Einer der Männer am Pult stieß einen Laut des Widerwillens aus. Menschen sind so konditioniert, dachte Johanson. Wir gruseln uns vor allem, was kriecht, krabbelt und wimmelt, dabei ist es normal. Wir würden uns am meisten vor uns selber gruseln, wenn wir sehen könnten, wie sich Horden von Milben in unseren Poren bewegen und vom Talg ernähren, wie sich Millionen winziger Spinnentiere in unseren Matratzen breit machen und Milliarden Bakterien in unseren Gedärmen.
   Trotzdem gefiel ihm nicht, was er sah. Die Bilder aus dem Mexikanischen Golf hatten ähnlich große Populationen gezeigt, aber die Tiere waren kleiner gewesen und hatten untätig in ihren Kuhlen gelebt. Diese hier wanden und schlängelten sich über das Eis, eine gewaltige zuckende Masse, die den Boden vollständig bedeckte.
   »Zickzackkurs«, sagte Lund. Das ROV begann, in einer Art ausladendem Slalom zu schwimmen. Das Bild veränderte sich nicht. Würmer, wohin man sah. Plötzlich senkte sich der Boden ab. Der Pilot steuerte den Roboter weiter auf die Plateaukante zu. Selbst die acht starken Flutlichtspots erlaubten hier nur eine Sicht von wenigen Metern. Dennoch hatte es den Anschein, als bedeckten die Kreaturen den ganzen Hang. Johanson kam es vor, als seien sie noch größer als die Exemplare, die Lund ihm zur Untersuchung überlassen hatte. Im nächsten Moment wurde alles schwarz. Victor war über die Kante gestoßen. Hier ging es rund einhundert Meter senkrecht in die Tiefe. Der Roboter fuhr mit voller Geschwindigkeit weiter. »Drehen«, sagte Lund. »Wir schauen uns die Hangwand an.« Der Pilot manövrierte den Victor in eine Kurve. Im Scheinwerferlicht wirbelten Partikel. Etwas Großes, Helles wölbte sich vor die Kameraobjektive, füllte sie eine Sekunde lang aus und zog sich blitzschnell zurück.
   »Was war das?«, rief Lund.
   »Position zurück.«
   Das ROV flog eine Gegenkurve.
   »Es ist weg.«
   »Kreisbewegung!«
   Victor stoppte und begann, sich um seine eigene Achse zu drehen. Nichts war zu sehen außer undurchdringlicher Finsternis und dem beleuchteten Plankton im Lichtkegel. »Da war irgendwas«, bestätigte der Koordinator. »Vielleicht ein Fisch.« »Muss ein verdammt großer Fisch gewesen sein«, knurrte der Pilot. »Er hat das Bild komplett ausgefüllt.« Lund wandte den Kopf und sah Johanson an. Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, was es war.« »Okay. Schauen wir uns weiter unten um.«
   Das ROV hielt auf den Abhang zu. Nach wenigen Sekunden kam abschüssiges Gelände in Sicht. Einige Sedimentbrocken ragten daraus hervor, der Rest war bedeckt von rosa Leibern.
   »Sie sind überall«, sagte Lund.
   Johanson trat neben sie.
   »Habt ihr eine Übersicht über die hiesigen Hydratvorkommen?« »Hier ist alles voller Methan. Hydrate, Gasblasen im Erdinnern, Gas, das austritt …« »Ich meine speziell das Eis an der Oberfläche.« Lund tippte etwas in die Tastatur ihres Terminals. Eine Karte des Meeresbodens erschien auf einem der Monitore. »Da, die hellen Flecken. Diese Vorkommen haben wir kartiert.«
   »Kannst du mir Victors augenblickliche Position zeigen?«
   »Etwa hier.« Sie zeigte auf einen Bereich, der großflächige Verfärbungen aufwies.
   »Gut. Steuert mal dorthin, schräg rüber.«
   Lund gab dem Piloten Anweisungen. Die Scheinwerfer erfassten wieder Meeresboden, der frei von Würmern war. Nach einer Weile stieg das Gelände an, dann tauchte unmittelbar die Steilwand aus dem Dunkel auf.
   »Höher«, sagte Lund. »Hübsch langsam.«
   Schon nach wenigen Metern bot sich ihnen das gleiche Bild wie zuvor. Schlauchförmige rosa Körper mit weißen Borsten.
   »Klassisch«, sagte Johanson.
   »Was meinst du?«
   »Wenn eure Karte stimmt, sind genau hier große Hydratausdehnungen. Sprich, Bakterien lagern auf dem Eis und setzen das Methan um, und die Würmer fressen die Bakterien.«
   »Ist es auch klassisch, dass sie gleich zu Millionen anrücken?«
   Er schüttelte den Kopf. Lund lehnte sich zurück.
   »Na schön«, sagte sie zu dem Mann, der den Greifarm unter Kontrolle hatte. »Setzen wir Victor ab. Er soll einen Schwung von den Viechern einsacken und sich weiter die Gegend angucken — falls bei dem Gedränge von Gegend noch die Rede sein kann.«
   Es war zehn Uhr durch, als es an Johansons Kammer klopfte. Er öffnete. Lund kam herein und ließ sich in den kleinen Sessel fallen, der zusammen mit einem winzigen Tisch den besonderen Kabinenluxus darstellte.
   »Meine Augen brennen«, sagte sie. »Alban hat für eine Weile übernommen.«
   Ihr Blick fiel auf die Käseplatte und die geöffnete Flasche Bordeaux.
   »Das hätte ich mir ja denken können.« Sie lachte. »Darum bist du eben abgehauen.«
   Johanson hatte den Monitorraum vor einer halben Stunde verlassen, um alles vorzubereiten.
   »Brie des Meaux, Taleggio, Munster, ein alter Ziegenkäse und etwas Fontina aus den piemontesischen Bergen«, stellte er die Käse der Reihe nach vor. »Baguette und Butter.«
   »Du Wahnsinniger.«
   »Willst du ein Glas?«
   »Natürlich will ich ein Glas. Was ist es denn?«
   »Ein Pauillac. Du musst mir nachsehen, dass ich ihn nicht dekantieren konnte, die Thorvaldson weist Mängel an gesellschaftsfähigem Kristall auf. Habt ihr noch was Interessantes gesehen?«
   Lund nahm das Glas entgegen und trank es zur Hälfte leer. »Die Scheißviecher lagern auf den Hydraten. Überall.«
   Johanson ließ sich ihr gegenüber auf der Bettkante nieder und strich nachdenklich Butter auf ein Stück Baguette. »Wirklich bemerkenswert.«
   Lund bediente sich am Käse. »Die anderen sind jetzt auch der Meinung, dass wir uns Gedanken machen sollten. Allen voran Alban.«
   »Bei eurem ersten Besuch habt ihr nicht so viele gesehen?«
   »Nein. Ich meine, mehr als genug für meinen Geschmack, nur stand ich mit meinem Geschmack bis eben noch alleine.«
   Johanson lächelte sie an.
