1995, nach dem Ende des Kalten Krieges, hatte die amerikanische Armee nach und nach die Geosat-Kartierungen freigegeben. Das Geosat-System war abgelöst worden durch eine Reihe modernerer Satelliten. Von allen lagen Karen Weaver Daten vor, lückenlose Dokumentationen seit Mitte der Neunziger. Sie verbrachte Stunden damit, die Messungen in Beziehung zueinander zu setzen. Die Daten differierten in Details — es konnte geschehen, dass der Radar des einen Satelliten einen besonders dichten Sprühnebel irrtümlich für die Oberfläche einer Welle gehalten hatte, was der andere natürlich nicht bestätigte —, aber unterm Strich kam überall dasselbe heraus.
   Je tiefer sie Einblick nahm, desto mehr wich ihre anfängliche Begeisterung tiefer Beunruhigung.
   Schließlich wusste sie, dass Bauer Recht gehabt hatte.
   Seine Drifter hatten eine kurze Weile gesendet, ohne erkennen zu lassen, dass sie einer definierten Strömung folgten. Dann waren sie einer nach dem anderen ausgefallen. Von der Bauer-Expedition lagen damit so gut wie keine Daten vor. Sie fragte sich, ob dem unglücklichen Professor klar gewesen war, in welchem Ausmaß er Recht behalten sollte. Weaver spürte sein Vermächtnis auf ihr lasten. Er hatte ihr sein gesamtes Wissen anvertraut, sodass sie nun zwischen den Zeilen zu lesen vermochte, was für andere keinen Sinn ergab. Es reichte, um die Katastrophe heraufdämmern zu sehen.
   Noch einmal rechnete sie alles durch. Sie stellte sicher, dass ihr kein Fehler unterlaufen war, wiederholte die Prozedur ein weiteres Mal und dann ein drittes Mal.
   Es war noch schlimmer, als sie befürchtet hatte.
 
Online
 
   Johanson, Oliviera, Rubin und Roche duschten in ihren PVC-Anzügen minutenlang unter l,5%iger Peressigsäure, deren Dämpfe jeden möglichen Erreger rückstandslos zersetzten, bevor die ätzende Flüssigkeit mit Wasser abgewaschen und mit Natronlauge neutralisiert wurde und sie das Schleusensystem endlich verlassen konnten.
   Shankar und sein Team arbeiteten unter Hochdruck an der Entschlüsselung nicht identifizierbarer Geräusche. Sie hatten Ford hinzugezogen und spielten Scratch und andere Spektrogramme rauf und runter.
   Anawak und Fenwick gingen spazieren und diskutierten die Möglichkeiten der Fremdbeeinflussung neuronaler Systeme.
   Frost war in Bohrmanns Suite aufgetaucht, massig und raumfüllend, die Baseballkappe über den Brillenrand gezogen, und hatte dröhnend verkündet:
   »Doc, wir müssen reden!«
   Danach hatte er Bohrmann erzählt, wie er über die Würmer dachte. Es war bemerkenswert. Die beiden verstanden sich auf Anhieb dermaßen gut, dass sie in Windeseile mehrere Humpen Bier leerten und den Fundus des Potenziellen mit ebenso beunruhigenden wie sinnfälligen Szenarien füllten. Soeben konferierten sie über Satellit mit Kiel. Nachdem die Internetverbindung wieder funktionierte, lieferte Kiel eine Simulation nach der anderen. Suess hatte versucht, die Vorgänge am norwegischen Kontinentalhang so detailliert wie möglich zu rekonstruieren, mit dem Resultat, dass es kaum zu einer derartigen Katastrophe hätte kommen können. Die Würmer und Bakterien hatten gewiss eine fatale Wirkung entfaltet, aber etwas im Puzzle fehlte, ein winziges Steinchen, ein zusätzlicher Auslöser.
   »Und solange wir den nicht kennen«, stellte Frost fest, »wird es uns die Ärsche wegschwemmen, Gott ist mein Zeuge! Und es wird nicht geschehen, weil vor Amerika oder Japan der Hang abrutscht.«
   Li saß vor ihrem Laptop. Sie war allein in ihrer riesigen Suite und doch überall mit dabei. Eine Weile hatte sie der Arbeit im Hochsicherheitslabor zugesehen und gehört, was dort gesprochen wurde. Sämtliche Räumlichkeiten des Chateaus wurden abgehört und videoüberwacht. Gleiches galt für Nanaimo, die Universität Vancouver und das Aquarium. Einige der nahe gelegenen Privatwohnungen waren verwanzt worden, die von Ford, Oliviera und Fenwick, und außerdem das Schiff, auf dem Anawak wohnte, sowie sein kleines Appartement in Vancouver. In allem hatten sie Augen und Ohren, nur was an der frischen Luft gesprochen wurde, in Kneipen und Restaurants, hatte keine Chance, aufgefangen zu werden. Das ärgerte Li, aber dafür hätten sie den Wissenschaftlern schon Sender implantieren müssen.
   Umso besser funktionierte die Überwachung des stabsinternen Datennetzes. Bohrmann und Frost waren online, ebenso Karen Weaver, die Journalistin, die in diesen Minuten Satellitendaten der Golfstromregion miteinander verglich. Das war hochinteressant, ebenso wie die Simulationen aus Kiel. Das Netz war überhaupt eine gute Idee gewesen. Natürlich konnte Li nicht lesen oder hören, was seine Benutzer dachten. Aber woran sie arbeiteten und welche Dateien sie aufriefen, wurde gespeichert und ließ sich jederzeit mitverfolgen. Falls Vanderbilt mit seiner Terroristenhypothese Recht behielt, was Li bezweifelte, war es sogar legitim, jeden Einzelnen der Truppe abzuhören. Augenscheinlich waren alle sauber. Niemand unterhielt Kontakte zu extremistischen Vereinigungen oder Ländern der arabischen Welt, aber ein Restrisiko blieb immer. Doch selbst wenn die Vermutungen des CIA-Direktors nicht zutrafen, war es hilfreich, den Wissenschaftlern über die Schulter zu sehen, ohne dass diese es merkten. Es war immer gut, frühzeitig in den Besitz von Wissen zu gelangen.
   Sie schaltete zurück nach Nanaimo und lauschte Johanson und Oliviera, die eben zu den Aufzügen gingen. Beide unterhielten sich über die Arbeitsbedingungen im Hochsicherheitstrakt. Oliviera bemerkte, dass man die Säuredusche ohne den schützenden Anzug als sauber gebleichtes Skelett verlassen würde, und Johanson machte einen Witz darüber. Sie lachten und fuhren nach oben.
