Sie durften das Licht nicht verlassen.
   Bohrmanns Wut wuchs ins Maßlose. Sein linker Arm, der im Rachen steckte, fuhr hoch und schlug gegen die Gaumenplatte. Eigentlich konnte er von Glück sagen, dass der Hai gleich seine ganze Seite verschluckt hatte. Hätte er nur einen Arm oder ein Bein gepackt, wäre es ihm längst ergangen wie Frost, aber der Panzer um die Körpermitte wies keinerlei Schwachstellen wie Gelenkringe auf. Er war zu groß und zu massiv, um ihn einfach durchzubeißen, selbst für diesen Koloss. Auch der Hai schien das begriffen zu haben. Er schüttelte seinen Kopf noch stärker. Bohrmann war kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Wahrscheinlich hatte er schon mehrere Rippenbrüche zu beklagen, aber je wilder ihn das Tier herumwirbelte, desto wütender wurde er. Er bog den rechten Arm nach hinten, wo der Hammerkopf endete, holte aus und ließ die Konsole mehrfach darauf niederkrachen …
   Plötzlich war er frei.
   Der Hai hatte ihn ausgespuckt. Offenbar hatte er eine empfindliche Stelle getroffen, ein Auge oder ein Nasenloch. Der riesige Körper schnellte aufwärts an ihm vorbei und schleuderte ihn gegen den Felsen. Für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als ergreife der Hai die Flucht. Bohrmann überlegte fieberhaft, wie er die Situation nutzen konnte. Er gab sich keinen Illusionen darüber hin, was den Aufstieg zur Heerema betraf. Vorübergehend hatte er das Tier von sich abgebracht, aber ihm blieben allenfalls ein paar Sekunden. Hastig zog er den Trackhound zu sich heran und umklammerte die schlanke Röhre mit beiden Armen.
   Um keinen Preis durfte er ihn verlieren.
   Der Hai verschwand in der Dunkelheit und kam ein Stück weiter entfernt wieder daraus hervor, ein blauer Schemen.
   Bohrmann sah gehetzt zu Wand.
   Da war der Höhlenspalt!
   In einiger Entfernung glitt der gewaltige Leib des Hammerhais tiefer in die offene See. Bohrmann schob sich entlang der Wand auf den Spalt zu. Unterhalb der Lichtinsel sah er die beiden anderen Haie immer noch um Frosts Überreste kämpfen. Die Gruppe sank abwärts, aus der beleuchteten Zone hinaus. Er fragte sich, wann sie von dem zerfetzten Körper ablassen und herüberschwimmen würden, und dann fragte er sich gar nichts mehr. Im Zwielicht vollzog der große Hai eine unglaublich schnelle Kehrtwendung und kam zurück.
   Bohrmann schob sich in den Spalt.
   Es war eng darin. Der Anzug mit den im Rückenteil verankerten Flaschen behinderte ihn, sodass er kaum hineinkam. Schraubstockartig wurden seine Arme an die Seiten gedrückt. Er versuchte, sich tiefer in die Höhle zu quetschen, und da war der Hai auch schon heran.
   Die Knochenplatte des Hammers krachte gegen die Felsränder. Das Tier prallte zurück. Sein Kopf war zu breit, um hineinzugelangen. Es schwamm einen Kreis, der so eng war, dass es aussah, als verfolge es seinen eigenen Schwanz, und stieß ein weiteres Mal vor.
   Lavabröckchen lösten sich in Wolken vom Höhleneingang und trübten die Sicht. Bohrmann presste die Arme noch dichter an den Körper. Er hatte keine Ahnung, wie weit der Spalt ins Gestein reichte. Der Hai wütete draußen am Felsen und wirbelte Sediment und Splitter auf. Die Wolke umhüllte Bohrmann in seiner Höhle. Das blaue, hereinscheinende Licht der Insel verschwand fast völlig.
   »Dr. Bohrmann?«
   Van Maarten. Sehr schwach.
   »Bohrmann, um Himmels willen, antworten Sie!«
   »Ich bin hier.«
   Van Maarten stieß ein Geräusch aus, vielleicht einen Seufzer der Erleichterung. Er war kaum zu verstehen im Getöse, das der Hai veranstaltete. Lärm unter Wasser war etwas völlig anderes als an der Luft, ein dumpfes, hohl polterndes Gebräu aus allen möglichen, einander überlagernden Schwingungen. Bohrmann begann zu zittern, und plötzlich hörte der Ansturm auf. Er klemmte in seiner Spalte, blind im schwarzen Partikelnebel. Das Licht der Insel war nur zu ahnen.
   »Ich stecke in einer Felsritze«, sagte er.
   »Wir schicken die Roboter nach unten«, sagte van Maarten. »Und zwei Männer. Wir haben noch zwei Anzüge.«
   »Vergessen Sie’s. Das POD funktioniert nicht.«
   »Ich weiß. Wir haben gesehen, was mit Frost …« Van Maartens Stimme versagte. »Die Männer kommen trotzdem, sie haben Harpunen mit Explosivgeschossen dabei und …«
   »Explosivgeschosse? Was für eine glänzende Idee!«, sagte Bohrmann mit ätzender Stimme.
   »Frost war überzeugt, dass ihr so was nicht braucht.«
   »Nein. Schon klar.«
   »Das POD hat immer einwandfrei …«
   Etwas rammte Bohrmann frontal und stieß ihn mit Wucht tiefer ins Innere des Spalts. Er war dermaßen überrascht, dass er zu schreien vergaß. Im trüben Restlicht sah er den Hammer. Er war senkrecht gegen ihn geprallt. Der Hai versuchte, auf der Seite liegend in die Höhle zu schwimmen.
   Cleveres Kerlchen, dachte er grimmig. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Aber das wird dir schlecht bekommen.
   Er drosch auf den Hammer ein, bemüht, den Hund nicht loszulassen. Undeutlich sah er die Kiefer darunter auf— und zuklappen. Haie konnten nicht rückwärts schwimmen. Der eckige Kopf schlug auf und nieder, aber die Kiefer erreichten ihn nicht. Das Auge im oberen Ende rollte wild hin und her. Bohrmann hob den Greifer mit der Konsole und ließ sie darauf niedersausen.
   Der Hammer zuckte zurück.
   Allein wird er hier nicht rauskommen, dachte Bohrmann. Er begann, den Trackhound mit aller Kraft gegen den Schädel zu drücken. So tief konnte der Hai noch nicht eingedrungen sein. Wie weit ging die Kontrolle der Gallerte? Sie steuerte das Verhalten der Tiere, aber konnte sie einen Hai auch dazu bringen, rückwärts zu schwimmen?
