Wahrscheinlich war sie aufgehalten worden. Vielleicht von Kare, dachte er. Sie hatten auf dem Schiff und danach nicht mehr über ihr Privatleben gesprochen, und Johanson hatte es vermieden, sie danach zu fragen. Er hasste Aufdringlichkeit und Indiskretion, und augenblicklich schien sie alle Zeit für sich selbst zu brauchen.
   Sein Handy schellte. Es war Lund.
   »Wo zum Teufel bist du?«, rief Johanson. »Ich musste deinen Kaffee mittrinken.«
   »Tut mir Leid.«
   »So viel Kaffee bekommt mir nicht. Im Ernst, was ist los?«
   »Ich bin schon oben im Konferenzraum. Ich hatte die ganze Zeit vor, dich anzurufen, aber wir waren außerordentlich beschäftigt.«
   Ihre Stimme klang seltsam.
   »Ist alles in Ordnung?«, fragte Johanson.
   »Klar. Magst du hochkommen? Du kennst ja mittlerweile den Weg.«
   »Ich bin gleich da.«
   Lund war also schon im Haus. Dann hatten sie wohl etwas besprochen, was nicht für Johansons Ohren bestimmt war.
   Wenn schon. Es war ihr verdammtes Bohrprojekt.
   Als er den Konferenzraum betrat, standen Lund, Skaugen und Stone vor einer großen Karte, die das Areal der geplanten Bohrung zeigte. Der Projektleiter redete unterdrückt auf Lund ein. Sie wirkte genervt. Auch Skaugen machte kein glückliches Gesicht. Er wandte den Kopf, als Johanson hereinkam, und ließ ein halbherziges Lächeln um seine Mundwinkel spielen. Hvistendahl stand im Hintergrund und telefonierte.
   »Bin ich zu früh?«, fragte Johanson vorsichtig.
   »Nein, es ist gut, dass Sie kommen.« Skaugen wies auf den schwarz polierten Tisch. »Setzen wir uns.«
   Lund hob den Blick. Erst jetzt schien sie Johanson zu bemerken. Sie ließ Stone mitten im Wort stehen, kam zu ihm herüber und küsste ihn auf die Wange.
   »Skaugen will Stone abservieren«, flüsterte sie. »Du musst uns dabei helfen, hörst du?«
   Johanson ließ sich nichts anmerken. Sie wollte, dass er Stimmung machte. War sie verrückt geworden, ihn in diese Situation zu bringen?
   Sie nahmen Platz. Hvistendahl klappte sein Handy zu. Am liebsten wäre Johanson gleich wieder gegangen, um sie mit ihren Problemen allein zu lassen. Unterkühlt sagte er: »Nun, vorweg, ich habe gezielter recherchiert als ursprünglich besprochen. Soll heißen, ich habe speziell Forscher und Institute ausgesucht, die ihrerseits Aufträge von Energieunternehmen erhalten oder von diesen konsultiert werden.«
   »War das klug?«, fragte Hvistendahl erschrocken. »Ich dachte, wir wollten möglichst unauffällig in den … ähm, Wald hineinhorchen.«
   »Der Wald war zu groß. Ich musste ihn eingrenzen.«
   »Sie haben hoffentlich niemandem gesagt, dass wir …«
   »Keine Bange. Ich habe einfach nur nachgefragt. Ein neugieriger Biologe der NTNU.«
   Skaugen schürzte die Lippen. »Ich schätze, Sie wurden mit Informationen nicht gerade überschüttet.«
   »Wie man’s nimmt.« Johanson deutete auf die Kladde mit den Ausdrucken. »Zwischen den Zeilen schon. Wissenschaftler sind schlechte Lügner, sie hassen es, Politik zu machen. Was ich hier habe, ist ein Dossier der Zwischentöne. Hier und da kann man den Maulkorb förmlich sehen. Jedenfalls bin ich der unabdingbaren Überzeugung, dass unser Wurm schon anderswo aufgefallen ist.«
   »Sie sind überzeugt?«, fragte Stone. »Aber Sie wissen es nicht.«
   »Bislang hat es niemand direkt zugegeben. Aber ein paar Leute wurden plötzlich sehr neugierig.« Johanson sah Stone direkt an. »Ausnahmslos Forscher, deren Institute eng mit der Rohstoffindustrie zusammenarbeiten. Einer davon befasst sich sogar explizit mit dem Abbau von Methan.«
   »Wer?«, fragte Skaugen scharf.
   »Jemand in Tokio. Ein gewisser Ryo Matsumoto. Sein Institut, genauer gesagt. Mit ihm selber habe ich nicht gesprochen.«
   »Matsumoto? Wer soll das sein?«, fragte Hvistendahl.
   »Nippons führender Hydratforscher«, erwiderte Skaugen. »Er hat schon vor Jahren in den kanadischen Permafrostböden Probebohrungen durchgeführt, um ans Methan zu kommen.«
   »Als ich seinen Leuten die Daten über den Wurm schickte, wurden sie ungemein hektisch«, führte Johanson weiter aus. »Sie stellten Gegenfragen. Sie wollten wissen, ob der Wurm in der Lage sei, Hydrat zu destabilisieren. Und ob er in größerer Anzahl aufgetreten ist.«
   »Das muss nicht zwangsläufig heißen, dass Matsumoto über den Wurm Bescheid weiß«, sagte Stone.
   »Doch. Weil er für die JNOC arbeitet«, knurrte Skaugen.
   »Die Japan National Oil Corporation? Die sind in Sachen Methan unterwegs?«
   »Und wie. Matsumoto hat 2000 angefangen, im Nankai-Trog verschiedene Fördertechniken zu erproben. Über die Testergebnisse wurde Stillschweigen bewahrt, aber seitdem lässt er gerne verlauten, schon in wenigen Jahren mit dem kommerziellen Abbau beginnen zu wollen. Er singt das Hohelied des Methanzeitalters wie kein Zweiter.«
   »Na schön«, sagte Stone. »Aber er hat nicht bestätigt, den Wurm gefunden zu haben.«
   Johanson schüttelte den Kopf. »Stellen Sie sich unser Detektivspielchen doch mal umgekehrt vor. Wir würden gefragt. Namentlich ich als Repräsentant der sogenannten unabhängigen Forschung. Der Betreffende, ebenfalls ein freier Forscher und zugleich Berater der JNOC, schiebt wissenschaftliche Neugierde vor, irgendwas. Ich werd’s ihm natürlich nicht auf die Nase binden, dass wir über die Viecher Bescheid wissen. Aber ich bin aufgeschreckt. Ich will wissen, was er herausgefunden hat. Also werde ich ihn ausquetschen, so wie Matsumotos Leute mich gelöchert haben, und dabei mache ich einen Fehler. Ich stelle allzu konkrete Fragen. Zu gezielt. Wenn mein Gesprächspartner nicht blöde ist, wird er schnell dahinter kommen, dass er bei mir ins Schwarze getroffen hat.«
   »Wenn das stimmt«, sagte Lund, »haben wir das gleiche Problem vor Japan.«
   »Das sind keine Beweise«, beharrte Stone. »Sie haben keinen einzigen Beweis, Dr. Johanson, dass außer uns noch jemand auf den Wurm gestoßen ist.« Er beugte sich vor. Die Ränder seiner Brille blitzten auf. »Mit dieser Art Information kann niemand etwas anfangen. Nein, Dr. Johanson! Die Wahrheit ist, dass kein Mensch das Auftreten des Wurms voraussehen konnte, weil er eben nirgendwo sonst aufgetreten ist. Wer sagt Ihnen, dass Matsumoto nicht einfach interessiert ist?«
   »Mein Bauch«, erwiderte Johanson ungerührt.