   Warum sprach Johanson nicht mit irgendjemandem über seine Theorie? Fast hätte er es getan. Auf seinem Zimmer im Gespräch mit Weaver, gleich nach dem großen Meeting. Aber dann hatte er sich doch wieder nur in Andeutungen ergangen.
   Li führte eine Reihe von Telefonaten, sprach kurz mit Peak in New York und sah auf die Uhr. Zeit für Vanderbilts Report. Sie verließ ihre Suite und ging den Flur entlang zu einem gesicherten Raum am Südende des Chateaus. Er bildete ein Pendant des War Room im Weißen Haus und war ebenso wie der Konferenzraum vollkommen abhörsicher. Drinnen erwarteten sie Vanderbilt und zwei seiner Leute. Der CIA-Direktor war eben mit dem Helikopter aus Nanaimo zurückgekehrt und sah noch derangierter aus als sonst.
   »Können wir Washington zuschalten?«, schlug sie vor, ohne zu grüßen.
   »Könnten wir«, sagte Vanderbilt. »Aber es würde nichts bringen …«
   »Machen Sie es nicht so spannend, Jack.«
   »… sofern Sie beabsichtigen, den Präsidenten auf Leitung zu legen. Der Präsident ist nicht mehr in Washington.«
 
Nanaimo, Vancouver Island
 
   Oliviera lief Fenwick und Anawak in der Vorhalle über den Weg, als sie mit Johanson den Fahrstuhl verließ.
   »Wo kommt ihr denn her?«, fragte sie erstaunt.
   »Wir waren spazieren.« Anawak zwinkerte ihr zu. »Hattet ihr noch Spaß im Labor?«
   »Idiot.« Oliviera verzog das Gesicht. »Sieht so aus, als wären die Probleme Europas zu uns rübergeschwappt. Die Gallerte in den Krabben ist tatsächlich unser alter Bekannter. Außerdem hat Roche einen Erreger isoliert, den die Krabben in sich trugen.«
   »Pfiesteria?« fragte Anawak.
   »So ähnlich«, sagte Johanson. »Sozusagen die Mutation der Mutation. Die neue Art ist unendlich viel toxischer als die europäische.«
   »Wir mussten ein paar Mäuse opfern«, sagte Oliviera. »Wir haben sie zusammen mit einer toten Krabbe eingesperrt, und alle waren binnen weniger Minuten tot.«
   Fenwick trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
   »Ist dieses Gift eigentlich ansteckend?«
   »Nein, du darfst mich knutschen. Es wird nicht von Mensch zu Mensch übertragen. Wir haben es nicht mit Viren zu tun, sondern mit einer bakteriologischen Invasion. Aber es gelangt außer Kontrolle, sobald die Pfiesterien ins Wasser gelangen, und sie vermehren sich exponentiell, wenn die Krabben schon lange hinüber sind. Bis auf eine waren alle krepiert, und die ist inzwischen auch von uns gegangen.«
   »Kamikaze-Krabben«, sinnierte Anawak.
   »Ihre Aufgabe ist es, Bakterien an Land zu bringen, so wie es die Aufgabe der Würmer ist, Bakterien ins Eis zu tragen«, sagte Johanson. »Danach verrecken sie. Quallen, Muscheln, selbst diese Gallerte, nichts davon überdauert sonderlich lange, aber alles erfüllt seinen Zweck.«
   »Der da wäre, uns zu schädigen.«
   »Richtig. Auch die Wale haben eher was von Selbstmordattentätern«, sagte Fenwick. »Angriffe sind gewöhnlich Teil einer Überlebensstrategie, ebenso wie Flucht. Aber nirgendwo wird eine solche Strategie ersichtlich.«
   Johanson lächelte. Seine schwarzen Augen blitzten.
   »Da wäre ich mir nicht so sicher. Einer verfolgt hier ganz klar eine Überlebensstrategie.«
   Fenwick musterte ihn. »Sie klingen fast schon wie Vanderbilt.«
   »Nein. Das scheint nur so. In einigem hat Vanderbilt Recht, ansonsten bin ich ganz anderer Meinung.« Johanson machte eine Pause. »Aber ich gehe jede Wette ein, Vanderbilt wird schon bald genauso klingen wie ich.«
 
Li
 
   »Was soll das heißen?«, wollte Li wissen, während sie sich setzte. »Wo ist der Präsident, wenn nicht in Washington?«
   »Er ist auf dem Weg zur Offutt Air Force Base in Nebraska«, sagte Vanderbilt. »Es sind Krabbenschwärme in der Chesapeake Bay und im Potomac aufgetaucht. Offenbar treiben sie den Meerarm hoch. Bei Alexandria und unterhalb von Arlington sollen welche an Land gelangt sein, aber wir haben noch keine Bestätigung erhalten.«
   »Und wer hat Offutt angeordnet?«
   Vanderbilt zuckte die Achseln. »Der Stabschef im Weißen Haus hegt Befürchtungen, die Hauptstadt könne das gleiche Schicksal wie New York erleiden«, sagte er. »Sie kennen ja den Präsidenten. Er hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Am liebsten würde er losziehen und den hässlichen Biestern persönlich den Krieg erklären, aber am Ende hat er eingewilligt ins gesunde Landleben.«
   Li überlegte. Offutt war der Sitz des Strategie Command, das über die Atomwaffen der Vereinigten Staaten gebot. Der Stützpunkt war ideal, um den Präsidenten zu schützen. Er lag mitten im Landesinnern, weit weg von allen Gefährdungen, die aus dem Meer kamen. Von dort konnte der Präsident über eine abhörsichere Videoverbindung mit seinem Nationalen Sicherheitsrat telefonieren und seine volle Regierungsgewalt ausüben.
   »Das ist schlampig gelaufen«, sagte sie mit Nachdruck. »So was will ich demnächst sofort erfahren, Jack. Wenn irgendwo irgendwas seinen Kopf aus dem Meer steckt, will ich es wissen. Nein, ich will es wissen, bevor es seinen Kopf aus dem Meer steckt.«
   »Wir können das hinkriegen«, sagte Vanderbilt. »Wir könnten diplomatische Beziehungen zu den ortsansässigen Delphinen aufnehmen und …«
   »Außerdem will ich in Kenntnis gesetzt werden, wenn jemand auf die Idee kommt, den Präsidenten nach Offutt zu schicken.«
   Vanderbilt lächelte jovial. »Wenn ich einen Vorschlag machen darf …«
   »Und ich will Klarheit darüber, was in Washington passiert«, fiel ihm Li ins Wort. »Und zwar innerhalb der nächsten zwei Stunden. Falls sich die Meldung bestätigt, evakuieren wir die befallenen Gebiete und verwandeln Washington in eine Sperrzone wie New York.«
   »Das wäre mein Vorschlag gewesen«, sagte Vanderbilt milde.
