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»Schon gut.« Bohrmann hob die Hand. »Wie lange noch?«
»Ein paar Wochen. Ein paar Tage. Ein paar …« Mirbach zögerte. Dann zuckte sie die Schultern. »Es gibt eine Unwägbarkeit bei alledem. Wir wissen immer noch nicht, ob es tatsächlich stattfinden wird. Fast alles spricht dafür, aber das Szenario ist so ungewöhnlich, dass wir über bloßes Theoretisieren kaum hinauskommen.«
»Lassen wir das ganze diplomatische Versteckspiel. Was ist deine persönliche Meinung?«
Mirbach sah ihn an.
»Ich habe keine.« Sie machte eine kurze Pause. »Wenn drei Wanderameisen auf ein großes Säugetier treffen, werden sie allenfalls tot getreten. Wenn dasselbe Säugetier auf ein paar tausend von ihnen trifft, wird es bei lebendigem Leib bis auf die Knochen abgenagt. So ähnlich stelle ich mir das mit Würmern und Mikroorganismen vor. Capito?«
»Ruf Johanson an«, sagte Suess wieder. »Sag ihm, wir rechnen mit einem Storegga-Effekt.«
Bohrmann ließ langsam die Luft entweichen.
Er nickte stumm.
Sie standen am Rande der Landeplattform, von wo man auf den Fjord sehen konnte. Vom gegenüberliegenden Ufer war kaum etwas zu erkennen. Die See lag vor ihnen wie matter Stahl unter einem immer grauer werdenden Himmel.
»Du bist ein Snob«, sagte Lund mit Blick auf den wartenden Helikopter.
»Natürlich bin ich ein Snob«, erwiderte Johanson. »Wenn man von euch zwangsrekrutiert wird, hat man sich einen gewissen Snobismus verdient, findest du nicht?«
»Fang nicht wieder davon an.«
»Du bist auch ein Snob. Du darfst die nächsten Tage mit einem feinen Geländewagen unterwegs sein.«
Lund lächelte. »Dann gib mir mal die Schlüssel.«
Johanson fingerte in seiner Manteltasche herum, zog den Schlüssel des Jeeps hervor und legte ihn in ihre Handfläche. »Pass gut drauf auf, solange ich weg bin.«
»Keine Angst.«
»Und komm bloß nicht auf die Idee, mit Kare darin zu knutschen.«
»Wir knutschen nicht in Autos.«
»Überall werdet ihr knutschen. Immerhin hast du gut daran getan, meinem Rat zu folgen und eine Lanze für den armen Stone zu brechen. Jetzt kann er seine Fabrik selber aus dem Wasser fischen.«
»Auf die Gefahr hin, dich zu desillusionieren, dein Rat spielte dabei keine Rolle. Stone zu begnadigen war ausschließlich Skaugens Entscheidung.«
»Ist er denn begnadigt?«
»Wenn er alles wieder unter Kontrolle bringt, könnte er im Konzern überleben.« Sie sah auf die Uhr. »Etwa um diese Zeit wird er wahrscheinlich mit dem Tauchboot runtergehen. Drücken wir ihm die Daumen.«
»Wieso schickt er keinen Roboter nach unten?«, wunderte sich Johanson.
»Weil er sie nicht alle hat.«
»Im Ernst.«
»Ich denke, er will beweisen, dass so eine Krise nur auf seine Art zu lösen ist. Dass ein Clifford Stone unersetzbar ist.«
»Und das lasst ihr zu?«
»Wieso?« Lund zuckte die Achseln. »Er ist immer noch Projektleiter. Außerdem hat er in einem Punkt Recht. Wenn er selber runtergeht, kann er die Lage differenzierter beurteilen.«
Johanson stellte sich vor, wie die Thorvaldson im konturlosen Grau lag, während Stone dem Meeresboden entgegensank, um sich herum Finsternis und unter sich ein Rätsel. »Mutig scheint er jedenfalls zu sein.«
»Ja.« Lund nickte. »Er ist ein Arschloch, aber Mut kann man ihm weiß Gott nicht absprechen.«
»Alsdann.« Johanson ergriff seine Reisetasche. »Fahr mein Auto nicht zuschanden.«
»Keine Bange.«
Sie gingen gemeinsam zum Helikopter. Skaugen hatte ihm tatsächlich das Flaggschiff des Konzerns zur Verfügung gestellt, einen großen Bell 430, das Nonplusultra an Komfort und Flugruhe.
»Was ist das eigentlich für ein Typ, diese Karen Weaver?«, fragte Lund an der Einstiegstüre.
Johanson zwinkerte ihr zu. »Sie ist jung und wunderschön.«
»Idiot.«
»Was weiß ich? Keine Ahnung.«
Lund zögerte. Dann schlang sie die Arme um ihn. »Pass auf dich auf, ja?«
Johanson tätschelte ihr den Rücken. »Wird schon schief gehen. Was soll mir denn passieren?«
»Nichts.« Sie schwieg einen Moment. »Übrigens hat dein Rat doch was bewirkt. Das, was du gesagt hast. Es hat den Ausschlag gegeben.«
»Zu Kare zu fahren?«
»Ein paar Dinge anders zu sehen. Ja, und zu Kare zu fahren.«
Johanson lächelte. Dann küsste er sie rechts und links auf die Wange. »Wir telefonieren, sobald ich dort bin.«
»Okay.«
Er stieg ins Innere und warf seine Tasche auf einen der Sitze hinter dem Piloten. Der Helikopter bot zehn Passagieren Platz, aber er hatte die Maschine für sich allein. Allerdings würden sie auch gut drei Stunden unterwegs sein.
»Sigur!«
Er drehte sich zu ihr um.
»Du bist … ich glaube, du bist wirklich mein bester Freund.« Sie hob etwas hilflos die Arme und ließ sie wieder fallen. Dann lachte sie. »Ich meine, was ich sagen will, ist …«
»Ich weiß schon«, grinste Johanson. »Du bist nicht gut in so was.«
»Nein.«
»Ich auch nicht.« Er beugte sich vor. »Je mehr ich jemanden mag, desto blöder stelle ich mich an, es ihm zu sagen. Was dich angeht, bin ich wahrscheinlich der größte Blödmann aller Zeiten.«
»War das ein Kompliment?«
»Mindestens.«
Er schloss die Tür. Der Pilot warf die Rotoren an. Langsam hob der Bell ab, und Lunds winkende Gestalt wurde kleiner. Dann senkte der Helikopter die Nase und flog hinaus auf den Fjord. Das Forschungszentrum blieb als Spielzeugbau zurück. Johanson machte es sich bequem und sah nach draußen, aber die Sicht gab nicht viel her. Trondheim verschwand im Dunst, Wasser und Berge zogen als farblose Flächen unter ihnen dahin, und der Himmel sah aus, als wolle er sie verschlucken.
Das dumpfe Gefühl überkam ihn wieder.
Angst.
Angst wovor?
Das ist nur ein Flug mit dem Hubschrauber, sagte er sich. Auf die Shetland-Inseln. Was soll schon passieren?
Manchmal hatte man eben so Anwandlungen. Zu viel Methan und Monsterkram. Dazu das Wetter. Vielleicht hätte er einfach ausgiebiger frühstücken sollen.
Er zog den Gedichtband aus der Reisetasche und begann zu lesen.
Über ihm wummerten dumpf die Rotoren. Sein Mantel, in dem sein Handy steckte, lag zusammengeknüllt auf der Sitzreihe hinter ihm. Dies und der Umstand seiner Versunkenheit in die Poesie Walt Whitmans führten dazu, dass er nicht hörte, als es klingelte.
Stone hatte beschlossen, vor dem Einsteigen ein paar Worte zu sagen, während ihn der Kameramann filmte und der andere Typ Fotos schoss. Es sollte eine genaue Dokumentation über den Verlauf des Unternehmens werden. Bei Statoil sollten sie sich ins Gedächtnis rufen, wie professionell ein Clifford Stone zu arbeiten wusste und was er unter Verantwortung verstand.
»Einen Schritt nach rechts«, sagte der Kameramann.
Stone gehorchte und scheuchte dabei zwei Techniker aus dem Bild. Dann überlegte er es sich anders und winkte sie wieder herbei.
»Schräg hinter mich«, sagte er. Es sah möglicherweise besser aus, wenn Techniker im Bild waren. Nichts sollte den Eindruck erwecken, als seien hier Hasardeure und Abenteurer am Werk.
Der Kameramann schraubte sein Stativ höher.
»Können wir endlich?«, rief Stone.
»Moment noch. Es sieht komisch aus. Sie verdecken den Piloten.«
Stone trat einen weiteren Schritt zur Seite.
»Und?«
»Besser.«
»Nicht die Fotos vergessen«, wies Stone den zweiten Mann an. Der Fotograf kam näher und betätigte, wie um den Expeditionsleiter zu beruhigen, den Auslöser.
»Okay«, sagte der Kameramann. »Läuft.« Stone blickte entschlossen in die Linse.
»Wir werden jetzt runtergehen, um zu sehen, was aus unserem Prototyp geworden ist. Augenblicklich scheint es, als sei die Fabrik von ihrem ursprünglichen … äh … wo sie vorher stand … Mist.«
»Kein Problem. Nochmal.«
Diesmal klappte alles. Stone erklärte in sachlichen Worten, dass sie vorhatten, für die Dauer einiger Stunden nach der Fabrik zu suchen. Er gab einen Abriss über den bisherigen Erkenntnisstand, kam kurz auf die veränderte Morphologie des Hangabschnitts zu sprechen und gab seiner Meinung Ausdruck, die Fabrik müsse infolge einer lokalen Destabilisierung des Sediments abgerutscht sein. Es klang alles sehr profund. Vielleicht zu sachlich. Stone, nicht eben ein Showtyp, erinnerte sich, dass alle großen Entdecker und Erkunder irgendeinen klugen Satz gesagt hatten, bevor oder nachdem sie die Ärmel hochkrempelten. Etwas, das prima klang. Es ist nur ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Schritt für die Menschheit. So was. Das war Masse gewesen. Natürlich hatten sie Neil Armstrong vorher eingeschärft, das zu sagen, als wäre er je von selber drauf gekommen, aber egal. Ich kam, sah und siegte, auch nicht schlecht. Julius Cäsar. Hatte Kolumbus irgendwas gesagt? Jacques Picard?
Er überlegte. Ihm fiel nichts ein.
Aber man musste ja nicht alles selber erfinden. Bohrmanns besinnliche Worte über bemannte Tauchfahrten hatten auch nicht schlecht geklungen. Stone räusperte sich.
»Natürlich könnten wir einen Roboter nach unten schicken«, sagte er abschließend. »Aber es ist nicht dasselbe. Ich kenne jede Menge Videoaufzeichnungen von Robotern. Hervorragendes Material.« Wie war das noch gewesen? Ach ja: »Aber selber da drin zu sitzen, selber unten zu sein, diese Dreidimensionalität — man kann sich das nicht vorstellen. Es ist unvergleichlich. Und … es gibt uns schlicht den besseren Über … äh, besseren Einblick … um zu sehen, was da los ist … ähm, und was wir tun können.«
Der letzte Satz war lausig gewesen.
»Amen«, sagte Alban leise im Hintergrund.
Stone drehte sich um, kroch unter das Tauchboot und schob sich durch das Loch. Der Pilot streckte ihm die Hand entgegen, aber Stone ignorierte die Hilfe. Er stemmte sich hoch und nahm Platz. Es war ein bisschen wie in einem Hubschrauber zu sitzen. Oder in einer Hightech-Attraktion in Disneyland. Das Seltsamste war das Empfinden, nach wie vor draußen zu sein, nur dass die Geräusche vom Deck nicht mehr ans Ohr drangen. Die Kugel aus zentimeterdickem Acryl, hermetisch abgeschlossen, ließ nichts durch.
»Muss ich Ihnen noch irgendwas erklären?«, fragte Eddie freundlich.
»Nein.«
Eddie hatte ihn schon zuvor geschult. Er hatte es sehr gründlich getan auf seine ruhige Art. Stone warf einen Blick auf die kleine Computerkonsole vor ihnen. Seine Rechte glitt über die Steuerelemente seitlich des Sessels. Draußen schoss der Fotograf eifrig Bilder, und der Kameramann filmte.
»Fein«, sagte Eddie. »Dann mal rein ins Vergnügen.«
Ein Ruck ging durch das Boot. Plötzlich schwebten sie über dem Deck, glitten langsam darüber hinweg. Unter ihnen war die bewegte Wasseroberfläche zu sehen. Es herrschte ziemlicher Seegang. Einen Moment hingen sie reglos da und sahen auf das Heck der Thorvaldson. Alban hob die Hand mit aufgerichtetem Daumen. Stone nickte ihm kurz zu. In den nächsten Stunden würden sie nur über das Unterwassertelefon kommunizieren können. Kein Glasfaserkabel verband das Tauchboot mit dem Mutterschiff, nichts außer Schallwellen. Sobald der Ausleger sie ausgeklinkt hatte, waren sie auf sich allein gestellt.
