Rasch setzte er den Feldstecher an die Augen und versuchte, einen Blick auf die Unterseiten zu erhaschen, aber es gelang ihm nicht. Egal. Sie waren dort. Die erste Tugend eines Walbeobachters hieß Geduld, und bis zum Eintreffen der Touristen blieb noch reichlich Zeit. Er öffnete die zweite Dose Eistee und biss in seinen Riegel.
   Schon nach kurzer Zeit wurde seine Geduld belohnt, als nicht weit vom Boot plötzlich fünf Buckel durchs Wasser pflügten. Anawak fühlte sein Herz schneller schlagen. Die Tiere waren nun sehr nahe. Voller Spannung wartete er auf die Fluken. So sehr nahm ihn das Schauspiel gelangen, dass er die monumentale Silhouette neben dem Boot zuerst nicht wahrnahm. Aber die Silhouette wuchs über ihn hinaus, bis er schließlich den Kopf wandte — und zusammenzuckte.
   Er vergaß die fünf Buckel und sperrte den Mund auf.
   Der Schädel des Wals hatte sich nahezu lautlos aus den Fluten gehoben. Er war so nahe, dass er den Gummiwulst des Bootes fast berührte. Mehr als dreieinhalb Meter ragte er in die Höhe, das geschlossene, furchige Maul bewachsen mit Seepocken und knotigen Verdickungen. Über dem herabgezogenen Mundwinkel starrte ein faustgroßes Auge den Insassen des Zodiacs an, beinahe auf Gesichtshöhe. Die Ansätze der mächtigen Brustflossen waren über den Wellen zu sehen.
   Reglos wie ein Felsen stach der Kopf heraus.
   Es war das beeindruckendste Willkommen, das Anawak je widerfahren war. Mehr als einmal hatte er die Tiere aus unmittelbarer Nähe gesehen. Er hatte sich ihnen auf Tauchgängen genähert, sie berührt und sich an ihnen festgehalten. Er war auf ihnen geritten. Oft genug steckten Grauwale, Buckelwale oder Orcas den Kopf in unmittelbarer Nähe eines Bootes aus dem Wasser, um nach Landmarken Ausschau zu halten und Zodiacs zu begutachten.
   Aber das hier war anders.
   Fast kam es Anawak so vor, als beobachte nicht er den Wal, sondern der Wal ihn. Das Boot schien den Riesen nicht zu interessieren. Sein Auge, eingebettet in runzlige Lider wie das eines Elefanten, musterte ausschließlich die Person im Innern. So scharf der Wal unter Wasser sah, verdammte ihn die starke Wölbung seiner Linse zur Kurzsichtigkeit, sobald er sein angestammtes Element verließ. Auf diese nahe Distanz jedoch musste er Anawak ebenso klar wahrnehmen wie dieser ihn.
   Langsam, um das Tier nicht zu erschrecken, streckte er die Hand aus und strich über die glatte, feuchte Haut. Der Wal machte keine Anstalten, wieder abzutauchen. Sein Auge rollte leicht hin und her und heftete sich dann wieder auf Anawak. Es war eine Szene von beinahe grotesker Intimität. So glücklich ihn der Augenblick machte, fragte sich Anawak, was das Tier mit einer derart langen Observierung bezweckte. Im Allgemeinen dauerten die Rundumblicke der Säuger nur wenige Sekunden. Es kostete sie Kraft, so lange senkrecht zu verharren.
   »Wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragte er leise.
   Ein kaum hörbares Plätschern erklang von der anderen Seite des Zodiacs. Anawak drehte sich um, gerade rechtzeitig, um einen weiteren Kopf in die Höhe wachsen zu sehen. Der zweite Wal war etwas kleiner, aber ebenso nahe. Auch er nahm Anawak mit seinem dunklen Auge ins Visier.
   Er vergaß, das andere Tier zu streicheln.
   Was wollten sie?
   Allmählich begann er sich unwohl zu fühlen. Diese starre Inaugenscheinnahme war ganz und gar ungewöhnlich, um nicht zu sagen bizarr. Nie zuvor hatte Anawak etwas Gleichartiges erlebt. Dennoch bückte er sich zu seiner Tasche, zog schnell die kleine Digitalkamera hervor, hielt sie hoch und sagte: »Schön so bleiben.«
   Vielleicht hatte er einen Fehler begangen. Wenn ja, war es das erste Mal in der Geschichte des Whale Watching, dass Buckelwale eine offensichtliche Aversion gegen Kameras an den Tag legten. Wie auf Kommando tauchten die beiden riesigen Köpfe ab. Zwei Inseln gleich versanken sie im Meer. Ein leises Gurgeln und Schmatzen, ein paar Blasen, und Anawak war wieder allein auf der schimmernden Weite.
   Er sah sich um.
   Über der nahen Küste ging die Sonne auf. Dunst hing zwischen den Bergen. Die flache Dünung des Meeres tönte sich blau.
   Keine Wale.
   Stoßartig ließ Anawak den Atem entweichen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sein Herz wie wild pochte. Er legte die Kamera zurück in die geöffnete Tasche, nahm erneut den Feldstecher zur Hand und überlegte es sich anders. Seine beiden neuen Freunde konnten nicht weit sein. Er holte den Rekorder hervor, setzte die Kopfhörer auf und ließ das Hydrophon langsam ins Wasser gleiten. Unterwassermikrophone waren so empfindlich, dass sie noch die Geräusche aufsteigender Luftblasen erfassten. Im Kopfhörer rauschte, pluckerte und dröhnte es, aber nichts ließ auf Wale schließen. Anawak verharrte in Erwartung ihrer charakteristischen Laute, doch alles blieb ruhig.
   Schließlich zog er das Hydrophon wieder an Bord.
   Nach einer Weile sah er weit draußen einige Atemwolken. Dabei blieb es. Ob es ihm passte oder nicht, es wurde Zeit, umzukehren.
   Auf halbem Wege nach Tofino stellte er sich vor, wie wohl Touristen auf das Schauspiel reagiert hätten. Wie sie reagieren würden, wenn es sich wiederholte. Es würde sich herumsprechen. Davies und seine dressierten Wale.
   Sie würden sich vor Anfragen kaum retten können.
   Phantastisch!
   Während das Zodiac eine Schneise ins glatte Wasser der Bucht riss, durchwanderte sein Blick die umliegenden Wälder.
   Irgendwie ein bisschen zu phantastisch.