   »Dann sind wir uns einig. Was haben Sie sonst für mich?«
   »Einen Haufen Scheiße.«
   »Das bin ich gewöhnt.«
   »Eben. Ich wollte Sie nicht entwöhnen, also habe ich mich bemüht, möglichst viele schlechte Nachrichten zusammenzutragen. Beginnen wir damit, dass die NOAA am Kontinentalhang vor der Georges Bank versucht hat, zwei Roboter hinunterzulassen, um Würmer zu weiteren Forschungszwecken heraufzuholen. Das … ähm … ist gelungen.«
   Li hob die Brauen und lehnte sich abwartend zurück.
   »Also, es ist gelungen, die Tiere einzusammeln«, sagte Vanderbilt, indem er jedes Wort genüsslich dehnte. »Aber nicht, sie an Bord zu bringen. Kaum waren sie im Körbchen, kam etwas und kappte die Verbindung. Wir haben beide Roboter verloren. Ähnliche Nachrichten erreichen uns aus Japan. Dort ist ein bemanntes Tauchboot verloren gegangen, irgendwo im Gebiet vor Honshu und Hokkaido. Auch sie sollten Würmer mitbringen. Die Japaner sagen, es sind mehr geworden. Insgesamt hat die Sache eine neue Qualität gewonnen. Bis jetzt sind nur Taucher angegriffen worden, aber noch keine Unterseeboote, Sonden oder Roboter.«
   »Konnten wir irgendwas Verdächtiges erfassen?«
   »Nicht direkt. Feindliche Sonden oder Tauchboote waren nicht aufzuspüren, aber das NOAA-Schiff hat in siebenhundert Metern Tiefe eine sich bewegende Fläche von mehreren Kilometern Ausdehnung erfasst. Der Forschungsleiter meint, zu neunzig Prozent habe es sich um einen Planktonschwarm gehandelt, aber er würde es nicht beschwören.«
   Li nickte. Sie dachte an Johanson. Fast bedauerte sie, dass er nicht hier war, um Vanderbilts Ausführungen zuzuhören.
   »Zweiter Punkt, Tiefseekabel. Weitere Verbindungen sind abgerissen, CANTAT-3 und einige TAT-Kabel. Alles wichtige Verbindungen über den Atlantik. Im Pazifik haben wir offenbar PACRIM WEST verloren, eine unserer Hauptverbindungen nach Australien. — Es gab außerdem in den letzten beiden Tagen mehr Schiffsunglücke denn je, und alle in dicht befahrenen Gebieten. Von den rund 200 maritimen Nadelöhren, die wir kennen, sind rund die Hälfte betroffen, insbesondere die Straße von Gibraltar, die Malakkastraße und der englische Kanal, aber auch der Panama-Kanal hat was abgekriegt und … nun ja, es ist geschehen, aber wir sollten das vielleicht nicht überbewerten: Es gab eine Karambolage in der Straße von Hormuz und eine weitere bei Khalij as-Suways, das ist … ähm …«
   Li beobachtete Vanderbilt. Er wirkte weniger zynisch und überheblich als sonst, und soeben wurde ihr bewusst, warum.
   »Ich weiß, wo das ist«, sagte sie. »Khalij as-Suways ist der Ausläufer des Roten Meers, der in den Suezkanal mündet. Das heißt, die arabische Welt ist an zwei wichtigen Verkehrsknotenpunkten getroffen worden.«
   »Bingo, Baby. Es gab Probleme mit der Navigation. Was Neues übrigens. Die Rekonstruktion ist schwierig, aber in der Straße von Hormuz sieht es so aus, als seien sieben Schiffe ineinander gerasselt, weil mindestens zwei von ihnen nicht mehr wussten, wo sie hinfahren. Logge und Echolot lieferten keine Daten mehr.«
   An Bord eines jeden Schiffes gab es vier lebenswichtige Systeme: Echolot, Logge, Radar und Windmesser. Während Radar und Windmesser oberhalb der Wasserlinie arbeiteten, saß das Austrittsfenster des Echolots am Kiel, ebenso wie die Logge, ein Staurohr mit integriertem Fühler, der das hereinströmende Fahrtwasser maß. Die Logge war so etwas wie das Tachometer eines Schiffs. Sie informierte die Radarsysteme an Bord über Kurs und Geschwindigkeit des Schiffes, und der Radar errechnete auf dieser Basis die Kollisionsgefahr mit Schiffen in der Nähe und bot Ausweichkurse an. Im Allgemeinen folgte man blind den Instrumenten. Blind, weil sich 70 Prozent der Seefahrt bei Nacht, Nebel oder hoher See abspielten, wo ein Blick aus dem Fenster nichts brachte.
   »In einem der Fälle haben offenbar marine Organismen die Logge verstopft«, sagte Vanderbilt. »Sie zeigte keine Fahrt mehr an, was den Radar veranlasste, keine Kollisionsgefahr zu melden, obwohl drum herum alles dicht befahren war. Im anderen Fall spielte das Echolot verrückt und meldete abnehmende Wassertiefe. Sie mussten davon ausgehen aufzulaufen, obwohl sie tatsächlich in tiefem Gewässer fuhren, und vollführten eine vollkommen idiotische Kurskorrektur. Beide knallten in andere Schiffe, und weil es so schön dunkel war, fuhren gleich noch ein paar weitere rein ins Vergnügen. Anderswo auf der Welt kommt es zu ähnlichen Scherzen. Jemand will beobachtet haben, dass Wale dicht unter den Schiffen geschwommen sind, über einen langen Zeitraum.«
   »Natürlich«, sinnierte Li. »Wenn über längere Zeit etwas Großes dicht unter dem Echolot-Austritt bleibt, könnte man es leicht mit festem Untergrund verwechseln.«
   »Außerdem häufen sich Fälle von Verkrustungen im Ruder und in Seitenstrahlern. Seekästen werden verstopft, immer gezielter. Vor Indien ist aktuell ein Erzfrachter abgesoffen, nachdem wochenlanger Bewuchs offenbar zu außergewöhnlich rascher Korrosion geführt hat. Bei ruhiger See kollabierte der vordere Laderaum. Sank innerhalb von Minuten. Und so weiter und so fort. Es reißt nicht ab. Alles wird ständig schlimmer, und die Seuche kommt obendrauf.«
   Li legte die Fingerspitzen aufeinander und brütete vor sich hin.
   Einfach lächerlich. Aber bei genauem Hinsehen waren Schiffe nun mal lächerlich. Peak hatte es auf den Punkt gebracht. Archaische Kästen, die mit Hightech navigierten und Kühlwasser durch ein Loch anschlürften. Anderswo drangen Krabben in hochmoderne Großstädte ein, ließen sich zu Matsch fahren und verteilten Tonnen hochgiftiger Algen in der Kanalisation. Als Folge mussten sie die Stadt sperren und jetzt wahrscheinlich eine weitere, und der Präsident der Vereinigten Staaten floh ins Landesinnere.
