Eine ganze Weile fiel der Rüssel durch undurchdringliches Dunkel. Die Scheinwerfer blieben ausgeschaltet. Dann kam das Flutlichtelement in Sicht. Erst nur ein Schimmer im Schwarz der tiefen See, erglühte es immer stärker, nahm seine rechteckige Form an und arbeitete schließlich die Hangterrasse heraus. Es war so groß, dass Bohrmann sich an eine Raumstation erinnert fühlte. Weiter sank der Schlauch und näherte sich dem Gewimmel der Würmer, bis sie geschlossen die Monitore überzogen. Jeder der borstigen Körper war deutlich und in allen Einzelheiten zu erkennen. Huschend, sich windend, mit ausgestülpten, hakenbewehrten Kiefern.
   Im Kontrollraum herrschte atemlose Stille.
   »Phantastisch«, flüsterte van Maarten.
   »Die Putzfrau wird sich doch wohl nicht vom Hausstaub faszinieren lassen.« Frost schüttelte grimmig den Kopf. »Werfen Sie endlich Ihren Staubsauger an, und putzen Sie die Meute weg.«
   Der Saugrüssel war genauer gesagt eine Saugpumpe, die Unterdruck erzeugte und dadurch alles, was ihr vor den Schlund geriet, in sich hineinschlang. Als sie zu arbeiten begann, passierte jedoch erst mal gar nichts. Offenbar brauchte die Pumpe eine Weile, um in Fahrt zu kommen. Zumindest hoffte Bohrmann, dass es so war. Weiterhin gingen die Würmer ihrer zerstörerischen Tätigkeit nach, ohne dass etwas geschah. Im Kontrollraum breitete sich langsam aber sicher Enttäuschung aus. Obwohl niemand etwas sagte, war sie mit Händen greifbar. Bohrmann sah unverwandt auf die beiden Monitore der Rüsselkameras und fühlte die Hoffnungslosigkeit zurückkehren.
   Woran lag es? War die Konstruktion zu lang? Die Pumpe zu schwach?
   Während er noch darüber nachgrübelte, vollzog sich auf den Monitoren eine Veränderung. Etwas schien an den Tieren zu zerren. Ihre Hinterteile hoben sich, ragten senkrecht empor, zitterten …
   Plötzlich rasten sie auf die Kameras zu und daran vorbei.
   »Es klappt!« Bohrmann reckte die Fäuste. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schrie er. Am liebsten wäre er quer durch den Raum getanzt und hätte ein Rad geschlagen.
   »Halleluja!« Frost nickte heftig. »Das ist ein wunderbares Spielzeug! Oh Herr, lass uns die Welt vom Bösen reinigen! Scheiße aber auch!« Er riss seine Baseballkappe vom Kopf, fuhr sich durch die Locken und setzte sie wieder auf. »Damit machen wir sie fertig!«
   Mehr Würmer folgten. Sie wurden derart schnell und zu so vielen in den Schlauch gesaugt, dass auf den Bildschirmen bald nur noch verwaschenes Flackern zu sehen war. Auch die Kameras der Lichtinsel zeigten deutlich, was sich am unteren Ende des Saugrüssels abspielte. Sediment wurde mit angesaugt und wirbelte hoch.
   »Weiter nach links«, sagte Bohrmann. »Oder nach rechts. Egal, einfach weitermachen.«
   »Wir gehen zu einer langsamen Zickzackbewegung über«, schlug van Maarten vor. »Von einem Ende der erleuchteten Zone bis zum anderen. Sobald wir den sichtbaren Bereich leer geräumt haben, fahren wir mit Insel und Rüssel weiter und nehmen uns die nächsten 40 Meter vor.«
   »Sehr gut! Tun Sie das.«
   Der Sauger begab sich auf Wanderschaft, während er unablässig Wurmkörper in sein Inneres riss. Wo er gewütet hatte, war das Wasser so trübe, dass man den Untergrund nicht erkennen konnte.
   »Erfolge werden wir erst sehen, wenn sich die Brühe geklärt hat«, meinte van Maarten. Er wirkte ungeheuer erleichtert. Mit einem tiefen Seufzer wich die Anspannung von Wochen, und er lehnte sich beinahe gelassen zurück.
   »Aber ich schätze, wir werden alle außerordentlich zufrieden sein.«
 