Stones Magen begann zu kribbeln.
Es ruckte erneut. Über ihnen erscholl ein Klonk, als sich die Trossen lösten. Das Boot senkte sich hinab, wurde von einer Welle hochgehoben dann schoss gurgelnd Meerwasser in die Kufen, als Eddie die Tanks flutete. Die See schlug über der Kugel zusammen. Wie ein Stein begann das Deep Rover zu sinken, rund dreißig Meter in der Minute. Stone starrte hinaus. Bis auf zwei kleine Positionsleuchten an den Kufen waren alle Lichter ausgeschaltet. Es galt Strom zu sparen, den sie unten brauchen würden.
Kaum Fische ließen sich blicken. Nach hundert Metern verdunkelte sich das tiefe Blau der See und ging in samtene Finsternis über.
Draußen blitzte etwas auf wie ein Feuerwerkskörper.
Erst einmal, dann überall um sie herum. »Leuchtquallen«, sagte Eddie. »Nett, nicht?« Stone war fasziniert. Er hatte schon einige Tauchgänge hinter sich, aber noch keinen im Deep Rover. Es schien tatsächlich, als sei nichts zwischen ihnen und dem Meer. Selbst die rot glimmenden Kontrolllampen der Konsole und Bedieninstrumente schienen sich zu den Schwärmen fluoreszierender Tierchen gesellen zu wollen, die draußen vorbeiwimmelten. Der Gedanke, dass in diesem fremdartigen Universum seine Fabrik stehen sollte, erschien ihm plötzlich dermaßen absurd, dass er kurz davor stand loszulachen.
Ich bin der Initiator dieses Projekts, dachte er. Sollte ich zu lange am Schreibtisch gesessen haben, dass ich mir selber nicht mehr vorstellen kann, wie die Wirklichkeit beschaffen ist?
Er streckte die Beine aus, so weit es ging. Sie redeten wenig, während es weiter abwärts ging. Mit zunehmender Tiefe kühlte es im Innern der Kugel ab, ohne dass es wirklich ungemütlich wurde. Im Vergleich zu Tauchbooten wie Alvin, MIR oder Shinkai, die in 6000 Meter Tiefe vorstießen, verfügte das Deep Rover über ein geradezu luxuriöses System zur Regulierung der Innentemperatur. Vorsorglich hatte Stone dicke Socken angezogen — Schuhe waren in Tauchbooten nicht erlaubt, um nicht durch zufällige Tritte Instrumente zu zerstören — und einen warmen, wollenen Pullover. Trotz der Kühle war ihm behaglich. Eddie neben ihm wirkte entspannt und konzentriert. Hin und wieder drang eine lärmende Stimme aus dem Lautsprecher, Kontrollanrufe des Technikers auf der Thorvaldson. Die Worte waren verständlich, aber verzerrt, weil sich die Schallwellen mit tausend anderen Geräuschen unter Wasser mischten.
Sie fielen und fielen.
Nach fünfundzwanzig Minuten schaltete Eddie das Sonar ein. Leises Pfeifen und Klicken durchzog die Sphäre, überlagert vom sanften Brummen der Elektronik.
Sie näherten sich dem Grund.
»Popcorn und Cola bereithalten«, sagte Eddie. »Jetzt gibt’s Kino.« Er schaltete die Außenscheinwerfer ein.
Lars Jörensen stand auf der obersten Plattform des stählernen Treppenschachts, der vom Hubschrauberlandeplatz zum Wohntrakt führte, und sah auf den Bohrturm. Er hatte die Arme über dem Geländer verschränkt. Die Spitzen seines weißen Schnurrbarts zitterten im Wind. An klaren Tagen schien der Turm zum Greifen nahe, aber heute entrückte er zusehends. Mit jeder Stunde, die sich der Dunst vor dem nahenden Sturm verdichtete, wurde er unwirklicher, als wolle er vollständig verblassen und zur bloßen Erinnerung werden.
Seit Lunds letztem Besuch fühlte Jörensen sich immer schwermütiger werden. Er dachte darüber nach, was Statoil am Kontinentalhang bauen mochte. Ohne Zweifel planten sie eine vollautomatische Fabrik. Vielleicht würde sie mit einem Produktionsschiff verbunden sein. Lund war wohl der Meinung gewesen, sie hätte ihn mit ihren Antworten abgewimmelt, aber Jörensen war ja nicht blöde. Er hatte sogar Verständnis dafür, wie sie vorgingen, und dass sie Menschen einsparten, um sie durch Maschinen zu ersetzen. Es ergab durchaus Sinn. Eine Maschine legte keinen Wert auf gute Küche wie Lars Jörensen, sie schlief nicht, arbeitete unter lebensfeindlichen Bedingungen und wollte keinen Lohn dafür. Sie beklagte sich nicht, und wenn sie in die Jahre kam, konnte man sie notfalls auf den Müll werfen und musste sich nicht um ihr weiteres Wohlergehen sorgen. Andererseits fragte er sich, wie ein Roboter je Augen und Ohren ersetzen und intuitiv Entscheidungen treffen sollte. Ohne Menschen gab es kein menschliches Versagen, sicher. Aber wenn Maschinen versagten, ohne dass Menschen in der Nähe waren, würde es kommen wie in den utopischen Filmen, die er oft spätnachts noch sah, wenn draußen die See gegen die Pfeiler schlug. Der Mensch würde die Kontrolle verlieren. Und die Maschine hatte keinen Sinn für Leben und Umwelt, sie hatte kein Verständnis für die Interessen ihrer Erbauer, die sich selber wegrationalisierten, sie zeichnete sich durch keinerlei Menschlichkeit und Verständnis aus.
Langsam schwand das Licht. Der Himmel wurde noch grauer, und nieseliger Regen setzte ein.
Was für ein Scheißtag, dachte Jörensen.
Nicht genug, dass es seit einiger Zeit über dem Meer stank, als sei das Wasser voller Chemikalien. Jetzt wetteiferte auch noch das Klima mit seiner Laune um den Tiefpunkt der Trübsinnigkeit.
Im Grunde arbeiten wir auf einer Ruine, dachte Jörensen. Eine Geisterstadt im Meer, voller Zombies, von denen einer nach dem anderen exorziert wird. Sind die Vorkommen erschöpft, bleibt ein Gerippe ohne Funktion. Die Ölarbeiter werden entsorgt, die Plattformen werden entsorgt, und die Zukunft schauen wir uns im Fernsehen an. Videoaufzeichnungen aus einer Welt, in die wir nicht vordringen können, wenn es erforderlich wird.
Jörensen seufzte.
Waren das Überlegungen, die irgendjemandem weiterhalfen? Zu einfach gestrickt? Zu einseitig, engstirnig, selbstgerecht? Das Auto hatte das Ende der Droschkenkutscher bedeutet. Damals hatte es viel billiges Pferdefleisch gegeben, und Existenzen waren vernichtet worden. Aber wer wollte noch Droschken? Wahrscheinlich hatten aufs Ganze gesehen die anderen Recht, und er war ein alter Mann, der es einfach nur hasste, in Pension zu gehen.
Ganz früher, erinnerte er sich, hatte es diesen magischen Moment gegeben. Als schwarz glänzende Männer, triefend vor Öl, einander in die Arme gefallen waren, während aus dem sandigen Boden hinter ihnen eine Fontäne steil in den Himmel schoss, die unermesslichen Reichtum verhieß. War das wirklich so gewesen? In Giganten gab es diese Szene mit James Dean. Jörensen liebte den Film. Er mochte die Szene mit Dean weit mehr als die mit Bruce Willis in Armageddon, obwohl die auf einer richtigen Plattform spielte und Giganten in der texanischen Wüste. Den lachenden, wild umherspringenden, schwarz gesprenkelten James Dean zu sehen war ein bisschen, als säße man auf Großvaters Schoß und ließe sich von damals erzählen, als Opa selber noch jung und überhaupt alles besser war. Und man lauschte und glaubte jedes Wort und glaubte es doch wieder nicht.
Opa. Genau! Er war ein Opa. Wenige Monate noch, dachte Jörensen. Dann hab ich’s hinter mir. Aus, passée. Mir wird es jedenfalls besser gehen als denen, die heute jung sind. Mich können sie nicht mehr wegrationalisieren, ich höre von selber auf, und Rente gibt es auch noch. Fast könnte man sich schuldig fühlen abzuhauen, bevor das Ende über die Inseln kommt. Aber es ist dann nicht mehr mein Problem. Ich werde andere haben. Ein Geräusch näherte sich von der weit entfernten Küste her. Ein rhythmisches Dröhnen, das zum Knattern eines Helikopters wurde. Jörensen legte den Kopf in den Nacken. Er kannte alle Modelle, die hier verkehrten. Selbst auf die Entfernung und trotz der schlechten Wetterverhältnisse sah er, dass ein Bell 430 über Gullfaks hinwegzog und im Dunst verschwand. Das Schlagen der Rotorblätter wurde wieder zu einem Wummern, entfernte sich und erstarb schließlich ganz. Staubfeine Regenpartikel überzogen das Geländer mit feuchtem Glanz. Jörensen überlegte, ob er ins Innere gehen sollte. Er hatte eine Stunde Leerlauf, was selten genug vorkam, und er konnte fernsehen oder lesen oder sich mit jemandem zum Schach treffen. Aber er hatte keine Lust hineinzugehen. Nicht heute, da ihm zumute war, als bewohne er einen stählernen Sarg. Nicht auch noch ins Innere und sich begraben lassen. Wenigstens das Meer sah aus wie immer, grau, zerklüftet, ein stetiges Auf und Ab.
Weit hinter dem Turm, an der Spitze des Auslegers, brannte blass die Gasflamme. Das Leuchtfeuer der Verlorenen. Hey, das war gut! Das klang wie ein Filmtitel! Nicht schlecht für einen alten Sack, der seit Jahr und Tag den Hubschrauber— und Schiffsverkehr überwachte.
Vielleicht sollte er ein Buch schreiben nach seiner Pensionierung. Über die Zeit, an die man sich in wenigen Jahrzehnten kaum noch würde erinnern können. Die Zeit der großen Plattformen.
Und der Titel würde lauten: Das Leuchtfeuer der Verlorenen.
Opa, erzähl uns eine Geschichte. Jörensens Laune besserte sich etwas. Gar keine schlechte Idee, das. Vielleicht war es ja doch kein solcher Scheißtag.
Gerhard Bohrmann hatte das Gefühl, in Treibsand zu versinken.
Er lief abwechselnd zu Suess und zu Mirbach, die den Computer unentwegt neue Szenarien durchrechnen ließen, mit immer fataleren Ergebnissen. Zwischendurch versuchte er Sigur Johanson zu erreichen, aber der ging nicht ran. Er versuchte es in Johansons Sekretariat an der NTNU, und man sagte ihm, der Doktor sei verreist und käme wohl auch nicht zur Vorlesung. Genau genommen käme er auf unabsehbare Zeit gar nicht mehr. Er sei für andere Aufgaben freigestellt worden, offenbar im Auftrag der Regierung. Bohrmann konnte sich ungefähr denken, welche Aufgaben das waren. Er versuchte es bei Johanson zu Hause. Dann wieder auf dem Handy. Nichts.
Schließlich besprach er sich ein weiteres Mal mit Suess.
»Es muss doch sonst noch jemanden geben aus Johansons Dunstkreis, der fähig ist, eine Entscheidung zu treffen«, sagte Suess.
Bohrmann schüttelte den Kopf.
»Alles Statoil-Leute. Da können wir’s genauso gut für uns behalten. Und was Vertraulichkeit angeht — wenn wir das Thema weiter vertraulich behandeln, und es kommt zum Storegga-Effekt, wird man uns das dermaßen dick aufs Brot schmieren, dass es keiner schlucken kann.«
»Also, was machen wir?«
»An Statoil gehe ich jedenfalls nicht ran.«
»Schon gut.« Suess rieb sich die Augen. »Du hast ja Recht. Also wenden wir uns ans Ministerium für Forschung und Entwicklung und an die Umweltbehörde.«
»In Oslo?«
»Und in Berlin. Und Kopenhagen. Und Amsterdam. Ach ja, London. Hab ich was vergessen?«
»Reykjavik.« Bohrmann seufzte. »Du lieber Himmel. Okay, so machen wir’s.«
Suess starrte aus dem Fenster seines Büros. Von hier aus konnte man über die Kieler Förde sehen. Auf die gewaltigen Krananlagen, wo die Schiffe beladen wurden, auf die Kontore und Silos. Ein Zerstörer der Marine verschwamm im Grau von Wolken und Wasser.
