das Tauchboot in umgekehrter Richtung einem lichtlosen Weltraum voller Rätsel entgegen, einem inner space. Im Grunde spielt es keine Rolle, ob man auf— oder absteigt. In beiden Fällen weichen mit den vertrauten Bildern die vertrauten Empfindungen oder das, was menschliche Sensorik in Gefühle umsetzt, allem voran das Sehen, gefolgt von der Schwerkraft. Im Gegensatz zum Weltraum wird das Meer beherrscht von den Gesetzen der Gravitation, aber wer in eintausend Meter Tiefe und völliger Finsternis unterwegs ist, muss der Digitalanzeige Glauben schenken, die ihm sagt, ob er sich nach oben oder unten bewegt. Weder das Innenohr noch der Blick nach draußen lassen derartige Aussagen zu.
   Weaver ist auf maximale Sinkgeschwindigkeit gegangen. Kurz hat das Deepflight diesen polaren, auf den Kopf gestellten Himmel durchflogen, und sehr schnell ist es dunkler geworden. Als der Tiefenmesser 60 Meter anzeigte, maß er zugleich noch vier Prozent des Lichts, das an der Oberfläche herrschte, aber da hatte sie schon die Scheinwerfer eingeschaltet — eine Astronautin im Bemühen, den Weltraum mit einer Lampe zu erhellen.
   Wach auf, Karen.
   Ich bin wach.
   Ja, sicher, du bist wach und hoch konzentriert, aber du träumst den falschen Traum. Die ganze Menschheit ist in einem Wachtraum gefangen von einer Welt, die es nicht gibt. Wir erträumen uns einen Kosmos der taxonomischen Tabellen und statistischen Mittelwerte, außerstande, die objektive Natur wahrzunehmen. Das unserem Blick entzogene Ineinander und Miteinander, das untrennbar Verflochtene, versuchen wir zu entflechten, indem wir es zu einem Nacheinander und Übereinander ordnen, an dessen Spitze wir uns selber setzen. Wir verständigen uns über Idole und Ausschnitte, erklären sie zur Wirklichkeit, schaffen Abfolgen und Hierarchien, verzerren Raum und Zeit. Immer müssen wir etwas sehen, um es zu verstehen, aber im Moment, da wir es sichtbar machen, entziehen wir es unserem Verständnis. Der sehende Mensch ist blind, Karen. Schau in die Dunkelheit. Der Urgrund allen Lebens ist dunkel.
   Das Dunkle ist bedrohlich. Keineswegs! Es entzieht uns die Koordinaten unserer sichtbaren Existenz. Ist das so schlimm? Die Natur ist objektiv und voller Vielfalt! Erst durch die Brille der Voreingenommenheit verarmt sie, weil wir nach Gefallen oder Missfallen urteilen. Immerzu erblicken wir uns selbst im grellen Flimmern. Zeigen all diese Darstellungen auf unseren Computer— und Fernsehbildschirmen die wirkliche Welt? Ergibt die Aufsummierung aller Eindrücke Vielfalt, solange wir uns über Prototypen verständigen müssen wie »die Katze« und »die Farbe Gelb«? Es ist zweifellos etwas Wunderbares, wie das menschliche Hirn dem Variantenreichtum solche Mittelwerte abtrotzt, ein prächtiger Trick, um die Verständigung über das Unmögliche möglich zu machen, aber der Preis ist die Abstraktion. Am Ende steht eine idealisierte Welt, in der Millionen Frauen versuchen, wie zehn Supermodels auszusehen, Familien eins Komma zwei Kinder haben und ein Chinese im Schnitt 63 Jahre alt und l Meter 70 groß wird. Vor lauter Versessenheit auf Normen übersehen wir, dass die Normalität im Abnormalen liegt, in der Abweichung. Die Geschichte der Statistik ist eine Geschichte der Missverständnisse. Sie hat uns geholfen, Überblick zu gewinnen, aber sie leugnet die Variation. Sie hat uns der Welt entfremdet.