   »Ihr … Bauch?«
   »Er sagt mir auch, dass da noch mehr ist. Auch die Südamerikaner haben den Wurm gefunden.«
   »Ach ja?«
   »Ja.«
   »Also die haben Ihnen auch merkwürdige Fragen gestellt?«
   »Genau.«
   »Sie enttäuschen mich, Dr. Johanson.« Stone verzog spöttisch die Mundwinkel. »Ich dachte, Sie seien Wissenschaftler. Seit wann geben Sie sich mit Ihrem Bauch zufrieden?«
   »Cliff«, sagte Lund, ohne Stone anzusehen. »Du hältst am besten einfach mal die Schnauze.«
   Stone riss die Augen auf und schaute Lund empört an.
   »Ich bin dein Boss«, bellte er. »Wenn hier einer die Schnauze hält …«
   »Schluss!« Skaugen hob die Hände. »Ich will kein Wort mehr hören.«
   Johanson musterte Lund, die ihre Wut nur mühsam unterdrückte. Er fragte sich, was Stone ihr getan hatte. Seine notorische Missgestimmtheit konnte nicht der einzige Grund für ihren Ärger sein.
   »Wie auch immer, ich denke, Japan und Südamerika halten Informationen zurück«, sagte er. »Ebenso wie wir. Nun ist es erheblich einfacher, verlässliche Daten über Meerwasseranalysen zu bekommen als über Tiefseewürmer. Allerorten wird aus irgendwelchen Gründen Wasser analysiert. Zu diesem Thema konnte ich also weitere Quellen anzapfen. Und die haben’s bestätigt.«
   »Was?«
   »Ungewöhnlich hohe Methankonzentrationen in der Wassersäule. Es würde passen.« Johanson zögerte. »Was die Japaner betrifft — entschuldigen Sie die häufigen Zuwortmeldungen meines Bauches, Dr. Stone —, hatte ich übrigens noch so ein Gefühl. Mir schien, als wollten mich Matsumotos Leute die Wahrheit wissen lassen. Sie haben sich zur Zurückhaltung verpflichtet. Aber wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen: Kein freier Forscher, kein Institut, käme auf die Idee, mit Informationen zu taktieren, die für viele Menschen überlebenswichtig sein könnten. Es gibt keinen vertretbaren Grund, so etwas zurückzuhalten.
   Dazu kommt es nur, wenn …«
   Er breitete die Hände aus und ließ den Satz unvollendet.
   Skaugen sah ihn unter zusammengezogenen Brauen an.
   »Wenn wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen«, ergänzte er. »Das wollten Sie doch sagen.«
   »Ja. Das wollte ich sagen.«
   »Gibt es noch etwas, das Sie Ihrem Bericht hinzufügen möchten?«
   Johanson nickte und zog einen Ausdruck aus seiner Kladde. »Ungewöhnlich hohe Methanaustritte verzeichnen wir offenbar nur in drei Regionen der Welt. In Norwegen, Japan und im lateinamerikanischen Osten. Dann gibt es aber auch noch Lukas Bauer.«
   »Bauer? Wer ist das?«, fragte Skaugen.
   »Er untersucht Meeresströmungen vor Grönland. Er lässt Drifter mit der Strömung treiben und zeichnet die Daten auf. Ich habe ihm eine Nachricht auf sein Schiff geschickt. Das hat er geantwortet.« Johanson las vor: »Lieber Kollege, Ihr Wurm ist mir unbekannt. Aber tatsächlich messen wir vor Grönland exzeptionelle Methanausstöße an unterschiedlichen Stellen. Hohe Konzentrationen gelangen ins Meer. Möglicherweise besteht ein Zusammenwirken mit Diskontinuitäten, die wir hier beobachten. Böse Sache, sollten wir Recht behalten. Sehen Sie mir die mangelnde Detaillierung nach, ich bin außerordentlich beschäftigt. Anbei eine Datei mit einem ausführlichen Bericht von Karen Weaver. Sie ist Journalistin und geht mir hier zur Hand und auf die Nerven. Tüchtiges Mädchen. Bei Rückfragen hilft sie Ihnen gerne weiter. Nehmen Sie Kontakt auf über kweaver@deepbluesea.com.«
   »Was für Diskontinuitäten meint er denn?«, fragte Lund.
   »Keine Ahnung. Ich hatte seinerzeit in Oslo den Eindruck, dass Bauer etwas zerstreut ist. Liebenswürdig, aber die Hochpotenz unseres Berufsstandes. Die versprochene Datei hat er folgerichtig vergessen hinzuzufügen. Ich habe zurückgemailt, bis jetzt aber noch keine Antwort erhalten.«
   »Wir sollten vielleicht herausfinden, woran Bauer arbeitet«, sagte Lund. »Bohrmann müsste das wissen, oder?«
   »Ich schätze, die Journalistin weiß es«, sagte Johanson.
   »Karen …?«
   »Karen Weaver. Der Name kam mir bekannt vor, aus gutem Grund. Ich hatte schon einiges von ihr gelesen. Interessante Vita, Studium der Informatik, Biologie und Sport. Ihr Schwerpunkt sind marine Themen, ihr Interesse gilt den großen Zusammenhängen. Vermessung der Meere, Plattentektonik, Klimawandel … zuletzt hat sie über Meeresströmungen geschrieben. — Was Bohrmann betrifft, den rufe ich sowieso an, wenn er sich bis Ende der Woche nicht gemeldet hat.«
   »Und wohin führt uns das alles?«, fragte Hvistendahl in die Runde.
