»Was ist mit Tauchbooten, Tauchrobotern, und so weiter?«, wollte der CIA-Direktor wissen.
   »Gar nichts. Seit kurzem verschwindet alles, was wir ins Meer entlassen, spurlos. Wir haben da unten keine Möglichkeit der Kontrolle. ROVs sind nur per Kabel mit der Außenwelt verbunden, und die ziehen wir regelmäßig zerfetzt aus dem Wasser, nachdem die Kameras zuvor ein blaues Leuchten erfasst haben. Über den Verbleib von AUVs lassen sich gar keine Aussagen treffen. Vier couragierte russische Wissenschaftler sind vergangene Woche mit den MIR-Tauchbooten runtergegangen, in eintausend Metern Tiefe von etwas gerammt worden und gesunken.«
   »Das heißt, wir überlassen denen das Feld.«
   »Im Augenblick versuchen wir, die wurmbefallenen Gebiete mit Schleppnetzen abzugrasen. Netze werden außerdem vor Küsten gespannt, eine zusätzliche Maßnahme, um Landinvasionen wie die auf Long Island abzuwehren.«
   »Scheint mir ziemlich archaisch.«
   »Wir werden auf archaische Weise angegriffen. Wir haben außerdem begonnen, die Wale vor Vancouver Island mit Sonar in die Zange zu nehmen. Wir beschallen sie mit Surtass LFA. Etwas steuert die Tiere, also steuern wir gegen, bis ihnen vor lauter Krach der Schädel platzt.
   Mal sehen, wer die Oberhand gewinnt.«
   »Das klingt beschissen, Li.«
   »Wenn Sie eine bessere Idee haben, ist sie willkommen.«
   Einen Moment lang sagte niemand etwas.
   »Hilft uns die Satellitenüberwachung?«, fragte der Präsident.
   »Bedingt.« Der Deputy Director for Operations schüttelte den Kopf. »Die Army ist darauf vorbereitet, abgestellte Panzer unter einer Tarnung aus Zweigen ausfindig zu machen, aber es gibt nur wenige Systeme, die etwas von der Größe eines Krebses erfassen können. Gut, wir haben KH-12 und die neue Generation der Keyhole-Satelliten. Außerdem Lacrosse, und die Europäer lassen uns bei Topex/Poseidon und SAR-Lupe mitspielen, aber die arbeiten mit Radar. Das Problem ist überhaupt, dass wir solche Kleinigkeiten nur erkennen, wenn wir ranzoomen. Das heißt, wir konzentrieren uns auf einen kleinen Ausschnitt. Solange wir nicht wissen, was wo aus dem Meer steigt, gucken wir im Zweifel in die verkehrte Richtung. Li hatte den Vorschlag gemacht, Drohnen einzusetzen, die über den Küsten patrouillieren. Ich halte das für einen guten Vorschlag, aber auch Drohnen sehen nicht alles. NRO und NSA tun ihr Bestes. Möglicherweise kommen wir weiter bei der Auswertung abgefangener Nachrichten. Wir ziehen alle Register von SIGINT.«
   »Vielleicht ist das unser Problem«, sagte der Präsident gedehnt. »Vielleicht sollten wir es ein bisschen mehr mit HUMINT versuchen.«
   Li verkniff sich ein Grinsen. HUMINT gehörte zu den Lieblingsbegriffen des Präsidenten. Im Sicherheitsjargon der USA stand SIGINT für Signals Intelligence, was die Gesamtheit der fernmeldetechnischen Nachrichtenbeschaffung umfasste. HUMINT bezeichnete die Nachrichtenbeschaffung im Spionagegewerbe — Human Intelligence. Der Präsident, selber hemdsärmelig und technisch eher unbedarft, war vom Pioniergeist der Gründerväter durchdrungen. Er liebte es, jemandem in die Augen schauen zu können. Obwohl er die technisch hochgerüstetste Armee der Welt befehligte, konnte er mit dem Bild des Spähers, der sich im Unterholz anschleicht, mehr anfangen als mit Satelliten.
   »Setzen Sie die Köpfe ein«, sagte er. »Einige verstecken sich allzu gerne hinter Schaltpulten und Computerprogrammen. Ich will, dass weniger programmiert und mehr gedacht wird.«
   Der CIA-Direktor legte die Fingerspitzen aufeinander.
   »Nun«, sagte er. »Vielleicht sollten wir der Nahost-Hypothese doch nicht so viel Bedeutung beimessen.«
   Li sah Vanderbilt an. Der Stellvertretende CIA-Direktor blickte starr geradeaus.
   »Bisschen zu weit vorgeprescht, Jack?«, sagte sie so leise, dass es niemand außer Vanderbilt hören konnte.