   Offenbar ja, denn der Hammer verschwand aus der Höhle.
   Es war das große Tier gewesen.
   Bohrmann wartete.
   Wieder stieß etwas aus der Wolke. Dieser Hammer kam waagerecht herangesaust. Eines der kleineren Tiere. Sein Kopf donnerte gegen das gewölbte Sichtfenster des Helms. Die Kiefer klappten auseinander, Zahnreihen schrammten über das Plexiglas. Der Hai verdunkelte die Öffnung des Spalts so sehr, dass Bohrmann jetzt so gut wie gar nichts mehr sah, aber das bisschen reichte ihm. Er versuchte, sich noch weiter ins Innere des Spalts zu drücken, und plötzlich schienen die Wände nachzugeben. Er stürzte rückwärts ins Nichts.
   Pechschwarze Finsternis.
   Fahrig bewegte er den linken Greifer über die Konsole. Der Schalter für die Lampe des Trackhounds lag oberhalb der Programmiertasten. Eben hatte er doch noch …
   Wo war die verdammte Taste?
   Da!
   Der Scheinwerfer flammte auf. Im wandernden Licht erkannte er, dass sich der Spalt zu einer geräumigen Höhle geöffnet hatte. Er richtete den Lichtkegel auf die Öffnung und sah den Kopf des Hais darin auftauchen. Der Hammer schwenkte hin und her, aber das Tier kam nicht weiter ins Innere.
   Was ist los?, dachte Bohrmann.
   Dann begriff er.
   Der Hai steckte fest.
   Er holte aus und schlug wie wahnsinnig auf den kastenförmigen Schädel ein. Wahrscheinlich hing das Tier schon zur Hälfte im Spalt. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass es keine gute Idee war, den Hai so sehr zu verletzen, dass er blutete, und er drückte mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Unter Wasser war es damit nicht weit her, also stieß er sich ab und ließ sich gegen den schnappenden Kopf fallen, mit Brustkorb, Schultern und Armen, immer wieder, bis der Hai langsam zurückwich. Der Lichtkegel des Trackhounds zuckte hin und her, erhellte den rosa Schlund mit den pulsierenden Kiemenöffnungen.
   Dein verdammtes Problem, wie du hier rauskommst, dachte Bohrmann. Aber ich will, dass du hier rauskommst! Das ist meine Höhle, also verpiss dich!
   »Verpiss dich!«
   »Dr. Bohrmann?«
   Der Hai wich weiter zurück. Dann war er verschwunden.
   Bohrmann ließ sich zurückfallen. Seine Arme zuckten. Er stand dermaßen unter Spannung, dass er einen Moment nicht wusste, wie er es schaffen sollte stillzuhalten. Plötzlich fühlte er namenlose Erschöpfung über sich kommen und sank in die Knie.
   »Dr. Bohrmann?«
   »Gehen Sie mir nicht auf den Sack, van Maarten.« Er hustete. »Tun Sie irgendwas, um mich hier rauszuholen.«
   »Wir werden die Roboter und die Männer unverzüglich losschicken.«
   »Wozu der Roboter?«
   »Wir bringen alles nach unten, was die Tiere ängstigen und ablenken könnte.«
   »Das sind keine Tiere. Das sind die Hüllen von Tieren. Sie wissen, was ein Roboter ist. Sie wissen ganz genau, was wir hier tun.«
   »Haie?«
   Frost hatte van Maarten offenbar nicht alles erzählt.
   »Ja, Haie. Es sind ebenso wenig Haie, wie die Wale noch Wale sind. Etwas steuert sie. Die Männer sollen sich vorsehen.« Er musste erneut husten, diesmal heftiger. »Ich sehe nichts in der blöden Höhle. Was passiert da draußen?«
   Van Maarten schwieg einen Moment.
   »Mein Gott«, sagte er.
   »He! Reden Sie mit mir.«
   »Es sind weitere Tiere aufgetaucht. Dutzende. Hunderte! Sie zertrümmern die Scheinwerfer der Lichtinsel. Sie schlagen alles kurz und klein.«
   Natürlich tun sie das, dachte Bohrmann. Darum geht es ja. Uns davon abzubringen, die Würmer wegzusaugen. Nur darum geht es.
   »Dann vergessen Sie’s.«
   »Wie bitte?«
   »Vergessen Sie Ihre Rettungsaktion, van Maarten.«
   Es rauschte so sehr im Helm, dass van Maarten seine Antwort wiederholen musste.
   »Aber die Männer sind bereit.«
   »Sagen Sie denen, da unten erwarten sie intelligente Lebewesen. Diese Haie sind intelligent. Das Zeug in ihren Köpfen ist intelligent. Es wird nicht funktionieren mit zwei Tauchern und einem Blechkameraden. Denken Sie sich was anderes aus. Ich hab ja noch für knapp zwei Tage Sauerstoff.«
   Van Maarten zögerte.
   »In Ordnung. Wir beobachten die Sache. Vielleicht ziehen sich die Tiere in den nächsten Stunden zurück. Glauben Sie, dass Sie in Ihrer Höhle fürs Erste sicher sind?«
   »Was weiß denn ich? Vor gewöhnlichen Haien bin ich sicher, aber der Einfallsreichtum unserer Freunde kennt keine Grenzen.«
   »Wir holen Sie da raus, Gerhard! Bevor Ihnen die Luft ausgeht.«
   »Ich bitte sehr darum.«
   Allmählich fiel wieder etwas Licht in den Spalt. Die Strömung am Vulkansockel trug die Sedimentpartikel mit sich fort. Wenn es stimmte, was van Maarten sagte, würde das Licht bald erlöschen.
   Dann wäre er allein in der finsteren See. Bis irgendwann jemand kam, um es mit ein paar Hundert Hammerhaien aufzunehmen.
   Mit der fremden Intelligenz.
   Kein Hai, der seine naturgegebenen Sinne beisammen hätte, wäre je in das elektrische Feld geschwommen. Kein Hammerhai hätte zwei Taucher in Exosuits angegriffen, und falls doch, hätte er schnell wieder von ihnen abgelassen. Hammerhaie galten als potenziell gefährlich und mitunter enervierend neugierig, meist aber machten sie einen Bogen um alles, was ihnen suspekt erschien.
   Normalerweise schwammen sie auch nicht in Felsspalten.