   »Du weißt doch. Wer Geschmack hat, befindet sich immer in der Minderheit.«
   »Na, jedenfalls, morgen früh kommt Victor hoch und bringt weitere Würmer mit. Dann kannst du mit ihnen spielen, falls du Lust hast.« Kauend stand sie auf und schaute aus dem Kabinenfenster. Inzwischen hatte es aufgeklart. Ein Streifen Mondlicht ergoss sich über die Wellen, die ihn funkelnd verteilten. »Wohl hundertmal habe ich mir die verdammte Videosequenz angesehen. Dieses helle Ding. Alban meint auch, es sei ein Fisch gewesen, aber wenn das stimmt, dann hatte er die Ausmaße eines Mantas oder von noch was Größerem.
   Außerdem war keinerlei Körperform erkennbar.« »Vielleicht ein Lichtreflex«, schlug Johanson vor. Sie drehte sich zu ihm um. »Nein. Es war einige Meter entfernt, genau an der Lichtgrenze. Es war riesig und flächig, und es hat sich blitzschnell zurückgezogen, als könne es das Licht nicht vertragen oder habe Angst, entdeckt zu werden.«
   »Das kann alles Mögliche gewesen sein.«
   »Nein, nicht alles Mögliche.«
   »Ein Fischschwarm kann auch zurückzucken. Wenn sie dicht genug schwimmen, entsteht der Eindruck eines …« »Das war kein Fischschwarm, Sigur! Es war flächig. Eine durchgehende Fläche, irgendwie … glasig. Wie eine große Qualle.« »Eine große Qualle. Da hast du’s.« »Nein. Nein!« Sie machte eine Pause und setzte sich wieder. »Schau es dir selber an. Es war keine Qualle.« Sie aßen eine Weile schweigend weiter.
   »Du hast Jörensen belogen«, sagte Johanson unvermittelt. »Es wird kein SWOP geben. Jedenfalls nichts, worauf man Ölarbeiter beschäftigen könnte.«
   Lund schaute auf. Sie führte ihr Glas zu den Lippen, trank und stellte es bedächtig zurück. »Stimmt.«
   »Warum? Hast du befürchtet, es könnte ihm das Herz brechen?«
   »Vielleicht.«
   Johanson schüttelte den Kopf.
   »Ihr werdet ihm ohnehin das Herz brechen. Es gibt keine Jobs mehr für die Ölarbeiter, richtig?«
   »Hör zu, Sigur, ich wollte ihn nicht belügen, aber … ach verdammt, diese ganze Industrie macht gerade eine Veränderung durch, und menschliche Arbeitskräfte werden dabei auf der Strecke bleiben. Was soll ich denn machen? Jörensen weiß, dass es so ist. Er weiß auch, dass die Mannschaft der Gullfaks C auf ein Zehntel reduziert wird. Es kostet weniger, die ganze Plattform umzurüsten, als weiterhin zweihundertsiebzig Leute zu beschäftigen. Statoil trägt sich mit dem Gedanken, die Mannschaft auf Gullfaks B ganz aufzulösen. Wir können sie von einer anderen Plattform aus steuern, und selbst das rechnet sich nur mit gutem Willen.«
   »Du willst mir weismachen, dass sich euer Business nicht mehr lohnt?«
   »Das Offshore-Geschäft hat sich erst gelohnt, als die OPEC den Preis in die Höhe trieb, Anfang der Siebziger. Aber seit Mitte der Achtziger fällt er wieder. Und entsprechend tief wird Nordeuropa fallen, wenn die Quellen versiegen, also müssen wir weiter draußen bohren, wo es tief ist, unter Zuhilfenahme von ROVs und AUVs.«
   AUV war eine weitere Abkürzung aus dem Vokabular der Tiefseeexploration und derzeit in aller Munde. Die Autonomous Underwater Vehicles funktionierten im Wesentlichen wie der Victor, waren jedoch nicht mehr auf die künstliche Nabelschnur zum Mutterschiff angewiesen. Die Offshore-Industrie sah mit großem Interesse auf die Entwicklung dieser neuartigen Tauchroboter, die wie planetare Späher in die unwirtlichsten Regionen vorstießen, äußerst flexibel und beweglich waren und innerhalb eines gewissen Rahmens sogar eigene Entscheidungen treffen konnten. Mit Hilfe von AUVs rückte die Möglichkeit in greifbare Nähe, Ölförderungsstationen selbst in fünf— oder sechstausend Metern Tiefe zu installieren und zu überwachen.
   »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Johanson, während er Wein nachgoss. »Du kannst nicht wirklich was dafür.«
   »Ich entschuldige mich nicht«, entgegnete Lund mürrisch. »Außerdem können wir alle was dafür. Würde die Menschheit nicht so rumaasen mit dem Brennstoff, hätten wir die Probleme nicht.«
   »Doch. Wir hätten sie nur später. Aber dein Umweltbewusstsein ehrt dich.«
   »Na und?«, versetzte sie giftig. Der spöttische Unterton in seiner Stimme war ihr nicht entgangen. »Ölfirmen lernen auch dazu, du wirst es kaum für möglich halten.«
   »Ja, aber was?«
   »Wir dürfen uns in den nächsten Jahrzehnten mit der Entsorgung von über sechshundert Plattformen rumschlagen, weil sie unwirtschaftlich sind und die Technik nichts mehr taugt! Weißt du, was das kostet? Milliarden! Bis dahin ist der Schelf leer gepumpt! Also tu nicht so als wären wir irgendwelches Lumpenpack.«
   »Schon gut.«
   »Natürlich stürzt sich jetzt alles auf unbemannte Unterwasserfabriken. Wenn wir es nicht tun, hängt Europa morgen komplett an den Pipelines des Nahen Ostens und Südamerikas, und uns bleibt ein Friedhof im Meer.«
   »Dagegen sage ich ja gar nichts. Ich frage mich nur, ob ihr immer so genau wisst, was ihr da tut.«
   »Was meinst du damit?«
   »Ihr müsst massive technische Probleme lösen, um autonome Fabriken zu betreiben.«
   »Ja. Sicher.«
   »Ihr plant den Durchsatz gewaltiger Mengen unter extremen Druckverhältnissen und mit hochkorrosiven Beimischungen, und dann noch möglichst wartungsfrei.« Johanson zögerte. »Aber ihr wisst nicht wirklich, wie es da unten aussieht.«
   »Wir finden es eben heraus.«
   »So wie heute? Das bezweifle ich. Mir kommt es vor, als ob Oma im Urlaub Schnappschüsse macht und hinterher denkt, sie wüsste etwas über das Land, in dem sie war. Ihr neigt dazu, euch eine Stelle zu suchen, euch einen Claim abzustecken und ihn so weit in Augenschein zu nehmen, dass er euch Erfolg versprechend erscheint. Deswegen werdet ihr noch lange nicht verstehen, in welches System ihr eingreift.«
   »Jetzt kommt das schon wieder«, stöhnte Lund.