   »Ach, halten Sie doch den Mund.«
   Sie beugte sich vor. »Wollen wir mal über etwas Positives sprechen?«
   Der Präsident lächelte.
   »Alles, was positiv ist, kann uns nur recht sein, Jude.«
   »Nun, es gibt immer eine Zeit danach. Am Ende kommt es darauf an, wer gewonnen hat. Auf jeden Fall wird die Welt anders aussehen, wenn das hier vorüber ist. Bis dahin werden viele Länder destabilisiert sein, auch solche, deren Destabilisierung in unserem Interesse liegt. Dieser Effekt ließe sich nutzen. Ich meine, die Welt ist in einer schrecklichen Lage, aber Krise ist ein anderes Wort für Chance. Wenn die aktuelle Entwicklung den Zusammenbruch eines Regimes fördert, das uns nicht genehm ist, wäre das nicht unsere Schuld, aber wir könnten hier und da nachhelfen und später die richtigen Leute einsetzen.«
   »Hm«, machte der Präsident.
   Die Außenministerin überlegte einen Moment und sagte: »Die Frage ist demzufolge weniger, wer diesen Krieg führt, sondern wer ihn gewinnt.«
   »Ich meine, die zivilisierte Welt muss Schulter an Schulter gegen den unsichtbaren Feind kämpfen«, bekräftigte Li. »Gemeinsam. Wenn es so weitergeht, werden die Bündnisse ohnehin verstärkt auf die UNO schauen. Das ist vorerst in Ordnung so, alles andere wäre das falsche Signal. Wir sollten uns nicht aufdrängen, aber bereithalten. Zusammenarbeit anbieten. — Aber gewinnen sollten am Ende wir. Und verlieren sollten alle, die uns in der Vergangenheit bedroht haben und gegen uns waren. Je maßgeblicher wir den Ausgang der aktuellen Situation beeinflussen, desto klarer werden später die Rollen verteilt sein.«
   »Klarer Standpunkt, Jude«, sagte der Präsident.
   Am Tisch war beifälliges Nicken zu sehen, vermischt mit leichter Verärgerung. Li lehnte sich zurück. Sie hatte genug gesagt. Mehr, als ihre Position zuließ, aber es hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Ein paar Leute, deren eigentliche Aufgabe es gewesen wäre, diese Dinge zu sagen, hatte sie vor den Kopf gestoßen. Unwichtig. In Offutt war es angekommen.
   »Gut«, sagte der Präsident. »Ich denke, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen solchen Vorschlag in die Schublade packen können, aber die Schublade sollte ein Stück offen stehen. Auf keinen Fall sollten wir in der Weltöffentlichkeit den Eindruck erwecken, man sei hier an einer Übernahme der Führung interessiert. — Wie kommen Ihre Wissenschaftler voran, Jude?«
   »Ich denke, sie sind unser größtes Kapital.«
   »Wann sehen wir Ergebnisse?«
   »Morgen kommen alle wieder zusammen. Ich habe Major Peak angewiesen zurückzukehren, damit er dabei sein kann. Er wird die Krisenlage in New York und Washington von hier aus steuern.«
   »Du solltest eine Rede an die Nation halten«, sagte der Vizepräsident zum Präsidenten. »Es wird Zeit, dass du dich äußerst.«
   »Ja, das ist wahr.« Der Präsident schlug auf den Tisch. »Das Kommunikationsteam soll die Schreiberlinge daransetzen. Ich will etwas Ehrliches. Kein Beschwichtigungsblabla, aber etwas, das Hoffnung macht.«
   »Gehen wir auf etwaige Feinde ein?«
   »Nein, das wird als Naturkatastrophe gehandelt. Wir sind noch nicht so weit, die Leute sind beunruhigt genug. Wir müssen ihnen versichern, dass wir alles Menschenmögliche tun werden, um sie zu schützen. — Und dass wir es auch können. Dass wir die Mittel und Möglichkeiten haben. — Dass wir auf alles vorbereitet sind. Amerika ist nicht nur das freieste Land der Welt, sondern auch das sicherste, egal was aus dem Meer steigt, das sollen sie wissen. Egal, was passiert. — Und ich empfehle Ihnen allen noch etwas. Beten Sie. Beten Sie zu Gott. Dies ist sein Land, und er wird uns beistehen. Er wird uns die Kraft geben, das alles in unserem Sinne zu regeln.«
 