   Bohrmann kauerte in seiner Höhle, versehen mit Sauerstoff für weitere 20 Stunden und einem nicht funktionierenden Haiabwehrsystem. Er hoffte, es würde kein weiteres Gemetzel geben, wenn van Maartens Leute herunterkamen. Wann immer sie kamen.
   Ein Gemetzel in lichtloser Finsternis.
   Er schaltete den Scheinwerfer seines Trackhounds aus, um die Batterien zu schonen. Sofort umgab ihn tintige Schwärze. Nur sehr schwach drang Licht durch den Spalt. Es wurde zusehends schwächer.
 
Independence, Grönländische See
 
   Johanson fand keine Ruhe.
   Er war im Welldeck gewesen, wo Lis Männer unter der Aufsicht Rubins soeben die Überführung der Gallertmasse in den Simulator vorbereiteten. Der Tank wurde komplett geleert und dekontaminiert. Die Pfisteria -verseuchten Krabben wanderten in flüssigen Stickstoff. Alles geschah unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Johanson und Oliviera waren übereingekommen, mit den Phasentests zu beginnen, sobald sich die Masse im Tank befand. Während Crowe und Shankar über der Entschlüsselung des zweiten Scratch-Signals zusammensaßen, besprachen sie sich und legten die Testfolge fest.
   »Der Schrecken sitzt tief«, hatte Li in einer kurzen, improvisierten Ansprache gesagt. »Wir alle sind zutiefst betroffen. Man hat versucht, uns zu demoralisieren, zu vernichten. Aber davon dürfen wir uns nicht lähmen lassen. Sie werden sich fragen, ob dieses Schiff noch sicher ist, und ich kann Ihnen antworten: Ja, es ist sicher! Solange wir dem Gegner keine Gelegenheit mehr geben einzudringen, haben wir an Bord der Independence nichts zu befürchten. — Aber dennoch ist Eile geboten. Wir dürfen nicht nachlassen in unseren Bemühungen, Kontakt herzustellen. Jetzt erst recht. Wir müssen die anderen davon überzeugen, den Terror gegen die menschliche Rasse zu stoppen!«
   Johanson ging hinauf aufs Flugdeck, wo der Bordservice damit befasst war, die Überreste der abgebrochenen Party beiseite zu schaffen. Die Sonne stand wieder am Himmel, das Meer sah aus wie gewohnt. Kein blaues Leuchten, keine Blitze. Kein Traum aus Licht, der sich zum Alptraum wandelte.
   Er kehrte zurück zum Ausgangspunkt seiner Gedanken, bevor Li ihm den Rotwein gebracht und versucht hatte, ihn über sein nächtliches Abenteuer auszuquetschen. Zweierlei hatte er sehr schnell begriffen. Erstens, Li wusste, was wirklich geschehen war. Zweitens, sie war nicht sicher, woran er sich erinnerte und ob er die Wahrheit sagte, und das bereitete ihr Sorgen.
   Sie hatten ihn belogen. Er war nicht gestürzt.
   Dabei hatte er kurz davor gestanden, es zu akzeptieren. Hätte Oliviera nicht auf der Rampe zu ihm gesagt, er habe in der vorangegangenen Nacht Rubin zu sehen geglaubt, wie er durch eine geheime Tür im Hangardeck ging, hätte er sich auch daran nicht mehr erinnert und sich folgsam mit der Erklärung zufrieden gegeben, die Angeli und die anderen ihm verordnet hatten. Aber Olivieras Bemerkung hatte etwas in Gang gesetzt. Sein Gehirn begann sich zu reprogrammieren. Rätselhafte Bilder entstanden und vergingen. Während er die gleichförmig bewegte See anstarrte, richtete er seinen Blick nach innen. Plötzlich saß er wieder mit Oliviera auf der Kiste, sie tranken Wein, und er sah Rubin durch die Tür in der Hangarwand treten. Sie war ein Stück weit weg gewesen, diese Tür, aber ein anderes Bild suggerierte ihm, dicht davor zu stehen — für Johanson Beweis genug, dass es diesen rätselhaften Durchgang gab.
   Aber was war danach geschehen?
   Sie waren runter ins Labor gegangen. Dann war er zurückgekehrt ins Hangardeck. Wozu? Hatte es etwas mit dieser Tür zu tun gehabt?
   Oder bildete er sich alles nur ein?
   Du könntest alt und wunderlich geworden sein, ohne es zu merken, dachte er. Das wäre natürlich peinlich. Zu Li zu gehen und sie zur Rede zu stellen, um einsehen zu müssen, dass man sie nicht alle beieinander hatte. Keine erhebende Vorstellung.
   Während er noch darüber nachgrübelte, hatte das Schicksal ein Einsehen. Es schickte ihm Weaver. Johanson freute sich, als er ihre kleine, kompakte Silhouette über das Deck zu sich herüberkommen sah. Sie hatten in letzter Zeit wenig Kontakt gehabt. War sie ihm zu Anfang als Verschworene erschienen, hatte er schnell einsehen müssen, dass sie keinen Ersatz für Lund darstellte. Sie verstanden sich gut, aber eine tiefere Bindung war nicht aufgekommen, weder im Chateau noch auf der Independence. Vielleicht hatte er gehofft, etwas von dem an ihr gutmachen zu können, was Lund zugestoßen war. Inzwischen lagen die Dinge anders. Johanson war bei weitem nicht mehr sicher, ob er wirklich eine Schuld abzutragen hatte, und auch nicht, ob zwischen ihm und Weaver je etwas von der Vertrautheit herrschen würde, die er mit Lund geteilt hatte. Derzeit kam es ihm eher so vor, als bahne sich etwas zwischen ihr und Anawak an, und eigentlich passten die beiden auch viel besser zusammen.
   Vertrautheit würde es also nicht geben.
   Aber Vertrauen. Etwas ganz anderes. Weaver Vertrauen zu schenken, konnte nur belohnt werden. Sie war viel zu nüchtern, um romantische Erfüllung in geheimnisvollen Begebenheiten zu finden. Sie würde ihn anhören und ihm klar zu verstehen geben, ob sie ihm glaubte oder ihn für verrückt hielt.
   Er schilderte ihr in knappen Sätzen, woran er sich erinnern konnte, was ihn verwirrte, in welchen Punkten er sich selber misstraute und was er bei Lis Versuch, ihn auszuquetschen, empfunden hatte.