   »Wir brauchen diese verdammten Würmer«, sagte Li. »Und wir müssen was gegen diese Algen unternehmen.«
   »Wie Recht Sie haben«, erwiderte Vanderbilt beflissen.
   Seine Männer saßen mit reglosen Gesichtern zu seinen Seiten und starrten Li an. Eigentlich wäre es an Vanderbilt gewesen, ihr Vorschläge zu unterbreiten, aber Vanderbilt mochte Li ebenso wenig wie sie ihn.
   Er würde sie ins Messer laufen lassen. Aber sie brauchte Vanderbilt nicht, um Entscheidungen zu treffen.
   »Erstens«, sagte sie. »Wir evakuieren Washington, sollte sich die Meldung bestätigen. Zweitens will ich, dass in den betroffenen Gebieten Trinkwasser in Tankwagen herbeigeschafft und streng rationiert wird. Wir legen die Kanalisationen trocken und ätzen die Biester mit Chemikalien raus.«
   Vanderbilt lachte laut auf. Seine Männer grinsten.
   »New York trockenlegen? Die Kanalisation?«
   Sie sah ihn an.
   »Ja.«
   »Gute Idee. Die Chemikalien töten dann auch gleich alle New Yorker, und wir können die Stadt vermieten. Vielleicht an die Chinesen? Ich habe gehört, es gibt unheimlich viele Chinesen.«
   »Wie das zu machen ist, werden Sie rausfinden, Jack! Ich werde den Präsidenten um eine Plenarsitzung des Sicherheitsrats ersuchen und die Verhängung des Ausnahmezustands anordnen.«
   »Ah! Verstehe.«
   »Sämtliche Küsten werden gesperrt. Aufklärungsdrohnen fliegen Patrouille. Wir entsenden Truppen in Schutzanzügen mit Flammenwerfern. Was immer ab jetzt versucht, an Land zu krabbeln, wird zu Barbecue verarbeitet.« Sie stand auf. »Und wenn wir ohnehin schon Ärger mit Walen haben, sollten wir aufhören, wie verschreckte Kinder zu reagieren. Ich will, dass wir die volle Beweglichkeit unserer Schiffe zurückerlangen. Aller Schiffe. Wollen doch mal sehen, was ein bisschen psychologische Kriegsführung ausrichtet.«
   »Was haben Sie vor, Jude? Wollen Sie den Tieren gut zureden?«
   »Nein.« Li lächelte dünn. »Ich will sie jagen, Jack. Ihnen eine Lektion erteilen oder demjenigen, der für ihr Verhalten verantwortlich ist. Schluss mit Naturschutz. Ab jetzt werden sie abgeschossen.«
   »Sie wollen sich mit der IWC anlegen?«
   »Nein. Wir beschießen sie mit Sonar. So lange, bis sie aufhören, uns anzugreifen.«
 
New York, USA
 
   Direkt vor ihm brach ein Mann zusammen und starb.
   Peak schwitzte unter seinem schweren Schutzanzug. Jeder Teil seines Körpers war damit bedeckt. Er atmete durch eine Sauerstoffmaske und sah durch Panzerglasaugen auf eine Stadt, die sich über Nacht in eine Hölle verwandelt hatte.
   Langsam steuerte der Sergeant neben ihm den Jeep über die First Avenue. East Village wirkte streckenweise wie ausgestorben. Dann wieder begegneten sie Gruppen von Menschen, die vom Militär zusammengetrieben wurden. Das Hauptproblem war, dass sie niemanden rauslassen konnten, solange sie nicht definitiv wussten, ob die Seuche ansteckend war. Im Augenblick sah es nicht so aus. Eher bot sich das Bild eines groß angelegten Giftgasangriffs. Aber Peak war skeptisch. Ihm fiel auf, dass viele der Opfer münzgroße Fleischwunden aufwiesen. Wenn es Killeralgen waren, die New York heimsuchten, sonderten sie nicht nur Giftwolken ab, sondern hefteten sich zudem an die Körper der Betroffenen. Theoretisch waren sie damit in allen Körperflüssigkeiten anzutreffen. Peak war kein Biologe, aber er fragte sich, was passierte, wenn ein Erkrankter einen Gesunden küsste und seinen Speichel weitergab. Die Algen konnten in Wasser überleben, tolerierten ein breites Temperaturspektrum und vermehrten sich, nach allem, was er wusste, mit rasender Geschwindigkeit.
   Fieberhaft arbeiteten sie daran, für die Stadt und Long Island Quarantänebedingungen zu schaffen, die Kranken wie Gesunden gleichermaßen gerecht wurden. Anfangs waren sie optimistisch gewesen. New York schien vorbereitet. Nach dem ersten Anschlag auf das World Trade Center 1993 hatte der damalige Bürgermeister eine Sonderbehörde für alle Arten von Notfällen ins Leben gerufen, das Office of Emergency Management, kurz OEM. Ende der Neunziger hatte es die größte Katastrophenübung in der Geschichte der Stadt abgehalten und einen imaginären Angriff mit chemischen Waffen simuliert, in dessen Folge über 600 Polizisten, Feuerwehrleute und FBI-Agenten in Schutzanzügen die New Yorker »gerettet« hatten. Die Übung war reibungslos verlaufen, und der Senat hatte großzügig neue Mittel bewilligt. Plötzlich sah sich das OEM in der Lage, 15 Millionen für ein kugel— und bombensicheres Bunkerbüro mit eigenem Luftzirkulationssystem ausgeben zu können, in dem über vierzig hoch qualifizierte Mitarbeiter auf den echten Doomsday warteten — und sie bauten es im 23. Stockwerk des World Trade Center, nicht lange vor dem 11. September 2001. Danach hatte die OEM vollkommen neu strukturiert werden müssen. Immer noch befand sie sich im Aufbau, kaum fähig, der Probleme Herr zu werden. Die Menschen erkrankten und starben schneller, als überhaupt jemand helfen konnte.
   Der Jeep kurvte um den Toten herum und näherte sich der Kreuzung 14. Straße. Mehrere Autos rasten wild hupend darüber hinweg. Die Leute versuchten, aus der Stadt zu gelangen. Weit würden sie nicht kommen. Alles war abgesperrt. Bis jetzt hatte die Armee nur Brooklyn und wenige Viertel Manhattans halbwegs unter Kontrolle gebracht, aber wenigstens verließ niemand mehr den Großraum New York ohne besondere Genehmigung.