   Skaugens blaue Augen hefteten sich auf Johanson. »Sie haben ja gehört, was Dr. Johanson gesagt hat. Die Industrie macht sich der Lumperei schuldig, weil sie Informationen für sich behält, die über Wohl und Wehe der Menschheit entscheiden könnten. Dem ist diskussionslos beizupflichten. Gestern Nachmittag hatte ich also ein maßgebliches Gespräch mit unserer obersten Heeresleitung, in dessen Verlauf ich eine klare Empfehlung aussprach. Statoil hat sofort im Anschluss daran die norwegische Regierung informiert.«
   Stones Kopf ruckte hoch. »Was? Worüber denn, wir haben doch noch gar kein definitives Ergebnis vorliegen und kein …«
   »Über die Würmer, Clifford. Über die Zersetzung der Methanvorkommen. Über die Gefahr eines Methan-GAUs. Über die Möglichkeit einer unterseeischen Rutschung. Stell dir vor, sogar die Begegnung des Tauchroboters mit nichtidentifizierbaren Lebewesen wurde einer Erwähnung für wert befunden. Für meinen Geschmack sind das Ergebnisse genug.« Skaugen blickte finster in die Runde. »Es wird Dr. Johanson freuen zu hören, dass sein Bauch ein sicherer Indikator für die Wirklichkeit ist. Heute Morgen hatte ich das Vergnügen, eine Stunde mit dem Technischen Vorstand der JNOC zu telefonieren. Natürlich ist die JNOC über jeden Zweifel erhaben. Nehmen wir darum nur mal hypothetisch an, Japan sei dermaßen wild auf eine Vormachtstellung in der Methanförderung, dass sie alles daransetzen, es als Erste zu schaffen. Geben wir zweitens der weltfremden Vorstellung Raum, sie würden dafür gewisse Risiken in Kauf nehmen und fachlicherseits geäußerte Bedenken unter den Tisch kehren.« Skaugens Blick wanderte zu Stone. »Attestieren wir zudem den unwahrscheinlichen und geradezu absurden Fall, dass es tatsächlich Menschen gibt, die aus purem Ehrgeiz Gutachten verschweigen und Warnungen ignorieren. Träfe all das zu, wie schrecklich! Dann müssten wir der JNOC unterstellen, in skandalöser Weise Stillschweigen über einen Wurm gewahrt zu haben, der ihren Traum von der Methannation Nummer eins über Nacht platzen lassen könnte. Dann hätten sie wochenlang geschwiegen.«
   Niemand sagte etwas. Skaugen bleckte die Zähne. »Aber wir wollen nicht so streng sein. Wie hätte es schließlich ausgesehen, wenn Neil Armstrong in der Kapsel geblieben wäre bloß wegen eines blöden Wurms? Und wie gesagt, das sind ohnehin nur Unterstellungen. So hat mir die JNOC glaubhaft versichert, dass man in der Tat ähnliche Tiere aus der japanischen See gezogen habe, aber entdeckt hat man sie sage und schreibe erst vor drei Tagen. Ist das nicht allerhand?«
   »So eine Scheiße«, sagte Hvistendahl leise.
   »Und was gedenkt die JNOC zu unternehmen?«, fragte Lund.
   »Oh, ich schätze, sie werden ihre Regierung informieren. Sie sind ja staatlich, genau wie wir. Nachdem sie jetzt wissen, was wir alles wissen, können sie es sich kaum leisten, damit hinterm Berg zu halten. Was — pardon! — natürlich niemand will, weder hier noch da. Und ich bin sicher, würde man heute die Südamerikaner auf das nämliche Thema ansprechen, könnte es glatt geschehen, dass denen morgen auch so ein Wurm ins Netz geht. Was werden die staunen! Sie werden sofort anrufen Und es uns mitteilen. — Und damit niemand auf die Idee kommt, ich würde hier nur die anderen anpinkeln: Wir sind nicht besser.«
   »Na ja«, sagte Hvistendahl.
   »Anderer Meinung?«
   »Wie kritisch die Situation ist, wissen wir erst seit kurzem.« Hvistendahl wirkte verärgert. »Außerdem habe ich selber empfohlen, die Regierung zu verständigen.«
   »Dir mache ich auch gar keinen Vorwurf«, sagte Skaugen gedehnt.
   Johanson begann sich zu fühlen wie in einem Schauspiel. Skaugen inszenierte Stones Hinrichtung, so viel hatte er verstanden. Auf Lunds Gesicht breitete sich grimmige Zufriedenheit aus.
   Aber war es nicht Stone gewesen, der den Wurm gefunden hatte?
   »Clifford«, sagte Lund in die plötzlich entstandene Stille hinein. »Wann genau ist dir der Wurm das erste Mal begegnet?«
   Stones Gesichtsfarbe wurde eine Spur fahler. »Das weißt du doch«, sagte er. »Du warst dabei.«
   »Und vorher nie?«
   Stone sah sie an. »Vorher?«
   »Vorher. Im letzten Jahr. Als du in Eigenregie den Kongsberg-Prototyp auf Grund gesetzt hast. In eintausend Metern Tiefe.«
   »Was soll das?«, zischte Stone. Er sah zu Skaugen hinüber. »Das war kein Alleingang. Ich hatte Rückendeckung. He, Finn, verdammt nochmal, was soll mir hier eigentlich unterstellt werden?«
   »Sicher hattest du Rückendeckung«, sagte Skaugen. »Du hast vorgeschlagen, eine neuartige Unterwasserfabrik zu testen, die für eine maximale Tiefe von tausend Metern konzipiert war.«
   »Genau.«
   »Theoretisch konzipiert war.«
   »Natürlich theoretisch. Bis zum ersten Versuch ist immer alles theoretisch. Ihr habt aber praktisch grünes Licht gegeben.« Stone sah Hvistendahl an. »Du auch, Thor. Ihr habt das Ding im Becken getestet und euer Okay gegeben.«
   »Das stimmt«, sagte Hvistendahl. »Das haben wir.«
   »Na also.«
   »Wir hatten dich beauftragt«, fuhr Skaugen fort, »das Gebiet zu untersuchen und eine Expertise zu erstellen, ob es wirklich ratsam sei, eine nicht hinreichend erprobte Anlage …«
   »Das ist eine Schweinerei!«, fuhr Stone auf. »Ihr habt die Anlage genehmigt.«
   »… testweise in Betrieb zu nehmen. Ja, das Risiko haben wir verantwortet. Unter der Voraussetzung, dass alle Gutachten eindeutig dafür sprechen.«
   Stone sprang auf. »Das haben sie ja auch«, schrie er, zitternd vor Erregung.