Independence, Grönländische See
 
   Donnnggg!
   Trondheims Glocken an einem Sonntagvormittag. Der Kirchturm in der Kirkegata. Sonnenbeschienen reckt er sich gen Himmel, kleiner selbstbewusster Turm, wirft seinen Schatten auf das ockerfarbene Giebeldachhäuschen mit der weiß gestrichenen Vortreppe, beansprucht Gehör.
   Dingdong, heile Welt. Aufstehen.
   Kissen über den Kopf. Wer lässt sich von einer Kirche vorschreiben, wann er aufzustehen hat. Er doch nicht. Verdammte Kirche! Gestern zu viel getrunken mit Kollegen und Studenten? Kann ja nur so sein.
   Donnnggg!
   »Es ist acht Uhr.«
   Das Durchsagesystem.
   Es gab keine zeitentrückte Kirkegata mehr, keine selbstbewusste kleine Kirche, kein ockerfarbenes Haus. In seinem Schädel hämmerten nicht Trondheims Glocken, sondern unseliger Kopfschmerz.
   Was war los?
   Johanson schlug die Augen auf und fand sich in zerwühlten Laken auf einem fremden Bett liegen. Weitere Betten standen drum herum, alle leer. Der Raum war groß, mit Apparaturen voll gestopft, fensterlos, und wirkte antiseptisch. Ein Krankenzimmer.
   Was um Himmels willen tat er in einem Krankenzimmer?
   Sein Kopf kam hoch und fiel zurück aufs Kissen. Die Augen schlossen sich von selber wieder. Alles war besser als das Dröhnen in seinem Schädel. Und schlecht war ihm auch.
   »Es ist neun Uhr.«
   Johanson setzte sich auf.
   Er war nach wie vor in dem Zimmer. Inzwischen ging es ihm bedeutend besser. Die Übelkeit war verschwunden, der schraubstockartige Schmerz einem dumpfen, aber erträglichen Druck gewichen.
   Nur wie er hierher gekommen war, wusste er immer noch nicht.
   Er sah an sich hinunter. Hemd, Hose, Socken, alles von letzter Nacht. Seine Daunenjacke und sein Pullover lagen auf dem Bett nebenan, davor standen die Schuhe, akkurat nebeneinander platziert.
   Er schwang die Beine über die Bettkante.
   Sofort ging eine Tür auf, und Sid Angeli kam herein, der Leiter der medizinischen Versorgung. Angeli war ein kleiner Italiener mit Haarkranz und scharfen Mundwinkelfalten, der den ödesten Job auf dem Schiff hatte, weil niemand krank wurde. Das schien sich seit kurzem geändert zu haben. »Wie geht es Ihnen?« Angeli legte den Kopf schief. »Alles in Ordnung?«
   »Weiß nicht.« Johanson griff in seinen Nacken und zuckte heftig zusammen.
   »Das wird noch eine Weile wehtun«, sagte Angeli. »Machen Sie sich nichts draus. Hätte schlimmer kommen können.«
   »Was ist denn überhaupt passiert?«
   »Haben Sie keine Erinnerung?«
   Johanson dachte nach, aber Nachdenken brachte nur den Schmerz zurück. »Ich glaube, ich könnte zwei Aspirin vertragen«, stöhnte er.
   »Sie wissen nicht, was vorgefallen ist?«
   »Keine Ahnung.«
   Angeli kam näher und schaute ihm prüfend ins Gesicht. »Tja. Sie wurden auf dem Hangardeck gefunden heute Nacht. Müssen ausgerutscht sein. Ein Segen, dass hier alles videoüberwacht wird, sonst lägen Sie immer noch da. Sind wahrscheinlich mit Genick und Hinterkopf auf eine Bodenverstrebung geknallt.«
   »Hangardeck?«
   »Ja. Wissen Sie nicht mehr?«
   Natürlich, er war auf dem Hangardeck gewesen. Mit Oliviera. Und danach ein weiteres Mal, allein. Er konnte sich erinnern, dass er dorthin zurückgekehrt war, aber nicht mehr, warum. Und schon gar nicht, was dann passiert war.
   »Hätte ein böses Ende nehmen können«, sagte Angeli. »Sie … ähm … haben da nicht zufällig was getrunken?«
   »Getrunken?«
   »Wegen der leeren Flasche. Da lag eine leere Flasche rum. Miss Oliviera meinte, Sie hätten dort gemeinsam was getrunken.« Angeli spreizte die Finger. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Dottore, das ist überhaupt nicht schlimm. Aber Flugzeugträger sind gefährliche Orte. Nass und dunkel. Man kann stürzen oder ins Meer fallen. Besser, nicht allein aufs Deck zu gehen, vor allem nicht, wenn man … äh …«
   »Wenn man was getrunken hat«, ergänzte Johanson. Er stellte sich auf die Füße. Schwindel durchraste seinen Kopf. Angeli eilte hinzu und nahm seinen Ellbogen. »Danke, es geht.« Johanson schüttelte ihn ab. »Wo bin ich hier überhaupt?«
   »Auf der Krankenstation. Kommen Sie zurecht?«
   »Wenn Sie mir die Aspirin geben würden …«
   Angeli ging zu einem weiß lackierten Schubladenschrank und entnahm ihm ein Päckchen Schmerztabletten. »Hier. Ist nur eine dicke Beule. Wird Ihnen bald besser gehen.«
   »Okay. Danke.«
   »Fühlen Sie sich wirklich gut?«
   »Ja.«
   »Und Sie erinnern sich an nichts?«
   »Nein, zum Teufel.«
   »Va bene.« Angeli lächelte breit. »Beginnen Sie den Tag langsam, Dottore. Und wenn irgendetwas ist, scheuen Sie sich nicht, sofort herzukommen.«
 