»Was sagen deine Simulationen eigentlich über Kiel?«, fragte Bohrmann. Seltsam, dass er darüber noch gar nicht richtig nachgedacht hatte. Hier, so nah am Wasser.
»Es könnte gut gehen.«
»Immerhin ein Trost.«
»Versuch trotzdem, Johanson zu erreichen. Versuch es immer wieder.« Bohrmann nickte und ging nach draußen.
Von unermesslicher Weite konnte keine Rede sein, als Eddie die sechs Außenscheinwerfer einschaltete. Je 150 Watt aus vier Quartz-Halogen-Strahlern und zwei 400-Watt-HMI-Leuchten tauchten ein Gebiet im Radius von etwa fünfundzwanzig Metern in gleißendes Licht. Feste Strukturen waren nicht auszumachen. Stone blinzelte irritiert nach der langen Fahrt durch die Dunkelheit. Das Deep Rover fiel durch einen Vorhang aus schimmernden Perlen.
Er beugte sich vor.
»Was ist das?«, fragte er. »Wo ist der Meeresboden?«
Dann erkannte er, was um sie herum aufstieg. Es waren Blasen. Sie trudelten zur Oberfläche, einige klein und wie auf Schnüre gereiht, andere plump und eiernd.
Das Sonar ließ weiter sein charakteristisches Pfeifen und Klicken hören. Eddie studierte mit zusammengezogenen Brauen die LED-Anzeigen der Konsole, die Aufschluss über den Zustand der Batterien, über Innen— und Außentemperatur, Sauerstoffvorrat, Kabinendruck und so weiter gaben, und rief die Messdaten der Außenfühler ab.
»Herzlichen Glückwunsch«, knurrte er. »Es ist Methan.«
Der Perlenvorhang wurde dichter. Eddie klinkte zwei Stahlgewichte aus, die seitlich der Kufen befestigt waren, und presste zusätzliche Luft in die Tanks, um das Tauchboot in eine stabile Position zu bringen. Sie hätten nun schweben müssen, aber stattdessen sanken sie weiter.
»Wir kriegen den Arsch nicht hoch. Ich glaub’s nicht!«
Im Licht der Scheinwerfer tauchte der Boden unter ihnen auf. Er kam ihnen entgegen, viel zu schnell. Stone erhaschte einen Blick auf Spalten und Löcher, dann war alles wieder voller Blasen. Eddie fluchte und blies weiteres Wasser aus den Tanks.
»Was ist denn los?«, wollte Stone wissen. »Haben wir Probleme mit dem Auftrieb?«
»Schätze, es ist das Gas. Wir sind mitten in einem Blowout.«
»So ein Mist.«
»Nur die Ruhe.«
Der Pilot warf die Propeller an. Das Boot begann sich durch die Schnüre aus Blasen vorwärts zu bewegen. Stone verspürte kurz ein Gefühl wie in einem sanft abstoppenden Fahrstuhl. Sein Blick suchte den Tiefenmesser. Das Deep Rover fiel immer noch, nun aber langsamer. Dennoch näherten sie sich dem Boden mit hoher Geschwindigkeit. Nicht lange, und sie würden aufschlagen.
Er biss sich auf die Lippen und ließ Eddie seinen Job machen. In dieser Situation war nichts weniger angebracht, als den Piloten durch Gequatsche aus der Ruhe zu bringen. Also sah Stone zu, wie die Blasen dicker und der Vorhang dichter wurden und das, was man in dem Blowout noch vom Boden erkennen konnte, langsam zur Seite wegkippte. Die rechte Kufe verschwand in heftigem Sprudeln, und das Tauchboot geriet in Schieflage.
Er hielt den Atem an.
Dann waren sie durch.
So wild es eben noch um sie herum geschäumt hatte, so ruhig lag jetzt der Meeresboden vor ihnen. Für die Dauer eines Augenblicks begann das Boot wieder zu steigen. Eddie bediente ohne sonderliche Hast die Fluter und ließ etwas Meerwasser in die Tanks laufen, bis das Deep Rover austariert war und dicht über dem Hang dahinschwebte.
»Alles wieder im grünen Bereich«, sagte er.
Mit zwei Knoten fuhren sie nun Höchstgeschwindigkeit, umgerechnet etwa 3,7 Kilometer pro Stunde. Jeder Jogger war schneller, aber hier ging es nicht darum, Entfernungen zurückzulegen. Genau genommen waren sie ziemlich exakt dort, wo Stone die Fabrik auf Grund gesetzt hatte. Weit konnte es nicht mehr sein.
Der Pilot grinste.
»Damit hätten wir eigentlich rechnen können, was?«
»Nicht in der Heftigkeit«, sagte Stone.
»Nicht? Wenn schon das Meer stinkt wie die letzte Kloake? Irgendwo muss das Gas ja austreten. Na, Sie wollten es ja nicht anders. Sie wollten ja unbedingt runter.«
Stone würdigte ihn keiner Antwort. Er straffte sich und suchte nach Anzeichen von Hydraten, aber im Moment waren keine zu sehen und nur vereinzelt Würmer. Ein großer Plattfisch, ähnlich einer Scholle, lag auf dem Boden. Bei ihrem Näherkommen stieg er träge auf, wirbelte ein wenig wolkigen Schlamm auf und schwamm aus dem Licht.
Wie unwirklich es war, hier zu sitzen, während draußen fast einhundert Kilogramm Wasserdruck auf jeden Quadratzentimeter der Acrylkugel einwirkten. Alles an dieser Situation war künstlich. Die erleuchtete Zone des Hangplateaus mit seinen wandernden Schatten, als das Deep Rover langsam darüber hinwegzog. Die Schwärze jenseits des diffundierenden Lichts. Der maschinell aufrechterhaltene Innendruck. Die Atemluft, die kontinuierlich aus Gasflaschen strömte, während das ausgeatmete Kohlendioxid von Chemikalien eliminiert wurde.
Nichts hier unten lud den Menschen zum Verweilen ein.
Stone schmatzte. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er dachte daran, dass sie stundenlang vor dem Tauchgang nichts getrunken hatten. Für alle Fälle lagerten Human Range Extender an Bord, spezielle Flaschen, wenn es gar nicht mehr anders ging, aber jedem, der ein Tauchboot bestieg, wurde vorher dringend geraten, seine Blase zu entleeren, und zwar so, dass sie eine Weile leer blieb. Seit dem frühen Morgen hatten er und Eddie zudem nur Erdnussbuttersandwiches und knochenharte Schoko— und Ballaststoffriegel zu sich genommen. Tauchmahlzeiten. Nahrhaft, sättigend und trocken wie Saharasand.
Er versuchte sich zu entspannen. Eddie gab einen kurzen Bericht an die Thorvaldson. Hin und wieder sahen sie Muscheln oder Seesterne. Der Pilot wies mit einer Handbewegung nach draußen.
»Erstaunlich, was? Wir sind tiefer als neunhundert Meter, und es ist stockfinster. Trotzdem nennt man diesen Bereich Restlichtzone.«
»Soll es nicht Gegenden geben, wo das Wasser so klar ist, dass bis eintausend Meter tatsächlich noch Licht einfällt?«, fragte Stone.
»Sicher. Aber kein menschliches Auge ist in der Lage, das zu erkennen. Spätestens ab einhundert, einhundertfünfzig Meter ist für unsereinen zappenduster. Waren Sie schon mal tiefer als tausend?«
»Nein. Sie?«
»Einige Male.« Eddie zuckte die Achseln. »Es ist genauso beschissen dunkel wie hier. Ich bin lieber da, wo das Licht ist.«
»Was denn? Kein Ehrgeiz auf Tiefgang?«
»Wozu? Jacques Picard hat’s bis in 10740 Meter Tiefe geschafft. Darauf hätte ich gar keine Lust. Es war eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges, aber was zu sehen gibt’s da kaum.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass da viel ist. Ich meine, selbst wenn, es ist lustiger in der Benthosphäre als in den Abyssalen, es ist einfach mehr los.«
»Pardon«, sagte Stone. »Aber kam Picard nicht 11340 Meter tief?«
»Oh, das.« Eddie lachte. »Ich weiß, es steht in allen möglichen Schulbüchern. Falschmeldung. Lag am Messgerät. Es war in der Schweiz kalibriert worden, in Süßwasser. Verstehen Sie? Süßwasser hat eine andere Dichte. Darum haben sie sich vermessen bei ihrer einzigen bemannten Tauchfahrt zum tiefsten Punkt der Erdoberfläche. Sie hatten …«
»Augenblick. Da!«
Vor ihnen verschwand der Lichtkegel in einem Schatten. Im Näherkommen erkannten sie, dass der Boden hier steil abstürzte. Das Licht verlor sich im Abgrund.
»Halten Sie an.«
Eddies Finger flogen über Tasten und Knöpfe. Er erzeugte Gegenschub, und das Deep Rover verharrte. Dann begann es sich allmählich zu drehen.
»Ziemlich starke Strömung«, sagte Eddie. Das Tauchboot drehte sich langsam weiter, bis die Scheinwerfer den Rand des Abgrundes beleuchteten. Sie starrten auf eine Bruchkante.
»Sieht ganz so aus, als wäre hier vor kurzem was abgestürzt«, sagte Eddie. »Ziemlich frisch.«
Stones Augen wanderten nervös umher.
»Was sagt das Sonar?«
»Es geht mindestens vierzig Meter tief runter. Und rechts und links kann ich gar nichts ausmachen.«
»Das heißt, das Plateau …«
»Hier ist kein Plateau mehr. Es ist eingebrochen.«
Stone nagte an seiner Unterlippe. Sie mussten in unmittelbarer Nähe der Fabrik sein. Aber hier war kein Abgrund gewesen vor einem Jahr. Wahrscheinlich nicht einmal vor wenigen Tagen.
»Wir gehen tiefer«, entschied er. »Schauen wir mal, wo das hinführt.«
Das Deep Rover nahm Fahrt auf und sank entlang der Bruchkante abwärts. Nach knapp zwei Minuten beleuchteten die Scheinwerfer wieder Grund. Es sah aus wie auf einem Trümmerfeld.
»Wir sollten ein paar Meter steigen«, sagte Eddie. »Hier unten ist es ziemlich zerklüftet. Wir könnten irgendwo reinrasseln.«
»Ja, gleich. — Verdammt, vor uns! Schauen Sie.« Eine meterdicke, aufgerissene Röhre kam ins Blickfeld. Sie wand sich quer über große Gesteinsbrocken und verschwand jenseits des Lichtkegels. Mehrere dünne, schwarze Ölfäden zogen sich daraus hervor und stiegen senkrecht zur Oberfläche. »Das ist eine Pipeline«, rief Stone aufgeregt. »Mein Gott.«
»Das war eine Pipeline«, sagte Eddie.
»Wir folgen ihrem Verlauf.«
Stone fröstelte. Er wusste, wohin diese Pipeline führte, beziehungsweise, woher sie kam. Sie waren auf dem Gelände der Fabrik.
Aber es gab kein Gelände mehr.
Vor ihnen tauchte jäh eine zerklüftete Wand auf. Eddie zog das Tauchboot in letzter Sekunde hoch. Die Wand schien kein Ende zu nehmen, dann flogen sie mit knapper Not über die Kante hinweg. Erst jetzt sah Stone, dass es gar keine Wand war, sondern ein gewaltiges Stück Meeresboden, das sich senkrecht aufgestellt hatte. Dahinter ging es wieder steil abwärts. Im Licht trieben Sedimentpartikel und erschwerten die Sicht. Dann erfassten die Leuchten wieder einen Strom schnell aufsteigender Blasen. Sie schossen wild aus einem Graben mit kantigen Rändern hervor.
»Du lieber Himmel«, flüsterte Stone. »Was ist denn hier passiert?«
Eddie gab keine Antwort. Er flog eine Kurve, sodass sie an dem Blasenstrom vorbeizogen. Die Sicht wurde immer schlechter. Sie verloren die Pipeline kurz aus den Augen, dann schob sie sich wieder in den Scheinwerferkegel. Sie führte abwärts.
»Scheißströmung«, sagte Eddie. »Wir werden in den Blowout gezogen.«
Das Deep Rover begann zu trudeln.
»Weiter der Pipeline nach«, befahl Stone.
»Das ist Wahnsinn. Wir sollten auftauchen.«
»Die Fabrik ist hier«, beharrte Stone. »Sie müsste gleich vor uns auftauchen.«
»Hier wird überhaupt nichts auftauchen. Hier ist alles kaputt.«
Stone sagte nichts. Vor ihnen bog sich die Pipeline wie von einer Riesenfaust verdreht nach oben und endete in einem ausgerissenen Stumpf. Zerfetzter Stahl wand sich zu bizarren Skulpturen.