   »Setz dich wieder hin«, sagte Skaugen kühl. »Es wird dich interessieren zu hören, dass gestern Abend jeder Kontakt zum Kongsberg-Prototyp abgerissen ist.«
   »Das …« Stone erstarrte. »Ich bin nicht direkt mit der Überwachung vertraut. Ich habe die Fabrik nicht konstruiert, nur vorangetrieben. Was wirfst du mir eigentlich vor? Dass ich es noch nicht weiß?«
   »Nein. Aber wir haben unter dem Druck der Ereignisse auch die damalige Installation des Kongsberg-Prototyps genauestens rekonstruiert. Und dabei stießen wir auf zwei Gutachten, die du seinerzeit … tja, wie soll ich sagen? Vergessen hast?«
   Stones Finger krallten sich um die Tischplatte. Einen Moment lang glaubte Johanson tatsächlich, den Mann stürzen zu sehen. Stone wankte. Dann fing er sich, setzte eine ausdruckslose Miene auf und ließ sich langsam zurück auf den Stuhl sinken.
   »Davon weiß ich nichts.«
   »Eines besagt, dass die Verteilung der Hydrate und Gasfelder in diesem Gebiet schwer zu kartographieren ist. Es heißt in dem Bericht, das Risiko, im Verlauf einer
   Ölbohrung auf freies Gas zu stoßen, sei zwar verschwindend gering, aber nicht hundertpro zentig auszuschließen.«
   »Es war so gut wie auszuschließen«, sagte Stone heiser. »Und das Ergebnis übertrifft seit einem Jahr alle Erwartungen.«
   »So gut wie ist nicht hundertprozentig.«
   »Aber wir haben kein Gas angebohrt! Wir fördern Öl. Die Fabrik funktioniert, das Kongsberg-Projekt ist ein voller Erfolg. So erfolgreich, dass ihr beschlossen habt, den Nachfolger zu bauen, und diesmal offiziell.«
   »Aus dem zweiten Gutachten«, sagte Lund, »geht hervor, dass ihr auf einen bis dahin unbekannten Wurm gestoßen seid, der sich im Hydrat eingenistet hatte.«
   »Ja, zum Teufel. Es war der Eiswurm.«
   »Hast du ihn untersucht?«
   »Wieso denn ich?«
   »Habt ihr ihn untersucht?«
   »Es war … sicher haben wir ihn untersucht.«
   »Das Gutachten sagt, der Wurm sei nicht eindeutig als Eiswurm identifiziert worden. Er sei in großer Anzahl angetroffen worden. Sein Einfluss auf die lokalen Gegebenheiten könne nicht eindeutig festgestellt werden, allerdings sei in seinem unmittelbaren Umfeld Methan ins Wasser entwichen.«
   Stone war wachsweiß geworden. »Das ist so nicht …
   nicht ganz richtig. Die Tiere kamen in einem sehr begrenzten Gebiet vor.«
   »Dort aber massenweise.«
   »Wir haben abseits davon gebaut. Ich habe diesem Gutachten … es hatte keine echte Relevanz.«
   »Habt ihr den Wurm klassifizieren können?«, fragte Skaugen ruhig.
   »Wir waren uns sicher, dass es …«
   »Habt ihr ihn klassifizieren können?«
   Stones Kiefer mahlten. Er kam Johanson vor, als ob er Skaugen im nächsten Moment an die Gurgel gehen würde.
   »Nein«, presste er nach einer längeren Pause hervor.
   »Gut«, sagte Skaugen. »Cliff, du bist vorläufig von allen Aufgaben entbunden. Tina wird deinen Job übernehmen.«
   »Das kannst du nicht …«
   »Wir reden später darüber.«
   Stone sah Hilfe suchend zu Hvistendahl, doch der starrte geradeaus. »Thor, verdammt nochmal, die Fabrik funktioniert doch.«
   »Du bist ein Idiot«, sagte Hvistendahl tonlos. Stone wirkte vollkommen entgeistert. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich wollte nicht … Ich wollte wirklich nur, dass wir mit der Fabrik weiterkommen.« Johanson fühlte sich peinlich berührt. Darum also war Stone die ganze Zeit über so bemüht gewesen, die Rolle der Würmer herunterzuspielen. Er wusste, dass er damals einen Fehler begangen hatte. Er hatte der Erste sein wollen, der einen Prototyp erfolgreich in Funktion nahm. Die Unterwasserfabrik war Stones Baby. Sie stellte eine einmalige Chance für ihn dar, Karriere zu machen.
   Eine Weile hatte es funktioniert. Ein erfolgreiches Jahr mit einem inoffiziellen Test, dann die offizielle Inbetriebnahme, am Ende eine Serie und der Vorstoß in immer neue Tiefen. Es hätte Stones persönlicher Triumphzug werden können. Aber dann tauchten die Würmer ein zweites Mal auf. Und diesmal beschränkten sie sich nicht auf wenige Quadratmeter.
   Plötzlich tat er Johanson beinahe Leid.
   Skaugen rieb sich die Augen. »Es ist mir unangenehm, Sie mit alldem zu behelligen, Dr. Johanson«, sagte er.
   »Aber Sie sind im Team.«
   »Ja. Offensichtlich.«
   »Überall auf der Welt laufen die Dinge aus dem Ruder. Unglücksfälle, Anomalien … Die Leute sind dünnhäutig geworden, und Ölkonzerne geben gute Sündenböcke ab. Wir dürfen jetzt keinen Fehler machen. Können wir weiterhin auf Sie zählen?«
   Johanson seufzte. Dann nickte er.
   »Das ist gut. Wir haben eigentlich auch nichts anderes von Ihnen erwartet. — Missverstehen Sie mich nicht, es ist ganz alleine Ihre Entscheidung! Aber Sie werden vielleicht noch mehr Zeit investieren müssen in Ihre Aufgabe als Wissenschaftlicher Koordinator, und so haben wir uns erlaubt, vorsorglich mit der NTNU darüber zu sprechen.«
   Johanson richtete sich auf. »Sie haben was?«
   »Um offen zu sein, wir haben um Ihre vorübergehende Freistellung gebeten. Ich habe Sie außerdem in Regierungskreisen empfohlen.«
   Johanson starrte zuerst Skaugen an, dann Lund. »Augenblick mal«, sagte er.