Flagg-Besprechungsraum
 
   »Hypervariable Bereiche? Ich verstehe kein Wort.«
   Vanderbilt versuchte mitzukommen. Oliviera merkte, dass sie Gefahr lief, ihre Zuhörerschaft zu überfordern. Peak schaute irritiert drein. Li ließ sich nichts anmerken, aber es stand zu befürchten, dass der Vortrag ihr Wissen über Genetik arg strapazierte.
   Johanson saß zwischen ihnen wie ein Gespenst. Er war verspätet erschienen, ebenso wie Rubin, der verlegen murmelnd Platz genommen und sich für seinen Ausfall entschuldigt hatte. Im Gegensatz zu Rubin sah Johanson wirklich schlecht aus. Sein Blick flackerte. Er schaute um sich, als müsse er sich alle paar Minuten versichern, dass die Personen ringsum echt waren und keine Einbildung. Oliviera nahm sich vor, nach dem Meeting mit ihm zu sprechen.
   »Ich will es am Beispiel einer normalen menschlichen Zelle deutlich machen«, sagte sie. »Sie ist im Grunde nichts weiter als ein Sack voller Informationen mit einer Membran drum herum. Der Kern enthält die Chromosomen, die Gesamtheit aller Gene. Sie bilden zusammen das Genom oder die DNA, diese spiralige Doppelhelix, Sie wissen schon. Salopp ausgedrückt, unseren Bauplan. Je höher ein Organismus entwickelt ist, desto differenzierter fällt dieser Bauplan aus. Anhand einer DNA-Analyse können Sie einen Mörder überführen oder verwandtschaftliche Verhältnisse klären, aber im Großen und Ganzen ist der Plan bei allen Menschen gleich: Füße, Beine, Torso, Arme, Hände, und so weiter. Das heißt, die Analyse einer individuellen DNA sagt uns zweierlei — im Allgemeinen: Dies ist ein Mensch. Im Besonderen, um welche Person es sich handelt.«
   Sie sah Interesse und Verständnis in den Gesichtern der anderen. Offenbar war es eine gute Idee gewesen, mit einem Grundkurs in Genetik zu beginnen.
   »Natürlich sind zwei Menschen individuell unterschiedlicher als zwei Einzeller desselben Stammes. Meine DNA weist statistisch rund eine Million kleiner Unterschiede zu jeder anderen Person im Raum auf. Alle 1200 Basenpaare differieren menschliche Wesen voneinander. Wiederum, wenn Sie die Zellen von ein und derselben Person untersuchen, werden Sie auch dort minimale Unterschiede feststellen, biochemische Abweichungen in der DNA, entstanden durch Mutation. Entsprechend unterschiedlich können die Ergebnisse ausfallen, wenn Sie etwa eine Zelle von meiner linken Hand und eine von meiner Leber analysieren. Dennoch sagt jede davon eindeutig: Es handelt sich um Sue Oliviera.« Sie machte eine Pause. »Bei Einzellern stellen sich solche Fragen weniger. Es gibt nur eine einzige Zelle. Sie bildet das gesamte Wesen. Es gibt also auch nur ein Genom, und weil sich Einzeller durch Teilung vermehren statt durch Paarung, findet auch keine Chromosomenvermischung von Mama und Papa statt, sondern das Wesen dupliziert sich mitsamt seiner genetischen Information, und das war’s.«
   »Das heißt, auf Einzeller bezogen — sobald man eine DNA kennt, kennt man alle«, sagte Peak mit Worten, die auf einem Hochseil zu balancieren schienen.
   »Ja.« Oliviera schenkte ihm ein Lächeln. »Das wäre nur natürlich. Eine Population von Einzellern wird sich durch weitgehend identische Genome ausweisen. Die geringe Mutationsrate außer Acht gelassen, ist die DNA in jedem Individuum gleich.«
   Sie sah, wie Rubin unruhig auf seinem Stuhl hin— und herzurutschen begann und seinen Mund auf-und zuklappte. Normalerweise hätte er spätestens an dieser Stelle versucht, den Vortrag an sich zu reißen. Wie dumm, dachte Oliviera befriedigt, dass du mit Migräne im Bett gelegen hast. Zur Abwechslung weißt du mal nicht, was wir wissen. Du musst die Schnauze halten und zuhören.
   »Aber genau hier beginnt unser Problem«, fuhr sie fort. »Die Zellen der Gallerte wirken auf den ersten Blick identisch. Es sind Amöben, wie man sie in der Tiefsee findet. Nicht mal sonderlich exotisch. Um ihre ganze DNA zu beschreiben, müssten wir diverse Computer zwei Jahre lang rechnen lassen, also beschränken wir uns auf Stichproben. Wir isolieren kleine Abschnitte der DNA und erhalten Teile des genetisehen Codes, technisch ausgedrückt sogenannte Amplicons. Jedes Amplicon zeigt uns eine Reihe von Basenpaaren, genetisches Vokabular. Analysieren wir Amplicons aus dem jeweils gleichen Abschnitt der DNA unterschiedlicher Individuen und vergleichen sie miteinander, erhalten wir interessante Informationen. Die Amplicons mehrerer Einzeller derselben Population etwa sollten folgendes Bild ergeben.«
   Sie hielt einen Ausdruck hoch, den sie für das Meeting vergrößert hatte.
   Al: AATGCCAATTCCATAGGATTAAATCGA A2: AATGCCAATTCCATAGGATTAAATCGA A3: AATGCCAATTCCATAGGATTAAATCGA A4: AATGCCAATTCCATAGGATTAAATCGA
   »Sie sehen, die analysierten Sequenzen sind auf ganzer Strecke identisch. Vier identische Einzeller.« Sie legte das Blatt zur Seite und zeigte ein zweites. »Stattdessen haben wir das hier erhalten.«
   A1: AATGCCACGATGCTACCTGAAATCGA A2: AATGCCAATTCCATAGGATTAAATCGA A3: AATGCCAGGAAATTACCCGAAATCGA A4: AATGCCATTTGGAACAAATAAATCGA
   »Das sind die Basenabfolgen der Amplicons von vier Exemplaren unserer Gallertspezies. Die DNA ist identisch — bis auf kleine, hypervariable Bereiche, in denen es drunter und drüber geht. Keinerlei Gemeinsamkeiten. Wir haben Dutzende der Zellen untersucht. Manche differieren innerhalb der hypervariablen Zonen nur leicht, andere sind völlig unterschiedlich. Durch natürliche Mutation ist so was nicht mehr zu erklären. Anders gesagt: Das kann kein Zufall sein.«
   »Vielleicht sind es doch unterschiedliche Arten«, sagte Anawak.
   »Nein. Es ist definitiv dieselbe Spezies. Und definitiv ist jedem Lebewesen zu Eigen, dass seine genetische Codierung zu Lebzeiten nicht verändert werden kann. Der Bauplan kommt immer als Erstes. Erst danach wird gebaut, und was fertig gebaut ist, kann nur diesem Plan entsprechen und keinem anderen.«
   Lange Zeit sagte niemand etwas.
   »Wenn diese Zellen trotzdem unterschiedlich sind«, sagte Anawak, »müssen sie also einen Weg gefunden haben, ihre DNA zu verändern, nachdem sie sich geteilt haben.«
   »Aber zu welchem Zweck?«, fragte Delaware.
   »Menschen«, sagte Vanderbilt.
   »Menschen?«
   »Sind denn hier alle blind? Die Natur macht so was nicht, sagt Dr. Oliviera, die es wissen muss, und von Dr. Johanson höre ich auch keinen Einspruch. Also wer hat Grips genug, sich so was auszudenken, he? Das Zeug ist eine Biowaffe. Nur Menschen bringen so was fertig.«
   »Einspruch«, sagte Johanson. Er fuhr sich durchs Haar. »Es ergibt keinen Sinn, Jack. Der Vorteil von Biowaffen ist, dass man nur ein Basisrezept braucht. Der Rest ist Reproduktion …«
   »Es kann durchaus von Vorteil sein, wenn Viren Mutationen durchlaufen, oder nicht? Das AIDS-Virus mutiert am laufenden Band. Jedes Mal, wenn man glaubt, ihm auf die Schliche gekommen zu sein, hat es sich schon wieder verändert.«
   »Das ist was anderes. Wir haben hier einen Superorganismus, keine virologische Infektion. Es muss einen anderen Grund haben, warum sie unterschiedlich sind. Irgendetwas geschieht mit ihrer DNA nach der Teilung. Sie werden anders codiert, unterschiedlich. Wen interessiert, wer dafür verantwortlich ist? Wir müssen rausfinden, welchen Sinn es hat.«
   »Es hat den Sinn, uns alle zu töten!«, sagte Vanderbilt gereizt. »Dieses Zeug ist dazu da, die freie Welt zu vernichten.«
   »Schön«, knurrte Johanson. »Dann erschießen Sie es doch. Sollen wir nachsehen, ob es muslime Zellen sind? Vielleicht ist Ihre DNA islamisch fundamentalistisch. Würde die Sache legitimieren.«
   Vanderbilt starrte ihn an. »Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?«
   »Auf der des Verstehens.«
   »Verstehen Sie auch, warum Sie gestern Nacht auf den Kopf gefallen sind?« Vanderbilt grinste süffisant. »Nach dem Genuss einer Flasche Bordeaux, wohlgemerkt. Wie geht es Ihnen, Doktor? Kopfschmerzen? Warum halten Sie nicht eine Weile Ihren Mund?«
   »Damit Sie nicht zu oft Gelegenheit haben, Ihren zu öffnen.«
   Vanderbilt atmete schwer. Er schwitzte. Li bedachte ihn mit einem spöttischen Blick aus den Augenwinkeln und beugte sich vor.
   »Sie sagen, es handelt sich um unterschiedliche Codierungen, richtig?«
   »Richtig«, nickte Oliviera.
   »Ich bin keine Wissenschaftlerin. Aber wäre es nicht denkbar, dass die Codierung den gleichen Zweck erfüllt wie Codes bei Menschen? Codes im Kriegsfall zum Beispiel.«
   »Ja«, nickte Oliviera. »Das wäre denkbar.«
   »Codes, um einander zu erkennen.«
   Weaver kritzelte etwas auf ein Blatt und schob es Anawak hin. Er las es, nickte kurz und legte es wieder beiseite.
   »Zu welchem Zweck sollten sie einander erkennen?«, fragte Rubin. »Und warum auf derart komplizierte Weise?«
   »Ich denke, das liegt auf der Hand«, sagte Crowe.
   Einen Moment lang war nur das Knistern des Zellophans zu hören, das sie von ihrer Zigarettenpackung zog.
   »Und was glauben Sie?«, fragte Li.
   »Ich glaube, es dient der Kommunikation«, sagte Crowe.
   »Diese Zellen kommunizieren untereinander. Es ist eine Form der Unterhaltung.«
   »Sie meinen, dieses Zeug …« Greywolf starrte sie an.
   Crowe hielt die Flamme ihres Feuerzeugs an die Zigarette, paffte und blies den Rauch aus.
   »Es tauscht sich aus. Ja.«
 