   »Habe ich etwa Unrecht?«
   »Ich kann das Wort Ökosystem singen und rückwärts herbeten. Ich kann’s im Schlaf. Bist du jetzt neuerdings gegen die Ölförderung?«
   »Nein. Ich bin nur dafür, sich mit der Welt vertraut zu machen, die man betritt.«
   »Was denkst du, was wir hier tun?«
   »Ich bin sicher, ihr wiederholt eure Fehler. Ende der Sechziger hattet ihr euren Goldrausch, und ihr habt die Nordsee zugebaut. Jetzt steht euch das Zeug im Weg herum. Ihr solltet ähnliche Hastigkeiten in der Tiefsee vermeiden.«
   »Wenn wir so hastig sind, warum habe ich dir dann die verdammten Würmer geschickt?«
   »Du hast ja Recht. Ego te absolvo.«
   Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Johanson beschloss, das Thema zu wechseln: »Kare Sverdrup ist übrigens ein netter Kerl. — Um auch mal was Positives zu sagen an diesem Abend.«
   Lund warf die Stirn in Falten. Dann entspannte sie sich und lachte. »Findest du?«
   »Absolut.« Er breitete die Hände aus. »Ich meine, es ist alles andere als nett, dass er mich vorher nicht gefragt hat, aber ich kann ihn gut verstehen.«
   Lund ließ den Wein in ihrem Glas kreisen.
   »Das ist alles noch so frisch«, sagte sie leise.
   Sie schwiegen eine Weile.
   »Sehr verliebt?«, fragte Johanson in die Stille hinein.
   »Wer? Er oder ich?«
   »Du.«
   »Hm.« Sie lächelte. »Ich glaube schon.«
   »Du glaubst?«
   »Ich bin Forscherin. Ich muss es eben erst erforschen.«
   Es war Mitternacht, als sie schließlich ging. An der Tür warf sie einen Blick zurück auf die leeren Gläser und die Käserinden.
   »Vor wenigen Wochen hättest du mich damit gekriegt«, sagte sie. Es klang beinahe bedauernd.
   Johanson schob sie sanft hinaus auf den Flur.
   »In meinem Alter kommt man auch darüber weg«, sagte er. »Los jetzt! Geh forschen.«
   Sie trat nach draußen. Dann beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
   »Danke für den Wein.«
   Das Leben besteht aus Kompromissen zwischen verpassten Gelegenheiten, dachte Johanson, als er die Türe schloss. Dann grinste er und schickte den Gedanken in die Verbannung. Er hatte schon zu viele Gelegenheiten genutzt, um sich beklagen zu können.
 

18. März

Vancouver und Vancouver Island, Kanada
 
   Leon Anawak hielt den Atem an.
   Komm schon, dachte er. Mach uns die Freude.
   Es war das sechste Mal, dass der Beluga auf den Spiegel zuschwamm. Die kleine Gruppe Journalisten und Studenten, die sich im unterirdischen Beobachtungsraum des Vancouver Aquariums zusammengefunden hatte, verharrte in andächtiger Stille. Durch die riesige Scheibe konnten sie das Innere des Pools in seiner Gesamtheit überblicken. Schräg einfallende Sonnenstrahlen tanzten über Wände und Boden. Der Beobachtungsraum selber lag im Dunkeln, sodass die Wasseroberfläche Licht und Schatten in unstetem Spiel auf die Gesichter der Umstehenden zauberte.
   Anawak hatte den Beluga mit ungiftiger Tinte markiert. Ein farbiger Kreis zierte jetzt seinen Unterkiefer. Die Stelle war so gewählt, dass der Wal sie nur sehen konnte, wenn er sein Spiegelbild betrachtete. Zwei Spiegel waren in die reflektierenden Glaswände des Pools eingelassen, und zu einem davon schwamm der Beluga jetzt in mäßigem Tempo. Er tat es mit einer Zielstrebigkeit, dass Anawak keinen Zweifel am Ausgang des Experiments hegte. Der weiße Körper drehte sich im Vorüberschwimmen leicht, als wolle der Wal den Betrachtern seine markierte Kinnlade präsentieren. Dann stoppte er vor der Glaswand und ließ sich ein Stück nach unten sinken, bis er auf gleicher Höhe mit dem Spiegel war. Er verharrte, stellte sich auf, bewegte den Kopf in die eine, dann in die andere Richtung. Offenbar versuchte er herauszufinden, aus welchem Blickwinkel er den Kreis am besten sehen konnte. Eine ganze Weile schwebte er auf diese Weise vor dem Spiegel, bewegte die Flossen und drehte den kleinen Kopf mit der charakteristischen Stirnwölbung hin und her.
   So wenig menschenähnlich der Beluga war, erinnerte er in diesen Sekunden auf geradezu unheimliche Weise an einen Menschen. Im Gegensatz zu Delphinen waren Belugas verschiedener Gesichtsausdrücke fähig. Augenblicklich schien der Wal sich zuzulächeln. Vieles von dem, was Menschen gerne in Delphine und Belugas hineininterpretierten, resultierte aus diesem vermeintlichen Lächeln. Tatsächlich entsprangen die hoch gezogenen Mundwinkel einer Reihe physiognomischer Eigentümlichkeiten, die der Kommunikation dienten. Belugas konnten die Mundwinkel ebenso herabziehen, ohne Missmut auszudrücken. Sie konnten sogar die Lippen spitzen und aussehen, als ob sie gut gelaunt vor sich hinpfiffen.
   Im nächsten Moment verlor der Beluga das Interesse. Vielleicht war er zu dem Schluss gelangt, sein Spiegelbild hinreichend erforscht zu haben, jedenfalls stieg er in einer eleganten Kurve auf und entfernte sich von der Glasscheibe.