   »Es ist eine richtige Forschungsstelle«, warf Lund hastig ein. »Statoil stellt ein Budget, und du bekommst jede Unterstützung.«
   »Ich hätte es vorgezogen …«
   »Sie sind verärgert«, sagte Skaugen. »Das verstehe ich. Aber Sie haben gesehen, wie dramatisch die Situation am Hang ist, und augenblicklich weiß kaum jemand besser darüber Bescheid als Sie und die Leute von Geomar. Sie können natürlich ablehnen, aber dann … Bitte bedenken Sie, dass es eine Aufgabe im Interesse der Allgemeinheit wäre.«
   Johanson wurde beinahe schlecht vor Zorn. Er fühlte eine scharfe Erwiderung aufsteigen und schluckte sie hinunter. »Verstehe«, sagte er steif.
   »Und wie lautet Ihre Entscheidung?«
   »Dieser Aufgabe werde ich mich natürlich nicht verschließen.«
   Er warf Lund einen Blick zu, von dem er hoffte, dass er sie zumindest durchbohrte, wenn nicht in Stücke schnitt. Sie hielt eine Weile stand, dann sah sie weg.
   Skaugen nickte ernst. »Hören Sie, Dr. Johanson, Statoil ist Ihnen überaus dankbar. Alles, was Sie schon für uns getan haben, sichert Ihnen höchste Anerkennung. Aber vor allem eines sollten Sie wissen: Was mich persönlich angeht, haben Sie in mir einen Freund gewonnen. Wir haben Sie überfahren, was die NTNU angeht. Aber ich werde mich im Gegenzug für Sie überfahren lassen, wenn es vonnöten sein sollte. Ich lasse mich für Sie kreuzigen, okay?«
   Johanson sah den bulligen Mann an. Er sah in Skaugens klare blaue Augen. »Okay«, sagte er. »Ich komme darauf zurück.«
   »Sigur. Jetzt bleib doch endlich mal stehen!«
   Lund kam hinter ihm hergelaufen, aber Johanson stapfte weiter den gepflasterten Weg entlang, der zum Parkplatz führte. Das Forschungszentrum lag mitten im Grünen, fast idyllisch platziert auf einem Hügel nahe der Klippen, aber Johanson hatte keinen Blick für landschaftliche Schönheiten. Er wollte nur zurück in sein Büro.
   »Sigur!«
   Sie holte auf. Er ging weiter.
   »Was soll das, du sturer Hund?«, schrie sie. »Willst du im Ernst, dass ich dir hinterherrenne?« Johanson blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihr um.
   Fast wäre sie in ihn hineingelaufen.
   »Warum nicht? Du bist doch sonst immer so schnell.«
   »Idiot.«
   »Ach ja? Du bist schnell im Reden, schnell im Denken, du bist sogar schnell genug, deine Freunde zu verplanen, bevor sie ja oder nein sagen können. Ein kleiner Sprint wird dich ja wohl kaum umbringen.«
   Lund funkelte ihn zornig an. »Du selbstgerechtes Arschloch! Glaubst du wirklich, ich wollte über dein verdammtes Eigenbrötlerleben bestimmen?«
   »Nicht? Das beruhigt mich.«
   Er ließ sie stehen und nahm seinen Gang wieder auf. Lund zögerte eine Sekunde, dann heftete sie sich an seine Seite. »Okay, ich hätte es dir sagen sollen. Es tut mir Leid, wirklich.«
   »Ihr hättet mich fragen können!«
   »Das wollten wir doch, verdammt nochmal. Skaugen ist einfach mit der Tür ins Haus gefallen, du hast alles falsch verstanden.«
   »Ich habe verstanden, dass ihr mich der Uni abgeschachert habt, als sei ich ein Gaul oder was.«
   »Nein.« Sie packte seinen Jackenärmel und zwang ihn anzuhalten. »Wir haben in der Sache vorgefühlt, nichts weiter. Wir haben einfach nur wissen wollen, ob sie dich unbefristet freistellen, falls du ja sagst.«
   Johanson schnaubte. »Das klang eben ganz anders.«
   »Es ist unglücklich gelaufen. Herrgott, ich schwöre es dir. Was soll ich denn noch alles tun? Sag mir, was ich tun soll?«
   Johanson schwieg. Sein Blick und ihrer wanderten gleichzeitig zu Lunds Fingern, die sich immer noch in den Stoff seiner Jacke krallten. Sie ließ los und sah ihn an.
   »Keiner will dich überfahren. Wenn du es dir anders überlegst, auch gut. Dann eben nicht.«
   Irgendwo sang ein Vogel. Vom Fjord her wehte der Wind die Geräusche weit entfernter Motorboote herüber.
   »Falls ich es mir anders überlege«, sagte er schließlich, »stehst du nicht besonders gut da, oder?«
   »Ach, das.« Sie strich seinen Jackenärmel glatt.
   »Komm schon.«
   »Mach dir keine Gedanken um mich. Damit muss ich dann halt leben. Ich hätte dich ja nicht zu empfehlen brauchen, es war meine eigene Entscheidung, und … na ja, du kennst mich. Ich bin halt vorgeprescht bei Skaugen.«
   »Was hast du ihm gesagt?«
   »Dass du es machen wirst.« Sie lächelte. »Ehrensache. Aber wie gesagt, das muss nicht dein Problem sein.«
   Johanson fühlte, wie sein Zorn verrauchte. Er hätte gern noch eine Weile daran festgehalten, einfach aus Prinzip, um Lund nicht so davonkommen zu lassen. Aber die Wut war aufgebraucht.
   Sie schaffte es immer wieder.