 

23. März

Trondheim, Norwegen
 
   Sigur Johanson wurde aus dem Schlaf gerissen. Es schellte. Er tastete irrtümlich nach dem Wecker, bis ihm klar wurde, dass es das Telefon war. Fluchend und augenreibend richtete er sich auf. Sein Orientierungssinn wollte sich nicht recht einstellen, und er kippte wieder nach hinten. In seinem Schädel drehte sich alles.
   Was war los gewesen gestern Abend? Sie waren versackt, er und ein paar Kollegen. Studenten waren auch dabei gewesen. Dabei hatten sie nur zu Abend essen wollen im Havfruen, einem umgebauten Speicher nahe der Garnie Bybru, der alten Stadtbrücke. Im Havfruen gab es köstliche Fischgerichte und einige gute Weine. Einige sehr gute Weine, wie er sich plötzlich erinnerte. Sie hatten am Fenster gesessen und auf den Fluss hinausgesehen mit seinen stromaufwärts gelegenen Piers und kleinen Privatbooten, hatten den Lauf der Nidelva verfolgt, wie sie gemächlich in den nahen Trondheimfjord floss, und auch in ihre Kehlen war einiges geflossen. Jemand hatte angefangen, Witze zu erzählen. Danach war Johanson mit dem Patron in einen feuchten Keller hinabgestiegen und hatte sich gut gelagerte Schätze zeigen lassen, die der Chef gemeinhin nicht rausrückte.
   Das Problem dieses frühen Morgens schien unter anderem darin zu bestehen, dass er sie am Ende doch rausgerückt hatte.
   Johanson seufzte.
   Ich bin sechsundfünfzig, dachte er, während er sich hochstemmte und diesmal aufrecht sitzen blieb. Ich sollte so was nicht mehr tun. Nein, falsch, ich sollte es tun, aber niemand sollte mich so früh anrufen, nachdem ich es getan habe.
   Es schellte weiter. Hartnäckig. Unter übertriebenem Ächzen, wie er zugeben musste — zumal niemand anwesend war, es zu hören —, stellte er sich auf die Beine und gelangte taumelig ins Wohnzimmer. Hatte er heute Vorlesung? Der Gedanke traf ihn wie eine Faust. Schrecklich! Grauenhafte Vorstellung, da vorne zu stehen und exakt so alt auszusehen, wie er war, kaum fähig, das Kinn von der Brust zu heben. Er würde sich mit seinem Hemdkragen und seiner Krawatte unterhalten, sofern seine Zunge es überhaupt gestattete. Augenblicklich lag sie pelzig in seinem Mund und schien allem abgeneigt, was mit Bewegung und Artikulation einherging.
   Als er endlich den Hörer abnahm, fiel ihm plötzlich ein, dass Samstag war. Seine Laune besserte sich schlagartig.
   »Johanson«, meldete er sich überraschend klar.
   »Mein Gott, brauchst du lange«, sagte Tina Lund.
   Johanson verdrehte die Augen und sank in den Fernsehsessel. »Wie viel Uhr ist es?«
   »Halb sieben. Warum?«
   »Es ist Samstag.«
   »Ich weiß, dass Samstag ist. Hast du irgendwas? Du klingst nicht besonders gut.«
   »Ich bin auch nicht besonders gut drauf. Was willst du um diese nebenbei gesagt völlig indiskutable Uhrzeit?«
   Lund kicherte.
   »Ich wollte dich überreden, raus nach Tyholt zu kommen.«
   »Ins Institut? Wozu, um alles in der Welt?«
   »Ich dachte, es wäre nett, zusammen frühstücken zu gehen. Kare ist für ein paar Tage in Trondheim, er würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.« Sie machte eine kleine Pause. »Außerdem wollte ich dich was fragen.«
   »War mir schon klar. Es sieht dir nicht ähnlich, einfach mit mir frühstücken zu gehen.«
   »Nein, du verstehst mich falsch. Ich wollte deine Meinung zu etwas hören.«
   »Zu was?«
   »Nicht am Telefon. Kommst du?«
   »Gib mir eine Stunde«, sagte Johanson und gähnte, bis er fürchtete, seine Kiefer überdehnt zu haben. »Nein, gib mir zwei. Ich will nochmal zur Uni. Möglicherweise sind weitere Befunde über deine Würmer eingetroffen.«
   »Das wäre gut. Ist das nicht irre? Erst war ich es, die alle verrückt gemacht hat, jetzt ist es umgekehrt. Okay, lass dir Zeit, aber mach schnell.«
   »Zu Befehl«, murmelte Johanson.
   Er schlich, immer noch von Schwindelanfällen gepackt, unter die Dusche. Nach einer halben Stunde ausgiebigen Plantschens und Prustens fühlte er sich allmählich frischer. Einen wirklichen Kater hatten die Weine nicht hinterlassen. Es war mehr, als hätten sie seiner Sensorik zugesetzt. Vor dem Spiegel schien er sich kurzfristig zu verdoppeln. Es war fraglich, ob er in diesem Zustand Auto fahren konnte.
   Er würde es eben ausprobieren.
   Draußen war es sonnig und warm. Die Kirkegata präsentierte sich nahezu menschenleer. Im frühen Licht erstrahlten die Farben der Häuser und das erste Grün der Bäume ungewöhnlich intensiv. Trondheim schien sich einer Generalprobe für den Frühling zu unterziehen. Im ungewöhnlich schönen Wetter war der restliche Schnee geschmolzen. Johanson stellte fest, dass ihm dieser Tag ausnehmend gut gefiel. Plötzlich gefiel ihm sogar der Umstand, dass Lund ihn geweckt hatte. Er begann Vivaldi zu pfeifen, weil das die unvermittelt hereingebrochene gute Laune noch verbesserte und keine großen Ansprüche an Geist und Physis stellte, während er den Jeep den Gloshaugen hinaufsteuerte. An Wochenenden war die NTNU offiziell geschlossen, aber daran hielt sich so gut wie niemand. Genau genommen war es die beste Zeit, seine Post und E-Mails zu sichten und ungestört zu arbeiten.
   Johanson betrat die Poststelle, durchstöberte sein Fach und zog ein dickes Kuvert hervor. Der Brief kam vom Frankfurter Senckenberg-Museum. Mit einiger Sicherheit enthielt er den labortechnischen Befund, auf den Lund so sehnsüchtig wartete. Er steckte ihn ein, ohne ihn zu öffnen, verließ die Uni wieder und fuhr nach Tyholt.