   »Das war’s«, sagte Anawak leise.
   »Und was heißt das jetzt?«, fragte eine Journalistin enttäuscht, nachdem der Wal nicht wiederkam.
   »Er weiß, wer er ist. Gehen wir nach oben.«
   Sie stiegen aus dem Untergrund zurück ins Sonnenlicht. Zu ihrer Linken lag der Pool, auf dessen Oberfläche sie nun blickten. Dicht unter den kräuseligen Wellen sahen sie die Körper der beiden Belugas dahingleiten. Anawak hatte bewusst darauf verzichtet, die Beobachter im Vorhinein über den exakten Ablauf des Experiments aufzuklären. Er ließ sich die Eindrücke der Teilnehmer schildern, um sicherzugehen, dass er nichts in das Verhalten des Wals hineininterpretierte, was ihn sein Wunschdenken hatte sehen lassen.
   Seine Beobachtungen wurden ausnahmslos bestätigt.
   »Gratuliere«, sagte er schließlich. »Sie haben soeben einem Experiment beigewohnt, das als Spiegel-Selbsterkennung in die Geschichte der Verhaltensforschung eingegangen ist. Ist jeder von Ihnen hinreichend damit vertraut?«
   Die Studenten waren es, die Journalisten weniger.
   »Macht nichts«, sagte Anawak. »Ich gebe Ihnen einen kurzen Abriss. Die Spiegel-Selbsterkennung datiert aus den Siebzigern. Jahrzehntelang beschränkten sich die Tests vornehmlich auf Primaten. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name Gordon Gallup etwas sagt …« Etwa die Hälfte der Umstehenden nickte, die anderen schüttelten den Kopf. »Nun, Gallup ist Psychologe an der State University von New York. Eines Tages kam er auf eine ziemlich verrückte Idee: Er konfrontierte verschiedene Affenarten mit ihrem Spiegelbild. Die meisten ignorierten es, andere versuchten es anzugreifen, weil sie dachten, es handle sich um einen fremden Eindringling. Einige Schimpansen erkannten sich schließlich im Spiegel und benutzten ihn, um sich selber zu erforschen. Das war bemerkenswert, denn die überwiegende Mehrheit im Tierreich ist nicht in der Lage, sich selber im Spiegel zu erkennen. Tiere existieren. Sie fühlen, agieren und reagieren. Aber sie sind sich ihrer selbst nicht bewusst. Sie können sich nicht als eigenständige Individuen wahrnehmen, die sich von ihren Artgenossen unterscheiden.«
   Anawak erklärte weiter, wie Gallup die Stirn der Affen mit Farbe markiert und die Tiere dann vor den Spiegel gesetzt hatte. Die Schimpansen begriffen schnell, wen sie da im Spiegel sahen. Sie inspizierten die Markierung, betasteten die Stelle mit den Fingern und rochen daran. Gallup führte die Tests mit anderen Affen, Papageien und Elefanten durch. Doch die einzigen Tiere, die den Spiegeltest durchweg bestanden, waren Schimpansen und Orang-Utans, was Gallup zu der Schlussfolgerung brachte, dass sie über Selbstwahrnehmung und damit über ein gewisses Selbstbewusstsein verfügten.
   »Gallup ging aber noch weiter«, erklärte Anawak. »Er hatte lange Zeit die Auffassung vertreten, Tiere könnten die Psyche anderer Spezies nicht nachempfinden. Aber die Spiegeltests änderten seine Meinung. Er glaubt heute nicht nur, dass sich bestimmte Tiere ihrer selbst bewusst sind, sondern auch, dass sie dieser Umstand in die Lage versetzt, sich in andere hineinzudenken. Schimpansen und Orang-Utans messen anderen Individuen Absichten bei und entwickeln Mitgefühl. Sie können von ihrem eigenen psychischen Befinden auf das anderer schließen. Das ist Gallups These, die mittlerweile eine große Anhängerschaft gefunden hat.«
   Er machte eine Pause. Ihm war klar, dass er die Journalisten später würde einbremsen müssen. Er wollte nicht in wenigen Tagen lesen, Belugas seien bessere Psychiater, Tümmler hätten einen Club zur Rettung Schiffbrüchiger und Schimpansen einen Schachverein gegründet.
   »Jedenfalls«, fuhr er fort, »ist es bezeichnend, dass bis in die Neunziger fast ausschließlich Landtiere für Spiegeltests herangezogen wurden. Dabei war über die Intelligenz von Walen und Delphinen zwar schon spekuliert worden, aber der Nachweis fand nicht unbedingt das Interesse der Nahrungsmittelindustrie. Affenfleisch und Affenfell sind nur für einen sehr geringen Teil der Weltbevölkerung von Interesse. Die Jagd auf Wale und Delphine vereinbart sich hingegen schlecht mit Intelligenz und Selbstbewusstsein der Gejagten. Eine ganze Reihe von Leuten war nicht sonderlich begeistert, als wir vor wenigen Jahren begannen, Spiegeltests mit Tümmlern durchzuführen. Wir kleideten den Pool teils mit reflektierenden Glasscheiben aus, teils mit richtigen Spiegeln. Dann markierten wir die Tümmler mit einem schwarzen Stift. Es war erstaunlich genug, dass unsere Probanden so lange die Wände absuchten, bis sie die Spiegel gefunden hatten. Offenbar war ihnen klar, dass sie die Markierung umso deutlicher sehen konnten, je besser die Fläche ihr Spiegelbild reflektierte. Aber wir gingen noch weiter, indem wir die Tiere abwechselnd mit einem echten Farbstift kennzeichneten und mit einem, der nur Wasser enthielt. Es hätte ja sein können, dass die Tümmler einzig auf den taktilen Reiz des Stifts reagierten, aber tatsächlich verharrten sie länger und prüfender vor den Spiegeln, wenn die Markierung sichtbar war.«
   »Erhielten die Tümmler Belohnungen?«, fragte einer der Studenten.