   »Skaugen vertraut mir«, sagte Lund. »Ich konnte dich nicht in der Cafeteria treffen. Wir hatten ein Vier-Augen-Gespräch, in dem er mir mitteilte, was sie in Stavanger über Stones vertuschte Gutachten herausgefunden hatten. Stone, dieser verdammte Mistkerl. Er ist an allem schuld. Hätte er damals mit offenen Karten gespielt, stünden wir jetzt anders da.«
   »Nein, Tina.« Johanson schüttelte den Kopf. »Er hat nicht wirklich geglaubt, dass die Würmer eine Gefahr darstellen könnten.« Er mochte Stone nicht, aber plötzlich hörte er sich Worte der Verteidigung für den Projektleiter sagen. »Er wollte einfach weiterkommen.«
   »Wenn er sie für ungefährlich hielt, warum hat er das Gutachten nicht einfach auf den Tisch gelegt?«
   »Es hätte sein Projekt zurückgeworfen. Ihr hättet die Würmer ohnehin nicht ernst genommen. Aber natürlich hättet ihr eurer Pflicht Genüge tun und das Projekt aufschieben müssen.«
   »Du siehst doch, dass wir die Würmer ernst nehmen.«
   »Ja, jetzt, weil es zu viele sind. Ihr habt es mit der Angst bekommen. Aber Stone fand seinerzeit nur ein kleines Gebiet vor, richtig?«
   »Hm.«
   »Eine zwar dicht besiedelte, aber begrenzte Fläche. So was passiert alle Tage. Kleine Tiere kommen oft in Massen vor, und was sollen ein paar Würmer schon ausrichten? Ihr hättet gar nichts unternommen, glaub mir. Als sie im Mexikanischen Golf den Eiswurm entdeckt haben, ist auch nicht gleich der Notstand ausgerufen worden, obwohl die Viecher dicht an dicht im Hydrat saßen.«
   »Es ist eine Frage des Prinzips, alles offen zu legen. Er hatte die Verantwortung.«
   »Sicher«, seufzte Johanson. Er sah hinaus auf den Fjord. »Und jetzt habe ich die Verantwortung.«
   »Wir brauchen einen wissenschaftlichen Leiter«, sagte Lund. »Ich würde niemandem vertrauen außer dir.«
   »Du liebe Güte«, sagte Johanson. »Hast du irgendwas genommen?«
   »Im Ernst.«
   »Ich mach’s ja.«
   »Überleg mal«, strahlte Lund. »Wir können zusammenarbeiten.«
   »Jetzt versuch nicht, es mir wieder auszureden. Was soll überhaupt als Nächstes geschehen?«
   Sie zögerte. »Na ja, du hast ja gehört — Skaugen will mich an Stones Stelle setzen. Er kann das vorläufig so verfügen, aber nicht definitiv beschließen. Dafür braucht er die Zustimmung aus Stavanger.«
   »Skaugen«, sinnierte Johanson. »Warum hat er Stone derart ans Kreuz genagelt? Was sollte ich dabei? Ihm die Munition liefern?«
   Lund zuckte die Achseln. »Skaugen ist überaus integer. Manche finden, er übertreibt es ein bisschen mit der Integrität. Er sieht, wo überall die Augen zugekniffen werden, und es macht ihn wütend.«
   »Wenn das stimmt, macht es ihn vor allem menschlich.«
   »Im Grunde ist er weichherzig. Würde ich ihm vorschlagen, Stone eine letzte Chance zu geben, könnte er womöglich zustimmen.«
   »Verstehe«, sagte Johanson gedehnt. »Und genau darüber denkst du nach.«
   Sie antwortete nicht.
   »Bravo. Du bist die Wohlfahrt in Person.«
   »Skaugen hat mir die Wahl gelassen«, sagte Lund, ohne auf seinen Spott einzugehen. »Diese Unterwasserfabrik — Stone weiß immens viel darüber. Mehr als ich. Skaugen will jetzt, dass die Thorvaldson rausfährt, um nachzusehen, was da unten los ist und warum wir keine Aufzeichnungen mehr empfangen. Eigentlich müsste Stone die Operation leiten. Aber wenn Skaugen ihn suspendiert, wird es mein Job.«
   »Was wäre die Alternative?«
   »Wie gesagt, wir geben Stone seine Chance.«
   »Um die Fabrik zu bergen.«
   »Wenn da was zu bergen ist. Oder um sie wieder in Betrieb zu nehmen. Wie auch immer, Skaugen will mich auf alle Fälle befördern. Aber wenn er ein Auge zudrückt, bleibt Stone im Spiel und geht auf die Thorvaldson.«
   »Und was machst du unterdessen?«
   »Ich fahre nach Stavanger und reporte dem Vorstand. Was Skaugen Gelegenheit gibt, mich dort aufzubauen.«
   »Gratuliere«, sagte Johanson. »Du machst Karriere.« Ein kurzes Schweigen entstand. »Will ich das?« »Weiß ich, was du willst?« »Weiß ich es denn, verdammt nochmal?« Johanson dachte an das Wochenende am See. »Keine Ahnung«, sagte er. »Du kannst einen Freund haben und trotzdem Karriere machen, falls du deswegen zögerst. Hast du übrigens noch einen?« »Das ist auch so eine Sache.« »Weiß der arme Kare, woran er mit dir ist?«
   »Wir waren nicht mehr so oft zusammen seit … seit du und ich …« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Es hat eben nichts mit dem richtigen Leben zu tun, wenn wir im trauten Sveggesundet rumhängen oder raus zu den Inseln fahren. Mir kommt alles irgendwie vor, als sei ich Teil einer Inszenierung.«
   »Ist es wenigstens eine gute Inszenierung?«
   »Es ist, als ob du immer wieder einen Ort aufsuchst, in den du dich verliebt hast«, sagte Lund. »Jedes Mal bist du hingerissen. Eine Opernkulisse. Wenn du wieder wegfahren sollst, rollen die Tränen. Du möchtest dableiben. Und zugleich fragst du dich, ob du wirklich am schönsten Ort der Welt leben willst und ob es dann immer noch der schönste Ort der Welt ist. Wir sind es gewohnt, dass sich unser Leben … Himmel, wie soll ich sagen? Entzaubert! Mit jedem Tag ein bisschen mehr. Also suchen wir nach etwas, das es eigentlich nicht gibt. Verstehst du?« Sie lächelte schüchtern. »Entschuldige, das klingt alles furchtbar kitschig und durcheinander. Ich bin nicht gut in so was.«
   »Nein. Wirklich nicht.«
   Johanson sah sie an. Er suchte nach Anzeichen von Ratlosigkeit. Stattdessen sah er jemanden, der sich schon entschieden hatte. Sie wusste es nur noch nicht.
   »Wenn du nicht bereit bist, an einem Ort zu leben, liebst du ihn auch nicht«, sagte er. »Wir hatten dasselbe Gespräch am See, erinnerst du dich? Damals ging’s um Häuser. Im Grunde austauschbar. Vielleicht solltest du endlich zu Kare fahren und ihm sagen, dass du ihn liebst und steinalt mit ihm werden willst. Du tätest mir einen großen Gefallen damit, ich muss mich sonst alle paar Tage mit dir durch die Sumpfgebiete schwülstiger Allegorien schleppen.«
   »Und wenn es schief geht?«
   »Du bist doch sonst nicht so ein Angsthase.«
   »Doch«, sagte sie leise. »Genau das bin ich.«
   »Du misstraust dem Gefühl, glücklich zu sein. Das habe ich auch mal getan. Es ist für nichts gut.«
   »Und? Bist du heute glücklich?«
   »Ja.«
   »Ohne Abstriche?«
   Johanson hob in einer hilflosen Geste die Arme. »Wer ist schon ohne Abstriche glücklich, du Schaf? Ich mache mir und anderen nichts vor. Ich will meine Flirts, meinen Wein, meinen Spaß und bestimmen, wo’s langgeht. Ich neige zur Verschwiegenheit, aber nicht zur Kompensation. Jeder Psychiater würde sich mit mir zu Tode langweilen, weil ich tatsächlich einfach nur meine Ruhe will. Unterm Strich geht’s mir also prächtig. Aber ich bin ich. Mein Glück ist anders beschaffen als deines. Meinem Glück vertraue ich. Du musst das noch lernen. Und zwar bald. Kare ist kein Ort und kein Haus. Er wird nicht ewig warten.«
   Lund nickte. Wind kam auf und spielte mit ihrem Haar. Johanson stellte fest, wie gern er sie hatte. Er war froh, dass es am See nicht zu einer dieser Liaisons mit Verfallsdatum gekommen war, die sein Liebesleben bestimmten.