New York, USA
 
   Wir schaffen es nicht.
   Salomon Peak hatte nur noch diesen einen Gedanken, als er in den Helikopter stieg. Wir sind nicht vorbereitet. Wir haben nichts, was wir diesem Grauen entgegensetzen können.
   Wir schaffen es nicht.
   Der Helikopter stieg vom nächtlichen Wall Street Heliport auf und zog quer über Soho, Greenwich Village und Chelsea nordwärts. Die Stadt war hell erleuchtet, aber man sah, dass etwas nicht stimmte. Viele Straßen waren in Flutlicht getaucht, und es herrschte kein fließender Verkehr mehr. Von hier oben offenbarte sich das ganze Ausmaß des Chaos. New York wurde beherrscht von den Sicherheitskräften des OEM und der Armee. Ständig landeten und starteten Hubschrauber. Auch der Hafen war gesperrt worden. Nur Militärschiffe kreuzten noch auf dem East River.
   Und immer mehr Menschen starben.
   Sie waren machtlos. Sie konnten nichts dagegen tun. Das OEM hatte Vorschriften und Ratschläge zuhauf veröffentlicht, wie sich die Bevölkerung im Falle einer Katastrophe schützen konnte, aber die beständigen Warnungen und öffentlichen Übungen schienen nichts bewirkt zu haben. Die Kanister mit Trinkwasser, die in jedem Haushalt für Notfälle bereitzustehen hatten, standen nicht bereit. Wo es doch der Fall war, erkrankten die Leute an Toxiden, die als Gase aus der Kanalisation aufstiegen oder aus Waschbecken, Toiletten und Geschirrspülern waberten. Alles, was Peak hatte tun können, war, offensichtlich gesunde Menschen aus der Gefahrenzone in riesige Quarantänelager zu bringen und dort festzusetzen. New York hatte sich in eine Todeszone verwandelt. Schulen, Kirchen und öffentliche Gebäude waren in Krankenhäuser umfunktioniert worden, der Ring um die Stadt glich einem gigantischen Gefängnis.
   Er schaute nach rechts.
   Immer noch brannte es in dem Tunnel. Der Fahrer eines Militärtankwagens hatte seine Atemmaske nicht ordnungsgemäß aufgesetzt und bei voller Fahrt das Bewusstsein verloren. Er war in einem Konvoi unterwegs gewesen. Der Unfall hatte eine Kettenreaktion ausgelöst, in deren Verlauf Dutzende von Fahrzeugen in die Luft geflogen waren. Derzeit herrschten im Tunnel Temperaturen wie im Innern eines Vulkans.
   Peak machte sich Vorwürfe, dass er den Unfall nicht hatte verhindern können. Natürlich war die Verseuchungsgefahr in einem Tunnel weit höher als in den Straßen der Stadt, wo die Toxide abziehen konnten. Aber wie hätte er überall zugleich sein können? Was konnte er überhaupt verhindern?
   Wenn es irgendetwas gab, dass Peak aus tiefster Seele hasste, war es das Gefühl der Machtlosigkeit.
   Und jetzt ging es auch in Washington los.
   »Wir schaffen es nicht«, hatte er Li am Telefon gesagt.
   »Wir müssen«, war die einzige Antwort gewesen.
   Sie überflogen den Hudson River und hielten auf Hackensack Airport zu, wo eine Militärmaschine auf Peak wartete, um ihn nach Vancouver zu bringen. Die Lichter Manhattans fielen zurück. Peak fragte sich, was die Versammlung am folgenden Tag wohl ergeben würde. Er hoffte, dass wenigstens ein Medikament dabei heraussprang, um dem Horror von New York ein Ende zu setzen, aber etwas warnte ihn, sich Hoffnungen zu machen. Es war seine innere Stimme, und sie behielt im Allgemeinen Recht.
   Sein Schädel wummerte im Takt des Rotorenlärms.
   Peak lehnte sich zurück und schloss die Augen.
 