»Wollen Sie immer noch weiter?«
Stone nickte. Eddie manövrierte bis dicht an das Rohr. Einen Moment lang schwebten sie über der gezackten Öffnung wie über einem riesigen Maul. Dann zog das Tauchboot an der Pipeline vorbei.
»Hier geht es ins Bodenlose«, sagte Eddie.
Um sie herum begann es wieder zu perlen.
Stone ballte die Fäuste. Ihm dämmerte, dass Alban am Ende Recht behalten würde. Sie hätten einen Roboter hinunterschicken sollen. Aber jetzt aufzugeben erschien ihm umso absurder. Er müsste es wissen! Er würde Skaugen nicht unter die Augen treten ohne einen detaillierten Bericht. Diesmal würde er sich nicht kalt erwischen lassen.
»Weiter, Eddie.«
»Sie sind irre.«
Hinter dem abgerissenen Rohr fiel das Trümmerfeld steil ab, und der Sedimentregen nahm zu. Erstmals machte sich jetzt auch bei Eddie eine gewisse Anspannung bemerkbar. Jeden Moment konnten neue Hindernisse vor ihnen auftauchen.
Dann sahen sie die Fabrik.
Genau genommen sahen sie nur einige Querverstrebungen, aber Stone wusste im selben Moment, dass es den Kongsberg-Prototyp nicht mehr gab. Die Fabrik lag unter dem Schutt des zusammengebrochenen Plateaus, über fünfzig Meter tiefer, als sie gestanden hatte.
Er schaute genauer hin. Etwas löste sich aus den Metallstreben und kam zu ihnen herauf.
Blasen.
Nein, mehr als nur Blasen. Es erinnerte Stone an den kolossalen Gaswirbel, den sie an Bord der Sonne beobachtet hatten. An den Blowout, nachdem der Videogreifer eingebrochen war.
Plötzlich erfasste ihn Panik.
»Weg!«, schrie er.
Eddie klinkte die restlichen Gewichte aus. Das Boot tat einen Satz und schoss in die Höhe, gefolgt von der riesigen Blase. Dann waren sie mitten in dem Wirbel und sackten weg. Um sie herum kochte das Meer.
»Scheiße!«, brüllte Eddie.
»Was ist los bei euch da unten?« Die blecherne Stimme des Technikers an Bord der Thorvaldson. »Eddie? Melde dich! Wir messen hier komische Sachen, es steigt jede Menge Gas und Hydrat nach oben.«
Eddie drückte die Antworttaste.
»Ich werfe die Hülle ab! Wir kommen hoch.«
»Was ist los? Habt ihr …«
Die Stimme des Technikers ging unter in dröhnendem Lärm. Es zischte und knallte. Eddie hatte die Batteriepakete und Teile der Hülle abgesprengt. Es war die ultimative Notfallmaßnahme, um schnell Gewicht zu verlieren. Der Restrumpf des Deep Rover mit der Acrylkugel begann sich zu drehen und wieder aufzusteigen. Dann erschütterte ein heftiger Stoß das Gefährt. Stone sah einen gewaltigen Felsbrocken neben sich auftauchen, der vom Gas mit hochgerissen wurde. In der Kugel kehrte sich das Unterste zuoberst. Er hörte den Piloten schreien, als sie ein weiteres Mal getroffen wurden. Diesmal bekamen sie einen Schlag von rechts, der sie seitlich aus dem Blowout heraustrug. Augenblicklich erhielt das Deep Rover Auftrieb und schoss nach oben. Stone klammerte sich an den Lehnen fest, mehr liegend als sitzend. Eddie sackte mit geschlossenen Augen gegen ihn. Blut lief über sein Gesicht. Entsetzt registrierte Stone, dass er nun völlig auf sich gestellt war. Fieberhaft versuchte er sich zu erinnern, wie man das Boot wieder ins Gleichgewicht brachte. Die Steuerung ließ sich von Eddie zu ihm herüberschalten, aber wie?
Eddie hatte es ihm gezeigt. Da war der Knopf.
Stone drückte ihn, während er zugleich versuchte, Eddie von sich wegzuschieben. Er war nicht sicher, ob die Propeller überhaupt noch funktionierten, nachdem die Hülle abgesprengt war. Auf dem Tiefenmesser jagten die Zahlen einander und zeigten ihm an, dass das Boot jetzt sehr schnell stieg. Im Grunde war es belanglos, wohin er steuerte. Hauptsache, es ging nach oben. Dekompressionsprobleme musste man im Deep Rover nicht befürchten. Der Kabinendruck entsprach dem Druck an der Wasseroberfläche.
Ein Warnlicht leuchtete auf.
Die Scheinwerfer über der rechten Kufe erloschen. Dann gingen sämtliche Lichter aus. Tintenschwärze herrschte um Stone herum.
Er begann zu zittern.
Beruhige dich, dachte er. Eddie hat dir die Funktionen erklärt. Es gibt ein Notstromaggregat. Es ist einer der Knöpfe in der obersten Reihe des Bedienpults. Entweder es schaltete sich von selber ein, oder er musste es tun. Seine Finger ertasteten die Schalter, während er weiter in die Schwärze starrte.
Was war da?
Es hätte stockfinster sein müssen ohne die Leuchten des Tauchboots. Aber da war Licht.
Waren sie schon so dicht unter der Oberfläche? Die letzte Anzeige des Tiefenmessers hatte etwas mehr als siebenhundert Meter angezeigt, bevor die Scheinwerfer ausgingen. Das Boot schwebte immer noch am Kontinentalhang entlang. Sie waren weit unterhalb der Schelfkante und jenseits jeglichen Tageslichts.
Eine Sinnestäuschung?
Er kniff die Augen zusammen.
Schwach bläulich leuchtete das Licht, so schwach, dass es mehr zu ahnen als zu sehen war. Es reckte sich aus der Tiefe empor, und es hatte eine Form, eine Art trichterförmige Röhre, deren hinteres Ende sich im Dunkel des Abgrunds verlor. Stone hielt den Atem an. Es war verrückt, aber plötzlich hätte er schwören können, dass dieses Ding umso heller erstrahlen würde, je näher man ihm käme. Der größte Teil der Lichtwellen wurde vom Wasser geschluckt. Wenn das stimmte, musste es ein beträchtliches Stück entfernt sein.
Und damit riesig.
Die Röhre bewegte sich.
Der Trichter schien sich zu dehnen, während sich das ganze Gebilde langsam bog. Stone verharrte regungslos, die Finger erstarrt auf ihrer Suche nach dem Notstromschalter, und sah gebannt hinaus. Was er dort sah, war Biolumineszenz, ganz ohne Zweifel, gefiltert durch Millionen Kubikmeter Wasser, Partikel und Gas. Aber welches Meereslebewesen, das leuchtete, war so unvorstellbar groß? Ein Riesenkalmar? Das da war größer als jeder Kalmar. Es war größer als jede noch so kühne Phantasie von einem Kalmar.
Oder bildete er sich alles ein? Eine Täuschung auf der Netzhaut, hervorgerufen durch die abrupten Hell-Dunkel-Wechsel? Geisterbilder von den erloschenen Scheinwerfern?
Je länger er auf das leuchtende Ding starrte, desto schwächer erschien es. Die Röhre sackte langsam nach unten weg.
Dann war sie verschwunden.
Sofort nahm Stone die Suche nach dem Knopf für das Notstromaggregat wieder auf. Das Tauchboot stieg ruhig und gleichmäßig nach oben, und er verspürte einen Anflug von Erleichterung, dass er nun bald zur Oberfläche gelangen und der Alptraum vorbei sein würde. Die Videokameras waren jedenfalls nicht verloren gegangen, als Eddie die Hülle abgesprengt hatte. Ob sie auch das leuchtende Ding gefilmt hatten? Konnten sie derart schwache Impulse verarbeiten?
Es war da gewesen. Er hatte sich nicht getäuscht. Und plötzlich fiel ihm die merkwürdige Videoaufnahme ein, die der Victor gemacht hatte. Dieses andere Ding, das sich so plötzlich aus dem Lichtkegel zurückgezogen hatte.
Mein Gott, dachte er. Worauf sind wir da gestoßen?
Ah! Da war der Schalter.
Summend sprang das Notstromaggregat an. Zuerst flammten die Kontrolllichter an der Konsole auf, dann die Außenscheinwerfer. Von einem Augenblick zum anderen schwebte das Deep Rover wieder in einem Kokon aus Licht.
Eddie lag mit offenen Augen neben ihm.
Stone beugte sich zu ihm hinüber, als etwas hinter Eddie im Licht auftauchte, eine Fläche, wolkig, rötlich. Sie kippte auf das Boot zu, und Stones Hand schnellte nach der Steuerkonsole, weil er dachte, sie würden gegen den Hang prallen.
Dann wurde ihm klar, dass der Hang gegen das Boot prallte.
Er kam auf sie zu.
Der Hang raste auf sie zu!
Es war das Letzte, was Stone begriff, bevor die Acrylkugel von der Wucht des Aufpralls in tausend Stücke zerschmettert wurde.
In Trondheim hatte es noch nach einem ruhigen Flug ausgesehen. Inzwischen wackelte es dermaßen, dass Johanson Probleme hatte, sich in gebührender Weise der amerikanischen Poesie zu widmen. Während der vergangenen halben Stunde hatte sich der Himmel dramatisch verdunkelt und beständig herabgesenkt. Er lastete auf dem Helikopter, als wolle er ihn ins Meer drücken. Scharfe Böen schüttelten den Bell hin und her.
Der Pilot wandte den Blick nach hinten.
»Alles in Ordnung?«
»Bestens.« Johanson klappte das Buch zu und sah nach draußen. Die Meeresoberfläche war in eine Waschküche getaucht. Schemenhaft erkannte er Bohrinseln und Schiffe. Er schätzte, dass der Seegang in diesen Minuten ordentlich zulegte. Ein handfester Sturm zog auf.
»Sie müssen sich keine Sorgen machen«, sagte der Pilot. »Wir haben nicht das Geringste zu befürchten.«
»Ich mache mir keine. Was sagt eigentlich der Wetterdienst?«
»Dass es windig wird.« Der Pilot warf einen Blick auf das Barometer an der Steuerkonsole. »Wie es aussieht, bekommen wir einen kleinen Orkan geboten.«
»Nett, dass Sie’s mir vorher nicht gesagt haben.«
»Ich wusste es nicht.« Der Mann zuckte die Achseln. »So toll funktioniert das mit den Wettervorhersagen auch nicht immer. — Haben Sie Angst vorm Fliegen?«
»Überhaupt nicht. Ich finde Fliegen ganz prima«, sagte Johanson mit Nachdruck. »Einzig das Runterfallen macht mir Sorgen.«
»Wir fallen nicht. Im Offshoregeschäft ist so was Kinderkram. Heute wird nichts Schlimmeres passieren, als dass es uns einige Male ordentlich durchschüttelt.«
»Wie lange sind wir noch unterwegs?«
»Die Hälfte haben wir hinter uns.«
»Na dann.«
Er schlag das Buch wieder auf.
In das Motorengeräusch mischten sich tausend andere Laute. Es knackte, polterte, pfiff. Es schien sogar zu schellen. Ein Ton, der in regelmäßigen Intervallen erklang, irgendwo hinter ihm. Was der Wind alles anstellte mit der Akustik! Johanson drehte den Kopf zur Rückbank, aber das Geräusch war verstummt.
Er widmete sich wieder den Gedanken Walt Whitmans.
Vor 18000 Jahren, während der Hochphase der letzten Eiszeit, lag der Meeresspiegel überall auf der Welt rund einhundertzwanzig Meter tiefer als zu Beginn des dritten Jahrtausends. Große Menge der globalen Wassermassen waren in Gletschern gebunden. Ein entsprechend geringerer Wasserdruck lastete damals auf den Schelfregionen, und einige der heutigen Meere existierten noch nicht. Andere wurden im Zuge der Vereisung immer flacher, einige trockneten schließlich aus und verwandelten sich in ausgedehnte Sumpflandschaften.
Unter anderem führte der sinkende Wasserdruck in vielen Teilen der Welt dazu, dass sich die Stabilitätsverhältnisse für Methanhydrate dramatisch änderten. Besonders in den hoch gelegenen Regionen der Kontinentalhänge wurden innerhalb kürzester Zeit riesige Mengen Gas freigesetzt. Die Eiskäfige, in denen es gefangen und komprimiert war, schmolzen dahin. Was tausende von Jahren wie Mörtel in den Hängen fungiert hatte, wurde nun zu deren Sprengstoff. Schlagartig blähte sich das frei werdende Methan zum Einhundertvierundsechzigfachen seines Volumens auf, drückte Poren und Spalten der Sedimente auseinander auf seinem Weg nach draußen und hinterließ poröse Ruinen, die ihr eigenes Gewicht nicht länger zu tragen vermochten.