   Marintek, das Marinetechnische Institut, war eng verwoben mit der NTNU, Sintef und dem Statoil-Forschungszentrum. Neben diversen Simulationstanks und Wellentunneln lag hier das größte zu Forschungszwecken genutzte Meerwasserbecken der Welt. Wind und Wellen wurden in Modellskalen simuliert. So ziemlich jede größere schwimmende Produktionseinrichtung auf dem norwegischen Sockel war in dem achtzig Meter langen und zehn Meter tiefen Becken erprobt worden. Zwei Wellenerzeugungssysteme schufen Strömungen und Stürme im Miniaturformat mit bis zu ein Meter hohen Wogen, die aus dem Sichtwinkel einer Modellplattform verheerende Ausmaße annahmen. Johanson schätzte, dass Lund hier auch die Unterwasserfabrik testete, die am Kontinentalhang entstehen sollte.
   Tatsächlich fand er sie in der Bassinhalle, wo sie mit einer Gruppe Wissenschaftler zusammenstand und debattierte. Die Szenerie mutete skurril an. Im grünen Wasser schwammen Taucher zwischen Bohrplattformen im Spielzeugformat hindurch. Minitanker kreuzten zwischen Fachpersonal in Ruderbooten. Das Ganze war augenscheinlich eine Mischung aus Labor, Spielzeuggeschäft und sommerlicher Kahnpartie, aber der Eindruck täuschte. Ohne den Segen Marinteks fand im Offshore-Bereich so gut wie gar nichts statt.
   Lund sah ihn und brach ihre Unterhaltung ab. Sie kam zu ihm herüber, wobei sie das Becken umrunden musste. Wie üblich erledigte sie den Gang im Laufschritt.
   »Warum hast du nicht einen der Kähne genommen?«, fragte Johanson.
   »Wir sind hier nicht auf dem Weiher«, erwiderte sie. »Das muss alles koordiniert sein. Wenn ich da durchrausche, verlieren hunderte Ölarbeiter ihr Leben durch Flutwellen, und ich bin schuld.«
   Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du kratzt.«
   »Alle Männer, die Bärte haben, kratzen«, sagte Johanson. »Sei froh, dass Kare sich rasiert, sonst hättest du keinen Grund, ihn mir vorzuziehen. Woran arbeitet ihr? An eurer Unterwasserlösung?«
   »So gut es eben geht. Eintausend Meter Meerestiefe können wir im Bassin realistisch darstellen, danach wird’s ungenau.«
   »Das reicht doch für euer Projekt.«
   »Trotzdem lassen wir den Rechner unabhängige Szenarien erstellen. Manchmal weichen sie von den Bassinergebnissen ab, dann verändern wir die Parameter so lange, bis wir eine zufrieden stellende Angleichung erhalten.«
   »Shell peilt eine Fabrik in zweitausend Metern Tiefe an.
   Stand gestern in der Zeitung. Ihr bekommt Konkurrenz.«
   »Ich weiß. Shell hat Marintek beauftragt. Die Nuss ist noch schwerer zu knacken. Komm mit, wir gehen frühstücken.«
   Draußen im Gang sagte Johanson: »Ich verstehe immer noch nicht, warum ihr keine SWOPs einsetzen wollt. Ist es nicht leichter, von einer schwimmenden Konstruktion aus zu arbeiten, solange ihr flexible Leitungen nach unten legt?«
   Sie schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Schwimmende Konstruktionen musst du verankern …«
   »Das weiß ich alles …«
   »… und sie können sich losreißen.«
   »Aber jede Menge Stationen sind auf dem Schelf verankert!«
   »Ja, bei geringer Wassertiefe. Weiter unten herrschen ganz andere Wellen— und Strömungszustände. Übrigens ist es nicht nur wegen der Verankerung. Je höher du eine Steigleitung legst, desto instabiler wird sie, und wir wollen ja kein ökologisches Desaster. Außerdem kann kein Mensch ein Interesse daran haben, so weit draußen auf einem schwimmenden Deck zu arbeiten. Selbst die Hartgesottensten würden sich die Seele aus dem Leib kotzen. Hier rauf.«
   Sie erstiegen eine Treppe.
   »Ich dachte, wir gehen frühstücken«, sagte Johanson verwundert.
   »Tun wir auch, aber vorher wollte ich dir etwas zeigen.«
   Lund stieß eine Tür auf. Sie befanden sich in einem Büro oberhalb der Bassinhalle. Die breite Fensterfront bot Ausblick auf Reihen sonnenbeschienener Giebelhäuschen und Grünanlagen, die sich zum Fjord hm erstreckten.
   »Was für ein gesegneter Morgen«, summte Johanson.
   Lund trat zu einem Arbeitstisch. Sie zog zwei Resopalstühle heran und öffnete einen Laptop mit großem Bildschirm. Ihre Finger trommelten auf die Tischplatte, während der Computer das Programm hochlud. Eine Seite mit Fotos erschien, die Johanson irgendwie bekannt vorkamen. Sie zeigten eine helle, milchige Fläche, die sich an den Rändern in Schwärze verlor. Plötzlich erkannte er die Szene.
   »Die Aufnahmen, die Victor gemacht hat«, sagte er. »Das Ding am Hang.«
   »Das Ding, das mir keine Ruhe gelassen hat«, nickte Lund. »Wisst ihr inzwischen, was es ist?« »Nein. Dafür wissen wir, was es nicht ist. Keine Qualle, kein Fischschwarm. Wir haben die Sequenz durch tausend Filter gejagt. Das ist das Beste, was wir rausholen konnten.« Sie vergrößerte das erste Foto. »Als wir das Wesen vor die Linse bekamen, war es starker Scheinwerferbestrahlung ausgesetzt. Wir sahen einen Teil von ihm, aber natürlich völlig anders, als wir es ohne Kunstlicht wahrgenommen hätten.«
   »Ohne Licht hättet ihr in dieser Tiefe überhaupt nichts wahrgenommen.« »Ach was!« »Es sei denn, wir hätten hier einen Fall von Biolumineszenz und …«
   Er stockte. Lund wirkte hochbefriedigt. Ihre Finger tanzten über die Tastatur, und das Bild veränderte sich erneut. Diesmal sah man einen Ausschnitt vom rechten oberen Rand. Wo die beleuchtete Fläche ins Dunkle überging, zeichnete sich schwach etwas ab. Ein Leuchten anderer Art, von tiefem Blau und durchzogen von helleren Linien.