   »Nein, und wir haben sie auch nicht für den Test trainiert. Wir haben während der Experimente sogar unterschiedliche Körperpartien markiert, um Lern— oder Gewöhnungseffekte auszuschließen. Seit wenigen Wochen führen wir nun den gleichen Testaufbau mit Belugas durch. Sechsmal haben wir den Wal markiert, zweimal mit dem Placebo-Stift. Sie haben gesehen, was geschah. Jedes Mal schwamm er zu dem Spiegel und suchte nach dem Symbol. Zweimal fand er keines vor und brach die Überprüfung vorzeitig ab. Meines Erachtens haben wir den Beweis erbracht, dass Belugas über den gleichen Grad der Selbsterkenntnis verfügen wie Schimpansen. Wale und Menschen könnten einander in einigen Punkten ähnlicher sein, als wir bisher dachten.«
   Eine Studentin hob die Hand. »Sie wollen sagen …« Sie zögerte. »Die Ergebnisse wollen sagen, dass Delphine und Belugas über Geist und Bewusstsein verfügen, richtig?«
   »So ist es.«
   »Worin soll das begründet liegen?«
   Anawak war verblüfft. »Haben Sie gerade nicht zugehört? Waren Sie vorhin nicht unten?«
   »Doch, schon. Ich habe gesehen, dass ein Tier sein Spiegelbild registriert hat. Es weiß also, das bin ich. Schließen Sie daraus zwangsläufig auf Selbstbewusstsein?«
   »Sie haben die Frage soeben selber beantwortet. Es weiß, das bin ich. Es hat ein Ich-Bewusstsein.«
   »Das meine ich nicht.« Sie trat einen Schritt nach vorne. Anawak betrachtete sie unter gerunzelten Brauen. Sie hatte rotes Haar, eine kleine spitze Nase und leicht überdimensionierte Schneidezähne. »Ihr Versuch unterstellt Aufmerksamkeitsbewusstsein und Körperidentität. Wie es aussieht, mit Erfolg. Das muss noch lange nicht heißen, dass diese Tiere ein Bewusstsein permanenter Identität aufweisen und daraus irgendwelche Konsequenzen im Umgang mit anderen Lebewesen ableiten.«
   »Das habe ich auch nicht gesagt.«
   »Doch. Sie haben Gallups These vertreten, dass bestimmte Tiere von sich selbst auf andere schließen können.«
   »Affen.«
   »Was nebenbei gesagt umstritten ist. Jedenfalls haben Sie keinerlei Einschränkungen gemacht, als Sie später über Tümmler und Belugas sprachen. Oder habe ich irgendwas nicht mitbekommen?«
   »Man muss in diesem Fall nichts einschränken«, erwiderte Anawak verdrossen. »Dass die Tiere sich erkennen, ist bewiesen.«
   »Einige Versuche lassen das vermuten, ja.«
   »Worauf wollen Sie hinaus?«
   Sie hob die Schultern und sah ihn aus runden Augen an.
   »Na, ist das nicht offensichtlich? Sie können sehen, wie sich ein Beluga benimmt. Aber woher wollen Sie wissen, was er denkt? Ich kenne die Arbeit von Gallup. Er meint, bewiesen zu haben, dass sich ein Tier in ein anderes hineinversetzen kann. Das setzt voraus, dass Tiere ähnlich denken und empfinden wie wir. Was Sie uns heute gezeigt haben, ist der Versuch einer Vermenschlichung.«
   Anawak war sprachlos. Ausgerechnet damit wollte sie ihm kommen. Mit seinem eigenen Argument.
   »Hatten Sie wirklich diesen Eindruck?«
   »Sie haben gesagt, Wale könnten uns möglicherweise ähnlicher sein, als wir bisher dachten.«
   »Warum hören Sie nicht besser hin, Miss …«
   »Delaware. Alicia Delaware.«
   »Miss Delaware.« Anawak sammelte sich. »Ich sagte, Wale und Menschen könnten einander ähnlicher sein, als wir dachten.«
   »Wo ist der Unterschied?«
   »Im Standpunkt. Wir wollen nicht beweisen, dass Wale den Menschen umso ähnlicher werden, je mehr Parallelen wir herausarbeiten. Es geht nicht darum, den Menschen als Idealbild hinzustellen, sondern grundsätzliche Verwandtschaften …«
   »Ich glaube aber nicht, dass das Selbstbewusstsein eines Tiers mit dem des Menschen vergleichbar ist. Die Grundvoraussetzungen liegen einfach zu weit auseinander. Es fängt damit an, dass Menschen ein permanentes Ich-Bewusstsein haben, durch das sie …«
   »Falsch«, unterbrach sie Anawak. »Auch Menschen entwickeln ein ständiges Bewusstsein von sich selber nur unter bestimmten Bedingungen. Das ist nachgewiesen. Im Alter von 18 bis 24 Monaten beginnen Kleinkinder, ihr Abbild im Spiegel zu erkennen. Bis dahin sind sie außerstande, über ihr Ich-Sein zu reflektieren. Sie sind sich ihres eigenen Geisteszustands nicht bewusst, weniger als dieser Wal, den wir eben gesehen haben. Und hören Sie auf, sich ständig nur auf Gallup zu beziehen. Wir bemühen uns hier, die Tiere zu verstehen. Worum bemühen Sie sich eigentlich?«
   »Ich wollte doch nur …«
   »Sie wollten? Wissen Sie, wie es auf einen Beluga wirken würde, wenn Sie sich im Spiegel betrachten? Sie bemalen sich das Gesicht, was soll er davon halten? Er wird schlussfolgern, dass Sie die Person im Spiegel identifizieren können. Alles andere wird ihm idiotisch vorkommen. Je nachdem, wie Ihr Geschmack in Sachen Kleidung und Make-up beschaffen ist, wird er sogar bezweifeln, dass Sie Ihr Spiegelbild erkennen können. Er wird Ihren Geisteszustand in Frage stellen.«
   Alicia Delaware errötete. Sie setzte zu einer Antwort an, aber Anawak ließ sie nicht zu Wort kommen.
   »Natürlich sind diese Tests nur ein Anfang«, sagte er. »Niemand, der Wale und Delphine ernsthaft erforscht, will den Mythos vom feuchtfröhlichen Menschenfreund wiederbeleben. Wahrscheinlich haben Wale und Delphine an Menschen nicht mal ein sonderliches Interesse, eben weil sie in einem anderen Lebensraum existieren, andere Bedürfnisse haben und aus einer anderen Evolution hervorgegangen sind als wir. Aber wenn unsere Arbeit dazu beiträgt, ihnen mehr Respekt einzuhandeln und sie auf diese Weise besser schützen zu können, ist sie jede Anstrengung wert.«
   Er beantwortete noch einige Fragen und tat es so knapp wie möglich. Alicia Delaware hielt sich mit betretener Miene im Hintergrund. Schließlich verabschiedete sich Anawak von der Gruppe und wartete, bis alle außer Sichtweite waren. Danach besprach er sich mit seinem wissenschaftlichen Team, legte die nächsten Termine fest und die weitere Vorgehensweise. Endlich allein, trat er an den Rand des Bassins, atmete tief durch und entspannte sich.