»Ein paar Wochen. Ein paar Tage. Ein paar …« Mirbach zögerte. Dann zuckte sie die Schultern. »Es gibt eine Unwägbarkeit bei alledem. Wir wissen immer noch nicht, ob es tatsächlich stattfinden wird. Fast alles spricht dafür, aber das Szenario ist so ungewöhnlich, dass wir über bloßes Theoretisieren kaum hinauskommen.«
»Lassen wir das ganze diplomatische Versteckspiel. Was ist deine persönliche Meinung?«
Mirbach sah ihn an.
»Ich habe keine.« Sie machte eine kurze Pause. »Wenn drei Wanderameisen auf ein großes Säugetier treffen, werden sie allenfalls tot getreten. Wenn dasselbe Säugetier auf ein paar tausend von ihnen trifft, wird es bei lebendigem Leib bis auf die Knochen abgenagt. So ähnlich stelle ich mir das mit Würmern und Mikroorganismen vor. Capito?«
»Ruf Johanson an«, sagte Suess wieder. »Sag ihm, wir rechnen mit einem Storegga-Effekt.«
Bohrmann ließ langsam die Luft entweichen.
Er nickte stumm.
Trondheim, Norwegen
Sie standen am Rande der Landeplattform, von wo man auf den Fjord sehen konnte. Vom gegenüberliegenden Ufer war kaum etwas zu erkennen. Die See lag vor ihnen wie matter Stahl unter einem immer grauer werdenden Himmel.
»Du bist ein Snob«, sagte Lund mit Blick auf den wartenden Helikopter.
»Natürlich bin ich ein Snob«, erwiderte Johanson. »Wenn man von euch zwangsrekrutiert wird, hat man sich einen gewissen Snobismus verdient, findest du nicht?«
»Fang nicht wieder davon an.«
»Du bist auch ein Snob. Du darfst die nächsten Tage mit einem feinen Geländewagen unterwegs sein.«
Lund lächelte. »Dann gib mir mal die Schlüssel.«
Johanson fingerte in seiner Manteltasche herum, zog den Schlüssel des Jeeps hervor und legte ihn in ihre Handfläche. »Pass gut drauf auf, solange ich weg bin.«
»Keine Angst.«
»Und komm bloß nicht auf die Idee, mit Kare darin zu knutschen.«
»Wir knutschen nicht in Autos.«
»Überall werdet ihr knutschen. Immerhin hast du gut daran getan, meinem Rat zu folgen und eine Lanze für den armen Stone zu brechen. Jetzt kann er seine Fabrik selber aus dem Wasser fischen.«
»Auf die Gefahr hin, dich zu desillusionieren, dein Rat spielte dabei keine Rolle. Stone zu begnadigen war ausschließlich Skaugens Entscheidung.«
»Ist er denn begnadigt?«
»Wenn er alles wieder unter Kontrolle bringt, könnte er im Konzern überleben.« Sie sah auf die Uhr. »Etwa um diese Zeit wird er wahrscheinlich mit dem Tauchboot runtergehen. Drücken wir ihm die Daumen.«
»Wieso schickt er keinen Roboter nach unten?«, wunderte sich Johanson.
»Weil er sie nicht alle hat.«
»Im Ernst.«
»Ich denke, er will beweisen, dass so eine Krise nur auf seine Art zu lösen ist. Dass ein Clifford Stone unersetzbar ist.«
»Und das lasst ihr zu?«
»Wieso?« Lund zuckte die Achseln. »Er ist immer noch Projektleiter. Außerdem hat er in einem Punkt Recht. Wenn er selber runtergeht, kann er die Lage differenzierter beurteilen.«
Johanson stellte sich vor, wie die Thorvaldson im konturlosen Grau lag, während Stone dem Meeresboden entgegensank, um sich herum Finsternis und unter sich ein Rätsel. »Mutig scheint er jedenfalls zu sein.«
»Ja.« Lund nickte. »Er ist ein Arschloch, aber Mut kann man ihm weiß Gott nicht absprechen.«
»Alsdann.« Johanson ergriff seine Reisetasche. »Fahr mein Auto nicht zuschanden.«
»Keine Bange.«
Sie gingen gemeinsam zum Helikopter. Skaugen hatte ihm tatsächlich das Flaggschiff des Konzerns zur Verfügung gestellt, einen großen Bell 430, das Nonplusultra an Komfort und Flugruhe.
»Was ist das eigentlich für ein Typ, diese Karen Weaver?«, fragte Lund an der Einstiegstüre.
Johanson zwinkerte ihr zu. »Sie ist jung und wunderschön.«
»Idiot.«
»Was weiß ich? Keine Ahnung.«
Lund zögerte. Dann schlang sie die Arme um ihn. »Pass auf dich auf, ja?«
Johanson tätschelte ihr den Rücken. »Wird schon schief gehen. Was soll mir denn passieren?«
»Nichts.« Sie schwieg einen Moment. »Übrigens hat dein Rat doch was bewirkt. Das, was du gesagt hast. Es hat den Ausschlag gegeben.«
»Zu Kare zu fahren?«
»Ein paar Dinge anders zu sehen. Ja, und zu Kare zu fahren.«
Johanson lächelte. Dann küsste er sie rechts und links auf die Wange. »Wir telefonieren, sobald ich dort bin.«
»Okay.«
Er stieg ins Innere und warf seine Tasche auf einen der Sitze hinter dem Piloten. Der Helikopter bot zehn Passagieren Platz, aber er hatte die Maschine für sich allein. Allerdings würden sie auch gut drei Stunden unterwegs sein.
»Sigur!«
Er drehte sich zu ihr um.
»Du bist … ich glaube, du bist wirklich mein bester Freund.« Sie hob etwas hilflos die Arme und ließ sie wieder fallen. Dann lachte sie. »Ich meine, was ich sagen will, ist …«
»Ich weiß schon«, grinste Johanson. »Du bist nicht gut in so was.«
»Nein.«
»Ich auch nicht.« Er beugte sich vor. »Je mehr ich jemanden mag, desto blöder stelle ich mich an, es ihm zu sagen. Was dich angeht, bin ich wahrscheinlich der größte Blödmann aller Zeiten.«
»War das ein Kompliment?«
»Mindestens.«
Er schloss die Tür. Der Pilot warf die Rotoren an. Langsam hob der Bell ab, und Lunds winkende Gestalt wurde kleiner. Dann senkte der Helikopter die Nase und flog hinaus auf den Fjord. Das Forschungszentrum blieb als Spielzeugbau zurück. Johanson machte es sich bequem und sah nach draußen, aber die Sicht gab nicht viel her. Trondheim verschwand im Dunst, Wasser und Berge zogen als farblose Flächen unter ihnen dahin, und der Himmel sah aus, als wolle er sie verschlucken.
Das dumpfe Gefühl überkam ihn wieder.
Angst.
Angst wovor?
Das ist nur ein Flug mit dem Hubschrauber, sagte er sich. Auf die Shetland-Inseln. Was soll schon passieren?
Manchmal hatte man eben so Anwandlungen. Zu viel Methan und Monsterkram. Dazu das Wetter. Vielleicht hätte er einfach ausgiebiger frühstücken sollen.
Er zog den Gedichtband aus der Reisetasche und begann zu lesen.
Über ihm wummerten dumpf die Rotoren. Sein Mantel, in dem sein Handy steckte, lag zusammengeknüllt auf der Sitzreihe hinter ihm. Dies und der Umstand seiner Versunkenheit in die Poesie Walt Whitmans führten dazu, dass er nicht hörte, als es klingelte.
Thorvaldson, norwegischer Kontinentalhang
Stone hatte beschlossen, vor dem Einsteigen ein paar Worte zu sagen, während ihn der Kameramann filmte und der andere Typ Fotos schoss. Es sollte eine genaue Dokumentation über den Verlauf des Unternehmens werden. Bei Statoil sollten sie sich ins Gedächtnis rufen, wie professionell ein Clifford Stone zu arbeiten wusste und was er unter Verantwortung verstand.
»Einen Schritt nach rechts«, sagte der Kameramann.
Stone gehorchte und scheuchte dabei zwei Techniker aus dem Bild. Dann überlegte er es sich anders und winkte sie wieder herbei.
»Schräg hinter mich«, sagte er. Es sah möglicherweise besser aus, wenn Techniker im Bild waren. Nichts sollte den Eindruck erwecken, als seien hier Hasardeure und Abenteurer am Werk.
Der Kameramann schraubte sein Stativ höher.
»Können wir endlich?«, rief Stone.
»Moment noch. Es sieht komisch aus. Sie verdecken den Piloten.«
Stone trat einen weiteren Schritt zur Seite.
»Und?«
»Besser.«
»Nicht die Fotos vergessen«, wies Stone den zweiten Mann an. Der Fotograf kam näher und betätigte, wie um den Expeditionsleiter zu beruhigen, den Auslöser.
»Okay«, sagte der Kameramann. »Läuft.« Stone blickte entschlossen in die Linse.
»Wir werden jetzt runtergehen, um zu sehen, was aus unserem Prototyp geworden ist. Augenblicklich scheint es, als sei die Fabrik von ihrem ursprünglichen … äh … wo sie vorher stand … Mist.«
»Kein Problem. Nochmal.«
Diesmal klappte alles. Stone erklärte in sachlichen Worten, dass sie vorhatten, für die Dauer einiger Stunden nach der Fabrik zu suchen. Er gab einen Abriss über den bisherigen Erkenntnisstand, kam kurz auf die veränderte Morphologie des Hangabschnitts zu sprechen und gab seiner Meinung Ausdruck, die Fabrik müsse infolge einer lokalen Destabilisierung des Sediments abgerutscht sein. Es klang alles sehr profund. Vielleicht zu sachlich. Stone, nicht eben ein Showtyp, erinnerte sich, dass alle großen Entdecker und Erkunder irgendeinen klugen Satz gesagt hatten, bevor oder nachdem sie die Ärmel hochkrempelten. Etwas, das prima klang. Es ist nur ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Schritt für die Menschheit. So was. Das war Masse gewesen. Natürlich hatten sie Neil Armstrong vorher eingeschärft, das zu sagen, als wäre er je von selber drauf gekommen, aber egal. Ich kam, sah und siegte, auch nicht schlecht. Julius Cäsar. Hatte Kolumbus irgendwas gesagt? Jacques Picard?
Er überlegte. Ihm fiel nichts ein.
Aber man musste ja nicht alles selber erfinden. Bohrmanns besinnliche Worte über bemannte Tauchfahrten hatten auch nicht schlecht geklungen. Stone räusperte sich.
»Natürlich könnten wir einen Roboter nach unten schicken«, sagte er abschließend. »Aber es ist nicht dasselbe. Ich kenne jede Menge Videoaufzeichnungen von Robotern. Hervorragendes Material.« Wie war das noch gewesen? Ach ja: »Aber selber da drin zu sitzen, selber unten zu sein, diese Dreidimensionalität — man kann sich das nicht vorstellen. Es ist unvergleichlich. Und … es gibt uns schlicht den besseren Über … äh, besseren Einblick … um zu sehen, was da los ist … ähm, und was wir tun können.«
Der letzte Satz war lausig gewesen.
»Amen«, sagte Alban leise im Hintergrund.
Stone drehte sich um, kroch unter das Tauchboot und schob sich durch das Loch. Der Pilot streckte ihm die Hand entgegen, aber Stone ignorierte die Hilfe. Er stemmte sich hoch und nahm Platz. Es war ein bisschen wie in einem Hubschrauber zu sitzen. Oder in einer Hightech-Attraktion in Disneyland. Das Seltsamste war das Empfinden, nach wie vor draußen zu sein, nur dass die Geräusche vom Deck nicht mehr ans Ohr drangen. Die Kugel aus zentimeterdickem Acryl, hermetisch abgeschlossen, ließ nichts durch.
»Muss ich Ihnen noch irgendwas erklären?«, fragte Eddie freundlich.
»Nein.«
Eddie hatte ihn schon zuvor geschult. Er hatte es sehr gründlich getan auf seine ruhige Art. Stone warf einen Blick auf die kleine Computerkonsole vor ihnen. Seine Rechte glitt über die Steuerelemente seitlich des Sessels. Draußen schoss der Fotograf eifrig Bilder, und der Kameramann filmte.
»Fein«, sagte Eddie. »Dann mal rein ins Vergnügen.«
Ein Ruck ging durch das Boot. Plötzlich schwebten sie über dem Deck, glitten langsam darüber hinweg. Unter ihnen war die bewegte Wasseroberfläche zu sehen. Es herrschte ziemlicher Seegang. Einen Moment hingen sie reglos da und sahen auf das Heck der Thorvaldson. Alban hob die Hand mit aufgerichtetem Daumen. Stone nickte ihm kurz zu. In den nächsten Stunden würden sie nur über das Unterwassertelefon kommunizieren können. Kein Glasfaserkabel verband das Tauchboot mit dem Mutterschiff, nichts außer Schallwellen. Sobald der Ausleger sie ausgeklinkt hatte, waren sie auf sich allein gestellt.