   Und einander dafür näher gebracht.
   Meinst du wirklich?
   Haben wir nicht versucht, mit den Yrr einen Weg der Verständigung zu finden? Ist es nicht sogar gelungen? Wir haben die Mathematik als Basis entdeckt.
   Vorsicht! Das ist etwas völlig anderes. Es gibt keinen Variantenspielraum in der Berechnung des pythagoreischen Quadrats. Die Lichtgeschwindigkeit bleibt immer die Lichtgeschwindigkeit. Mathematische Formeln sind unverrückbar, solange sie denselben physikalischen Raum beschreiben. Mathematik lässt keinerlei Wertung zu. Die mathematische Formel ist nichts, das in einer Höhle oder auf einem Baum lebt, das man streicheln kann oder das die Zähne fletscht, wenn man ihm zu nahe kommt. Es gibt kein durchschnittliches Gravitationsgesetz unter vielen ähnlichen, sondern nur das eine. Sicher, über die Mathematik haben wir einen Austausch zuwege gebracht, aber verstehen wir einander deswegen? Hat die Mathematik die Menschen einander näher gebracht? Die Etikettierung der Welt folgt den Besonderheiten der jeweiligen Kulturgeschichte, und jeder Kulturkreis sieht die Welt ganz anders. Die Inuit kennen kein einziges Wort für Schnee, aber Hunderte für Schneearten. Das Volk der Dani auf Neuguinea kennt keine Bezeichnungen für Farben.
   Was siehst du?
   Weaver starrt in die Dunkelheit. Das Tauchboot zieht ruhig seine Bahn, immer noch um 60 Grad geneigt, 12 Knoten schnell. Eintausendfünfhundert Meter hat sie schon zurückgelegt. Nicht mal ein Ächzen oder Knacken ist von der Verschalung des Deepflight zu hören. In der Nachbarröhre liegt Mick Rubin. Sie versucht, möglichst wenig an ihn zu denken. Es ist merkwürdig, mit einem Toten durch die Nacht zu fliegen.
   Ein toter Botschafter, auf dem alle Hoffnungen ruhen.
   Plötzlich ein Aufblitzen.
   Die Yrr?
   Nein, etwas anderes. Tintenfische. In einen ganzen Schwarm ist sie geraten. Plötzlich schwebt sie mitten durch ein unterseeisches Las Vegas. In der immer währenden Nacht der Tiefsee können weder bunte Kleider noch Tänze mögliche Partnerinnen beeindrucken. Wenn die Junggesellen auf der Suche nach einer Begleiterin sind, protzen sie durch Beleuchtung. Ganze Organreihen blinken mit lumineszierenden Bakterien in Photophoren, kleinen durchsichtigen Taschen, die sich verschließen und wieder öffnen lassen, ein Blinkgewitter, codiertes Tiefseegeschrei. In diesem Fall scheint es weniger darum zu gehen, Weavers Tauchboot den Hof zu machen. Die Blitze dienen der Abschreckung. Verschwinde, sagen sie, und als Weaver nicht verschwindet, öffnen die Tiere ihre Photophoren ganz und umschwärmen sie, angetan mit einem gleichmäßig schimmernden Kleid aus Licht. Dazwischen kleinere Organismen, hell mit rotem oder blauem Kern: Medusen.
   Dann gesellt sich etwas hinzu, das Weaver nicht sehen kann, aber ihr Sonar erfasst es. Eine große, kompakte Masse. Einen Moment lang denkt sie an ein Kollektiv der Yrr, aber die Kollektive leuchten, und dieses Ding hier ist so schwarz wie das umgebende Meer. Es hat eine längliche Form, wuchtig zur einen und schlank zulaufend zur anderen Seite. Weaver fliegt geradewegs darauf zu. Sie zieht das Deepflight ein Stück hoch und gleitet über das Wesen hinweg, und im selben Moment wird ihr klar, was sie da möglicherweise überflogen hat.