   Öffentlichkeitsarbeit lag ihm nicht besonders. Aber er würde in Zukunft nicht drum herumkommen. Seine Karriere verlief allzu planmäßig. Sein Ruf als Erneuerer der Intelligenzforschung eilte ihm voraus. Also würde er sich weiterhin mit den Alicia Delawares dieser Welt herumstreiten müssen, die frisch von der Uni kamen und vor lauter Büchern keinen Liter Meerwasser von innen gesehen hatten.
   Er ging in die Hocke und strich mit den Fingern durch das kühle Wasser des Beluga-Beckens. Es war früh am Morgen. Sie führten die Tests und wissenschaftlichen Führungen vorzugsweise durch, bevor das Aquarium öffnete oder nachdem es schloss. Nach den wochenlangen Regenfällen prunkte der März mit einer Reihe ausnehmend schöner Tage, und die frühe Sonne legte sich angenehm warm auf Anawaks Haut.
   Was hatte diese Studentin gesagt? Er versuche, die Tiere zu vermenschlichen?
   Der Vorwurf nagte an ihm. Anawak hielt sich zugute, Wissenschaft nüchtern zu betreiben. Sein ganzes Leben betrachtete er mit größtmöglicher Nüchternheit. Er trank nicht, ging nicht auf Partys und drängte sich nicht in den Vordergrund, um mit spekulativen Thesen um sich zu werfen. Weder glaubte er an Gott noch akzeptierte er irgendeine Form religiös geprägten Verhaltens. Jede Art von Esoterik war ihm zuwider. Er vermied es, menschliche Wertvorstellungen auf Tiere zu projizieren, wo er nur konnte. Insbesondere Delphine wurden zunehmend Opfer einer romantischen Vorstellung, die nicht minder gefährlich war als Hass und Arroganz: dass sie sich als die besseren Menschen erweisen und die Menschen sich bessern könnten, indem sie versuchten, Walen und Delphinen nachzueifern. Derselbe Chauvinismus, der sich in beispielloser Brutalität ausdrückte, brachte die rückhaltlose Vergötterung hervor, der sich Delphine ausgesetzt sahen. Sie wurden entweder zu Tode gequält oder zu Tode geliebt.
   Ausgerechnet seinen eigenen Standpunkt hatte ihm diese hasenzähnige Miss Delaware beibiegen wollen.
   Anawak plätscherte weiterhin mit der Hand im Wasser. Nach einer Weile kam der markierte Beluga zu ihm geschwommen. Das Tier war ein vier Meter langes Weibchen. Es streckte den Kopf heraus und ließ sich tätscheln. Dabei stieß es leise Pfeiflaute aus. Anawak fragte sich, ob der Beluga irgendeine menschliche Empfindung teilte und nachvollziehen konnte. Tatsächlich gab es dafür nicht den geringsten Beweis. Insofern hatte Alicia Delaware erst einmal Recht.
   Aber ebenso wenig existierte ein Beweis dafür, dass er es nicht konnte.
   Der Beluga stieß ein Zwitschern aus und zog sich unter die Wasseroberfläche zurück. Ein Schatten war auf Anawak gefallen. Er wandte den Kopf und sah ein paar bestickte Cowboystiefel neben sich.
   Oh nein, dachte er. Nicht auch das noch!
   »Na, Leon«, sagte der Mann, der zu ihm an den Beckenrand getreten war. »Wen malträtieren wir denn heute?«
   Anawak richtete sich auf und musterte den Neuankömmling. Jack Greywolf sah aus, als sei er einem Neowestern entsprungen. Seine hünenhafte, muskelbepackte Gestalt steckte in einem speckigen Lederanzug. Indianerschmuck baumelte über der schrankbreiten Brust. Unter dem federgeschmückten Hut fiel schwarzes, seidig schimmerndes Haar über Schultern und Rücken. Es war das Einzige, was an Jack Greywolf gepflegt wirkte, der ansonsten wie üblich den Anschein erweckte, als habe er sich wochenlang ohne Wasser und Seife durch die Prärie geschlagen. Anawak sah in das braun gebrannte Gesicht mit dem spöttischen Grinsen und lächelte dünn zurück.
   »Wer hat dich denn reingelassen, Jack? Der große Manitou?«
   Greywolf grinste noch breiter.
   »Sondergenehmigung«, sagte er.
   »Ach ja? Seit wann?«
   »Seit wir die päpstliche Erlaubnis haben, euch auf die Finger zu hauen. Quatsch, Leon, ich bin vorne reingegangen wie alle anderen auch. Sie haben vor fünf Minuten aufgemacht.«
   Anawak sah verwirrt auf die Uhr. Greywolf hatte Recht. Er hatte am Belugabecken die Zeit vergessen.
   »Ich hoffe, es ist ein zufälliges Zusammentreffen«, sagte er.
   Greywolf spitzte die Lippen. »Nicht ganz.«
   »Also wolltest du zu mir?« Anawak setzte sich langsam in Bewegung und zwang Greywolf, ihm zu folgen. Die ersten Besucher schlenderten durch die Anlage. »Was kann ich für dich tun?«
   »Du weißt genau, was du für mich tun kannst.«
   »Dieselbe alte Leier?«
   »Schließ dich uns an.«
   »Vergiss es.«
   »Komm schon, Leon, du bist doch einer von uns. Du kannst kein Interesse daran haben, dass ein Haufen reicher Arschlöcher Wale zu Tode fotografiert.«
   »Habe ich auch nicht.«
   »Die Leute hören auf dich. Wenn du dich offiziell gegen das Whale Watching aussprichst, wird die Diskussion ein anderes Gewicht erhalten. Jemand wie du könnte uns sehr nützen.«
   Anawak blieb stehen und sah Greywolf herausfordernd in die Augen.
   »Ganz recht. Euch könnte ich nützen. Ich will aber niemandem nützen außer denen, die es nötig haben.«
   »Da!« Greywolf zeigte mit ausgestrecktem Arm zum Belugabecken. »Die haben es nötig! Ich könnte kotzen, wenn ich dich hier sehe. In trauter Eintracht mit Gefangenen! Ihr sperrt sie ein oder hetzt sie, das ist Mord auf Raten. Jedes Mal, wenn ihr rausfahrt mit euren Booten, tötet ihr die Tiere ein bisschen mehr.« »Bist du eigentlich Vegetarier?« »Was?« Greywolf blinzelte verwirrt. »Ich frage mich außerdem gerade, wem sie für deine Jacke die Haut abgezogen haben.« Er ging weiter. Greywolf blieb einen Moment verblüfft stehen, dann kam er Anawak mit großen Schritten hinterher.