Chateau Whistler, Kanada
 
   Li war hochzufrieden.
   Natürlich hätte ihr angesichts des heraufdämmernden Armageddon Erschütterung weit eher angestanden. Aber der Tag war einfach zu gut verlaufen. Vanderbilt ging in die Defensive, und der Präsident hörte ihr zu. Nach endlosen Telefonaten hatte sie sich einen Status quo des Weltuntergangs verschafft und wartete voller Ungeduld darauf, mit dem Verteidigungsminister verbunden zu werden. Sie wollte den Einsatz der Schiffe besprechen, die am folgenden Tag zur ersten Sonarattacke auslaufen sollten. Der Verteidigungsminister hing in einer Besprechung fest. Einige Minuten blieben ihr noch, also spielte sie Schumann vor der Kulisse eines exorbitanten Sternenhimmels.
   Es war kurz vor 2.00 Uhr. Das Telefon schellte. Li sprang auf und stellte die Verbindung her. Sie hatte das Pentagon erwartet und war einen Moment lang verblüfft, wessen Stimme sie stattdessen hörte.
   »Dr. Johanson! Was kann ich für Sie tun?«
   »Haben Sie Zeit?«
   »Wann? Jetzt?«
   »Ich würde Sie gerne unter vier Augen sprechen, General.« »Ungünstig im Moment. Ich muss ein paar Telefonate führen. Sagen wir, in einer Stunde?«
   »Sind Sie nicht neugierig?«
   »Helfen Sie mir auf die Sprünge.«
   »Sie waren der Meinung, ich hätte eine Theorie.«
   »Oh, richtig!« Sie überlegte eine Sekunde. »Gut.
   Kommen Sie.«
   Mit einem Lächeln legte sie auf. Genau so hatte sie es erwartet. Johanson war nicht der Typ, der Fristen bis zur letzten Sekunde ausreizte, und zu höflich, sie verstreichen zu lassen. Er wollte den Zeitpunkt bestimmen, und sei es mitten in der Nacht.
   Sie rief die Telefonzentrale an. »Verschieben Sie mein Telefonat mit dem Pentagon um eine halbe Stunde.« Sie überlegte kurz, dann korrigierte sie sich: »Nein, um eine Stunde.«
   Johanson würde einiges zu erzählen haben.
 