   Nach einer Weile des Nachdenkens fragte Weaver: »Warst du schon mal nachsehen?«
   Johanson schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch keine Gelegenheit.«
   »Du hättest reichlich Gelegenheit gehabt. Du hast Angst nachzusehen, weil du fürchtest, nichts zu finden.«
   »Wahrscheinlich hast du Recht.«
   Sie nickte. »Gut. Dann gehen wir jetzt zusammen runter.«
   Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Tatsächlich empfand Johanson Angst und Unsicherheit mit jedem Schritt, den sie zum Hangardeck hinabstiegen. Was, wenn sie nun wirklich nichts entdeckten? Beinahe war er jetzt sicher, dass sie dort unten keine Tür finden würden, und dann müsste er sich mit dem Gedanken anfreunden, an Schizophrenie zu leiden. Er war 56 Jahre alt. Er war ein gut aussehender Mann, dem man Intelligenz, erotische Ausstrahlung und Charme attestierte, mit einer hohen Trefferquote bei Frauen.
   Offenbar war er auch ein seniler Tattergreis.
   Es kam, wie er es befürchtet hatte. Mehrfach schritten sie die Wand ab, aber er fand nichts, was auf einen Durchlass hindeutete.
   Weaver sah ihn an.
   »Schon gut«, murmelte er.
   »Kein Problem«, erwiderte sie. Und dann fügte sie zu seiner großen Überraschung hinzu: »Die Wand ist genietet, überall laufen Rohre entlang und Schweißnähte, es gibt tausend Möglichkeiten, hier eine Tür einzubauen, die man nicht sieht. Versuch dich zu erinnern, wo genau du diese Tür gesehen hast!«
   »Du glaubst mir?«
   »Ich kenne dich ganz gut, Sigur. Du bist kein Spinner.
   Du säufst nicht wie ein Loch und nimmst keine Drogen. Du bist ein Genießer, und Genießer haben einen Blick für Details, die anderen verborgen bleiben. Ich bin mehr der Typ für Fish ‘n’ Chips. Wahrscheinlich würde ich diese Tür nicht sehen, wenn sie vor meiner Nase geöffnet würde, weil ich gar nicht auf die Idee käme, dass es so was Abgedrehtes gibt. Ich weiß ja nicht, was du gesehen hast, aber … ja, ich glaube dir.«
   Johanson lächelte. Impulsiv gab er Weaver einen Kuss auf die Wange und ging einigermaßen beschwingt die Rampe hinunter zum Labor.
 
Labor
 
   Rubin war immer noch sehr blass, und wenn er redete, klang es wie das Krächzen eines Papageis. Tatsächlich hatte nicht viel gefehlt zu seinem Ableben. Greywolf war kurz davor gewesen, ihn ins Jenseits zu befördern. Der Biologe gab sich verständnisvoll. Er lächelte steif und kam Johanson vor wie Schwester Ratched in Einer flog über das Kuckucksnest, nachdem Jack Nicholson seine Hände um ihren Hals gelegt hatte. Wenn er nach rechts oder links schaute, drehte er seinen Oberkörper mit, ließ alle an seiner erbarmungswürdigen körperlichen Verfassung teilhaben und verkündete, Greywolf nicht böse zu sein.
   »Die waren zusammen, stimmt’s?«, röchelte er. »Das muss schrecklich für ihn sein. Und ich war es, der die Schleuse nochmal öffnen wollte. Ich meine, er hätte mich nicht angreifen dürfen, aber ich kann ihn so gut verstehen.«
   Oliviera wechselte den einen oder anderen Blick mit Johanson und hielt ansonsten ihren Mund.
   Im Tank trieben große Brocken der Masse. Sie hatten wieder zu leuchten begonnen. Was die drei Biologen im Augenblick mehr interessierte, war jedoch nicht die Gallerte selber, sondern die Wolke. Während Lis Leute zweieinhalb Tonnen von dem Zeug in den Simulator geschaufelt hatten, waren auch große Mengen zerschmolzener Substanz mit hineingewandert. Inmitten frei schwimmender Mikroorganismen und Materieklumpen war ein Roboter unterwegs, voll gestopft mit hoch empfindlichen Sensoren, die unablässig die chemische Zusammensetzung des Wassers maßen und die Daten auf die Monitore der Konsole weiterleiteten. Der Außenrand des Roboters war bestückt mit Röhren, die sich auf Knopfdruck ausfahren, öffnen, schließen und wieder einfahren ließen. Das ganze Ding war nicht viel größer als der Spherobot und extrem robust und wendig.
   Johanson saß in der Pose eines Raumschiffkapitäns an der Konsole und wartete, die Hände um beide Joysticks gelegt. Sie hatten das Licht im Tank und im Labor auf das notwendige Minimum herabgedimmt, um die Vorgänge besser beobachten zu können. So wurden sie Zeuge, wie sich die Masse allmählich erholte. Die Gallertbrocken leuchteten intensiver, Ströme blauen Lichts pulsierten durch ihr Inneres.
   »Ich glaube, es geht los«, flüsterte Oliviera. »Es reformiert sich.«
   Johanson lenkte den Roboter unter einen der Brocken, öffnete ein Probenröhrchen und ließ es in die Masse hineinfahren. Der Rand des Röhrchens war messerscharf geschliffen. Es trennte etwas von der Gallerte ab, verschloss sich von selbst wieder und fuhr zurück in den Kranz. Der Brocken reagierte nicht auf die Punktierung. Er verformte sich leicht, eingehüllt in blaue Wolkenschwaden. Johanson wartete einige Sekunden und wiederholte die Prozedur an anderer Stelle.
   Winzige Lichter blitzten in dem Gallertklumpen auf. Er hatte die Größe eines ausgewachsenen Tümmlers oder Delphins. Je länger Johanson hinsah, während er seine Probenröhrchen füllte, desto sicherer war er, dass diese Einschätzung exakt zutraf. Die Größe eines Delphins. Nein, mehr noch. Die Form eines Delphins.
   Im gleichen Augenblick sagte Oliviera:
   »Nicht zu glauben. Es sieht aus wie ein Delphin.«
   Johanson vergaß beinahe, den Roboter zu lenken. Er beobachtete fasziniert, wie auch andere Brocken ihre Form veränderten. Einige erinnerten an Haie, andere schienen Kalmare nachzuahmen.
   »Wie ist das möglich?«, röchelte Rubin.