Rampe
 
   »Was war denn los letzte Nacht?«, fragte Oliviera, als sie zum Labor hinuntergingen.
   Johanson zuckte die Achseln. »Ich habe nicht die blasseste Ahnung.«
   »Und wie geht es Ihnen jetzt?«
   »Seltsam. Die Kopfschmerzen lassen nach, aber in meiner Erinnerung klafft eine Lücke von der Größe des Hangardecks.«
   »So ein dämlicher Zufall, was?« Rubin drehte sich im Gehen um und bleckte die Zähne. »Da bekommen wir beide Kopfschmerzen. Alle beide! Gott, ich war so platt, dass ich mich nicht mal mehr abmelden konnte. Muss mich wirklich entschuldigen, aber wenn man einmal daliegt … Bäng! Koma!«
   Oliviera betrachtete Rubin mit undefinierbarer Miene. »Migräne?«
   »Ja. Schrecklich! Kommt und geht. Es passiert nicht oft, aber wenn, ist alles zu spät. Da hilft nur, Zäpfchen rein und Licht aus.«
   »Durchgeschlafen bis heute Morgen?«
   »Klar.« Rubin sah schuldbewusst drein. »Tut mir Leid. Aber man verliert jede Kontrolle, im Ernst. Sonst hätte ich mich doch mal blicken lassen.«
   »Haben Sie das nicht?«
   Es klang komisch, wie sie die Frage stellte. Rubin lächelte irritiert.
   »Nein.«
   »Bestimmt nicht?«
   »Das sollte ich eigentlich wissen.«
   In Johansons Kopf machte etwas Klick. Wie ein kaputter Diaprojektor. Der Schlitten versuchte ein Bild zu greifen und rutschte ab.
   Wozu stellte Oliviera diese Fragen?
   Sie machten vor der Labortür Halt, und Rubin gab den Zahlencode ein. Die Tür schwang auf. Während er ins Innere ging und das Licht anmachte, sagte Oliviera leise zu Johanson: »He, was ist los? Sie waren der festen Überzeugung, ihn gestern Nacht gesehen zu haben.«
   Johanson starrte sie an. »Ich war was?«
   »Als wir weintrinkenderweise auf der Kiste saßen und darauf warteten, dass die Sequenzmaschine ihren Job macht«, flüsterte Oliviera. »Sie sagten, Sie hätten ihn gesehen.«
   Klick. Der Schlitten versuchte das Dia zu greifen. Klick.
   Sein Kopf war wie mit Watte angefüllt. Sie hatten Wein getrunken, daran erinnerte er sich. Und sich unterhalten. Und dann hatte er … was gesehen?
   Klick.
   Oliviera hob eine Braue.
   »Menschenskind«, sagte sie im Hineingehen. »Sie hat’s ja vielleicht erwischt.«
 