Stones Magen begann zu kribbeln.
Es ruckte erneut. Über ihnen erscholl ein Klonk, als sich die Trossen lösten. Das Boot senkte sich hinab, wurde von einer Welle hochgehoben dann schoss gurgelnd Meerwasser in die Kufen, als Eddie die Tanks flutete. Die See schlug über der Kugel zusammen. Wie ein Stein begann das Deep Rover zu sinken, rund dreißig Meter in der Minute. Stone starrte hinaus. Bis auf zwei kleine Positionsleuchten an den Kufen waren alle Lichter ausgeschaltet. Es galt Strom zu sparen, den sie unten brauchen würden.
Kaum Fische ließen sich blicken. Nach hundert Metern verdunkelte sich das tiefe Blau der See und ging in samtene Finsternis über.
Draußen blitzte etwas auf wie ein Feuerwerkskörper.
Erst einmal, dann überall um sie herum. »Leuchtquallen«, sagte Eddie. »Nett, nicht?« Stone war fasziniert. Er hatte schon einige Tauchgänge hinter sich, aber noch keinen im Deep Rover. Es schien tatsächlich, als sei nichts zwischen ihnen und dem Meer. Selbst die rot glimmenden Kontrolllampen der Konsole und Bedieninstrumente schienen sich zu den Schwärmen fluoreszierender Tierchen gesellen zu wollen, die draußen vorbeiwimmelten. Der Gedanke, dass in diesem fremdartigen Universum seine Fabrik stehen sollte, erschien ihm plötzlich dermaßen absurd, dass er kurz davor stand loszulachen.
Ich bin der Initiator dieses Projekts, dachte er. Sollte ich zu lange am Schreibtisch gesessen haben, dass ich mir selber nicht mehr vorstellen kann, wie die Wirklichkeit beschaffen ist?
Er streckte die Beine aus, so weit es ging. Sie redeten wenig, während es weiter abwärts ging. Mit zunehmender Tiefe kühlte es im Innern der Kugel ab, ohne dass es wirklich ungemütlich wurde. Im Vergleich zu Tauchbooten wie Alvin, MIR oder Shinkai, die in 6000 Meter Tiefe vorstießen, verfügte das Deep Rover über ein geradezu luxuriöses System zur Regulierung der Innentemperatur. Vorsorglich hatte Stone dicke Socken angezogen — Schuhe waren in Tauchbooten nicht erlaubt, um nicht durch zufällige Tritte Instrumente zu zerstören — und einen warmen, wollenen Pullover. Trotz der Kühle war ihm behaglich. Eddie neben ihm wirkte entspannt und konzentriert. Hin und wieder drang eine lärmende Stimme aus dem Lautsprecher, Kontrollanrufe des Technikers auf der Thorvaldson. Die Worte waren verständlich, aber verzerrt, weil sich die Schallwellen mit tausend anderen Geräuschen unter Wasser mischten.
Sie fielen und fielen.
Nach fünfundzwanzig Minuten schaltete Eddie das Sonar ein. Leises Pfeifen und Klicken durchzog die Sphäre, überlagert vom sanften Brummen der Elektronik.
Sie näherten sich dem Grund.
»Popcorn und Cola bereithalten«, sagte Eddie. »Jetzt gibt’s Kino.« Er schaltete die Außenscheinwerfer ein.
Gullfaks C, norwegischer Schelf
Lars Jörensen stand auf der obersten Plattform des stählernen Treppenschachts, der vom Hubschrauberlandeplatz zum Wohntrakt führte, und sah auf den Bohrturm. Er hatte die Arme über dem Geländer verschränkt. Die Spitzen seines weißen Schnurrbarts zitterten im Wind. An klaren Tagen schien der Turm zum Greifen nahe, aber heute entrückte er zusehends. Mit jeder Stunde, die sich der Dunst vor dem nahenden Sturm verdichtete, wurde er unwirklicher, als wolle er vollständig verblassen und zur bloßen Erinnerung werden.
Seit Lunds letztem Besuch fühlte Jörensen sich immer schwermütiger werden. Er dachte darüber nach, was Statoil am Kontinentalhang bauen mochte. Ohne Zweifel planten sie eine vollautomatische Fabrik. Vielleicht würde sie mit einem Produktionsschiff verbunden sein. Lund war wohl der Meinung gewesen, sie hätte ihn mit ihren Antworten abgewimmelt, aber Jörensen war ja nicht blöde. Er hatte sogar Verständnis dafür, wie sie vorgingen, und dass sie Menschen einsparten, um sie durch Maschinen zu ersetzen. Es ergab durchaus Sinn. Eine Maschine legte keinen Wert auf gute Küche wie Lars Jörensen, sie schlief nicht, arbeitete unter lebensfeindlichen Bedingungen und wollte keinen Lohn dafür. Sie beklagte sich nicht, und wenn sie in die Jahre kam, konnte man sie notfalls auf den Müll werfen und musste sich nicht um ihr weiteres Wohlergehen sorgen. Andererseits fragte er sich, wie ein Roboter je Augen und Ohren ersetzen und intuitiv Entscheidungen treffen sollte. Ohne Menschen gab es kein menschliches Versagen, sicher. Aber wenn Maschinen versagten, ohne dass Menschen in der Nähe waren, würde es kommen wie in den utopischen Filmen, die er oft spätnachts noch sah, wenn draußen die See gegen die Pfeiler schlug. Der Mensch würde die Kontrolle verlieren. Und die Maschine hatte keinen Sinn für Leben und Umwelt, sie hatte kein Verständnis für die Interessen ihrer Erbauer, die sich selber wegrationalisierten, sie zeichnete sich durch keinerlei Menschlichkeit und Verständnis aus.
Langsam schwand das Licht. Der Himmel wurde noch grauer, und nieseliger Regen setzte ein.
Was für ein Scheißtag, dachte Jörensen.
Nicht genug, dass es seit einiger Zeit über dem Meer stank, als sei das Wasser voller Chemikalien. Jetzt wetteiferte auch noch das Klima mit seiner Laune um den Tiefpunkt der Trübsinnigkeit.
Im Grunde arbeiten wir auf einer Ruine, dachte Jörensen. Eine Geisterstadt im Meer, voller Zombies, von denen einer nach dem anderen exorziert wird. Sind die Vorkommen erschöpft, bleibt ein Gerippe ohne Funktion. Die Ölarbeiter werden entsorgt, die Plattformen werden entsorgt, und die Zukunft schauen wir uns im Fernsehen an. Videoaufzeichnungen aus einer Welt, in die wir nicht vordringen können, wenn es erforderlich wird.
Jörensen seufzte.
Waren das Überlegungen, die irgendjemandem weiterhalfen? Zu einfach gestrickt? Zu einseitig, engstirnig, selbstgerecht? Das Auto hatte das Ende der Droschkenkutscher bedeutet. Damals hatte es viel billiges Pferdefleisch gegeben, und Existenzen waren vernichtet worden. Aber wer wollte noch Droschken? Wahrscheinlich hatten aufs Ganze gesehen die anderen Recht, und er war ein alter Mann, der es einfach nur hasste, in Pension zu gehen.
Ganz früher, erinnerte er sich, hatte es diesen magischen Moment gegeben. Als schwarz glänzende Männer, triefend vor Öl, einander in die Arme gefallen waren, während aus dem sandigen Boden hinter ihnen eine Fontäne steil in den Himmel schoss, die unermesslichen Reichtum verhieß. War das wirklich so gewesen? In Giganten gab es diese Szene mit James Dean. Jörensen liebte den Film. Er mochte die Szene mit Dean weit mehr als die mit Bruce Willis in Armageddon, obwohl die auf einer richtigen Plattform spielte und Giganten in der texanischen Wüste. Den lachenden, wild umherspringenden, schwarz gesprenkelten James Dean zu sehen war ein bisschen, als säße man auf Großvaters Schoß und ließe sich von damals erzählen, als Opa selber noch jung und überhaupt alles besser war. Und man lauschte und glaubte jedes Wort und glaubte es doch wieder nicht.
Opa. Genau! Er war ein Opa. Wenige Monate noch, dachte Jörensen. Dann hab ich’s hinter mir. Aus, passée. Mir wird es jedenfalls besser gehen als denen, die heute jung sind. Mich können sie nicht mehr wegrationalisieren, ich höre von selber auf, und Rente gibt es auch noch. Fast könnte man sich schuldig fühlen abzuhauen, bevor das Ende über die Inseln kommt. Aber es ist dann nicht mehr mein Problem. Ich werde andere haben. Ein Geräusch näherte sich von der weit entfernten Küste her. Ein rhythmisches Dröhnen, das zum Knattern eines Helikopters wurde. Jörensen legte den Kopf in den Nacken. Er kannte alle Modelle, die hier verkehrten. Selbst auf die Entfernung und trotz der schlechten Wetterverhältnisse sah er, dass ein Bell 430 über Gullfaks hinwegzog und im Dunst verschwand. Das Schlagen der Rotorblätter wurde wieder zu einem Wummern, entfernte sich und erstarb schließlich ganz. Staubfeine Regenpartikel überzogen das Geländer mit feuchtem Glanz. Jörensen überlegte, ob er ins Innere gehen sollte. Er hatte eine Stunde Leerlauf, was selten genug vorkam, und er konnte fernsehen oder lesen oder sich mit jemandem zum Schach treffen. Aber er hatte keine Lust hineinzugehen. Nicht heute, da ihm zumute war, als bewohne er einen stählernen Sarg. Nicht auch noch ins Innere und sich begraben lassen. Wenigstens das Meer sah aus wie immer, grau, zerklüftet, ein stetiges Auf und Ab.
Weit hinter dem Turm, an der Spitze des Auslegers, brannte blass die Gasflamme. Das Leuchtfeuer der Verlorenen. Hey, das war gut! Das klang wie ein Filmtitel! Nicht schlecht für einen alten Sack, der seit Jahr und Tag den Hubschrauber— und Schiffsverkehr überwachte.
Vielleicht sollte er ein Buch schreiben nach seiner Pensionierung. Über die Zeit, an die man sich in wenigen Jahrzehnten kaum noch würde erinnern können. Die Zeit der großen Plattformen.
Und der Titel würde lauten: Das Leuchtfeuer der Verlorenen.
Opa, erzähl uns eine Geschichte. Jörensens Laune besserte sich etwas. Gar keine schlechte Idee, das. Vielleicht war es ja doch kein solcher Scheißtag.
Kiel, Deutschland
Gerhard Bohrmann hatte das Gefühl, in Treibsand zu versinken.
Er lief abwechselnd zu Suess und zu Mirbach, die den Computer unentwegt neue Szenarien durchrechnen ließen, mit immer fataleren Ergebnissen. Zwischendurch versuchte er Sigur Johanson zu erreichen, aber der ging nicht ran. Er versuchte es in Johansons Sekretariat an der NTNU, und man sagte ihm, der Doktor sei verreist und käme wohl auch nicht zur Vorlesung. Genau genommen käme er auf unabsehbare Zeit gar nicht mehr. Er sei für andere Aufgaben freigestellt worden, offenbar im Auftrag der Regierung. Bohrmann konnte sich ungefähr denken, welche Aufgaben das waren. Er versuchte es bei Johanson zu Hause. Dann wieder auf dem Handy. Nichts.
Schließlich besprach er sich ein weiteres Mal mit Suess.
»Es muss doch sonst noch jemanden geben aus Johansons Dunstkreis, der fähig ist, eine Entscheidung zu treffen«, sagte Suess.
Bohrmann schüttelte den Kopf.
»Alles Statoil-Leute. Da können wir’s genauso gut für uns behalten. Und was Vertraulichkeit angeht — wenn wir das Thema weiter vertraulich behandeln, und es kommt zum Storegga-Effekt, wird man uns das dermaßen dick aufs Brot schmieren, dass es keiner schlucken kann.«
»Also, was machen wir?«
»An Statoil gehe ich jedenfalls nicht ran.«
»Schon gut.« Suess rieb sich die Augen. »Du hast ja Recht. Also wenden wir uns ans Ministerium für Forschung und Entwicklung und an die Umweltbehörde.«
»In Oslo?«
»Und in Berlin. Und Kopenhagen. Und Amsterdam. Ach ja, London. Hab ich was vergessen?«
»Reykjavik.« Bohrmann seufzte. »Du lieber Himmel. Okay, so machen wir’s.«
Suess starrte aus dem Fenster seines Büros. Von hier aus konnte man über die Kieler Förde sehen. Auf die gewaltigen Krananlagen, wo die Schiffe beladen wurden, auf die Kontore und Silos. Ein Zerstörer der Marine verschwamm im Grau von Wolken und Wasser.