   »Das ist etwas anderes. Die Indianer haben immer in Einklang mit der Natur gelebt. Sie haben aus den Häuten der Tiere …«
   »Erspar’s mir.«
   »Es ist aber so.«
   »Soll ich dir sagen, was dein Problem ist, Jack? Genau genommen hast du zwei. Erstens, du hängst dir das Mäntelchen des Umweltschutzes um, aber stattdessen führst du einen Stellvertreterkrieg für Indianer, die ihre Angelegenheiten längst schon anders geregelt haben. Dein zweites Problem ist, dass du gar kein richtiger Indianer bist.«
   Greywolf erbleichte. Anawak wusste, dass sein Gegenüber schon verschiedene Male wegen Körperverletzung vor Gericht gestanden hatte. Er fragte sich, wie weit er den Riesen würde reizen können. Ein Schlag von Greywolf mit der flachen Hand war geeignet, jede Auseinandersetzung nachhaltig zu beenden.
   »Warum erzählst du eine solche Scheiße, Leon?«
   »Du bist Halbindianer«, sagte Anawak. Er blieb vor dem Becken der Seeotter stehen und sah zu, wie die dunklen Körper torpedogleich durchs Wasser flitzten. Ihr Fell glänzte im frühen Sonnenlicht. »Nein, nicht mal das. Du bist in etwa so indianisch wie ein sibirischer Eisbär. Das ist dein Problem, weil du nicht weißt, wo du hingehörst, weil du nichts auf die Reihe kriegst, weil du glaubst, mit deinem Umweltgetue ein paar Leuten ans Bein pissen zu können, die du dafür verantwortlich machst. Lass mich da raus.«
   Greywolf blinzelte in die Sonne.
   »Ich kann dich nicht hören, Leon«, sagte er. »Warum höre ich keine Worte? Ich höre immer nur Mist. Geräusche. Geprassel, als wenn einer eine Schubkarre voller Kieselsteine auf ein Wellblechdach entleert.«
   »Hugh!«
   »Zum Teufel, wir sollten uns nicht streiten. Was will ich denn von dir? Nur ein bisschen Unterstützung!«
   »Ich kann dich nicht unterstützen.«
   »Schau, ich bin sogar so freundlich und komme, um unsere nächste Aktion anzukündigen. Ich müsste das nicht tun.«
   Anawak horchte auf. »Was habt ihr denn vor?«
   »Tourist Watching.« Greywolf lachte schallend. Seine weißen Zähne blitzten wie Elfenbein.
   »Und was soll das sein?«
   »Na ja, wir kommen raus und fotografieren deine Touristen. Wir bestaunen sie. Wir fahren ganz dicht ran und versuchen sie anzupacken. Sie sollen sich eine Vorstellung davon machen, wie es ist, begafft und betatscht zu werden.«
   »Das kann ich verbieten lassen.«
   »Das kannst du nämlich nicht, weil dies ein freies Land ist. Wir lassen uns von niemandem vorschreiben, wann und wohin wir mit unseren Booten fahren. Verstehst du? Die Aktion ist vorbereitet und beschlossen, aber wenn du uns ein bisschen entgegenkommst, könnte ich darüber nachdenken, sie abzublasen.«
   Anawak starrte ihn an. Dann wandte er sich ab und ging weiter. »Es kommen ohnehin keine Wale«, sagte er.
   »Weil ihr sie vertrieben habt.«
   »Nichts haben wir.«
   »Ach richtig, der Mensch ist niemals schuld. Es liegt an den blöden Tieren. Ständig schwimmen sie in herumfliegende Harpunen oder stellen sich in Positur, weil sie Fotos fürs Familienalbum wollen. Aber ich hörte, sie kommen wieder. Sind nicht in den letzten Tagen ein paar Buckelwale aufgekreuzt?«
   »Ein paar.«
   »Euer Geschäft dürfte bald auf der Nase liegen. Willst du riskieren, dass wir die Umsatzkurve noch weiter runterfahren?«
   »Leck mich, Jack.«
   »He, das ist mein letztes Angebot.«
   »Wie beruhigend.«
   »Verdammt nochmal! Leon! Dann leg wenigstens irgendwo ein gutes Wort für uns ein! Wir brauchen Geld. Wir finanzieren uns aus Spenden. — Leon! Bleib doch mal stehen. Es geht um eine gute Sache, willst du das denn nicht begreifen? Wir wollen doch beide dasselbe.«
   »Wir wollen nicht dasselbe. Guten Tag, Jack.«
   Anawak beschleunigte seinen Schritt. Am liebsten wäre er gerannt, aber er wollte Greywolf nicht das Gefühl geben, als laufe er vor ihm davon. Der Umweltschützer blieb stehen.
   »Du stures Aas!«, rief er ihm hinterher.
   Anawak gab keine Antwort. Zielstrebig passierte er das Delphinarium und hielt auf den Ausgang zu. »Leon, weißt du, was dein Problem ist? Ich bin vielleicht kein richtiger Indianer, aber deines ist, dass du einer bist!«
   »Ich bin kein Indianer«, murmelte Anawak.
   »Ach, Verzeihung!«, schrie Greywolf, als hätte er ihn gehört. »Du bist ja was ganz Besonderes. Warum bist du dann nicht da, wo du herkommst und wo man dich braucht?«
   »Arschloch«, zischte Anawak. Er kochte vor Wut. Erst diese renitente Ziege und dann Jack Greywolf. Es hätte ein schöner Tag werden können, begonnen mit einem erfolgreich durchgeführten Test. Stattdessen fühlte er sich ausgehöhlt und unglücklich.
   Wo du herkommst …
   Was maßte sich der hirnlose Muskelberg an? Woher nahm er die Frechheit, ihm seine Herkunft vorzuhalten?
   Wo man dich braucht!
   »Ich bin da, wo man mich braucht«, schnaubte Anawak.
   Eine Frau ging an ihm vorbei und starrte ihn irritiert an. Anawak sah sich um. Er stand draußen auf der Straße. Immer noch zitternd vor Wut ging er zu seinem Wagen, fuhr zur Anlegestelle nach Tsawwassen und nahm die Fähre zurück nach Vancouver Island.
   Tags darauf war er früh auf den Beinen. Um sechs hatte er nicht mehr schlafen können, einige Minuten gegen die niedrige Decke der Koje gestarrt und beschlossen, zur Station zu gehen.