Neuronencomputer
 
   Sie saßen im JIC vor Weavers Computer.
   »Pass auf«, erklärte sie. »Die Sache mit der Codierung, das gibt uns einen völlig neuen Anhaltspunkt.«
   Anawak nickte. »Die Zellen sind nicht alle gleich. Sie sind nicht wie Neuronen.«
   »Und es ist nicht alleine die Art und Weise, wie sie verknüpft sind. Wenn ihre DNA codierte Sequenzen aufweist, könnte es sein, dass eben darin der Schlüssel zur Verschmelzung liegt.«
   »Nein. Die Verschmelzung muss durch etwas anderes ausgelöst werden. Etwas mit Fernwirkung.«
   »Gestern waren wir bei Duft angelangt.«
   »Okay«, sagte Anawak. »Probier das. Programmier sie so, dass sie einen Duftstoff erzeugen, der ›Verschmelzen‹ signalisiert.«
   Weaver dachte nach. Sie rief über das Bordtelefon im Labor an. »Sigur? Hi! Wir sitzen an der Simulation. Habt ihr inzwischen eine Idee, wie diese Zellen miteinander verschmelzen?« Sie hörte eine Weile zu. »Genau. — Wir probieren das durch. — In Ordnung. Sag mir Bescheid.«
   »Was meint er?«, wollte Anawak wissen.
   »Sie versuchen einen Phasentest. Sie wollen die Gallerte dazu bringen, sich aufzulösen und wieder zu verschmelzen.«
   »Sie glauben also auch, dass die Zellen einen Duft ausstoßen?«
   »Ja.« Weaver runzelte die Stirn. »Das Problem ist, welche Zelle fängt damit an? Und warum? Wenn eine Kettenreaktion erfolgt, muss jemand der Urheber sein.«
   »Ein genetisches Programm.« Anawak nickte. »Nur bestimmte Zellen können die Verschmelzung in die Wege leiten.«
   »Ein Teil des Hirns, der mehr als andere Teile kann …«, sinnierte Weaver. »Bestechend. Trotzdem, irgendwie reicht’s noch nicht.«
   »Warte mal! Möglicherweise sind wir immer noch auf der falschen Fährte. Ich meine, wir gehen ständig davon aus, dass diese Zellen zusammen ein großes Hirn bilden.«
   »Ich bin überzeugt davon, dass sie es tun.«
   »Ich auch. Mir kam nur gerade der Gedanke, dass …«
   »Was?«
   Anawak dachte fieberhaft nach.
   »Findest du es nicht auch komisch, dass sie sich voneinander unterscheiden? Mir fällt nur ein Grund für so eine Art der Codierung ein. Jemand programmiert ihre DNA, damit sie spezifische Aufgaben übernehmen können. Aber wenn das stimmt — dann wäre jede dieser Zellen ein kleines Hirn für sich.« Er überlegte weiter. Das wäre phantastisch! Und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie das gehen sollte. »Es würde bedeuten, die DNA jeder Zelle ist das Hirn.«
   »Eine DNA, die denken kann?«
   »Irgendwie ja.«
   »Dann müsste sie auch lernen können.« Sie sah ihn an, ihr Gesicht ein einziger Zweifel. »Ich bin ja bereit, einiges zu glauben, aber das?« Sie hatte Recht, Es war abwegig. Die Konsequenz wäre eine völlig neuartige Biochemie. Etwas, das es nicht gab. Aber wenn es nun doch funktionieren würde … »Nochmal, wodurch lernt ein Neuronencomputer?«, fragte er.
   »Durch immer komplexeres, gleichzeitiges Rechnen. Mit der Erfahrung wächst die Zahl der Handlungsalternativen.«
   »Und wie behält er all das?«
   »Er speichert es.«
   »Dafür muss jede Einheit Speicherplatz zur Verfügung haben. In der Vernetzung der Speicherplätze entsteht dann künstliches Denken.« »Worauf willst du hinaus?« Anawak erklärte es ihr. Sie hörte zu, schüttelte hin und wieder den Kopf und ließ es sich ein zweites Mal erklären. »Du schreibst die Biologie um, soweit ich das beurteilen kann.« »Tu ich. Kannst du trotzdem etwas programmieren, das auf ähnliche Weise funktionieren würde?« »Oh Gott.« »Im Kleinen vielleicht.«
   »Im Kleinen ist immer noch groß genug. Mensch, Leon! Was für eine abgedrehte Theorie. Aber okay. — Okay! Ich mach’s.«
   Sie reckte die braun gebrannten Arme. Goldfarbene Härchen flimmerten auf ihren Unterarmen. Unter dem Stoff des T-Shirts spannte sich die Muskulatur. Anawak dachte, wie sehr ihm dieses breitschultrige, kompakte Mädchen gefiel.
   Im selben Moment sah sie ihn an.
   »Das kostet dich aber was«, sagte sie drohend.
   »Spuck’s aus.«
   »Schultern und Rücken. Entspannungsmassage.« Sie grinste. »Und zwar avanti. Während ich programmiere.«
   Anawak war beeindruckt. Ganz schamlos von sich selber. Ob seine Theorie nun einen Sinn ergab oder nicht — es hatte sich auf jeden Fall gelohnt, sie auszusprechen.
 