   »Wenn du ein lumineszierendes Objekt bestrahlst, siehst du von seinem Eigenleuchten nichts mehr. Und die Scheinwerfer des Victor überstrahlen alles. Bis auf den Randbereich, wo sie an Kraft verlieren. Da ist was zu erkennen. Meines Erachtens der Beweis, dass wir es mit einem Leuchtwesen zu tun haben. Und zwar mit einem ziemlich großen.«
   Die Fähigkeit zu leuchten war einer ganzen Reihe von Tiefseebewohnern zu Eigen. Sie benutzten dafür Bakterien, mit denen sie in Symbiose lebten. Es gab auch Organismen an der Meeresoberfläche, die leuchteten, etwa Algen oder kleine Tintenfische. Aber das eigentliche Lichtermeer begann dort, wo das Sonnenlicht verschwand. In der stockfinsteren Tiefsee.
   Johanson starrte auf den Bildschirm. Das Blau war mehr zu ahnen als zu sehen. Dem ungeübten Auge entging es. Aber die Kamera des Roboters lieferte bekanntlich Bilder von extrem hoher Auflösung. Möglicherweise hatte Lund Recht.
   Er rieb sich den Bart. »Was schätzt du, wie groß das Ding ist?«
   »Schwer zu sagen. So schnell, wie es verschwunden ist, wird es wohl am Rande des Lichthorizonts geschwommen sein. Einige Meter entfernt. Trotzdem nimmt seine Oberfläche beinahe das ganze Bild ein. Was folgt daraus?«
   »Der Teil, den wir sehen, wird um die zehn bis zwölf Quadratmeter groß sein.«
   »Den wir sehen!« Sie machte eine Pause. »Das Licht in den Randbereichen deutet darauf hin, dass wir das meiste wahrscheinlich nicht gesehen haben.«
   Johanson kam eine Idee. »Es könnte planktonischer Natur sein«, sagte er. »Mikroorganismen. Da gibt es einiges, was leuchtet.«
   »Und wie erklärst du dir das Muster?«
   »Die hellen Linien? Zufall. Wir glauben, dass es ein Muster ist. Wir haben auch gedacht, die Marskanäle bilden ein Muster.«
   »Ich glaube nicht, dass es Plankton ist.«
   »So genau kann man das nicht sehen.«
   »Doch, kann man. Schau dir das mal an.«
   Lund rief die folgenden Bilder auf. Das Objekt zog sich darauf mehr und mehr ins Dunkle zurück. Tatsächlich war es weniger als eine Sekunde lang zu sehen gewesen. Die zweite und dritte Vergrößerung zeigten immer noch die schwach lumineszierende Fläche mit den Linien, die ihre Position im Verlauf der Sequenz zu verändern schienen. Auf der vierten war alles verschwunden.
   »Es hat das Licht ausgemacht«, sagte Johanson verblüfft.
   Er überlegte. Bestimmte Krakenarten kommunizierten über den Weg der Biolumineszenz. Es war gar nicht so ungewöhnlich, wenn ein Tier angesichts einer plötzlichen Bedrohung sozusagen den Schalter umlegte und sich in die Finsternis verabschiedete. Aber dieses Tier war überaus groß. Größer als jede bekannte Krakenart.
   Eine Schlussfolgerung drängte sich auf, die ihm nicht gefiel. Sie gehörte nicht an den norwegischen Kontinentalrand.
   »Architheutis«, sagte er.
   »Riesenkalmare.« Lund nickte. »Der Gedanke kommt einem zwangsläufig. Aber es wäre das erste Mal, dass so was in diesen Gewässern auftaucht.«
   »Es wäre das erste Mal, dass so was überhaupt lebend auftaucht.«
   Aber das stimmte nicht ganz. Lange Zeit waren Geschichten um Architheutis als Seemannsgarn verschrien gewesen. Dann hatten angespülte Kadaver den Beweis für seine Existenz erbracht — beinahe erbracht, weil Kalmarfleisch wie Gummi war. Je mehr man daran zog, desto länger wurde es, zumal im Zustand der Zersetzung. Vor wenigen Jahren endlich waren Forschern östlich von Neuseeland winzige Jungtiere ins Netz gegangen, deren genetisches Profil keinen Zweifel daran ließ, dass sie sich binnen achtzehn Monaten in bis zu zwanzig Meter lange, zwanzig Zentner schwere Riesenkalmare verwandeln würden. Der einzige Schönheitsfehler blieb, dass nie ein Mensch ein solches Tier lebend gesehen hatte. Architheutis hauste in der Tiefsee, und ob er leuchtete, war mehr als fraglich.
   Johanson furchte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf.
   »Nein.«
   »Was nein?«
   »Es spricht zu vieles dagegen. Das ist einfach nicht die Gegend für Riesenkalmare.«
   »Schon, aber …« Lunds Hände zerteilten die Luft. »Wir wissen nicht wirklich, wo sie sich rumtreiben. Wir wissen nichts.«
   »Sie gehören hier nicht hin.«
   »Diese Würmer gehören hier auch nicht hin.«
   Schweigen breitete sich aus.
   »Und wenn schon«, sagte Johanson schließlich. »Architheuten sind scheu. Was kümmert es euch? Bis heute ist kein Mensch je von einem Riesenkraken angegriffen worden.«
   »Augenzeugen sagen was anderes.«
   »Mein Gott, Tina! Sie mögen ein bisschen an dem einen oder anderen Boot gezogen haben. Aber wir unterhalten uns doch hier nicht ernsthaft über die Bedrohung der Erdölförderung durch Riesenkraken. Du musst zugeben, das ist lächerlich.«
   Lund betrachtete skeptisch die Vergrößerungen der Bilder. Dann schloss sie die Datei.
   »Okay. Hast du was für mich? Irgendwelche Resultate?«
   Johanson zog den Umschlag hervor und öffnete ihn. Ein dicker Packen eng bedruckten Papiers steckte darin.
   »Du lieber Himmel!«, entfuhr es Lund.
   »Warte. Es muss eine Zusammenfassung geben. — Ah, hier!«
   »Lass sehen.«
   »Gleich.« Er überflog den Kurzbericht. Lund stand auf und ging zum Fenster. Dann begann sie im Raum herumzuwandern.
   »Sag schon.«
   Johanson zog die Brauen zusammen und blätterte in dem Packen. »Hm. Interessant.«
   »Spuck’s aus.«
   »Sie bestätigen, dass es sich um Polychäten handelt. Sie schreiben außerdem, sie seien zwar keine Taxonomen, gelangen aber zu dem Resultat, dass der Wurm verblüffende Ähnlichkeit mit Hesiocaeca methanicola aufweist. In diesem Zusammenhang wundern sie sich über die extrem ausgeprägten Kiefer und schreiben weiter … das ist jetzt Detailkram … ah, hier steht’s. Sie haben die Kiefer untersucht. Sehr kräftig und eindeutig zum Bohren und Graben gedacht.«
   »So weit waren wir doch schon«, rief Lund ungeduldig.