   Weiter fuhren sie entlang militärischer Absperrungen. Hunderte Soldaten bewegten sich wie außerirdische Invasoren durch die Stadt, gesichtslos hinter ihren Atemmasken, tapsig und unförmig in ihren knallgelben ABC-Anzügen. Leute der Sonderbehörde waren zu sehen. Überall wurden Körper auf Bahren und in Militärfahrzeuge und Krankenwagen verladen. Andere lagen einfach auf den Straßen herum. In der Innenstadt war größtenteils kein Durchkommen mehr, weil ineinander gefahrene und verlassene Autos die Fahrbahnen blockierten. Das beständige Dröhnen der Helikopter hallte in den Straßenschluchten wider.
   Peaks Fahrer rumpelte ein Stück über den Bürgersteig und hielt nach wenigen hundert Metern vor dem Bellevue Hospital Center am Ufer des East River, wo eine der provisorischen Einsatzzentralen untergebracht war. Peak eilte ins Innere. Das Foyer war voller Menschen. Er fing angstvolle Blicke auf und ging schneller. Manche der Leute hielten ihm Fotos ihrer Angehörigen entgegen. Rufe drangen auf ihn ein. Er passierte, flankiert von zwei Soldaten, die innere Sperre und marschierte weiter zum Rechenzentrum des Hospitals. Dort stellte man ihm eine abhörsichere Satellitenverbindung zum Chateau Whistler her. Nach einigen Minuten des Wartens hatte er Li in der Leitung. Er ließ sie nicht lange zu Wort kommen.
   »Wir brauchen ein Gegengift. Und zwar schleunigst.«
   »Nanaimo arbeitet auf Hochtouren«, erwiderte Li.
   »Das ist noch zu langsam. Wir können New York nicht halten. Ich habe mir die Pläne der Kanalisation angesehen. Vergessen Sie den Gedanken, das hier leer zu pumpen. Eher legen Sie den Potomac trocken.«
   »Kommen Sie mit der medizinischen Versorgung nach?«
   »Wie denn? Wir können niemanden medizinisch versorgen, wir wissen ja gar nicht, was helfen könnte. Man kann den Leuten allenfalls Mittel zur Stärkung des Immunsystems verabreichen und hoffen, dass der Erreger abstirbt.«
   »Hören Sie, Sal«, sagte Li. »Das bekommen wir in den Griff. Wir können mit beinahe hundertprozentiger Gewissheit sagen, dass die Toxide nicht übertragen werden. Ansteckungsgefahr geht so gut wie gar nicht von den Betroffenen aus. Wir müssen diese Viecher aus der Kanalisation ätzen, brennen, herausbeten, was auch immer.«
   »Dann fangen Sie mal an«, sagte Peak. »Es wird nichts nützen. Die Giftwolke über der Stadt ist das geringste Problem. Im Freien verteilt der Wind die Toxide und dünnt sie aus. Aber inzwischen ist in jeder Wohnung Wasser geflossen, es wurde geduscht, abgewaschen, getrunken, der Goldfisch versorgt, was weiß ich. Autos wurden gewaschen, die Feuerwehr ist zum Löschen rausgefahren. Diese Algen haben sich in der ganzen Stadt verteilt, sie verpesten die Luft in den Häusern und verteilen sich über die Klimaanlagen und Entlüftungsschächte. Selbst wenn nie wieder ein Krebs an Land geht, weiß ich nicht, wie wir die Vermehrung der Algen stoppen sollen.« Er rang nach Luft. »Mein Gott, Jude, es gibt 6000 Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten, und weniger als ein Viertel davon ist auf einen solchen Ernstfall vorbereitet! Kaum eine Klinik sieht sich in der Lage, dermaßen viele Patienten zu isolieren und schnell genug von geeigneten Ärzten behandeln zu lassen. Das Bellevue ist hoffnungslos überlastet, und es ist ein verdammt großes Krankenhaus.«
   Li schwieg eine Sekunde.
   »Gut. Sie wissen, was zu tun ist. Verwandeln Sie Greater New York in einen Superknast. Nichts und niemand kommt raus.«
   »Hier können wir aber nichts für die Leute tun. Sie werden alle sterben.«
   »Ja, das ist schrecklich. Tun Sie was für die Leute anderswo und sorgen Sie dafür, dass New York zu einer Insel wird.«
   »Was soll ich denn machen?«, rief Peak verzweifelt. »Der East River fließt landeinwärts.«
   »Für den East River lassen wir uns was einfallen. Einstweilen …«
   Etwas passierte.
   Peak spürte die Explosion mehr, als dass er sie hörte. Der Boden unter seinen Füßen bebte. Ein dumpfes Grollen breitete sich aus. Es war, als durchliefen die Schallwellen ganz Manhattan wie ein Erdbeben.
   »Irgendwas ist explodiert«, sagte Peak.
   »Schauen Sie, was es ist. In zehn Minuten habe ich Ihren Bericht.«
   Peak fluchte und lief zum Fenster, aber es war nichts zu sehen. Er gab seinen Männern ein Zeichen und rannte aus dem Rechenzentrum zurück in den Gang und zur hinteren Seite des Hospitals. Von hier blickte man über den Franklin Drive auf den East River, auf Brooklyn und Queens.
   Er schaute nach links den Fluss hinauf.
   Menschen liefen auf das Hospital zu. In etwa einem Kilometer Entfernung sah er einen riesigen Rauchpilz in den Himmel steigen. Ungefähr dort lag das Hauptquartier der Vereinten Nationen. Im ersten Moment fürchtete Peak, es sei in die Luft geflogen. Dann wurde ihm bewusst, dass die Wolke weiter stadteinwärts entsprang.
   Sie erhob sich aus der Zufahrt zum Queens Midtown Tunnel, der den East River unterquerte und Manhattan mit der anderen Seite verband.
   Der Tunnel brannte!
   Peak dachte an die demolierten Autos, die überall herumstanden, ineinander verkeilt, in Schaufenster gerast oder vor Laternen gesetzt. Autos, in denen infizierte Menschen das Bewusstsein verloren hatten. Er ahnte, was in dem Tunnel geschehen war. Es war das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnten.
   Sie rannten zurück ins Gebäude, durch das Foyer und zu ihrem Jeep auf der First Avenue. Es war mühsam, in der Schutzkleidung zu laufen, weil man ständig aufpassen musste, nirgendwo hängen zu bleiben und sich nichts aufzureißen. Peak schaffte es trotzdem, sich in den offenen Jeep zu schwingen, und sie rasten los.
   Drei Stockwerke über ihm starb im selben Moment Bo Henson, der Fahrer des Kurierdienstes, der sich angeschickt hatte, FedEx Konkurrenz zu machen.