Rubin
 
   Zum Mittagessen gingen sie gemeinsam hoch in die Offiziersmesse. Johansons Zustand hatte sich augenscheinlich gebessert, und außerdem verstand er sich blendend mit Oliviera.
   Beide schienen nicht sonderlich traurig zu sein, als Rubin ihnen erklärte, nach dem Migräneanfall keinen Hunger zu verspüren.
   »Ich werde auf dem Dach spazieren gehen«, sagte er und versuchte, einigermaßen Mitleid erweckend dreinzuschauen.
   »Passen Sie auf sich auf«, grinste Johanson. »Man kommt hier schnell ins Stolpern.«
   »Keine Bange«, lachte Rubin. Dabei dachte er: Wenn du wüsstest, wie sehr ich die ganze Zeit aufpasse, würde dir die Kinnlade bis ins Welldeck knallen. »Ich werde mich von der Kante fern halten.«
   »Wir brauchen Sie noch, Mick.«
   »Na ja«, hörte er Oliviera leise sagen, während sie mit Johanson weiterging.
   Naja?
   Rubin ballte die Fäuste. Sollten sie sich ruhig alle miteinander das Maul zerreißen. Am Ende würde er bekommen, was ihm zustand. Das Verdienst, die Menschheit gerettet zu haben, würde seinem Konto gutgeschrieben werden. Er hatte lange genug darauf gewartet, aus dem Schatten der CIA hervortreten zu dürfen. Wenn sie die Sache erst mal hinter sich gebracht hatten, gab es keinen Grund mehr, seine Leistungen der Welt vorzuenthalten. Jegliche Geheimhaltung würde sich erübrigen. Er würde nach Herzenslust publizieren können, getragen von der Anerkennung aller.
   Seine Laune besserte sich, während er die Rampe hochschritt. Auf LEVEL 03 nahm er eine Abzweigung und gelangte vor eine schmale, verschlossene Tür. Er gab einen Zahlencode ein. Die Tür schwang auf, und Rubin betrat einen dahinter liegenden Gang. Er ging bis ans Ende, wo er auf eine weitere verschlossene Türe stieß. Als er diesmal den Code eintippte, blinkte auf der Konsole ein grünes Lämpchen auf. Darüber war ein Objektiv hinter einer Glasscheibe eingelassen. Rubin trat bis dicht davor und schaute mit dem rechten Auge in die Linse, die seine Netzhaut scannte und ein Okay in das System leitete.
   Mit erfolgter Autorisierung öffnete sich auch diese Tür für ihn. Er blickte in einen großen, dämmrigen Raum voller Computer und Monitore, der große Ähnlichkeit mit dem CIC aufwies. Uniformierte und Zivilisten saßen an den Steuerpulten. Beständiges Summen brachte die Luft zum Schwingen. An einem großen, von innen erleuchteten Kartentisch standen Li, Vanderbilt und Peak zusammen.
   Peak schaute auf. »Kommen Sie rein«, sagte er.
   Rubin trat näher. Plötzlich fühlte er seine Selbstsicherheit wanken. Seit der Nacht hatten sie nur miteinander telefoniert und knappe Informationen ausgetauscht. Der Tonfall war sachlich gewesen. Jetzt war er ins Frostige umgeschlagen.
   Rubin entschloss sich für die Flucht nach vorne. »Wir kommen gut weiter«, sagte er. »Wir sind immer einen Schritt voraus und …«
   »Setzen Sie sich«, sagte Vanderbilt. Er wies mit knapper Geste auf einen Stuhl an der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Rubin gehorchte. Die drei blieben stehen, sodass er sich in einer Rolle wiederfand, die ihm nicht behagte. Er fühlte sich wie bei einem Tribunal.
   »Das mit letzter Nacht war natürlich dumm«, fügte er hinzu.
   »Dumm?« Vanderbilt stützte sich mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »Sie blöder Idiot. Unter anderen Umständen würde ich Sie über die Planke schicken.« »Augenblick mal, ich …« »Warum mussten Sie ihn niederschlagen!« »Was hätte ich denn machen sollen?« »Besser aufpassen. Sie Flasche! Ihn gar nicht erst reinlassen.« »Das ist ja wohl nicht mein Fehler«, fuhr Rubin auf. »Es sind Ihre Leute, die zuschauen, wer sich im Schlaf am Hintern kratzt!« »Warum haben Sie das verdammte Schott geöffnet?«
   »Weil … nun ja, ich dachte, wir brauchen vielleicht … es gab da eine Überlegung hinsichtlich …«
   »Was?«
   »Passen Sie mal auf, Rubin«, sagte Peak. »Das Schott zum Hangardeck hat nur eine einzige Funktion, und das wissen Sie sehr genau. Sperriges Material rein— und rausfahren.« Seine Augen blitzten auf. »Also was hatten Sie letzte Nacht so Wichtiges vor, dass Sie unbedingt das Schott öffnen mussten?«
   Rubin biss sich auf die Lippen.
   »Sie waren schlicht zu faul, den Weg durchs Schiffsinnere zu nehmen, das ist der Punkt.«
   »Wie können Sie so etwas sagen?«
   »Weil es stimmt.« Li kam um den Tisch herum und setzte sich rittlings vor Rubin auf die Kante. Sie sah ihn nachsichtig, fast freundlich an. »Sie sagten zu den anderen, Sie gingen Luft schnappen.«
   Rubin sackte in seinem Stuhl zusammen. Natürlich hatte er das gesagt. Und natürlich hatten die Überwachungssysteme es aufgezeichnet.
   »Und später sind Sie wieder Luft schnappen gegangen.«
   »Es sah nicht so aus, als sei jemand an Deck«, verteidigte er sich. »Und Ihre Leute haben nichts Gegenteiliges gemeldet.«
   »Wie auch, Mick? Die Überwachung hat nichts gemeldet, weil sie keine Anfrage erhalten hat. Sie sind aber verpflichtet, sich jedes Öffnen des Schotts genehmigen zu lassen. Das ist zweimal hintereinander nicht geschehen.
   Die konnten Ihnen keine Meldung geben.«
   »Tut mir Leid«, murmelte Rubin.
   »Ich will der Fairness halber zugeben, dass hier oben auch nicht alles nach Plan gelaufen ist. Johansons zweiter Spaziergang auf dem Hangardeck wurde verpennt. Weiterhin haben wir bei der Vorbereitung der Mission den Fehler begangen, kein lückenloses Abhörsystem zu installieren. — Wir wissen zum Beispiel nicht, was Oliviera und Johanson besprochen haben, als sie auf dem Hangardeck ihre kleine Party feierten, und leider können wir auch nicht die Unterhaltungen auf der Rampe und auf dem Dach abhören. — Aber das alles ändert nichts daran, dass Sie sich wie der dümmste Trottel verhalten haben.«
   »Ich verspreche, es kommt nicht mehr …«
   »Sie sind ein Sicherheitsrisiko, Mick. Ein hirnloses Arschloch. Und wenn ich auch mit Jack nicht immer einer Meinung bin, werde ich ihm dabei helfen, Sie über die Planke zu jagen, wenn so etwas noch ein einziges Mal vorkommt. Ich werde höchstpersönlich ein paar Haie zu diesem Zweck anlocken und mit Freuden zusehen, wie sie Ihnen das Herz herausreißen. Haben Sie das verstanden? Ich werde Sie töten.«
   Immer noch blickten die wasserblauen Augen in Lis Gesicht freundlich, aber Rubin ahnte, dass sie keinen Moment zögern würde, ihre Drohung wahr zu machen.
   Er hatte Angst vor dieser Frau.
   »Ich sehe, Sie haben es kapiert.« Li schlug ihm auf die Schulter und ging wieder zu den anderen. »Gut, Schadensbegrenzung. Wirkt die Droge?«
   »Wir haben Johanson zehn Milliliter gespritzt«, sagte Peak. »Mehr hätte ihn aus der Bahn geworfen, und das können wir uns derzeit nicht erlauben. Das Zeug wirkt wie ein Radiergummi im Hirn, aber es gibt uns keine Garantie, dass er sich nicht doch erinnert.«
   »Wie groß ist das Risiko?«
   »Schwer zu sagen. Ein Wort, eine Farbe, ein Geruch — wenn das Hirn einen Anknüpfpunkt findet, ist es zur vollständigen Rekonstruktion fähig.«
   »Das Risiko ist sogar ziemlich groß«, knurrte Vanderbilt. »Wir haben bis heute keine Droge gefunden, die Erinnerungen in allen Fällen unterdrückt. Wir wissen zu wenig über die Funktionsweise des Hirns.«
   »Also müssen wir ihn beobachten«, sagte Li. »Was meinen Sie, Mick? Wie lange, schätzen Sie, werden wir noch auf Johanson angewiesen sein?«
   »Oh, wir liegen weit vorne«, sagte Rubin eifrig. Hier konnte er Boden wieder gutmachen. »Weaver und Anawak hatten die Idee einer pheromonischen Verschmelzung. Auch Oliviera und Johanson sind auf die Möglichkeit eines Dufts gestoßen. Wir werden heute Nachmittag Phasentests durchführen, um den Beweis dafür zu erbringen. Wenn es zutrifft, dass die Verschmelzung über einen Duft erfolgt, haben wir einen Ansatzpunkt, der uns schnell ans Ziel unserer Wünsche bringen dürfte.«
   »Falls. Wenn. Dürfte. Könnte.« Vanderbilt schnaubte. »Bis wann haben Sie das verdammte Mittel?«
   »Das hier ist Forschungsarbeit, Jack«, sagte Rubin. »Damals hat auch keiner bei Alexander Fleming auf dem Schoß gesessen und gefragt, wie lange er noch braucht, um das Penicillin zu entdecken.«
   Vanderbilt wollte etwas erwidern, als eine Frau von ihrer Konsole aufstand und zu ihnen herüberkam.
   »Im CIC haben sie das Signal entschlüsselt«, sagte sie.
   »Scratch?«
   »Sieht so aus. Crowe sagte zu Shankar, sie hätten es entschlüsselt.«
   Li schaute zu der Konsole hinüber, an der die Gespräche und Bilder aus dem CIC eintrafen. Man sah Shankar, Crowe und Anawak aus der Perspektive der Deckenkamera im Gespräch. Soeben kam Weaver hinzu.
   »Dann werden wir ja gleich Nachricht erhalten«, sagte sie. »Alsdann. Geben wir uns angemessen überrascht, meine Herren.«
 