   »Warte. Sie haben noch mehr mit ihm angestellt.
   Untersuchung der stabilen Isotopenzusammensetzung, und da ist auch die Analyse aus dem Massenspektrometer. — Oha! Unser Wurm ist minus 90 Promille leicht.«
   »Kannst du dich verständlich ausdrücken?«
   »Er ist tatsächlich methanotroph. Er lebt in Symbiose mit Bakterien, die Methan abbauen. Augenblick, wie soll ich’s dir erklären? Also, Isotope … du weißt, was Isotope sind?«
   »Atome eines chemischen Elements mit gleicher Kernladung, aber unterschiedlichem Gewicht.«
   »Sehr gut, setzen. Kohlenstoff zum Beispiel gibt es in unterschiedlicher Schwere. Es gibt Kohlenstoff 12 und Kohlenstoff 13. Wenn du was frisst, worin vorwiegend leichter Kohlenstoff ist, also ein leichteres Isotop, wirst du auch leichter. Klar?«
   »Wenn ich was fresse. Ja. Logisch.«
   »Und in Methan ist sehr leichter Kohlenstoff. Wenn der Wurm in Symbiose mit Bakterien lebt, die dieses Methan fressen, dann werden dadurch erst mal die Bakterien leicht, und wenn der Wurm dann die Bakterien frisst, wird er auch leicht. Und unserer ist sehr leicht.«
   »Ihr Biologen seid komische Leute. Wie kriegt ihr so was raus?«
   »Wir tun schreckliche Dinge. Wir trocknen den Wurm und zermahlen ihn zu Wurmpulver, und das kommt dann in die Messmaschine. So, schauen wir weiter. Rasterelektronenmikroskopie … sie haben die DNA angefärbt … sehr gründliche Vorgehensweise …«
   »Reiß dich los!« Lund kam zu ihm herüber und zupfte an dem Papier. »Ich will keine akademische Abhandlung, ich will begreifen, ob wir da unten bohren können.«
   »Ihr könnt …« Johanson zog das Blatt aus ihren Fingern und las die letzten Zeilen. »Na, wunderbar!«
   »Was?«
   Er hob den Kopf. »Die Biester stecken randvoll mit Bakterien. Innen und außen. Endosymbionten und Exosymbionten. Deine Würmer scheinen die reinsten Omnibusse für Bakterien zu sein.«
   Lund sah unsicher zurück. »Und was heißt das?«
   »Es ist widersinnig. Dein Wurm lebt ganz eindeutig im Methanhydrat. Er platzt fast vor Bakterien. Er geht nicht auf Beute und bohrt keine Löcher. Stattdessen liegt er faul und fett im Eis. Trotzdem hat er Riesenkiefer zum Bohren, und die Horden am Hang kamen mir alles andere als fett und faul vor. Ich fand sie ausgesprochen agil.«
   Wieder schwiegen sie eine Weile. Schließlich sagte Lund: »Was tun sie da unten, Sigur? Was sind das für Tiere?«
   Johanson zuckte die Achseln.
   »Ich weiß es nicht. Vielleicht sind sie tatsächlich geradewegs aus dem Kambrium zu uns heraufgekrochen. Keine Ahnung, was sie da machen.« Er zögerte. »Ich habe ebenso wenig eine Ahnung, ob es eine Rolle spielt. Was sollen sie schon groß tun? Sie wälzen sich durch die Gegend, aber sie werden kaum Pipelines anknabbern.«
   »Was knabbern sie dann an?«
   Johanson starrte auf die Zusammenfassung des Berichts.
   »Es gibt noch eine Adresse, die uns darüber Auskunft geben könnte«, sagte er. »Wenn die es nicht rausfinden, werden wir wohl warten müssen, bis wir von selber drauf kommen.«
   »Darauf würde ich ungerne warten.«
   »Gut. Ich schicke ein paar Exemplare hin.« Johanson reckte die Glieder und gähnte. »Vielleicht haben wir ja Glück, und sie kommen mit dem Forschungsschiff, um selber einen Blick darauf zu werfen. So oder so wirst du dich gedulden müssen. Einstweilen können wir nichts tun. Darum, wenn du gestattest, würde ich jetzt gerne frühstücken und Kare Sverdrup gute Ratschläge zuteil werden lassen.«
   Lund lächelte. Besonders zufrieden sah sie nicht aus.
 

5. April

Vancouver Island und Vancouver, Kanada
 
   Das Geschäft kam wieder in Schwung.
   Unter anderen Umständen hätte Anawak Shoemakers Freude vorbehaltlos geteilt. Die Wale kehrten zurück. Der Geschäftsführer sprach von nichts anderem mehr. Und tatsächlich fanden sie sich der Reihe nach wieder ein, Grauwale und Buckelwale, Orcas und sogar einige Minkwale. Natürlich war auch Anawak glücklich über den Umstand ihrer Wiederkehr. Nichts hatte er mehr herbeigesehnt. Nur hätte er es vorgezogen, ihre Rückkehr mit ein paar Antworten verbunden zu wissen, etwa auf die Frage, wo sie sich die ganze Zeit über rumgetrieben hatten, dass kein Satellit und keine Messsonde sie hatten aufspüren können. Zudem ging ihm seine denkwürdige Begegnung nicht mehr aus dem Kopf. Er war sich vorgekommen wie eine Laborratte. Die beiden Wale hatten ihn mit einer Ruhe und Gründlichkeit unter die Lupe genommen, als liege er auf dem Seziertisch.
   Waren es Kundschafter?
   Um was auszukundschaften?
   Abwegig!
   Er schloss die Kasse und trat nach draußen. Die Touristen hatten sich am Ende des Piers versammelt. Sie sahen aus wie ein Spezialkommando in ihren orangefarbenen Ganzkörperanzügen. Anawak sog die frische Morgenluft in sich hinein und folgte ihnen.
   Hinter sich hörte er jemanden im Laufschritt näher kommen.
   »Dr. Anawak!«
   Er blieb stehen und wandte den Kopf. Alicia Delaware tauchte neben ihm auf. Sie hatte die roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine modische blaue Sonnenbrille.