»Was sagen deine Simulationen eigentlich über Kiel?«, fragte Bohrmann. Seltsam, dass er darüber noch gar nicht richtig nachgedacht hatte. Hier, so nah am Wasser.
»Es könnte gut gehen.«
»Immerhin ein Trost.«
»Versuch trotzdem, Johanson zu erreichen. Versuch es immer wieder.« Bohrmann nickte und ging nach draußen.
Deep Rover, norwegischer Kontinentalhang
Von unermesslicher Weite konnte keine Rede sein, als Eddie die sechs Außenscheinwerfer einschaltete. Je 150 Watt aus vier Quartz-Halogen-Strahlern und zwei 400-Watt-HMI-Leuchten tauchten ein Gebiet im Radius von etwa fünfundzwanzig Metern in gleißendes Licht. Feste Strukturen waren nicht auszumachen. Stone blinzelte irritiert nach der langen Fahrt durch die Dunkelheit. Das Deep Rover fiel durch einen Vorhang aus schimmernden Perlen.
Er beugte sich vor.
»Was ist das?«, fragte er. »Wo ist der Meeresboden?«
Dann erkannte er, was um sie herum aufstieg. Es waren Blasen. Sie trudelten zur Oberfläche, einige klein und wie auf Schnüre gereiht, andere plump und eiernd.
Das Sonar ließ weiter sein charakteristisches Pfeifen und Klicken hören. Eddie studierte mit zusammengezogenen Brauen die LED-Anzeigen der Konsole, die Aufschluss über den Zustand der Batterien, über Innen— und Außentemperatur, Sauerstoffvorrat, Kabinendruck und so weiter gaben, und rief die Messdaten der Außenfühler ab.
»Herzlichen Glückwunsch«, knurrte er. »Es ist Methan.«
Der Perlenvorhang wurde dichter. Eddie klinkte zwei Stahlgewichte aus, die seitlich der Kufen befestigt waren, und presste zusätzliche Luft in die Tanks, um das Tauchboot in eine stabile Position zu bringen. Sie hätten nun schweben müssen, aber stattdessen sanken sie weiter.
»Wir kriegen den Arsch nicht hoch. Ich glaub’s nicht!«
Im Licht der Scheinwerfer tauchte der Boden unter ihnen auf. Er kam ihnen entgegen, viel zu schnell. Stone erhaschte einen Blick auf Spalten und Löcher, dann war alles wieder voller Blasen. Eddie fluchte und blies weiteres Wasser aus den Tanks.
»Was ist denn los?«, wollte Stone wissen. »Haben wir Probleme mit dem Auftrieb?«
»Schätze, es ist das Gas. Wir sind mitten in einem Blowout.«
»So ein Mist.«
»Nur die Ruhe.«
Der Pilot warf die Propeller an. Das Boot begann sich durch die Schnüre aus Blasen vorwärts zu bewegen. Stone verspürte kurz ein Gefühl wie in einem sanft abstoppenden Fahrstuhl. Sein Blick suchte den Tiefenmesser. Das Deep Rover fiel immer noch, nun aber langsamer. Dennoch näherten sie sich dem Boden mit hoher Geschwindigkeit. Nicht lange, und sie würden aufschlagen.
Er biss sich auf die Lippen und ließ Eddie seinen Job machen. In dieser Situation war nichts weniger angebracht, als den Piloten durch Gequatsche aus der Ruhe zu bringen. Also sah Stone zu, wie die Blasen dicker und der Vorhang dichter wurden und das, was man in dem Blowout noch vom Boden erkennen konnte, langsam zur Seite wegkippte. Die rechte Kufe verschwand in heftigem Sprudeln, und das Tauchboot geriet in Schieflage.
Er hielt den Atem an.
Dann waren sie durch.
So wild es eben noch um sie herum geschäumt hatte, so ruhig lag jetzt der Meeresboden vor ihnen. Für die Dauer eines Augenblicks begann das Boot wieder zu steigen. Eddie bediente ohne sonderliche Hast die Fluter und ließ etwas Meerwasser in die Tanks laufen, bis das Deep Rover austariert war und dicht über dem Hang dahinschwebte.
»Alles wieder im grünen Bereich«, sagte er.
Mit zwei Knoten fuhren sie nun Höchstgeschwindigkeit, umgerechnet etwa 3,7 Kilometer pro Stunde. Jeder Jogger war schneller, aber hier ging es nicht darum, Entfernungen zurückzulegen. Genau genommen waren sie ziemlich exakt dort, wo Stone die Fabrik auf Grund gesetzt hatte. Weit konnte es nicht mehr sein.
Der Pilot grinste.
»Damit hätten wir eigentlich rechnen können, was?«
»Nicht in der Heftigkeit«, sagte Stone.
»Nicht? Wenn schon das Meer stinkt wie die letzte Kloake? Irgendwo muss das Gas ja austreten. Na, Sie wollten es ja nicht anders. Sie wollten ja unbedingt runter.«
Stone würdigte ihn keiner Antwort. Er straffte sich und suchte nach Anzeichen von Hydraten, aber im Moment waren keine zu sehen und nur vereinzelt Würmer. Ein großer Plattfisch, ähnlich einer Scholle, lag auf dem Boden. Bei ihrem Näherkommen stieg er träge auf, wirbelte ein wenig wolkigen Schlamm auf und schwamm aus dem Licht.
Wie unwirklich es war, hier zu sitzen, während draußen fast einhundert Kilogramm Wasserdruck auf jeden Quadratzentimeter der Acrylkugel einwirkten. Alles an dieser Situation war künstlich. Die erleuchtete Zone des Hangplateaus mit seinen wandernden Schatten, als das Deep Rover langsam darüber hinwegzog. Die Schwärze jenseits des diffundierenden Lichts. Der maschinell aufrechterhaltene Innendruck. Die Atemluft, die kontinuierlich aus Gasflaschen strömte, während das ausgeatmete Kohlendioxid von Chemikalien eliminiert wurde.
Nichts hier unten lud den Menschen zum Verweilen ein.
Stone schmatzte. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er dachte daran, dass sie stundenlang vor dem Tauchgang nichts getrunken hatten. Für alle Fälle lagerten Human Range Extender an Bord, spezielle Flaschen, wenn es gar nicht mehr anders ging, aber jedem, der ein Tauchboot bestieg, wurde vorher dringend geraten, seine Blase zu entleeren, und zwar so, dass sie eine Weile leer blieb. Seit dem frühen Morgen hatten er und Eddie zudem nur Erdnussbuttersandwiches und knochenharte Schoko— und Ballaststoffriegel zu sich genommen. Tauchmahlzeiten. Nahrhaft, sättigend und trocken wie Saharasand.
Er versuchte sich zu entspannen. Eddie gab einen kurzen Bericht an die Thorvaldson. Hin und wieder sahen sie Muscheln oder Seesterne. Der Pilot wies mit einer Handbewegung nach draußen.
»Erstaunlich, was? Wir sind tiefer als neunhundert Meter, und es ist stockfinster. Trotzdem nennt man diesen Bereich Restlichtzone.«
»Soll es nicht Gegenden geben, wo das Wasser so klar ist, dass bis eintausend Meter tatsächlich noch Licht einfällt?«, fragte Stone.
»Sicher. Aber kein menschliches Auge ist in der Lage, das zu erkennen. Spätestens ab einhundert, einhundertfünfzig Meter ist für unsereinen zappenduster. Waren Sie schon mal tiefer als tausend?«
»Nein. Sie?«
»Einige Male.« Eddie zuckte die Achseln. »Es ist genauso beschissen dunkel wie hier. Ich bin lieber da, wo das Licht ist.«
»Was denn? Kein Ehrgeiz auf Tiefgang?«
»Wozu? Jacques Picard hat’s bis in 10740 Meter Tiefe geschafft. Darauf hätte ich gar keine Lust. Es war eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges, aber was zu sehen gibt’s da kaum.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass da viel ist. Ich meine, selbst wenn, es ist lustiger in der Benthosphäre als in den Abyssalen, es ist einfach mehr los.«
»Pardon«, sagte Stone. »Aber kam Picard nicht 11340 Meter tief?«
»Oh, das.« Eddie lachte. »Ich weiß, es steht in allen möglichen Schulbüchern. Falschmeldung. Lag am Messgerät. Es war in der Schweiz kalibriert worden, in Süßwasser. Verstehen Sie? Süßwasser hat eine andere Dichte. Darum haben sie sich vermessen bei ihrer einzigen bemannten Tauchfahrt zum tiefsten Punkt der Erdoberfläche. Sie hatten …«
»Augenblick. Da!«
Vor ihnen verschwand der Lichtkegel in einem Schatten. Im Näherkommen erkannten sie, dass der Boden hier steil abstürzte. Das Licht verlor sich im Abgrund.
»Halten Sie an.«
Eddies Finger flogen über Tasten und Knöpfe. Er erzeugte Gegenschub, und das Deep Rover verharrte. Dann begann es sich allmählich zu drehen.
»Ziemlich starke Strömung«, sagte Eddie. Das Tauchboot drehte sich langsam weiter, bis die Scheinwerfer den Rand des Abgrundes beleuchteten. Sie starrten auf eine Bruchkante.
»Sieht ganz so aus, als wäre hier vor kurzem was abgestürzt«, sagte Eddie. »Ziemlich frisch.«
Stones Augen wanderten nervös umher.
»Was sagt das Sonar?«
»Es geht mindestens vierzig Meter tief runter. Und rechts und links kann ich gar nichts ausmachen.«
»Das heißt, das Plateau …«
»Hier ist kein Plateau mehr. Es ist eingebrochen.«
Stone nagte an seiner Unterlippe. Sie mussten in unmittelbarer Nähe der Fabrik sein. Aber hier war kein Abgrund gewesen vor einem Jahr. Wahrscheinlich nicht einmal vor wenigen Tagen.
»Wir gehen tiefer«, entschied er. »Schauen wir mal, wo das hinführt.«
Das Deep Rover nahm Fahrt auf und sank entlang der Bruchkante abwärts. Nach knapp zwei Minuten beleuchteten die Scheinwerfer wieder Grund. Es sah aus wie auf einem Trümmerfeld.
»Wir sollten ein paar Meter steigen«, sagte Eddie. »Hier unten ist es ziemlich zerklüftet. Wir könnten irgendwo reinrasseln.«
»Ja, gleich. — Verdammt, vor uns! Schauen Sie.« Eine meterdicke, aufgerissene Röhre kam ins Blickfeld. Sie wand sich quer über große Gesteinsbrocken und verschwand jenseits des Lichtkegels. Mehrere dünne, schwarze Ölfäden zogen sich daraus hervor und stiegen senkrecht zur Oberfläche. »Das ist eine Pipeline«, rief Stone aufgeregt. »Mein Gott.«
»Das war eine Pipeline«, sagte Eddie.
»Wir folgen ihrem Verlauf.«
Stone fröstelte. Er wusste, wohin diese Pipeline führte, beziehungsweise, woher sie kam. Sie waren auf dem Gelände der Fabrik.
Aber es gab kein Gelände mehr.
Vor ihnen tauchte jäh eine zerklüftete Wand auf. Eddie zog das Tauchboot in letzter Sekunde hoch. Die Wand schien kein Ende zu nehmen, dann flogen sie mit knapper Not über die Kante hinweg. Erst jetzt sah Stone, dass es gar keine Wand war, sondern ein gewaltiges Stück Meeresboden, das sich senkrecht aufgestellt hatte. Dahinter ging es wieder steil abwärts. Im Licht trieben Sedimentpartikel und erschwerten die Sicht. Dann erfassten die Leuchten wieder einen Strom schnell aufsteigender Blasen. Sie schossen wild aus einem Graben mit kantigen Rändern hervor.
»Du lieber Himmel«, flüsterte Stone. »Was ist denn hier passiert?«
Eddie gab keine Antwort. Er flog eine Kurve, sodass sie an dem Blasenstrom vorbeizogen. Die Sicht wurde immer schlechter. Sie verloren die Pipeline kurz aus den Augen, dann schob sie sich wieder in den Scheinwerferkegel. Sie führte abwärts.
»Scheißströmung«, sagte Eddie. »Wir werden in den Blowout gezogen.«
Das Deep Rover begann zu trudeln.
»Weiter der Pipeline nach«, befahl Stone.
»Das ist Wahnsinn. Wir sollten auftauchen.«
»Die Fabrik ist hier«, beharrte Stone. »Sie müsste gleich vor uns auftauchen.«
»Hier wird überhaupt nichts auftauchen. Hier ist alles kaputt.«
Stone sagte nichts. Vor ihnen bog sich die Pipeline wie von einer Riesenfaust verdreht nach oben und endete in einem ausgerissenen Stumpf. Zerfetzter Stahl wand sich zu bizarren Skulpturen.