   Das Ehepaar Hooper war zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Stunden tot.
 
Vancouver Island, Kanada
 
   »Was zum Teufel tut ihr da oben auf dem Whistler?«
   Es sollte ein Ausflug in die Normalität werden, aber natürlich wurde es alles andere. Nach Tagen der Abwesenheit saß Anawak in Davies Whaling Station und sah zu, wie Shoemaker und Delaware aus Anlass seines Besuchs zwei Dosen Heineken leerten. Davie hatte die Station vorübergehend geschlossen. Seine Landexpeditionen waren nicht gefragt. Kaum jemand verspürte noch Lust, überhaupt Tiere zu beobachten. Wenn schon die Wale durchdrehten, was mochte dann den Schwarzbären einfallen? Wenn Europa von Tsunamis überrollt wurde, was drohte der Pazifikküste? Die meisten Touristen hatten Vancouver Island verlassen. Shoemaker verrichtete einsam seinen Dienst als Geschäftsführer und trieb Außenstände ein, um die Station über Wasser zu halten, solange es irgendwie ging.
   »Ich wüsste wirklich gerne, was ihr da macht«, bohrte er nach.
   Anawak schüttelte den Kopf. »Hör auf zu fragen, Tom. Ich hab versprochen, den Mund zu halten, also reden wir bitte von was anderem.«
   »Wozu das Theater? Warum kannst du nicht sagen, woran ihr arbeitet?«
   »Tom …«
   »Ich wüsste nämlich gerne, wann ich meinen Arsch von hier entfernen soll«, fuhr Shoemaker fort. »Von wegen Tsunami und so.«
   »Kein Mensch redet von Tsunamis.«
   »Nicht? Bullshit! Es hat sich auch ohne euch herumgesprochen, dass da Zusammenhänge bestehen. Die Leute sind ja nicht bescheuert, Leon. Aus New York hört man dubiose Horrorgeschichten von Massenerkrankungen, in Europa sterben die Leute, und Schiffe gehen reihenweise hops, das bleibt doch alles nicht verborgen.« Er beugte sich vor und zwinkerte Anawak zu. »Ich meine, wir haben zusammen die Leute von der Lady Wexham geholt, Baby. Ich bin doch mit im Boot. Eingeweiht, verstehst du? Innerer Kreis.«
   Delaware nahm einen kräftigen Schluck aus der Dose und wischte sich den Mund. »Geh Leon nicht auf die Nerven. Wenn sie ihn vergattert haben, haben sie ihn vergattert.«
   Sie trug eine neue Brille mit runden, orangefarbenen Gläsern. Irgendetwas, stellte Anawak fest, hatte sie mit ihren Haaren gemacht. Sie waren weniger kraus und fielen ihr stattdessen in seidigen Wellen über die Schultern. Eigentlich, selbst mit den übergroßen Zähnen, sah sie hübsch aus. Ziemlich hübsch sogar.
   Shoemaker hob die Hände und ließ sie in einer hilflosen Geste in den Schoß sinken. »Ihr solltet mich mitnehmen. Wirklich, Leon. Ich könnte hilfreich sein. Hier sitze ich bloß rum und blase den Staub von den Reiseführern.«
   Anawak nickte. Er fühlte sich unwohl, weil er den Geheimniskrämer abgeben musste. Die Rolle lag ihm nicht. Er hatte sie jahrelang in eigener Sache gespielt, und allmählich begann ihm jede Form von Geheimnistuerei auf die Nerven zu gehen. Einen Moment lang fragte er sich, ob er nicht einfach von der Arbeit im Chateau berichten sollte. Aber er hatte Lis Blick nicht vergessen. Sie gab sich verständnisvoll und freundlich, doch er war sicher, dass es einen Höllenärger geben würde, falls die Sache rauskam.
   Wahrscheinlich hatte sie sogar Recht.
   Er ließ den Blick durch den Verkaufsraum wandern. Plötzlich spürte er, wie fremd ihm die Station binnen weniger Tage geworden war. Das hier war nicht sein Leben. Vieles hatte sich verändert seit seiner Aussöhnung mit Greywolf. Anawak ahnte, dass etwas Einschneidendes bevorstand, etwas, das sein Leben komplett umkrempeln würde. Er fühlte sich dabei wie ein Kind in einer Achterbahn, nachdem es festgestellt hat, dass die Waggons fahren und es nicht mehr aussteigen kann. Furcht, bisweilen Entsetzen, mischte sich mit einem kaum zu beschreibenden Hochgefühl und neugieriger Erwartung. Früher hatte die Station einen Wall um ihn geschlossen. Jetzt war ihm, als säße er im Freien, nackt und ungeschützt. Ein Raum schien zu fehlen in seinem Leben, eine Tür, durch die man in ein angrenzendes Zimmer gehen konnte, um sich von der Welt auszusperren. Alles drang mit ungewohnter Intensität auf ihn ein, erschien eine Spur zu laut und zu grell.
   »Du wirst weiterhin den Staub von deinen Führern blasen müssen«, sagte er. »Du weißt genau, dass dein Platz hier ist und nicht in einem Expertenrat, wo man dich platt redet, wenn du was sagen willst. Ohne dich ist Davie aufgeschmissen.«
   Shoemaker sah ihn an.
   »Kleine Motivationsveranstaltung?«, fragte er.
   »Nein. Wozu? Warum sollte ich dich motivieren? Ich bin derjenige, der die Schnauze halten muss und seinen Freunden nichts erzählen darf. Warum versuchst du nicht, mich zu motivieren?«
   Shoemaker drehte die Bierdose in seiner Hand. Dann grinste er. »Wie lange bleibst du?«
   »Kann ich mir aussuchen«, sagte Anawak. »Sie behandeln uns wie die Könige, wir haben rund um die Uhr Zugriff auf den Helikoptershuttle. Ich muss nur anrufen.«
   »Sie tragen dir wirklich den Arsch hinterher, was?«
   »Ja, tun sie. Dafür erwarten sie, dass ich es wert bin. Wahrscheinlich sollte ich in Nanaimo sein oder im Aquarium oder sonst wo und arbeiten, aber ich wollte euch sehen.«
   »Arbeiten kannst du auch hier. Okay, ich motiviere dich. Komm heute Abend zum Essen. Du bekommst ein Riesensteak. Ich werde es selber für dich wenden, bis es aussieht und schmeckt wie die Sünde selber.«
   »Klingt gut«, sagte Delaware. »Um wie viel Uhr?«
   Shoemaker warf ihr einen undefinierbaren Blick zu.
   »Du kannst auch gerne kommen«, sagte er.