   »Nehmen Sie mich mit?«
   Anawak betrachtete sie. Dann sah er hinüber zum blauen Rumpf der Blue Shark. »Wir sind voll besetzt.«
   »Ich bin den ganzen Weg gerannt.«
   »Tut mir Leid. In einer halben Stunde fährt die Lady Wexham. Die ist viel komfortabler. Groß, beheizte Innenkabinen, Snackbar …«
   »Will ich nicht. Sie haben doch sicher noch irgendwo einen Platz. Hinten vielleicht!«
   »Wir sind schon zu zweit in der Kabine, Susan und ich.«
   »Ich brauche keinen Sitzplatz.« Sie lächelte. Mit ihren großen Zähnen sah sie aus wie ein sommersprossiges Kaninchen. »Bitte! Sie haben doch keinen Grund, sauer zu sein, oder? Ich möchte wirklich gerne mit Ihnen rausfahren. — Eigentlich nur mit Ihnen, um ehrlich zu sein.«
   Anawak runzelte die Stirn.
   »Gucken Sie nicht so!« Delaware verdrehte die Augen. »Ich habe Ihre Bücher gelesen und bewundere Ihre Arbeit, das ist alles.«
   »Den Eindruck hatte ich nicht.«
   »Kürzlich im Aquarium?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schwamm drüber. Bitte, Dr. Anawak, ich bin nur noch einen Tag hier. Sie würden mir eine Riesenfreude machen.«
   »Wir haben unsere Bestimmungen.« Es klang lahm und kleinkariert.
   »Hören Sie mal, Sie sturer Hund«, sagte sie. »Ich bin nah am Wasser gebaut. Ich warne Sie. Wenn Sie mich nicht mitnehmen, werde ich den ganzen Flug zurück nach Chicago in Tränen aufgelöst sein. Wollen Sie das verantworten?«
   Sie strahlte ihn an. Anawak konnte nicht anders. Er musste lachen.
   »Schon gut. Kommen Sie meinethalben mit.«
   »Wirklich?«
   »Ja. Aber gehen Sie mir nicht auf die Nerven. Behalten Sie vor allem Ihre abstrusen Theorien für sich.«
   »Es war nicht meine Theorie. Es war die Theorie von…«
   »Am besten halten Sie einfach möglichst lange den Mund.«
   Sie setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich anders und nickte.
   »Warten Sie hier«, sagte Anawak. »Ich hole Ihnen einen Overall.«
   Alicia Delaware hielt ihr Versprechen ganze zehn Minuten. Die Häuser von Tofino waren kaum hinter dem ersten bewaldeten Berghang verschwunden, als sie neben Leon trat und ihm die Hand hinhielt.
   »Nennen Sie mich Licia«, sagte sie.
   »Licia?«
   »Von Alicia, aber Alicia ist ein dämlicher Name. Finde ich. Meine Eltern fanden das natürlich nicht, aber man wird ja nicht gefragt, wenn sie einem Namen geben, es ist immer so peinlich hinterher, zum Kotzen. Sie heißen Leon, stimmt’s?«
   Er ergriff die ausgestreckte Rechte. »Freut mich, Licia.« »Gut. Und jetzt sollten wir kurz noch was klären.« Anawak blickte Hilfe suchend zu Stringer, die das Zodiac steuerte. Sie sah zurück, zuckte die Achseln und widmete sich wieder dem Kurs.
   »Was denn?«, fragte er vorsichtig.
   »Wegen neulich. Ich war doof und besserwisserisch am Aquarium. Es tut mir Leid.«
   »Schon vergessen.«
   »Aber du musst dich auch entschuldigen.«
   »Was? Wieso denn ich?«
   Sie senkte den Blick. »Es war okay, mir vor anderen Leuten die Meinung zu geigen, aber nicht, etwas über mein Aussehen zu sagen.«
   »Ich habe nicht …« Zum Teufel.
   »Du hast gesagt, ein Beluga, der mir beim Schminken zusieht, müsse an meinem Verstand zweifeln.«
   »Das war nicht meine Absicht. Es war ein abstrakter Vergleich.«
   »Es war ein blöder Vergleich.«
   Anawak kratzte seinen schwarzen Schopf. Er hatte sich über Delaware geärgert, weil sie seiner Meinung nach mit vorgefassten Argumenten ins Aquarium gekommen und sich durch Ignoranz ausgewiesen hatte. Aber vermutlich war er nicht weniger ignorant gewesen. Und ganz sicher hatte er sie in seiner Wut beleidigt.
   »Gut. Ich entschuldige mich.«
   »Angenommen.«
   »Du berufst dich auf Povinelli«, stellte er fest.
   Sie lächelte. Mit diesen Worten hatte er ihr signalisiert, dass er sie ernst nahm. Daniel Povinelli war Gordon Gallups prominentester Widersacher in der Frage, wie intelligent und selbstbewusst Primaten und andere Tiere tatsächlich waren. Er pflichtete Gallup bei, dass Schimpansen, die sich im Spiegel erkannten, eine Vorstellung ihrer selbst hatten. Umso entschiedener leugnete er, dieser Umstand befähige sie, ihre eigenen mentalen Zustände zu begreifen und damit die anderer Lebewesen. Für Povinelli war längst noch nicht erwiesen, dass überhaupt irgendein Tier das psychologische Verständnis aufbrachte, wie es Menschen eigentümlich war.
   »Povinelli geht einen mutigen Weg«, sagte Delaware. »Seine Ansichten erscheinen ewig gestrig, aber das nimmt er in Kauf. Gallup hat es viel leichter, weil es schick ist, Schimpansen und Delphine und wer weiß wen als gleichberechtigte Partner des Menschen hinzustellen.«
   »Sie sind gleichberechtigte Partner«, sagte Anawak.
   »Im ethischen Sinne.«
   »Unabhängig davon. Ethik ist eine Erfindung der Menschen.«
   »Das bezweifelt niemand. Auch nicht Povinelli.«
   Anawak ließ den Blick über die Bucht wandern.
   Kleinere Inseln kamen ins Blickfeld.
   »Ich weiß, worauf du hinauswillst«, sagte er nach kurzer Pause. »Du findest, es kann nicht der Weg sein, möglichst viel Menschliches in Tieren nachzuweisen, um sie menschlicher zu behandeln.«
   »Es ist arrogant«, rief Delaware heftig.