Combat Information Center
 
   Alles drängte sich um Crowe und Shankar, um die Antwort zu sehen. Nicht mehr in Form eines Spektrogramms, sondern als optische Umsetzung des Signals, das sie am Vortag empfangen hatten.
   »Ist es eine Antwort?«, fragte Li.
   »Gute Frage«, sagte Crowe.
   »Was ist Scratch überhaupt?«, wollte Greywolf wissen, der sich, Delaware im Schlepp, ebenfalls eingefunden hatte. »Eine Sprache?«
   »Scratch vielleicht ja, aber sicher nicht die Art und Weise, wie es in diesem Fall codiert wurde«, erklärte Shankar. »Es ist genauso wie mit der Arecibo-Botschaft. Kein Mensch auf der Erde unterhält sich im binären Code. Im Grunde haben nicht wir eine Nachricht ins All geschickt, sondern unsere Computer haben es getan.«
   »Was wir herausfinden konnten«, sagte Crowe, »ist die Struktur von Scratch. Warum es sich anhört, als wenn man eine Nadel über eine Schallplatte zieht. Es ist ein Stakkato im niederfrequenten Bereich, geeignet, einen ganzen Ozean zu durchqueren. Niederfrequente Wellen legen die größten Entfernungen zurück. Ein enorm schnelles Stakkato zudem. Das Problem mit Infraschall ist, dass wir Geräusche unterhalb 100 Hertz auf ein Vielfaches beschleunigen müssen, um sie hörbar zu machen, womit wir das Stakkato noch mehr beschleunigen würden. Der Schlüssel zum Verständnis liegt aber in der Verlangsamung.«
   »Wir mussten es zerdehnen«, sagte Shankar, »um Einzelheiten unterscheiden zu können. Also haben wir es extrem verlangsamt, bis aus dem Kratzgeräusch eine Abfolge unterschiedlich langer und intensiver Einzelimpulse wurde.«
   »Klingt nach Morsealphabet«, sagte Weaver.
   »So ähnlich scheint es auch zu funktionieren.«
   »Und wie stellen Sie das dar?«, fragte Li. »Über Spektrogramme?«
   »Einerseits. Aber das reicht nicht. Wenn es ums Hören geht, sind wir immer noch am besten, wenn wir wirklich etwas hören. Dafür greifen wir zu einem Trick, ähnlich wie in der Darstellung von Satellitenbildern, wo man Radarerfassungen über Falschfarben sichtbar macht. In diesem Fall ersetzen wir jedes Signal unter Beibehaltung seiner Länge und Intensität durch eine Frequenz, die wir hören können. Wenn das Original unterschiedliche Frequenzhöhen aufweist, rechnen wir auch das entsprechend um. Auf diese Weise sind wir mit Scratch verfahren.« Crowe gab einen Befehl in die Tastatur. »Was wir empfangen haben, klingt jetzt so.«
   Die Laute wummerten wie eine unter Wasser geschlagene Trommel. Schnell aufeinander folgend, fast zu schnell, um sie auseinander halten zu können, aber eindeutig eine differenzierte Abfolge unterschiedlich lauter und langer Impulse.
   »Klingt tatsächlich wie ein Code«, sagte Anawak. »Was bedeutet es?«
   »Wir wissen es nicht.«
   »Sie wissen es nicht?«, fragte Vanderbilt. »Ich dachte, Sie hätten es entschlüsselt?«
   »Wir wissen nicht, was das für eine Sprache ist«, sagte Crowe geduldig, »wenn sie unter normalen Umständen gesprochen wird. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was die bisher aufgezeichneten Scratch- Signale aus den letzten Jahren zu bedeuten haben. Aber das ist nicht wichtig.« Sie blies Rauch durch ihre Nasenlöcher. »Wir haben was viel Besseres, nämlich Kontakt. Murray, zeig ihnen den ersten Teil.«
   Shankar klickte ein Computerbild an. Es überzog den Bildschirm mit endlosen Reihen von Zahlen. Ganze Kolonnen davon waren gleich.
   »Wir hatten, wie Sie sich erinnern, ein paar Hausaufgaben nach unten geschickt«, sagte Shankar. »Mathearbeit. Wie beim Intelligenztest. Es ging darum, Dezimalreihen fortzusetzen, Logarithmen zu entschlüsseln, fehlende Elemente zu ersetzen. Im besten Fall, haben wir uns ausgemalt, werden die da unten Spaß an der Sache finden und uns die Antworten schicken, womit sie signalisieren: Wir haben euch gehört — Wir sind da — Wir verstehen Mathematik und sind in der Lage, damit umzugehen.« Er zeigte auf die Zahlenreihen. »Das sind die Ergebnisse. Note eins mit Auszeichnung. Sie haben jede Aufgabe richtig gelöst.«
   »Oh Mann«, flüsterte Weaver.
   »Das zeigt uns zweierlei«, sagte Crowe. »Zum einen, Scratch ist tatsächlich eine Art Sprache. Mit hoher Wahrscheinlichkeit enthalten Scratch -Signale komplexe Informationen. Zum anderen — und das ist entscheidend! — beweist es, dass sie in der Lage sind, Scratch so umzubauen, dass es für uns einen Sinn ergibt. Das ist eine Leistung erster Güte. Es zeigt, dass sie uns in nichts nachstehen. Sie können nicht nur decodieren, sondern auch codieren.«
   Eine Weile starrten alle nur auf die Zahlenkolonnen. Es herrschte Schweigen, angesiedelt zwischen Ergriffenheit und Beklommenheit.
   »Aber was genau beweist es?«, sagte Johanson in die Stille hinein.
   »Ist doch klar«, antwortete Delaware. »Dass da jemand denkt und antwortet.«
   »Ja, aber könnte ein Computer nicht dieselben Antworten geben?«
   »Du meinst, wir unterhalten uns mit einem Computer?«
   »Er hat Recht«, sagte Anawak. »Es zeigt uns, dass jemand brav seine Rechenaufgaben gemacht hat. Das ist in höchstem Maße beeindruckend, aber nicht unbedingt ein Beweis für selbstbewusstes, intelligentes Leben.«
   »Wer soll denn sonst derartige Antworten ablassen?«, fragte Greywolf entgeistert. »Makrelen?«
   »Quatsch, nein. Aber denk doch mal nach. Was wir hier erleben, ist der gekonnte Umgang mit Symbolen. Höhere Intelligenz lässt sich darüber nicht nachweisen. Ein Chamäleon vollzieht, salopp gesagt, eine hochkomplexe rechnerische Leistung, wenn es sich seiner Umgebung anpasst. De facto merkt es nicht mal was davon. Jemand, der nicht weiß, wie intelligent ein Chamäleon ist, könnte zu dem Schluss gelangen, dass es verdammt intelligent sein muss, um ein Programm zu beherrschen, das sein Äußeres heute einem Blätterwald und morgen einer Felswand angleicht. Man würde ihm ein hohes Maß an Erkenntnisfähigkeit unterstellen, weil es sozusagen den Code seiner Umgebung entschlüsselt, und kreatives Vorgehen, weil es seinen eigenen Code darauf abstimmen kann.«
   »Also was haben wir dann hier?«, fragte Delaware ratlos. Sie wirkte enttäuscht.
   Crowe schmunzelte.
   »Leon hat Recht«, sagte sie. »Das Manipulieren von Symbolen bietet keinerlei Gewähr, dass die Symbole auch verstanden werden. Echter Geist und Kreativität weisen sich durch Vorstellungskraft und Wissen über die Zusammenhänge in der wirklichen Welt aus. Durch tieferes Verständnis. Eine Rechenmaschine, und sei sie noch so leistungsfähig, kennt nicht den Umgang mit der Faustregel, nicht das Handeln wider die Logik, sie setzt sich nicht mit der Umwelt auseinander und macht keine Erfahrungen. — Ich schätze, das haben sich die Yrr auch gesagt, als sie ihre Antwort formulierten. Sie haben nach etwas gesucht, um uns zu zeigen, dass sie zu höherem Verständnis fähig sind.« Crowe zeigte auf das Computerbild. »Das sind die Ergebnisse der beiden Rechenaufgaben. Wenn Sie genau hinsehen, stellen Sie fest, dass Ergebnis eins elfmal hintereinander erscheint, dann dreimal Ergebnis zwei, einmal Ergebnis eins, wiederum neunmal Ergebnis zwei, und so weiter. An einer Stelle wiederholt sich Ergebnis zwei fast dreißigtausend Mal. Aber warum? Es macht Sinn, uns jedes Resultat mehr als einmal zu schicken, einfach schon, damit die Nachricht lang genug ist, um registriert zu werden. Aber wozu diese scheinbar chaotische Abfolge?«
   »Hier kam Miss Alien ins Spiel«, sagte Shankar und grinste geheimnisvoll in die Runde.
   »Mein Alter Ego Jodie Foster«, nickte Crowe. »Ich muss gestehen, dass mir die Antwort einfiel, als ich an den Film dachte. Die Abfolge ist ebenfalls ein Code. Wenn man sie richtig zu lesen weiß, erhält man ein Bild aus schwarzen und weißen Pixeln — also nichts anderes als das, was wir bei SETI auch machen.«
   »Hoffentlich nicht Adolf Hitler«, sagte Rubin.
   Diesmal hatte er einen Lacher. Mittlerweile hatten alle den Film Contact mit Jodie Foster gesehen. Darin schickten die Aliens ein Bild zur Erde, dessen Pixel Teile einer Bauanleitung enthielten. Sie hatten einfach irgendein Bild aus dem Fundus dessen genommen, was die Menschheit im Verlauf ihrer technischen Evolution in den Weltraum abgestrahlt hatte, und sich ausgerechnet für ein Foto von Hitler entschieden.
   »Nein«, sagte Crowe. »Es ist nicht Hitler.«
   Shankar gab dem Computer einen Befehl ein. Die Zahlenkolonnen verschwanden und wichen einer Grafik.
 