   »Programmierung«, sagte Johanson. »Es kann nur so sein.«
   »Woher wissen die, wie das geht?«
   »Sie wissen es einfach. Sie haben es gelernt.«
   »Wie?«
   »Wenn sie in der Lage sind, Formen und Bewegungsabläufe nachzuahmen«, sagte Oliviera, »müssen sie Meister der Tarnung sein. Was meint ihr?«
   »Ich weiß nicht.« Johanson war skeptisch. »Ich bin nicht sicher, ob das, was wir da sehen, den Zweck von Mimikri hat. Es kommt mir eher so vor, als ob sie sich an etwas … erinnern.«
   »Erinnern?«
   »Du weißt, was passiert, wenn wir denken. Bestimmte Neuronen leuchten auf, Gruppen und Verknüpfungen. Es entsteht ein Muster. Unser Hirn kann seine Gestalt nicht ändern, aber die neuronalen Muster ergeben schon irgendwie eine Form. Wenn man verstünde, sie zu lesen, könnte man ziemlich konkret sagen, woran der Betreffende gerade denkt.«
   »Du meinst, sie denken an einen Delphin?«
   »Das sieht nicht aus wie ein Delphin«, meinte Rubin.
   »Doch, es ist …« Johanson stutzte. Rubin hatte Recht. Die Form war eine andere geworden. Jetzt glich sie eher einer Art Rochen, der mit langsam schlagenden Flügeln im Tank aufwärts stieg. Aus den Flügelspitzen wuchsen dünne, tastende Fäden.
   »Seht euch das an!«
   Die Rochenform verging in etwas Schlangenartigem. Die Masse stob auseinander. Plötzlich schienen Tausende winziger Fische mit synchronen Bewegungen dahinzuflitzen, wuchsen wieder zusammen, das Gebilde veränderte in immer schnellerem Wechsel sein Aussehen, als laufe ein Programm ab. In Sekundenbruchteilen wechselten vertraute mit fremdartigen Formen. Sämtliche Gallertbrocken waren von dem Phänomen befallen. Gleichzeitig trieben sie aufeinander zu. Die schon vertrauten Blitze zuckten auf, und einen schrecklichen, unheimlichen Moment lang glaubte Johanson in dem rasend schnellen Gestaltwechsel einen menschlichen Umriss wahrzunehmen.
   Alles strömte ineinander, Materie und Wolkenfetzen.
   »Es verschmilzt!«, ächzte Rubin. Er schaute mit glänzenden Augen auf die Sichtfelder des Monitors vor ihm. Daten liefen darüber hinweg. »Das Wasser ist gesättigt mit einem neuen Stoff, einer chemischen Verbindung!«
   Johanson kurvte mit dem Roboter durch das kollabierende Universum und entnahm in stetiger Folge Proben. Es war wie bei einer Rallye. Wie viel würde er zusammenbekommen? Wann empfahl es sich, den Rückzug anzutreten? Die Masse schien sich vollständig erholt zu haben. Ein Zentrum bildete sich. Alles stürzte in sich zusammen. Was sie im Kleinen schon einmal erlebt hatten, vollzog sich jetzt im Großen. Die Erschaffung eines Wesens aus einzelnen Zellen. Ein Organismus ohne sichtbare Augen, Ohren und sonstige Sinnesorgane, ohne Herz, Hirn und Innereien, ein homogener Klumpen, der dennoch zu komplexen Prozessen in der Lage war.
   Etwas Riesiges entstand. Gut die Hälfte dessen, was ins Welldeck eingedrungen war, hatten die Pumpen zurück ins Meer befördert. Doch immer noch besaß der verbliebene Rest die Ausmaße eines Kleintransporters. Durch das ovale Fenster des Tanks sahen sie, wie die Gallerte sich zusammenballte und verfestigte. Johanson zog den Roboter in den Randbereich der Verschmelzung, wo unablässig blaue Schwaden dem Zentrum zustrebten. Drei der Röhrchen waren noch unbeprobt. Er ließ sie aus dem Kranz fahren und wagte einen erneuten Vorstoß in die Masse.
   Blitzschnell zog sich das Wesen zurück und produzierte Dutzende von Tentakeln, die den Roboter packten. Johanson verlor die Herrschaft über die Maschine. Unbeweglich hing sie im Klammergriff des Wesens, das dem Boden des Tanks entgegensank und dabei eine Art klumpigen Fuß produzierte. Plötzlich erinnerte es an einen gewaltigen Pilz mit einem Kranz biegsamer Arme.
   »Scheiße«, fluchte Oliviera. »Du warst zu langsam.«
   Rubins Finger glitten über die Tastatur seines Rechners.
   »Ich habe hier jede Menge Daten«, sagte er. »Ein molekularer Vollrausch. Das Zeug benutzt ein Pheromon! Ich lag also richtig.«
   »Anawak lag richtig«, berichtigte ihn Oliviera. »Und Weaver.«
   »Natürlich, ich wollte sagen …«
   »Wir lagen alle richtig.«
   »Das wollte ich sagen.«
   »Etwas, das wir kennen, Mick?«, fragte Johanson, ohne den Blick von den Monitoren zu lassen.
   Rubin schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Die Zutaten sind bekannt. Über das Rezept kann ich nichts sagen. Wir brauchen die Proben.«
   Johanson sah zu, wie sich aus der Oberseite des Wesens ein dicker Strang wand, dessen Spitze sich zu einem Busch feiner Fühler verzweigte. Der Strang bog sich zu dem Roboter hinab. Die Fühler betasteten die Maschine und die Probenbehälter.
   Alles sah nach einer strukturierten, bedächtigen Untersuchung aus.
   »Sehe ich das richtig?« Oliviera beugte sich vor. »Will es die Röhrchen öffnen?«
   »Die sind so leicht nicht aufzukriegen.« Johanson versuchte die Kontrolle über den Roboter zurückzuerlangen. Die Fangarme, die ihn umklammert hielten, reagierten, indem sie sich noch fester um die Maschine schmiegten.
   »Hat sich offenbar verliebt«, seufzte er. »Na schön.
   Warten wir’s ab.«
   Die Fühler setzten ihre Untersuchung fort.
   »Kann es den Roboter eigentlich sehen?«, fragte Rubin.
   »Womit?« Oliviera schüttelte den Kopf. »Es kann die Form wechseln, aber wohl kaum Augen ausbilden.«
   »Vielleicht braucht es das ja gar nicht«, sagte Johanson. »Es begreift seine Welt.«
   »Das tun Kinder auch.« Rubin sah ihn zweifelnd an. »Aber sie haben ein Gehirn, um das Begriffene abzuspeichern. Wie versteht dieses Zeug, was es begreift?«
   Plötzlich gab die Masse den Roboter frei. Sämtliche Fühler und Fangarme bildeten sich zurück und verschwanden in der großen Struktur. Der Organismus verflachte sich, bis er den Boden des Tanks in einer dünnen Schicht vollständig bedeckte.