   »Ich gebe dir Recht. Es löst kein einziges Problem. Aber die meisten Menschen brauchen die Vorstellung, dass Leben umso schützenswerter ist, je mehr es nach dem Menschen schlägt. Es ist und bleibt leichter, ein Tier zu töten als einen Menschen. Es wird erst dann schwieriger, wenn wir das Tier als nahen Verwandten betrachten. Die meisten Menschen sind mittlerweile dazu bereit, aber die wenigsten wollen sich mit dem Gedanken anfreunden, dass wir vielleicht nicht die Krone der Schöpfung sind und dass wir auf der Werteskala des Lebens nicht vor allen anderen, sondern neben ihnen stehen. Das führt zu einem Dilemma: Wie soll ich einem Tier oder einer Pflanze die gleiche Achtung entgegenbringen wie einem Menschen, wenn ich zugleich den Wert menschlichen Lebens höher einschätze als den Lebenswert einer Ameise oder eines Affen oder Delphins?«
   »He!« Sie klatschte in die Hände. »Wir sind ja doch einer Meinung.«
   »Fast. Ich glaube, du bist ein wenig … messianisch in deiner Auffassung. Ich persönlich vertrete die Meinung, dass die Psyche eines Schimpansen oder Belugas gewisse Schnittmengen mit der menschlichen aufweist.« Delaware setzte zu einer Antwort an. Anawak hob die Hand. »Gut, formulieren wir es andersrum: Auf der Werteskala eines Belugas — falls sich Wale je solche Gedanken machen — rücken wir vielleicht umso höher, je mehr Vertrautes er in uns entdeckt.« Er grinste. »Vielleicht halten uns einige Belugas sogar für intelligent. Gefällt es dir so rum besser?«
   Delaware krauste die Nase. »Ich weiß nicht, Leon. Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du mich in die Falle lockst?«
   »Seelöwen«, rief Stringer. »Da vorne.«
   Anawak legte die Hand über die Augen. Sie näherten sich einer Insel mit spärlichem Baumbewuchs. Auf den Klippen döste eine Gruppe Stellar-Seelöwen in der Sonne. Einige reckten träge die Köpfe und sahen zu dem Boot herüber.
   »Es geht nicht um Gallup oder Povinelli, habe ich Recht?« Er hob die Kamera ans Auge, zoomte und schoss Fotos von den Tieren. »Ich schlage dir also eine andere Diskussion vor. Wir einigen uns darauf, dass es keine Werteskala gibt, sondern nur eine menschliche Vorstellung davon, und die haken wir hiermit ab. Jeder von uns beiden ist leidenschaftlich dagegen, Tiere zu vermenschlichen. Ich bin der Überzeugung, dass es innerhalb gewisser Grenzen dennoch möglich sein wird, die Innenwelt von Tieren zu begreifen. Sagen wir, intellektuell zu erfassen. Ich glaube außerdem, dass wir mit manchen Tieren mehr gemeinsam haben als mit anderen und dass wir einen Weg finden werden, mit einigen von ihnen zu kommunizieren. — Du hingegen glaubst, alles Nichtmenschliche wird uns auf ewig fremd bleiben. Wir haben keinen Zugang zum Kopf eines Tieres. Es wird ergo keine Kommunikation geben, sondern immer nur das Trennende, und wir sollen uns gefälligst damit zufrieden geben, sie in Ruhe zu lassen.«
   Delaware schwieg eine Weile. Das Zodiac passierte mit verringerter Geschwindigkeit die Insel mit den Seelöwen. Stringer erzählte Wissenswertes über die Tiere, und die Insassen taten es Anawak gleich und schossen Fotos.
   »Ich muss darüber nachdenken«, sagte Delaware schließlich.
   Und das tat sie wirklich. Zumindest sagte sie im Verlauf der weiteren Fahrt kaum noch etwas, bis das Zodiac die offene See erreicht hatte. Anawak war zufrieden. Es war gut, dass die Tour mit den Seelöwen begonnen hatte. Immer noch hatten die Populationen der Wale nicht ihre gewohnten Bestände erreicht. Ein Felsen voller Seelöwen stimmte die Expedition positiv ein und half vielleicht darüber hinweg, wenn hinterher nicht mehr so viel passierte.
   Aber seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos.
   Gleich vor der Küste trafen sie auf eine Herde Grauwale. Sie waren etwas kleiner als Buckelwale, aber immer noch von imposanter Größe. Einige kamen ziemlich nah heran und lugten für kurze Zeit aus dem Wasser, zum absoluten Entzücken der Passagiere. Sie sahen aus wie lebendig gewordene Steine, schieferfarben, fleckig gesprenkelt, die mächtigen Kiefer überwuchert von Seepocken und Ruderfußkrebsen, festgewachsenen Parasiten. Die meisten Passagiere filmten und fotografierten wie besessen. Andere sahen einfach nur ergriffen zu. Anawak hatte erwachsene Männer erlebt, denen beim Anblick eines auftauchenden Wals die Tränen gekommen waren.
   In einiger Entfernung trieben drei weitere Zodiacs und ein größeres Schiff mit festem Rumpf. Alle hatten die Motoren abgestellt. Stringer gab über Funk die Sichtungen durch. Es war Whale Watching der vertraglichen Art, das sie hier betrieben, aber ein Jack Greywolf würde auch dagegen zu Felde ziehen.
   Jack Greywolf war ein Idiot.
   Ein gefährlicher Idiot obendrein. Anawak missfiel, was er plante. Tourist Watching. Lächerlich! Aber wenn es hart auf hart kam, hätte Greywolf die Medien fürs Erste auf seiner Seite. Es würde Davies in Misskredit bringen, egal, wie gewissenhaft und verantwortungsbewusst sie dort vorgingen. Störmanöver von Tierschützern, auch wenn sie ein dubioser Haufen waren wie Greywolfs Seaguards, würden Vorurteile bestätigen. Kaum jemand machte sich wirklich die Mühe, zwischen den Anliegen seriöser Organisationen und Fanatikern vom Schlage eines Jack Greywolf zu unterscheiden. Das kam erst später, wenn die Presse die Fakten aufarbeitete und der Schaden angerichtet war.
   Und Greywolf war weiß Gott nicht Anawaks einzige Sorge.
   Aufmerksam beobachtete er den Ozean, die Kamera einsatzbereit. Er fragte sich, ob er neuerdings unter Paranoia litt, ausgelöst durch seine Begegnung mit den beiden Buckelwalen. Sah er Gespenster, oder zeichnete sich im Verhalten der Tiere tatsächlich eine Veränderung ab?
   »Rechts!«, rief Stringer.