»Wollen Sie immer noch weiter?«
Stone nickte. Eddie manövrierte bis dicht an das Rohr. Einen Moment lang schwebten sie über der gezackten Öffnung wie über einem riesigen Maul. Dann zog das Tauchboot an der Pipeline vorbei.
»Hier geht es ins Bodenlose«, sagte Eddie.
Um sie herum begann es wieder zu perlen.
Stone ballte die Fäuste. Ihm dämmerte, dass Alban am Ende Recht behalten würde. Sie hätten einen Roboter hinunterschicken sollen. Aber jetzt aufzugeben erschien ihm umso absurder. Er müsste es wissen! Er würde Skaugen nicht unter die Augen treten ohne einen detaillierten Bericht. Diesmal würde er sich nicht kalt erwischen lassen.
»Weiter, Eddie.«
»Sie sind irre.«
Hinter dem abgerissenen Rohr fiel das Trümmerfeld steil ab, und der Sedimentregen nahm zu. Erstmals machte sich jetzt auch bei Eddie eine gewisse Anspannung bemerkbar. Jeden Moment konnten neue Hindernisse vor ihnen auftauchen.
Dann sahen sie die Fabrik.
Genau genommen sahen sie nur einige Querverstrebungen, aber Stone wusste im selben Moment, dass es den Kongsberg-Prototyp nicht mehr gab. Die Fabrik lag unter dem Schutt des zusammengebrochenen Plateaus, über fünfzig Meter tiefer, als sie gestanden hatte.
Er schaute genauer hin. Etwas löste sich aus den Metallstreben und kam zu ihnen herauf.
Blasen.
Nein, mehr als nur Blasen. Es erinnerte Stone an den kolossalen Gaswirbel, den sie an Bord der Sonne beobachtet hatten. An den Blowout, nachdem der Videogreifer eingebrochen war.
Plötzlich erfasste ihn Panik.
»Weg!«, schrie er.
Eddie klinkte die restlichen Gewichte aus. Das Boot tat einen Satz und schoss in die Höhe, gefolgt von der riesigen Blase. Dann waren sie mitten in dem Wirbel und sackten weg. Um sie herum kochte das Meer.
»Scheiße!«, brüllte Eddie.
»Was ist los bei euch da unten?« Die blecherne Stimme des Technikers an Bord der Thorvaldson. »Eddie? Melde dich! Wir messen hier komische Sachen, es steigt jede Menge Gas und Hydrat nach oben.«
Eddie drückte die Antworttaste.
»Ich werfe die Hülle ab! Wir kommen hoch.«
»Was ist los? Habt ihr …«
Die Stimme des Technikers ging unter in dröhnendem Lärm. Es zischte und knallte. Eddie hatte die Batteriepakete und Teile der Hülle abgesprengt. Es war die ultimative Notfallmaßnahme, um schnell Gewicht zu verlieren. Der Restrumpf des Deep Rover mit der Acrylkugel begann sich zu drehen und wieder aufzusteigen. Dann erschütterte ein heftiger Stoß das Gefährt. Stone sah einen gewaltigen Felsbrocken neben sich auftauchen, der vom Gas mit hochgerissen wurde. In der Kugel kehrte sich das Unterste zuoberst. Er hörte den Piloten schreien, als sie ein weiteres Mal getroffen wurden. Diesmal bekamen sie einen Schlag von rechts, der sie seitlich aus dem Blowout heraustrug. Augenblicklich erhielt das Deep Rover Auftrieb und schoss nach oben. Stone klammerte sich an den Lehnen fest, mehr liegend als sitzend. Eddie sackte mit geschlossenen Augen gegen ihn. Blut lief über sein Gesicht. Entsetzt registrierte Stone, dass er nun völlig auf sich gestellt war. Fieberhaft versuchte er sich zu erinnern, wie man das Boot wieder ins Gleichgewicht brachte. Die Steuerung ließ sich von Eddie zu ihm herüberschalten, aber wie?
Eddie hatte es ihm gezeigt. Da war der Knopf.
Stone drückte ihn, während er zugleich versuchte, Eddie von sich wegzuschieben. Er war nicht sicher, ob die Propeller überhaupt noch funktionierten, nachdem die Hülle abgesprengt war. Auf dem Tiefenmesser jagten die Zahlen einander und zeigten ihm an, dass das Boot jetzt sehr schnell stieg. Im Grunde war es belanglos, wohin er steuerte. Hauptsache, es ging nach oben. Dekompressionsprobleme musste man im Deep Rover nicht befürchten. Der Kabinendruck entsprach dem Druck an der Wasseroberfläche.
Ein Warnlicht leuchtete auf.
Die Scheinwerfer über der rechten Kufe erloschen. Dann gingen sämtliche Lichter aus. Tintenschwärze herrschte um Stone herum.
Er begann zu zittern.
Beruhige dich, dachte er. Eddie hat dir die Funktionen erklärt. Es gibt ein Notstromaggregat. Es ist einer der Knöpfe in der obersten Reihe des Bedienpults. Entweder es schaltete sich von selber ein, oder er musste es tun. Seine Finger ertasteten die Schalter, während er weiter in die Schwärze starrte.
Was war da?
Es hätte stockfinster sein müssen ohne die Leuchten des Tauchboots. Aber da war Licht.
Waren sie schon so dicht unter der Oberfläche? Die letzte Anzeige des Tiefenmessers hatte etwas mehr als siebenhundert Meter angezeigt, bevor die Scheinwerfer ausgingen. Das Boot schwebte immer noch am Kontinentalhang entlang. Sie waren weit unterhalb der Schelfkante und jenseits jeglichen Tageslichts.
Eine Sinnestäuschung?
Er kniff die Augen zusammen.
Schwach bläulich leuchtete das Licht, so schwach, dass es mehr zu ahnen als zu sehen war. Es reckte sich aus der Tiefe empor, und es hatte eine Form, eine Art trichterförmige Röhre, deren hinteres Ende sich im Dunkel des Abgrunds verlor. Stone hielt den Atem an. Es war verrückt, aber plötzlich hätte er schwören können, dass dieses Ding umso heller erstrahlen würde, je näher man ihm käme. Der größte Teil der Lichtwellen wurde vom Wasser geschluckt. Wenn das stimmte, musste es ein beträchtliches Stück entfernt sein.
Und damit riesig.
Die Röhre bewegte sich.
Der Trichter schien sich zu dehnen, während sich das ganze Gebilde langsam bog. Stone verharrte regungslos, die Finger erstarrt auf ihrer Suche nach dem Notstromschalter, und sah gebannt hinaus. Was er dort sah, war Biolumineszenz, ganz ohne Zweifel, gefiltert durch Millionen Kubikmeter Wasser, Partikel und Gas. Aber welches Meereslebewesen, das leuchtete, war so unvorstellbar groß? Ein Riesenkalmar? Das da war größer als jeder Kalmar. Es war größer als jede noch so kühne Phantasie von einem Kalmar.
Oder bildete er sich alles ein? Eine Täuschung auf der Netzhaut, hervorgerufen durch die abrupten Hell-Dunkel-Wechsel? Geisterbilder von den erloschenen Scheinwerfern?
Je länger er auf das leuchtende Ding starrte, desto schwächer erschien es. Die Röhre sackte langsam nach unten weg.
Dann war sie verschwunden.
Sofort nahm Stone die Suche nach dem Knopf für das Notstromaggregat wieder auf. Das Tauchboot stieg ruhig und gleichmäßig nach oben, und er verspürte einen Anflug von Erleichterung, dass er nun bald zur Oberfläche gelangen und der Alptraum vorbei sein würde. Die Videokameras waren jedenfalls nicht verloren gegangen, als Eddie die Hülle abgesprengt hatte. Ob sie auch das leuchtende Ding gefilmt hatten? Konnten sie derart schwache Impulse verarbeiten?
Es war da gewesen. Er hatte sich nicht getäuscht. Und plötzlich fiel ihm die merkwürdige Videoaufnahme ein, die der Victor gemacht hatte. Dieses andere Ding, das sich so plötzlich aus dem Lichtkegel zurückgezogen hatte.
Mein Gott, dachte er. Worauf sind wir da gestoßen?
Ah! Da war der Schalter.
Summend sprang das Notstromaggregat an. Zuerst flammten die Kontrolllichter an der Konsole auf, dann die Außenscheinwerfer. Von einem Augenblick zum anderen schwebte das Deep Rover wieder in einem Kokon aus Licht.
Eddie lag mit offenen Augen neben ihm.
Stone beugte sich zu ihm hinüber, als etwas hinter Eddie im Licht auftauchte, eine Fläche, wolkig, rötlich. Sie kippte auf das Boot zu, und Stones Hand schnellte nach der Steuerkonsole, weil er dachte, sie würden gegen den Hang prallen.
Dann wurde ihm klar, dass der Hang gegen das Boot prallte.
Er kam auf sie zu.
Der Hang raste auf sie zu!
Es war das Letzte, was Stone begriff, bevor die Acrylkugel von der Wucht des Aufpralls in tausend Stücke zerschmettert wurde.
Bell 430, Norwegische See
In Trondheim hatte es noch nach einem ruhigen Flug ausgesehen. Inzwischen wackelte es dermaßen, dass Johanson Probleme hatte, sich in gebührender Weise der amerikanischen Poesie zu widmen. Während der vergangenen halben Stunde hatte sich der Himmel dramatisch verdunkelt und beständig herabgesenkt. Er lastete auf dem Helikopter, als wolle er ihn ins Meer drücken. Scharfe Böen schüttelten den Bell hin und her.
Der Pilot wandte den Blick nach hinten.
»Alles in Ordnung?«
»Bestens.« Johanson klappte das Buch zu und sah nach draußen. Die Meeresoberfläche war in eine Waschküche getaucht. Schemenhaft erkannte er Bohrinseln und Schiffe. Er schätzte, dass der Seegang in diesen Minuten ordentlich zulegte. Ein handfester Sturm zog auf.
»Sie müssen sich keine Sorgen machen«, sagte der Pilot. »Wir haben nicht das Geringste zu befürchten.«
»Ich mache mir keine. Was sagt eigentlich der Wetterdienst?«
»Dass es windig wird.« Der Pilot warf einen Blick auf das Barometer an der Steuerkonsole. »Wie es aussieht, bekommen wir einen kleinen Orkan geboten.«
»Nett, dass Sie’s mir vorher nicht gesagt haben.«
»Ich wusste es nicht.« Der Mann zuckte die Achseln. »So toll funktioniert das mit den Wettervorhersagen auch nicht immer. — Haben Sie Angst vorm Fliegen?«
»Überhaupt nicht. Ich finde Fliegen ganz prima«, sagte Johanson mit Nachdruck. »Einzig das Runterfallen macht mir Sorgen.«
»Wir fallen nicht. Im Offshoregeschäft ist so was Kinderkram. Heute wird nichts Schlimmeres passieren, als dass es uns einige Male ordentlich durchschüttelt.«
»Wie lange sind wir noch unterwegs?«
»Die Hälfte haben wir hinter uns.«
»Na dann.«
Er schlag das Buch wieder auf.
In das Motorengeräusch mischten sich tausend andere Laute. Es knackte, polterte, pfiff. Es schien sogar zu schellen. Ein Ton, der in regelmäßigen Intervallen erklang, irgendwo hinter ihm. Was der Wind alles anstellte mit der Akustik! Johanson drehte den Kopf zur Rückbank, aber das Geräusch war verstummt.
Er widmete sich wieder den Gedanken Walt Whitmans.
Storegga-Effekt
Vor 18000 Jahren, während der Hochphase der letzten Eiszeit, lag der Meeresspiegel überall auf der Welt rund einhundertzwanzig Meter tiefer als zu Beginn des dritten Jahrtausends. Große Menge der globalen Wassermassen waren in Gletschern gebunden. Ein entsprechend geringerer Wasserdruck lastete damals auf den Schelfregionen, und einige der heutigen Meere existierten noch nicht. Andere wurden im Zuge der Vereisung immer flacher, einige trockneten schließlich aus und verwandelten sich in ausgedehnte Sumpflandschaften.
Unter anderem führte der sinkende Wasserdruck in vielen Teilen der Welt dazu, dass sich die Stabilitätsverhältnisse für Methanhydrate dramatisch änderten. Besonders in den hoch gelegenen Regionen der Kontinentalhänge wurden innerhalb kürzester Zeit riesige Mengen Gas freigesetzt. Die Eiskäfige, in denen es gefangen und komprimiert war, schmolzen dahin. Was tausende von Jahren wie Mörtel in den Hängen fungiert hatte, wurde nun zu deren Sprengstoff. Schlagartig blähte sich das frei werdende Methan zum Einhundertvierundsechzigfachen seines Volumens auf, drückte Poren und Spalten der Sedimente auseinander auf seinem Weg nach draußen und hinterließ poröse Ruinen, die ihr eigenes Gewicht nicht länger zu tragen vermochten.