   »Schwimmender Estrich«, spottete Oliviera. »Das kann es also auch.«
   »Arrivederci«, sagte Johanson und fuhr den Roboter zurück in die Garage.
 
Combat Information Center
 
   »Was wollt ihr uns eigentlich sagen?«
   Crowe stützte das Kinn in die Hände. Zwischen Zeigefinger und Mittelfinger ihrer Rechten qualmte die obligatorische Zigarette vor sich hin, aber diesmal verbrannte sie fast ungeraucht. Crowe fand keine Zeit, daran zu ziehen. Sie versuchte, zusammen mit Shankar hinter die Botschaft zu kommen, die ihnen die Yrr geschickt hatten.
   Eine Botschaft, die begleitet gewesen war von einem Angriff.
   Nachdem der Computer die erste Nachricht decodiert hatte, war er mit der zweiten relativ schnell zurechtgekommen. Die Yrr hatten wie beim ersten Mal im binären Code geantwortet. Noch war unklar, ob die Daten wieder ein Bild ergaben. Bislang schien nur eine einzige Abfolge Sinn zu machen, eine Information, die sich vor dem Hintergrund des zu erwartenden fremdartigen Denkens geradezu lächerlich einfach ausnahm.
   Es war die Darstellung eines Moleküls, eine chemische Formel.
   H2O.
   »Sehr originell«, meinte Shankar säuerlich. »Dass sie im Wasser leben, wissen wir schon länger.«
   Allerdings hatten die Yrr weitere Daten an die Wasserformel gekoppelt. Der Computer rechnete wie wild, und ganz allmählich ging Crowe ein Licht auf, was damit gemeint sein konnte.
   »Vielleicht ist es eine Landkarte«, sagte sie.
   »Was meinst du damit? Eine Karte des Meeresbodens?«
   »Nein. Das würde bedeuten, dass sie auf dem Meeresboden leben. Wenn unser gewalttätiger Besucher im Simulator Teil der fremden Intelligenz ist, dürfte ihr Lebensraum eher freies Wasser sein. Die Tiefsee ist ein Universum, durch das man schwebt. Homogen und nach allen Seiten gleich.«
   Shankar überlegte. »Es sei denn«, sagte er, »man nimmt es unter die Lupe und untersucht seine spezifische Zusammensetzung. Mineralstoffe, Säuren, Basen, und so weiter.«
   »Die nicht überall gleich sind«, nickte Crowe. »Beim ersten Mal haben sie uns ein Bild aus zwei mathematischen Ergebnissen geschickt. Das hier liest sich ungleich komplizierter. Aber wenn wir richtig liegen, wird auch dieser Variantenreichtum begrenzt sein. Ich kann’s nicht beschwören, aber ich denke, sie haben uns wieder ein Bild geschickt.«
 
Joint Intelligence Center
 
   Weaver fand Anawak am Computer sitzend. Virtuelle Einzeller trudelten über den Bildschirm, aber ihr schien, als schaue er nicht richtig hin.
   »Tut mir Leid, was mit deiner Freundin passiert ist«, sagte sie leise.
   Anawak sah zur Decke. »Weißt du, was komisch ist?« Seine Stimme klang belegt. »Dass mir ihr Tod so nahe geht. Sterben hat mich nie sonderlich beeindruckt. Als meine Mutter starb, habe ich das letzte Mal geweint. Mein Vater ist gestorben, und mir wurde schlecht vor Entsetzen, dass ich seinen Tod nicht bedauern konnte. Du kennst die Geschichte. — Aber Licia? Mein Gott. Ich hatte nicht mal irgendwelche Ambitionen. Eine Studentin, die mir auf die Nerven gegangen ist, bevor ich mich daran gewöhnte, sie zu mögen.«
   Weaver zögerte. Zaghaft berührte sie seine Schulter. Anawaks Finger strichen über ihre Hand.
   »Deine Programmierung funktioniert übrigens«, sagte er.
   »Das heißt, im Labor müssen sie jetzt nur noch die Biologie entsprechend umkrempeln.«
   »Ja. Darin liegt das Problem. Es bleibt eine Hypothese.«
   Sie hatten die virtuellen Einzeller mit einer lernfähigen DNA versehen, die in der Lage war, ständig zu mutieren. Im Grunde war jede einzelne Zelle nach diesem Modell ein autarker kleiner Computer, der sein Programm ständig umschrieb. Jede neue Information veränderte die Struktur des Genoms. Machte eine bestimmte Menge der Zellen eine Erfahrung, veränderte diese Erfahrung ihre genetische Struktur. Verschmolzen die veränderten Zellen mit anderen Zellen, gaben sie die neuen Informationen weiter, und die DNA der anderen glich sich entsprechend an. Auf diese Weile lernte das Kollektiv nicht nur ständig dazu, die Verschmelzung sorgte überdies für einen ständigen Informationsgleichstand. Jedes neue Wissen Einzelner bereicherte die Gesamterfahrung des Kollektivs.
   Der Gedanke kam einer Revolution gleich. Er hätte bedeutet, dass Wissen vererbbar war. Nachdem sie die Sache mit Johanson, Oliviera und Rubin besprochen hatten, herrschte größere Ratlosigkeit denn je, weil die Idee einerseits begeistert aufgenommen wurde.
   Andererseits hatte sie einen gewaltigen Haken.
 
Kontrollraum
 
   »Wenn eine DNA mutiert, führt das zu einer Veränderung der genetischen Information«, erklärte Rubin. »Und das ist bei allen Lebewesen problematisch.«
   Mitten in der Auswertung der Tests hatte er sich aus dem Labor gestohlen, angeblich, weil ihn wieder die Migräne überkam. Stattdessen saß er im geheimen Kontrollraum zusammen mit Li, Peak und Vanderbilt. Sie gingen die Abhörprotokolle durch. Natürlich wusste jeder im Raum von dem Programm, das Weaver und Anawak erstellt hatten, und auch von ihrer Theorie. Aber bis auf Rubin konnte keiner etwas damit anfangen.