   Die Köpfe der Menschen im Zodiac folgten ihrer ausgestreckten Hand. Mehrere Grauwale hatten sich dem Boot genähert und vollführten anschauliche Tauchmanöver. Ihre Fluken schienen den Insassen zuzuwinken. Anawak schoss Fotos fürs Archiv. Shoemaker hätte vor Freude in die Hände geklatscht bei dem Anblick. Es war ein Bilderbuchtrip, als seien die Tiere übereingekommen, die Whale Watchers für die lange Zeit des Wartens mit einer großzügigen Revue zu entschädigen. Weiter draußen steckten drei große Graue die Köpfe aus dem Wasser.
   »Das sind keine Grauwale, oder?«, fragte Delaware. Sie sah Anawak Kaugummi kauend an, als erwarte sie eine Belohnung.
   »Nein. Es sind Buckelwale.«
   »Sag’ ich doch. Woher kommt bloß diese dämliche Bezeichnung? Ich sehe keinen Buckel.«
   »Sie haben auch keinen. Aber sie machen einen beim Abtauchen. Schätze, es ist diese charakteristische Körperkrümmung, die ihnen den Namen eingetragen hat.«
   Delaware hob die Brauen. »Ich dachte eigentlich, der Name bezieht sich auf die kleinen Buckel am Maul. Auf diese Wucherungen.«
   Anawak seufzte.
   »Mal wieder in der Opposition, Licia?«
   »‘tschuldigung.« Sie ruderte aufgeregt mit den Armen. »He, was machen die denn da? Was tun die?«
   Die Köpfe der drei Buckelwale hatten zeitgleich die Wasseroberfläche durchstoßen. Sie hatten die riesigen Mäuler weit geöffnet, sodass man den rosafarbenen Gaumenstrang in der Mitte des schmalen Oberkiefers sehen konnte. Deutlich waren die herabhängenden Barten zu erkennen. Die gewaltigen Kehlsäcke schienen wie aufgebläht. Gischt wirbelte zwischen den Walen hoch — und noch etwas, glitzernd wie Flitter. Winzige, wild zappelnde Fische. Wie aus dem Nichts hatten sich Scharen von Möwen und Seetauchern eingefunden, die über dem Schauspiel kreisten und herabstießen, um an dem Gelage teilzuhaben.
   »Sie fressen«, sagte Anawak, während er fotografierte.
   »Irre! Sie sehen aus, als wollten sie uns fressen.«
   »Licia! Mach dich nicht dümmer, als du bist.«
   Delaware verschob den Kaugummi von einer Backe in die andere. »Du verstehst keinen Spaß«, sagte sie gelangweilt. »Ich weiß natürlich, dass sie sich von Krill ernähren und von all dem kleinen Viehzeug. Ich habe nur noch nie gesehen, wie sie es machen. Ich dachte immer, sie gleiten einfach mit offenem Maul dahin.«
   »Glattwale tun das«, sagte Stringer über die Schulter. »Buckelwale haben ihre eigene Methode. Sie schwimmen unter einen Schwarm kleiner Fische oder Ruderfußkrebse und kreisen ihn mit einem Ring aus Luftblasen ein. Kleintiere meiden turbulentes Wasser, sie versuchen sich von dem Blasenvorhang fern zu halten und bleiben dicht beieinander. Die Wale tauchen auf, entfalten ihre Kehlfurchen und machen Gulp.«
   »Erklär ihr nichts«, sagte Anawak. »Sie weiß ohnehin alles besser.«
   »Gulp?«, echote Delaware.
   »So nennt man es bei Furchenwalen. Das Gulp-Verfahren. Sie können ihren Kehlsack spreizen, darum sehen sie aus wie aufgepumpt. Durch dieses plötzliche Auseinanderfalten verwandeln sie ihre Kehle in ein riesiges Reservoir zur Nahrungsaufnahme. Krill und Fische werden mit einem Riesenschluck eingesaugt und bleiben in den Barten hängen, wenn die Wale das Wasser wieder rauspressen.«
   Anawak gesellte sich an Stringers Seite. Delaware schien zu verstehen, dass er allein mit ihr sprechen wollte. Sie balancierte am Steuerhaus vorbei nach vorn zu den Passagieren und begann, ihnen das Gulp-Verfahren zu erklären.
   Nach einer Weile sagte Anawak leise: »Wie kommen sie dir vor?«
   Stringer wandte den Kopf.
   »Die Wale?«
   »Ja.«
   »Komische Frage.« Sie überlegte einen Moment. »Wie immer, glaube ich. Wie kommen sie dir denn vor?«
   »Du findest sie normal?«
   »Klar. Sie sind regelrecht im Showfieber, wenn du das meinst. Ja, doch, sie sind verdammt gut drauf.«
   »Nicht irgendwie … verändert?«
   Sie kniff die Augen zusammen. Die Sonne lag gleißend auf dem Wasser. Nah am Boot tauchte ein grauscheckiger Rücken auf und verschwand. Die Buckelwale hatten sich wieder unter die Wasseroberfläche zurückgezogen.
   »Verändert?«, sagte sie gedehnt. »Was meinst du damit?«
   »Ich habe dir doch von den beiden Megapterae erzählt, die plötzlich neben dem Boot auftauchten.« Spontan benutzte er den wissenschaftlichen Namen für Buckelwale. Es war verrückt genug, was ihm im Kopf umherging. So klang es wenigstens halbwegs seriös.
   »Ja. Und?«
   »Na ja. Es war komisch.«
   »Hast du schon erzählt. Einer auf jeder Seite. Du bist zu beneiden. Total abgefahren, und ich war mal wieder nicht dabei.«
   »Ich weiß nicht, ob es abgefahren war. Es kam mir eher vor, als versuchten sie, die Lage abzuschätzen … als führten sie irgendwas im Schilde …«
   »Du sprichst in Rätseln.«
   »Es war nicht sehr angenehm.«
   »Nicht sehr angenehm?« Stringer schüttelte entgeistert den Kopf. »Bist du bei Trost? Das ist genau die Sorte Begegnung, von der ich träume. Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle gewesen.«
   »Nein, das tust du nicht. Du hättest keinen Spaß daran gehabt. Ich frage mich die ganze Zeit, wer da wen beobachtet hat, und zu welchem Zweck …«
   »Leon. Es waren Wale. Keine Geheimagenten.«
   Er fuhr sich über die Augen und zuckte die Achseln. »Okay, vergiss es. Wahrscheinlich Unsinn. Ich muss mich geirrt haben.«