   Delaware kniff die Augen zusammen und erwiderte nichts. Anawak fragte sich, was da los war, aber er hielt sich fürs Erste raus und versprach Shoemaker, um sieben da zu sein. Wenig später lösten sie die Runde auf. Shoemaker machte sich auf den Weg nach Ucluelet, um Davie zu treffen. Anawak ging die Hauptstraße entlang zu seinem Boot und freute sich über Delawares Begleitung.
   Irgendwie hatte er die Nervensäge tatsächlich vermisst.
   »Was hat Tom eigentlich vorhin gemeint«, fragte er.
   Sie stellte sich ahnungslos. »Wovon redest du?«
   »Die Einladung zum Steak. So wie er es sagte, klang es, als ob er dich nicht gerne in Begleitung sieht.«
   Delaware wirkte verlegen. Sie nestelte an einer Strähne ihres Haars und krauste die Nase.
   »Na ja. Es ist was passiert in den Tagen, in denen du weg warst. Ich meine, das Leben steckt voller Überraschungen, nicht wahr? Manchmal ist man selber total platt.«
   Anawak blieb stehen und sah sie an. »Ja, und?«
   »Also, der Tag, an dem du rüber bist nach Vancouver und erst mal nicht mehr auftauchtest — ich meine, du warst über Nacht verschwunden! Keiner wusste was über deinen Verbleib, und ein paar Leute haben sich Sorgen gemacht. Unter anderem auch, ähm … Jack. Also, Jack rief mich an, will sagen, er wollte eigentlich dich anrufen, aber du warst nicht da, und …«
   »Jack?«, fragte Anawak.
   »Ja.«
   »Greywolf? Jack O’Bannon?«
   »Er sagte, ihr hättet euch unterhalten«, fuhr Delaware hastig fort, bevor er weitersprechen konnte. »Und es muss wohl ein ziemlich gutes Gespräch gewesen sein. Jedenfalls, er freute sich und wollte, glaube ich, einfach mit dir quatschen, und …« Sie sah Anawak in die Augen. »Es war doch ein gutes Gespräch, oder?«
   »Und was, wenn nicht?«
   »Das wäre ziemlich blöde, weil …«
   »Schon okay. Es war ein gutes Gespräch. Könntest du jetzt bitte aufhören, tausend Pirouetten zu drehen, und zur Sache kommen?« »Wir sind zusammen«, platzte sie heraus. Anawak öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
   »Ich sagte ja, manchmal ist man vollkommen platt! Er kam rüber nach Tofino — ich hatte ihm nämlich meine Nummer gegeben, du weißt ja, dass ich ihn irgendwie Masse … also, dass ich ein gewisses Verständnis für seinen Standpunkt aufbrachte, und …«
   Anawak spürte, wie seine Mundwinkel zuckten. Er versuchte ernst zu bleiben. »Ein gewisses Verständnis. Natürlich.«
   »Er kam also. Wir tranken was bei Schooners, und hinterher gingen wir runter an den Steg. Er hat mir alles Mögliche von sich erzählt, und ich hab ihm was von mir erzählt, wie das eben so geht, du quatschst und quatschst, und plötzlich … rumms … Du weißt schon.«
   Anawak begann zu grinsen.
   »Und Shoemaker passt das gar nicht.«
   »Er hasst Jack!«
   »Ich weiß. Das kannst du ihm nicht verdenken. Nur weil wir Greywolf plötzlich alle wieder lieb haben — du insbesondere —, ändert das nichts daran, dass er sich wie ein Arschloch aufgeführt hat. Jahrelang, wenn du’s genau wissen willst. Er ist ein Arschloch.«
   »Nicht mehr als du auch«, entfuhr es ihr.
   Anawak nickte.
   Dann lachte er. Bei allem Elend, das über die Welt gekommen war, lachte er über Delawares verzwickte Geschichte, er lachte über sich selbst und seinen Groll auf Greywolf, der eigentlich nur aus Wut über eine verlorene Freundschaft bestanden hatte, er lachte über sein Leben in den letzten Jahren, über sein dumpfes, brütendes Dasein, er lachte sich selber aus, dass es fast schmerzte, und genoss es.
   Er lachte immer lauter.
   Delaware legte den Kopf schief und sah ihn verständnislos an.
   »Was gibt’s denn da so blöde zu gackern?«
   »Du hast Recht«, kicherte Anawak.
   »Was heißt, du hast Recht? Bist du übergeschnappt?«
   Er spürte, dass sein Heiterkeitsausbruch drohte, ins Hysterische abzugleiten, aber er konnte nichts dagegen tun. Es schüttelte ihn vor Gelächter. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so gelacht hatte. Ob er überhaupt je so gelacht hatte.
   »Licia, du bist unbezahlbar«, japste er. »Du hast so verdammt Recht. Arschlöcher. Genau! Wir alle. Und du bist mit Greywolf zusammen. Ich pack’s nicht. Oh Mann!«
   Ihre Augen verengten sich. »Du machst dich über mich lustig.«
   »Nein, überhaupt nicht«, keuchte er.
   »Doch.«
   »Ich schwör’s dir, es ist nur …« Plötzlich fiel ihm etwas ein. Etwas, von dem er sich fragte, warum er nicht schon viel früher darauf gekommen war. Sein Gelächter erstarb. »Wo ist Jack eigentlich gerade?«
   »Ich weiß nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht zu Hause?«
   »Jack ist nie zu Hause. Ich denke, ihr seid zusammen?«
   »Mein Gott, Leon! Wir haben nicht geheiratet, wenn du das meinst. Wir haben Spaß und sind verknallt, aber ich überwache doch nicht jeden seiner Schritte.«
   »Nein«, murmelte Anawak. »Das wäre auch nichts für ihn.«
   »Wieso fragst du? Willst du ihn sprechen?«
   »Ja.« Er fasste sie bei den Schultern. »Licia, pass auf. Ich muss ein bisschen privaten Kram erledigen. Versuch ihn aufzustöbern. Vor heute Abend, wenn’s geht, damit wir Shoemaker nicht das Essen verderben. Sag ihm, ich … ich würde mich freuen, ihn zu sehen. Ja, ganz ehrlich! Ich würde mich freuen. Ich hätte regelrecht Sehnsucht nach ihm.«
   Delaware lächelte unsicher.
   »Gut. Ich werd’s ihm sagen.«
   »Fein.«
   »Ihr Männer seid komisch. Echt. Du meine Güte. Ihr seid wirklich ein paar komische Affen.«
   Anawak ging aufs Schiff, sah die Post durch und schaute auf einen Sprung bei Schooners vorbei, wo er einen Kaffee trank und mit Fischern plauderte. Während seiner Abwesenheit waren zwei Männer in einem Kanu verunglückt und gestorben. Sie hatten sich trotz des strikten Verbots hinausgewagt. Keine zehn Minuten hatte es gedauert, bis sie von Orcas gerammt worden waren. Die Überreste des einen Mannes waren später angespült worden, von dem anderen fehlte jede Spur. Niemand verspürte Lust, ihn zu suchen.