   »Ein Organismus ist darauf angewiesen, dass seine DNA intakt bleibt«, sagte Rubin. »Andernfalls erkrankt er, oder seine Nachkommen werden krank. Radioaktive Strahlung zum Beispiel ruft in der DNA irreparable Schäden hervor, mit dem Ergebnis, dass Mutanten geboren werden oder die Leute Krebs bekommen.«
   »Aber was ist mit evolutiver Weiterentwicklung?«, fragte Vanderbilt. »Wenn wir uns vom Affen zum Menschen entwickelt haben, kann die DNA nicht immer gleich geblieben sein.«
   »Richtig, aber die Evolution vollzieht sich über einen ziemlich langen Zeitraum. Und sie wählt immer diejenigen aus, bei denen die natürliche Mutationsrate zu einer optimalen Anpassung an die jeweils herrschenden Zustände führt. Von den Misserfolgen der Evolution ist kaum je die Rede, dennoch sondert die Natur eine Menge aus. Aber zwischen grundlegender genetischer Veränderung und Aussonderung liegt die Reparatur. Denken Sie an Sonnenbräune. Sonnenlicht verändert die Zellen der obersten Hautschichten, das führt zu Mutationen in der DNA. Wir werden braun, und wenn wir nicht aufpassen, werden wir rot und verbrennen. In diesem Fall stößt der Körper die zerstörten Zellen ab. Im anderen Fall repariert er sie. Gäbe es diese Reparaturen nicht, wären wir nicht lebensfähig. All die kleinen Mutationen würden sich aufschaukeln, keine Wunde würde verheilen, keine Krankheit ließe sich überstehen.«
   »Verstanden«, sagte Li. »Aber wie sieht das bei Einzellern aus?«
   »Genauso«, sagte Rubin. »Wenn ihre DNA mutiert, muss sie repariert werden. Schauen Sie, solche Zellen vermehren sich durch Teilung. Wenn die DNA nicht repariert würde, bliebe keine Spezies stabil. Egal, welche Zelle Sie nehmen, die Natur hat ein Interesse daran, die Mutationsrate auf einem erträglichen Niveau zu halten. — Nur, jetzt kommt der Haken in Anawaks Theorie. Ein Genom wird immer global repariert, auf ganzer Länge. Sie müssen sich vorstellen, dass Reparaturenzyme wie Polizeistreifen die gesamte DNA entlang patrouillieren und nach Fehlern Ausschau halten. Sobald sie eine schadhafte Stelle entdecken, starten sie die Reparatur. Damit die Information, welches der ursprüngliche, richtige Zustand ist, erhalten bleibt, sind die Reparaturenzyme sozusagen die Hüter des genomischen Wissens. Sie erkennen auf ihren Kontrollgängen sofort, hier ist das ursprüngliche und dort das fehlerhafte Gen. — Als ob Sie einem Kind vergeblich das Sprechen beibringen wollten.
   Kaum lernt es ein Wort, kommen die Reparaturenzyme und programmieren das Hirn zurück auf den Originalzustand, also auf Unwissenheit. Ein Wissensaufbau ist nicht möglich.«
   »Dann ist Anawaks Theorie Blödsinn«, konstatierte Li. »Sie würde nur funktionieren, wenn die Veränderungen in der Einzeller-DNA erhalten blieben.«
   »Einerseits richtig. Jede neue Information würde von den Reparaturenzymen als Schaden angesehen, und ruckzuck würde das Genom repariert. Zurück auf null, sozusagen.«
   »Ich vermute«, grinste Vanderbilt, »jetzt kommt das Andererseits.«
   Rubin nickte zögernd.
   »Es gibt ein Andererseits«, sagte er.
   »Und das wäre?«
   »Keine Ahnung.«
   »Augenblick mal«, sagte Peak. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und zuckte zusammen. Sein Fuß war bandagiert. Er sah überhaupt ziemlich mitgenommen aus. »Haben Sie nicht gerade …«
   »Ich weiß! Aber die Theorie ist einfach wunderbar«, rief Rubin. Seine Stimme wurde immer quäkiger. Jedes Mal, wenn er längere Zeit am Stück redete, holten ihn die Folgen von Greywolfs Würgeattacke ein. »Sie würde alles erklären. Dann hätten wir Gewissheit, dass das Ding im Tank tatsächlich unser Feind ist. Wir hätten die Yrr vor Augen. Die Wesen, denen wir die ganze Scheiße verdanken! — Und ich bin sicher, sie sind es! Heute früh wurden wir Zeuge einzigartiger Vorgänge. Das Ding untersuchte einen Tauchroboter, und so, wie es geschah, hatte es nichts, aber auch gar nichts mit Instinktverhalten oder tierischer Neugierde zu tun. Das war pure, kognitive Intelligenz! Anawaks Erklärung muss zutreffen. Weavers Computermodell funktioniert.«
   »Wer soll da noch mitkommen?«, seufzte Vanderbilt und tupfte sich die Stirn trocken.
   »Na ja.« Rubin breitete die Hände aus. »Die Möglichkeit liegt in der Anomalie. Auch Reparaturenzyme machen Fehler. Selten zwar, aber pro 10000 Reparaturen vermasseln sie eine. Ein Basenpaar, das nicht in den Originalzustand zurückgeführt wird. Das ist wenig, aber es reicht, dass jemand als Bluter auf die Welt kommt oder mit Krebs oder offenem Rachen. Wir sehen darin Defekte, aber es beweist, dass das Reparaturprinzip nicht uneingeschränkt Gültigkeit hat.«
   Li stand auf und durchmaß mit langsamen Schritten den Raum.
   »Sie sind also der Überzeugung, dass die Einzeller und die Yrr identisch sind? Wir haben unseren Gegner gefunden?«
   »Zwei Einschränkungen«, sagte Rubin schnell. »Erstens, wir müssen das DNA-Problem lösen. Zweitens, es muss so etwas wie eine Königin geben. Das Kollektiv kann so intelligent sein, wie es will — was wir da unten vor uns haben, ist meines Erachtens nur ein ausführender Teil des Ganzen.«
   »Eine Königin? Wie muss man sich die vorstellen?«
   »Gleichartig und doch anders. Nehmen Sie Ameisen. Auch die Königin ist eine Ameise, aber eine besondere. Von ihr geht alles aus. Die Yrr sind Schwarmwesen, Kollektive aus Mikroorganismen. Wenn Anawak Recht hat, verkörpern sie einen zweiten Weg der Evolution zu intelligentem Leben — aber irgendetwas muss sie steuern.«
   »Wenn wir also diese Königin finden …«, begann Peak.