   »Wenn Stone hinaus zum Kontinentalhang führe«, sinnierte sie, »würde ich den Kopf in Stavanger hinhalten. Das ist okay. Die Thorvaldson liegt auf See bereit. Stone könnte gleich morgen oder übermorgen an Bord gehen. Stavanger, das dauert länger. Dafür werde ich einen ausführlichen Bericht schreiben müssen. Ich hätte also ein paar Tage Zeit, nach Sveggesundet zu fahren und … dort zu arbeiten.«
   »Zu arbeiten«, grinste Johanson. »Warum nicht?«
   Sie kniff die Lippen zusammen. »Ich muss darüber nachdenken und mit Skaugen reden.« »Tu das«, sagte Johanson. »Und denk schnell.«
   Zurück am Schreibtisch checkte er die E-Mail-Eingänge. Kaum etwas davon brachte ihn weiter. Erst die letzte Nachricht erregte sein Interesse beim Blick auf den Absender: kweaver@deepbluesea.com Johanson öffnete sie. hallo, dr. Johanson, danke für ihre mail, ich bin eben nach london zurückgekehrt und kann ihnen augenblicklich nur sagen, dass ich nicht die geringste ahnung habe, was mit lukas bauer und seinem schiff passiert ist. wir haben jeden kontakt verloren, wenn sie wollen, können wir uns kurzfristig treffen, möglich, dass wir uns gegenseitig weiterhelfen, mitte kommender woche bin ich in meinem londoner büro zu erreichen, falls sie vorher lust auf ein treffen haben: ich bin derzeit zu besuch auf den shetlandinseln und könnte es einrichten, dass wir dort zusammentreffen, lassen sie mich wissen, wie es ihnen am besten passt. karen weaver.
   »Schau, schau«, murmelte Johanson. »So kooperativ kann die Presse sein.«
   Lukas Bauer war verschwunden?
   Vielleicht sollte er Skaugen noch einmal treffen. Mehr als lächerlich machen konnte er sich nicht, wenn er dem Mann seine Theorie der höheren Zusammenhänge darlegte. Aber war es überhaupt eine Theorie? Eigentlich hatte er wenig mehr vorzuweisen als das ungute Gefühl, dass die Welt in Schieflage geriet und das Meer daran schuld war.
   Wenn er den Gedanken ernsthaft fortentwickeln wollte, wurde es Zeit, ein Dossier anzulegen.
   Er überlegte. Er sollte Karen Weaver so schnell wie möglich treffen. Warum nicht auf den Shetland-Inseln? Es würde ein bisschen kompliziert werden mit den Flügen, aber das sollte kein Problem darstellen, wo Statoil schon alles bezahlte.
   Nein, dachte er plötzlich, es ist überhaupt nicht kompliziert.
   Hatte Skaugen nicht vor wenigen Stunden gesagt, er würde sich kreuzigen lassen für Johanson?
   So weit musste er ja gar nicht gehen.
   Es würde reichen, einen Helikopter bereitzustellen.
   Das war gut! Ein Diensthelikopter. Einer von denen, die dem Management Board zur Verfügung standen. Keiner dieser fliegenden Linienbusse, sondern etwas Schnelles und Komfortables. Wenn Skaugen ihn schon zwangsrekrutierte, sollte er auch was für ihn tun.
   Johanson lehnte sich zurück. Er sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte er Vorlesung und später ein Treffen mit Kollegen im Labor, um eine DNA-Analyse zu diskutieren.
   Er legte einen neuen Ordner an und schrieb als Filename: Der fünfte Tag.
   Es war ein spontaner Gedanke, ein bisschen poetisch vielleicht, aber tatsächlich fiel ihm nichts Besseres ein. Am fünften Tag hatte Gott der Bibel zufolge das Meer und seine Bewohner erschaffen. Und das Meer und seine Bewohner machten gerade einigen Ärger.
   Er begann zu schreiben.
   Mit jeder Minute wurde ihm dabei kälter.
 

2. Mai

Vancouver und Vancouver Island, Kanada
 
   Seit achtundvierzig Stunden studierten Ford und Anawak nun diese eine Sequenz.
   Zuerst nur Schwärze. Dann die Ausschläge von einem starken Schallimpuls jenseits der menschlichen Hörgrenze. Dreimal.
   Dann die Wolke.
   Eine phosphoreszierende blaue Wolke, die plötzlich inmitten des Bildschirms entstand wie das expandierende Universum. Kein starkes Licht, eher ein schummriges Blau, eine leichte, diffuse Aufhellung, aber ausreichend, dass man die massigen Silhouetten der Tiere davor sehen konnte. Die Wolke breitete sich rasch aus. Sie musste von enormer Größe sein. Schließlich hatte sie den gesamten Bildschirm eingenommen, und die Wale hingen wie gebannt davor.
   Einige Sekunden vergingen.
   In die Tiefen der Wolke kam Bewegung. Plötzlich schoss etwas daraus hervor wie ein sich schlängelnder Blitz mit dünn zulaufender Spitze. Sie berührte einen der Wale seitlich des Kopfes. Es war Lucy. Keine Sekunde dauerte die Entladung. Weitere Blitze zuckten zu anderen Tieren, ein Schauspiel wie ein Gewitter unter Wasser, das ebenso schnell vorbeiging, wie es begonnen hatte.
   Der Film schien rückwärts zu laufen. Die Wolke zog sich wieder zusammen. Sie kollabierte und verschwand, und der Bildschirm wurde schwarz. Fords Leute hatten die Sequenz verlangsamt und nochmal verlangsamt. Sie hatten alles Erdenkliche unternommen, um die Bildschärfe zu optimieren und mehr Licht herauszuholen, aber auch nach stundenlanger Analyse blieb das Video vom nächtlichen Ausflug der Wale, was es war — ein Rätsel.