   Rosa Wolken waren über den Horizont gesponnen. Der Himmel begann sich langsam aufzuhellen. Im spiegelglatten Wasser zeichneten sich die umliegenden Berge, Stelzenhäuser und Boote dunkel ab. In wenigen Stunden würden sich die ersten Touristen einfinden. Anawak ging ans Ende des Stegs zu den Zodiacs, stützte sich auf das hölzerne Geländer und sah eine Weile hinaus. Er liebte die friedliche Stimmung, wenn die Natur vor den Menschen erwachte. Niemand ging einem auf die Nerven. Leute wie Stringers unerträglicher Freund lagen im Bett und hielten die Klappe. Wahrscheinlich schlief auch Alicia Delaware den Schlaf der Ignoranz.
   Und Jack Greywolf.
   Dessen Worte allerdings hallten in Anawak nach. Greywolf mochte ein ausgemachter Idiot sein, aber leider hatte er es wieder mal geschafft, den Finger in die Wunde zu legen.
   Zwei kleine Kutter zogen vorbei. Anawak überlegte, ob er Stringer anrufen und überreden sollte, mit ihm rauszufahren. Es waren tatsächlich die ersten Buckelwale gesichtet worden. Offenbar trudelten sie mit enormer Verspätung ein, was einerseits erfreulich war, andererseits nicht erklärte, wo sie die ganze Zeit über gesteckt hatten. Vielleicht gelang es, ein paar zu identifizieren. Stringer hatte ein gutes Auge, und außerdem mochte er ihre Gesellschaft. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die Anawak nicht in den Ohren lagen mit seiner Herkunft: ob er Indianer sei. Oder doch eher Asiate. Oder sonst was.
   Samantha Crowe hatte ihn danach gefragt. Seltsam, ihr hätte er möglicherweise mehr von sich erzählt. Aber die SETI-Forscherin trat wohl in diesen Stunden den Rückweg nach Hause an.
   Du denkst zu viel nach, Leon.
   Anawak beschloss, Stringer schlafen zu lassen und auf eigene Faust loszufahren. Er ging in die Station und verstaute einen akkubetriebenen Laptop zusammen mit Kamera und Feldstecher, Rekorder, Hydrophon und Kopfhörern sowie eine Stoppuhr in einer wasserfesten Tasche. Dann packte er einen Müsliriegel und zwei Dosen Eistee mit hinein und brachte alles hinaus zur Blue Shark. Gemächlich ließ er das Boot durch die Lagune tuckern und beschleunigte erst, als die Häuser des Orts zurückblieben. Der Bug des Zodiacs stellte sich hoch. Wind schlug ihm ins Gesicht und fegte die trüben Gedanken aus seinem Kopf.
   Ohne Passagiere und Zwischenstopps ging alles schneller. Nach knapp zwanzig Minuten steuerte er zwischen einer Gruppe winziger Inselchen hinaus aufs anthrazitsilbrige Meer. Weit auseinander gezogene Wogen rollten träge herein. Er drosselte den Motor und fuhr mit verminderter Geschwindigkeit weiter. Während sich das Zodiac im heraufdämmernden Morgen von der Küste entfernte, hielt er Ausschau und versuchte, der zur Gewohnheit gewordenen Mutlosigkeit keinen Raum zu geben. Definitiv waren Wale gesichtet worden. Keine Residents. Migranten aus Kalifornien und Hawaii.
   Weiter draußen stellte er den Motor ab. Sofort umfing ihn perfekte Stille. Er öffnete eine Dose Eistee, trank sie aus und setzte sich mit dem Feldstecher in den Bug.
   Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er etwas zu sehen glaubte, aber die dunkle Wölbung war sofort wieder verschwunden.
   »Zeig dich«, flüsterte er. »Ich weiß, dass du da bist.«
   Angestrengt suchte er den Ozean ab. Minutenlang tat sich nichts. Dann hoben sich in einiger Entfernung nacheinander zwei flache Silhouetten aus dem Wasser. Geräusche wie von Flintenschüssen hallten herüber. Über den Buckeln stiegen weiße Dampfwolken auf wie Mündungsqualm. Anawak starrte mit runden Augen hinaus.
   Buckelwale.
   Er begann zu lachen. Er lachte vor Glück. Wie alle erfahrenen Cetologen konnte er die Art eines Wals an seinem Blas erkennen. Bei Großwalen umfasste der Gaswechsel jedes Mal einige Kubikmeter. Die alte Lungenfüllung wurde komprimiert und aus den engen Blaslöchern regelrecht herausgeschossen. Im Freien dehnte sie sich aus, kühlte zugleich ab und kondensierte zu einem sprayartigen Tröpfchennebel. Form und Höhe des Blas konnten innerhalb einer Art differieren, je nach Tauchzeit und Größe des Tiers, und auch der Wind spielte eine Rolle. — Aber das hier waren eindeutig die charakteristischen buschigen Kondenswolken von Buckelwalen.
   Anawak klappte den Laptop auf und startete das Programm. Er hatte die Steckbriefe hunderter Wale gespeichert, die regelmäßig hier vorbeizogen. Das wenige, was sie an der Oberfläche zeigten, lieferte dem ungeübten Auge kaum Hinweise auf die Art, geschweige denn auf einzelne Individuen. Hinzu kam, dass die Sicht oft durch raue See, Dunst, Regen oder gleißendes Sonnenlicht erschwert wurde. Dennoch besaß jedes Tier seine Kennung. Der einfachste Weg, es zu identifizieren, war die Fluke. Beim Abtauchen reckte es sie oft weit aus dem Wasser. Keine Unterseite glich der anderen. Jede war mit einem charakteristischen Muster versehen und wich in Form und Struktur der Kante leicht bis deutlich ab. Viele der Fluken hatte Anawak im Kopf gespeichert, aber der Laptop mit seinem Fotoarchiv machte die Arbeit natürlich leichter.
   Er war beinahe sicher, in den beiden Walen dort draußen alte Bekannte gefunden zu haben.
   Nach einer Weile tauchten die schwarzen Rücken wieder auf. Zuerst, kaum sichtbar, erschienen die kleinen Erhebungen mit den Blaslöchern. Wieder das knallende Zischen, fast synchron hervorschießende Atemwolken. Diesmal ließen sich die Tiere nicht gleich wieder unter Wasser sinken, sondern hoben ihre Buckel weit hinaus. Flache, abgestumpfte Rückenfinnen wurden sichtbar, neigten sich träge nach vorn und schnitten wieder ins Wasser. Deutlich erkannte Anawak den vom Rückgrat gezackten Hinterleib. Die Wale begannen abzutauchen, und jetzt endlich hoben sie gemächlich ihre Fluken aus dem Wasser.