   »Was ist das denn?« Vanderbilt beugte sich vor.
   »Sie erkennen es nicht?« Crowe lächelte in die Runde. »Hat sonst irgendjemand eine Idee?«
   »Sieht aus wie ein Wolkenkratzer«, sagte Anawak.
   »Das Empire State Building«, schlug Rubin vor.
   »Blödsinn«, sagte Greywolf. »Woher sollen sie das Empire State Building kennen? Es sieht aus wie eine Rakete.«
   »Und woher kennen sie Raketen?«, sagte Delaware.
   »Weil jede Menge davon im Meer rumliegen. Versehen mit nuklearen Sprengköpfen, chemischen Kampfstoffen …«
   »Was ist dieses Drumherum da?«, fragte Oliviera. »Wolken?«
   »Vielleicht Wasser«, meinte Weaver. »Vielleicht ist es was aus der Tiefsee. Eine Formation.«
   »Wasser ist schon mal gut«, sagte Crowe.
   Johanson rieb seinen Bart. »Es macht eher den Eindruck eines Monuments. Möglicherweise ist es ein Symbol. Etwas … Religiöses.«
   »Menschlich, allzu menschlich.« Crowe schien das Ganze diebische Freude zu bereiten. »Warum fragen Sie sich nicht einfach, ob man das Bild auch anders betrachten kann.«
   Sie starrten weiter darauf. Plötzlich zuckte Li zusammen.
   »Können Sie es um 90 Grad kippen?«
   Shankars Finger glitten über die Tastatur, und das Gebilde erschien in Seitenlage.
   »Ich sehe immer noch nicht, was das sein soll«, sagte Vanderbilt. »Ein Fisch? Ein großes Tier?«
 
   Li schüttelte den Kopf. Sie stieß ein leises Lachen aus.
   »Nein, Jack. Die Muster drum herum sind Wellen. Meereswellen. Eine Momentaufnahme, von unten gesehen. Aus der Tiefe gegen die Wasseroberfläche.«
   »Was? Und das schwarze Ding?«
   »Ganz einfach. Das sind wir. Es ist unser Schiff.«
 
Heerema, vor La Palma, Kanaren
 
   Vielleicht hätten sie nicht ganz so euphorisch sein sollen.
   Während der letzten sechzehn Stunden hatte der Sauger ununterbrochen gearbeitet und Tonnen rosaweißer Leiber ans Tageslicht befördert, denen der rapide Ortswechsel augenscheinlich schlecht bekam. Die meisten trafen aufgeplatzt ein, der Rest wand sich in Krämpfen und verendete mit ausgestülptem Rüssel und zuckenden Kiefern.
   Gleich zu Anfang war Frost nach draußen gelaufen, wo die Polychäten zusammen mit dem hoch gepumpten Meerwasser in einer gewaltigen Fontäne aus dem Schlauch spritzten und in weit gespannte Netze plumpsten, während das Wasser nach unten ablief. Über Rutschen fanden sie in den Bauch eines Frachters, der neben der Heerema lag und sich stetig füllte. Frost hatte begeistert in die Masse gegriffen und war schleimverschmiert mit einem Dutzend Kadaver zurückgekehrt, die er triumphierend in die Höhe hielt.