   »Ist ja nicht deren Problem«, sagte einer der Fischer, womit er die Betreiber der großen Fähren, Frachter und Fabriktrawler und die Kriegsmarine meinte. Er trank sein Bier mit der Verbissenheit desjenigen, der den Schuldigen ausgemacht zu haben glaubt und sich durch nichts und niemanden davon abbringen lässt, ihm die Verantwortung für seine Misere anzulasten. Dann sah er Anawak an, als erwarte er von ihm eine Bestätigung.
   Es ist sehr wohl deren Problem, war Anawak versucht zu sagen, ihren Schiffen geht es keinen Deut besser. Er schwieg. Was sollte er antworten? Er durfte über die großen Zusammenhänge nicht sprechen, und die Leute in Tofino sahen nur ihren Ausschnitt der Welt. Sie kannten die Statistik über die Zunahme schwerer Unglücke nicht, mit denen Peak den Stab konfrontiert hatte.
   »Nee, Junge, denen kommt das doch gelegen!«, knurrte der Mann. »Die großen Fangflotten dehnen ihr Monopol immer weiter aus, und jetzt so was. Sie haben uns die Bestände weggefischt, und jetzt räumen sie den Rest auch noch ab, nachdem wir Kleinen nicht mal mehr rausfahren können.« Und dann, nach einem weiteren Zug aus seinem Glas, sagte er: »Wir sollten diese verdammten Wale abschießen. Wir sollten ihnen zeigen, wo der Hammer hängt.«
   Es war überall dasselbe. Wo immer Anawak hinhörte in den Stunden, seit er in Tofino war, klang die gleiche Forderung durch.
   Töten wir die Wale.
   War alles umsonst gewesen? Die Jahre der Mühsal, um ein paar lumpige, löchrige Schutzverordnungen zu erzwingen? Auf seine Weise hatte der frustrierte Fischer am Tresen von Schooners den Nagel auf den Kopf getroffen. Aus Sicht der kleinen Fischer brachte die Situation den Großen nur Vorteile ein, weil große Fabrikschiffe die Fanggründe als Einzige noch befahren konnten und jene, denen die Erlasse der Internationalen Walfangkommission, eingeschränkte Fangquoten und Jagdverbote immer schon ein Dorn im Auge gewesen waren, endlich eine Legitimation vorweisen konnten, wieder Wale zu jagen.
   Anawak bezahlte seinen Kaffee und ging zurück zur Station. Der Verkaufsraum war leer. Er machte es sich hinter der Theke bequem, schaltete den Computer ein und begann, das World Wide Web zu durchforsten auf der Suche nach militärischen Dressurprogrammen. Es war mühsam. Diverse Seiten ließen sich nicht aufrufen. Während sie im Chateau Zugriff auf jede gewünschte Information hatten, krankte das öffentliche Netz zunehmend unter dem Ausfall der Tiefseekabel.
   Anawak ließ sich nicht entmutigen. Die offizielle Homepage des US Navy’s Marine Mammal Program zur militärischen Arbeit mit Meeressäugern fand er schnell. Was dort zu lesen war, kannte er bereits aus dem Whistler Circuit. Jeder bessere investigative Journalist hatte dutzendfach darüber berichtet. Er schloss die Seite und suchte weiter. Nach kurzer Zeit stieß er auf Meldungen über ein militärisches Programm in der ehemaligen Sowjetunion, die viel versprechend klangen. Eine größere Anzahl Delphine, Seelöwen und Belugas waren demnach während des Kalten Krieges mit dem Auffinden von Minen und verloren gegangenen Torpedos betraut und zum Schutz der Schwarzmeerflotte eingesetzt worden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die Tiere in ein Ozeanarium in Sevastopol auf der Krimhalbinsel überführt worden und hatten dort Zirkuskunststücke vorgeführt, bis den Betreibern das Geld für Lebensmittel und Medikamente ausgegangen war und sie vor der Alternative standen, ihre Schützlinge entweder zu töten oder zu verkaufen. Einige Tiere gelangten auf diese Weise in ein Therapieprogramm für autistische Kinder. Die anderen wurden in den Iran verkauft. Dort verlor sich ihre Spur, was vermuten ließ, dass sie Gegenstand neuerlicher militärischer Experimente geworden waren.
   Offenbar erlebten Meeressäuger eine Renaissance in der strategischen Kriegsführung. Während des Kalten Krieges hatte ein regelrechtes Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion stattgefunden, wer die effizienteste Meeressäugerstaffel aufbaute. Mit dem Ende der Blockstaaten schien sich Delphinspionage erledigt zu haben, doch dem Gerangel der Supermächte war keine bessere Weltordnung gefolgt. Der israelisch-palästinensische Konflikt geriet aus dem Ruder und begann die Region zu destabilisieren. Im Verborgenen wuchs eine neue, megapotente Generation von Terroristen heran, die in der Lage waren, amerikanische Kriegsschiffe zu sabotieren. Zahllose internationale Konflikte gipfelten in verminten Gewässern, verloren gegangenen Projektilen und wertvoller Ausrüstung, die auf den Meeresgrund sank und wieder hochgeholt werden musste. Es zeigte sich, dass Delphine, Seelöwen und Belugas jedem Taucher oder Roboter darin weit überlegen waren. Beim Aufspüren von Minen arbeiteten Delphine nachweislich 12-mal effizienter als Menschen. Die US-Seelöwen in den Militärbasen von Charleston und San Diego verbuchten im Aufspüren von Torpedos eine Erfolgsquote von 95 Prozent. Während Menschen unter Wasser nur eingeschränkt arbeiten konnten, unter schlechter Orientierung litten und Stunden in Dekompressionskammern verbringen mussten, operierten die Säuger in ihrem natürlichen Lebensraum. Seelöwen sahen noch bei extrem schlechten Lichtverhältnissen. Delphine orientierten sich selbst in lichtloser Schwärze, indem sie Sonar einsetzten, ein Trommelfeuer von Klicklauten, aus deren Echos sie mit unglaublicher Präzision auf Standort und Form von Gegenständen schließen konnten. Meeressäuger tauchten mühelos Dutzende von Malen am Tag in Tiefen von mehreren hundert Metern. Ein kleines Team von Delphinen ersetzte Millionen teure Schiffe, Taucher, Besatzungen und Equipment. Und immer, fast immer, kamen die Tiere zurück. In 30 Jahren hatte die US-Navy gerade mal sieben Delphine verloren.