   »Nein.« Rubin schüttelte den Kopf. »Machen wir uns nichts vor. Es kann mehr als eine sein. Es können Millionen sein. Und wenn sie schlau sind, lassen sie sich in unserer Nähe nicht blicken.« Er machte eine Pause. »Aber um als Königinnen fungieren zu können, müssen sie mit den übrigen Yrr dieselben Prinzipien teilen. Die Verschmelzung und das genetische Gedächtnis. — Nun, wir sind dabei, einen Duftstoff zu extrahieren, den die Zellen absondern als Zeichen, dass sie verschmelzen wollen. Ein Pheromon, dessen Rezeptur Oliviera und Johanson dicht auf der Spur sind. Über dieses Pheromon, diesen Duft werden die Zellen unter Garantie auch mit der Königin verschmelzen. Der Duft ist der Schlüssel zur Kommunikation unter den Yrr.« Rubin lächelte selbstzufrieden. »Und er könnte der Schlüssel zur Lösung all unserer Probleme sein.«
   »Gut, Mick.« Vanderbilt nickte ihm huldvoll zu. »Wir haben Sie wieder lieb. Einstweilen, auch wenn Sie im Welldeck einen fetten Bock geschossen haben.«
   »Dafür konnte ich nichts«, sagte Rubin beleidigt. »Sie sind bei der CIA, Mick. In meinem Verein. Dafür kann ich nichts gibt’s da nicht. Haben wir das bei Ihrer Einstellung zu erwähnen vergessen?« »Nein.« Vanderbilt stopfte unbeholfen sein Taschentuch in die Hose. »Das freut mich zu hören. Jude wird gleich mit dem Präsidenten sprechen. Sie kann ihm sagen, was Sie für ein braver Junge sind. Danke für Ihren Besuch. Zurück in die Salzminen, Kerl!«
 
Flagg-Besprechungsraum
 
   Crowe und Shankar wirkten weit weniger selbstsicher als bei der Entschlüsselung des ersten Signals. Eine gedrückte und gereizte Stimmung lastete auf der Truppe, die nicht allein von den schrecklichen Vorgängen im Welldeck herrührte. Es wurde immer offenkundiger, dass niemand das Vorgehen der Yrr verstand.
   »Warum schicken sie Botschaften und greifen uns gleichzeitig an?«, fragte Peak. »Kein Mensch würde so etwas tun.«
   »Hören Sie endlich auf, in diesen Kategorien zu denken«, sagte Shankar. »Es sind keine Menschen.«
   »Ich will es ja nur kapieren.«
   »Sie werden gar nichts kapieren, wenn Sie menschliche Logik zugrunde legen«, sagte Crowe. »Vielleicht ist die erste Botschaft eine Warnung gewesen. Wir wissen, wo ihr seid. Das jedenfalls haben sie uns geantwortet.«
   »Kann es ein Täuschungsmanöver gewesen sein?«, schlug Oliviera vor.
   »Worin sollte die Täuschung denn deiner Meinung nach bestanden haben?«, fragte Anawak.
   »Uns abzulenken.«
   »Von was? Davon, dass sie sich kurze Zeit später wie ein Weihnachtsbaum inszenieren?«
   »Gar nicht so abwegig«, sagte Johanson. »Eines ist ihnen immerhin gelungen. Wir haben geglaubt, dass sie an einem Austausch interessiert sind. Sal hat Recht, kein Mensch würde so etwas tun. Vielleicht wissen sie das. Sie haben uns eingelullt, sich in aller Pracht gezeigt, wir erwarten freudig die kosmische Offenbarung und kriegen stattdessen was auf die Schnauze.«
   »Vielleicht hätten Sie was anderes in die Tiefe schicken sollen als Ihre dämlichen Mathematikaufgaben«, sagte Vanderbilt zu Crowe.
   Zum ersten Mal, seit Anawak sie kannte, schien Crowe ihre Ruhe zu verlieren. Sie funkelte den CIA-Direktor zornig an. »Wissen Sie was Besseres, Jack?«
   »Es ist nicht meine Aufgabe an Bord, was Besseres zu wissen, sondern Ihre«, sagte Vanderbilt angriffslustig. »In Ihrer Verantwortung liegt die Kommunikation mit denen.«
   »Mit wem? Sie glauben doch immer noch, dass irgendwelche Mullahs dahinter stecken.«
   »Wenn Sie Botschaften abschicken, die nichts anderes bewirken, als denen unsere Position zu verraten, ist das verdammt nochmal ein Problem, das Sie zu lösen haben. Sie haben detaillierte Informationen über die Menschheit in ihren blöden Schallimpuls gepackt. Sie haben denen eine Einladung geschickt, uns anzugreifen!«
   »Sie müssen erst mal jemanden kennen lernen, um mit ihm zu reden!«, giftete Crowe zurück. »Begreifen Sie das eigentlich nicht, Sie Esel? Ich will wissen, wer die sind, also erzähle ich ihnen was über uns.«
   »Ihre Botschaften sind eine Sackgasse …«
   »Mein Gott, wir haben gerade erst angefangen!«
   »… so wie Ihr ganzes aufgeblasenes SETI eine Sackgasse ist. Gerade erst angefangen? Glückwunsch. Wie viele Leute werden denn sterben, wenn Sie erst mal richtig loslegen!«
   »Jack«, sagte Li. Es klang wie ›Sitz‹ oder ›Platz‹.
   »Dieses bescheuerte Kontaktprogramm …«
   »Jack, halten Sie die Klappe! Ich will keinen Streit, sondern Ergebnisse. Also wer in diesem Raum hat ein Ergebnis?«
   »Wir«, sagte Crowe mürrisch. »Der Kern der zweiten Botschaft ist eine Formel: Wasser. H2O. Was der Rest zu bedeuten hat, finden wir auch noch raus — solange uns keiner hetzt!«
   »Wir sind auch ein Stück weitergekommen«, begann Weaver.
   »Und wir!«, sagte Rubin schnell. »Wir sind einen großen Schritt weiter, dank … äh … der tatkräftigen Mithilfe von Sigur und Sue.« Er musste husten. Seine Stimme war immer noch nicht in Ordnung. »Vielleicht möchtest du es vortragen, Sue?«
   »Brich dir bloß keinen ab«, zischte Oliviera ihm zu. Laut sagte sie: »Wir haben den Duftstoff extrahiert, über den die Zellen ihren Zusammenschluss herbeiführen. Es ist ein Pheromon, und wir wissen auch, wie es funktioniert. Das verdanken wir Sigur, der im todesmutigen Kampf mit dem Ungeheuer Gewebe— und Phasenproben ergattern konnte.«
   Sie stellte ein durchsichtiges, verschlossenes Gefäß auf den Tisch. Es war zur Hälfte gefüllt mit einer wasserklaren Flüssigkeit.