   Schließlich erarbeiteten Anawak und Ford einen Bericht für den Krisenstab. Sie hatten die Erlaubnis eingeholt, einen Biologen aus Nanaimo hinzuzuziehen, der auf Biolumineszenz spezialisiert war und nach anfänglicher Ratlosigkeit zu den gleichen Schlüssen gelangte wie sie. Wolke und Lichtblitze waren vermutlich organischen Ursprungs. Der Lumineszenzexperte vertrat die Meinung, bei den Blitzen müsse es sich um eine Art Kettenreaktion im Gefüge der Wolke handeln, doch was sie auslöste und warum sie überhaupt stattfanden, vermochte auch er nicht zu sagen. Ihre schlängelige Form und die Tatsache, dass sie zur Spitze dünner wurden, ließ ihn an einen Kalmar denken, aber dann hätte es ein Tier von gigantischen Ausmaßen sein müssen, und außerdem war zweifelhaft, dass Riesenkalmare leuchteten. Selbst wenn, hätte es nicht die Wolke erklärt und ebenso wenig, wovon diese schlangenartigen Blitze ausgingen.
   Nur eines hatten alle instinktiv begriffen: Die Wolke musste der Grund für das absonderliche Verhalten der Wale sein.
   All das brachten sie in dem Bericht zum Ausdruck, und der Bericht verschwand in einem Schwarzen Loch, so schwarz wie der Bildschirm nach Verlöschen des blauen Lichts. Als Schwarzes Loch titulierten sie mittlerweile den staatlichen Krisenstab, der ganz nach Art Schwarzer Löcher alles in sich hineinsog, ohne irgendetwas preiszugeben. Anfänglich hatte die kanadische Regierung den Schulterschluss mit den Forschern gesucht. Seit vor wenigen Tagen offiziell geworden war, dass die Krisenstäbe Kanadas und der Vereinigten Staaten unter US-amerikanischer Leitung operierten, sah es eher so aus, als bediene man sich ihrer, um in den Besitz gewisser Resultate zu gelangen. Das Aquarium, das Institut in Nanaimo, selbst die Universität in Vancouver waren zu Lieferanten degradiert worden, denen nichts mitgeteilt wurde, außer dass sie forschen und ihre Erkenntnisse, Vermutungen und Ratlosigkeit in Berichten abfassen sollten. Weder John Ford oder Leon Anawak noch Rod Palm, Sue Oliviera oder Ray Fenwick erfuhren etwas über die Auswertung des Inputs. Sie erfuhren nicht einmal, was der Krisenstab davon hielt. Das wichtigste Instrumentarium ihrer Forschung, der Abgleich mit den Erkenntnissen anderer staatlicher und militärischer Forschergruppen, blieb ihnen vorenthalten.
   »Und das alles«, schimpfte Ford, »seit diese Judith Li das Ruder übernommen hat. Leiterin der Krisenstäbe. Keine Ahnung, was die leitet. Mir kommt es eher so vor, als ob sie uns alle in den Arsch tritt.«
   Oliviera rief Anawak an. »Es wäre wirklich hilfreich, wenn wir noch einige dieser Muscheln bekommen könnten.«
   »Ich erreiche aber niemanden bei Inglewood«, sagte Anawak. »Sie reden nicht mit mir, und Li spricht offiziell von einem Fehler beim Andockmanöver. Die Muscheln werden mit keinem Wort erwähnt.«
   »Aber du warst doch unten. Wir brauchen mehr von dem Zeug. Und von dieser ominösen organischen Substanz. Wieso blockieren die uns? Ich dachte, wir sollen helfen!«
   »Warum nimmst du nicht selber Kontakt zum Krisenstab auf?«
   »Läuft alles über Ford. Ich verstehe das nicht, Leon.
   Wozu sind diese Stäbe eigentlich gut?«
   Wozu waren sie gut? Wozu war es gut, wenn die Vereinigten Staaten und Kanada einen gemeinsamen Stab bildeten, den General Commander Li dann vertrat? Der Grund lag auf der Hand: Beide hatten die gleichen Probleme zu lösen, beide waren auf einen übergeordneten Austausch von Erkenntnissen angewiesen, und beide hatten den Schleier der Geheimhaltung über alles geworfen. Vielleicht musste es so sein. Vielleicht war es der Natur von Untersuchungskommissionen und Krisenstäben immanent, im Verborgenen zu arbeiten. Wann hatte eine Untersuchungskommission je vergleichbare Aufgaben zu lösen gehabt? Die ständigen Mitglieder solcher Stäbe mussten sich mit Terrorismus herumzuschlagen, mit Flugzeugkatastrophen und Geiselnahmen, mit politischen und militärischen Krisen, mit Umstürzen. — Geheimsache, was sonst! Ein Krisenstab trat außerdem in Aktion, wenn es Probleme in einem Atomkraftwerk gab oder mit einem Staudamm, wenn die Wälder brannten oder die Gewässer über die Ufer traten, wenn die Erde bebte und Vulkane ausbrachen und Hungersnöte herrschten. Auch Geheimsache? Vielleicht, aber wozu?
   »Die Ursachen von Vulkanausbrüchen und Erdbeben sind bekannt«, sagte Shoemaker, als Leon seinem Ärger an diesem Morgen Luft machte. »Du kannst die Erde fürchten, aber du brauchst ihr nicht zu misstrauen. Sie heckt keine Schweinereien aus und versucht dich nicht zu bescheißen. Das tut nur der Mensch.«
   Sie frühstückten zu dritt auf Leons Schiff. Die Sonne lugte zwischen weißer Hochbewölkung hervor, und es war angenehm mild. Von den Bergen blies ein leichter Wind küstenwärts. Es hätte ein schöner Tag sein können, nur dass keiner mehr einen Sinn für schöne Tage hatte. Lediglich Delaware entwickelte ungeachtet aller Misslichkeiten einen gesunden Appetit und schaufelte Unmengen Rührei in sich hinein.
   »Habt ihr von dem Gastanker gehört?«
   »Der vor Japan in die Luft geflogen ist?« Shoemaker schlürfte seinen Kaffee. »Schnee von gestern. Kam in den Nachrichten.«
   Delaware schüttelte den Kopf. »Den meine ich nicht. Gestern ist wieder einer abgesoffen. Abgefackelt im Hafen von Bangkok.«
   »Kennt man den Grund?«
   »Nein. Komisch, was?«
   »Vielleicht war’s einfach technisches Versagen«, meinte Anawak. »Man muss nicht überall Gespenster sehen.«
   »Du hörst dich schon an wie Judith Li.« Shoemaker stellte mit einem Knall den Becher ab. »Hattest übrigens Recht. Über die Barrier Queen ist tatsächlich kaum berichtet worden. Im Wesentlichen haben sie über den gesunkenen Schlepper geschrieben.«