Vancouver Island
 
   Nach Greywolfs Schilderung war Anawak der Appetit fürs Erste vergangen. Doch Shoemaker übertraf sich selbst. Er hatte preisverdächtige Steaks gebraten und einen bemerkenswerten Salat mit Croutons und Nüssen kreiert. Sie aßen zu dritt auf seiner Veranda. Delaware vermied es, das Thema auf ihre neue Beziehung zu bringen, und erwies sich als überaus unterhaltsam. Sie kannte eine Menge Witze und war sich nicht zu schade, noch die blödesten so zu erzählen, dass man sie auf eine Bühne hätte stellen sollen. Sie war wirklich komisch.
   Wie eine Insel lag der Abend in einem Meer von Elend.
   Im mittelalterlichen Europa hatten sie getanzt und ein Fest gefeiert, wenn der Schwarze Tod umherging. Ganz so weit waren sie hier nicht, aber immerhin schafften sie es, mehrere Stunden lang über alles Mögliche zu reden, nur nicht über Tsunamis, Wale und Killeralgen. Anawak war dankbar für die Abwechslung. Shoemaker erzählte Geschichten aus den Anfangstagen von Davies. Sie lachten und schwatzten und genossen den milden Abend, streckten die Beine aus und sahen hinaus aufs schwarze Wasser der Bucht.
   Etwa um zwei hatte sich Anawak verabschiedet. Delaware war geblieben. Sie und Shoemaker hatten sich an alten Kinofilmen festgebissen und eine weitere Flasche Wein aufgemacht. Allmählich begaben sie sich auf eine alkoholisierte Daseinsebene, also trank er ein letztes Wasser, bedankte sich und ging die nächtliche Hauptstraße entlang zur Station. Dort schaltete er den Computer ein und loggte sich ins Internet.
   Nach wenigen Minuten hatte er Professor Dr. Kurzweil gefunden.
   Im Morgengrauen begann sich ein Bild abzuzeichnen.
 

12. Mai

Chateau Whistler, Kanada
 
   Möglicherweise, dachte Johanson, ist das der Wendepunkt. Oder ich bin ein alter Spinner.
   Er stand auf dem kleinen Podium links von der Projektionsfläche. Der Beamer war ausgeschaltet. Sie hatten einige Minuten auf Anawak warten müssen, der in Tofino übernachtet hatte, aber jetzt waren sie vollzählig. In der vordersten Reihe saßen Peak, Vanderbilt und Li. Peak wirkte erschöpft. Er war in der Nacht aus New York zurückgekehrt und sah aus, als habe er dort den größten Teil seiner Kraft gelassen.
   Johanson, der sein halbes Leben in Hörsälen verbracht hatte, war es gewohnt, zu anderen Menschen zu sprechen. Hin und wieder hatte er dem Schulwissen eigene Erkenntnisse und Hypothesen hinzugefügt und in Kauf genommen, sich mit echten und selbst ernannten Fachleuten darüber zu streiten. Ansonsten waren Hörsäle sicheres Terrain. Man gab weiter, was andere herausgefunden hatten, und fragte es ab.
   An diesem Morgen machte er die unerwartete Erfahrung des Selbstzweifels. Wie sollte er seine Theorie erzählen, ohne dass gleich alle vor Lachen von den Stühlen fielen? Li hatte eingeräumt, er könne Recht haben. Das war schon eine ganze Menge. Mit etwas vorsichtigem Optimismus ließ sich sogar sagen, dass sie seinen Gedankengängen zu folgen bereit war. Aber Reste von Unsicherheit, ob er es richtig machen oder verpatzen würde, gärten in ihm und führten dazu, dass er den größten Teil der Nacht damit verbracht hatte, seinen Vortrag wieder und wieder umzuschreiben. Johanson gab sich keinen Illusionen hin. Er hatte nur diesen einen Schuss. Entweder nahm er die anderen in einem Überraschungsangriff für sich ein, oder sie erklärten ihn für durchgeknallt.
   Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Es herrschte Totenstille.
   Er warf einen Blick auf das oberste Blatt seines Manuskripts. Die Hinleitung war ausführlich. Jetzt, nach drei Stunden Schlaf, erschien sie ihm plötzlich unverständlich und kompliziert. Sollte er das wirklich so vortragen? In der Nacht war er zufrieden damit gewesen, als ihm die Augen brannten und er vor lauter Müdigkeit kaum noch klar denken konnte. Aber genau so las es sich jetzt. Durch tausend Untiefen quälte sich die Argumentation. Ein rhetorischer Schlingerkurs.
   Johanson zögerte.
   Dann legte er das Manuskript beiseite.
   Augenblicklich fühlte er eine ungeheure Erleichterung, als habe der dünne Stapel Papier Tonnen gewogen. Seine Selbstsicherheit kehrte zurück wie eine kampfbereite Kavallerie, mit wehender Fahne und Fanfarenstößen. Er trat einen Schritt vor, sah in die Runde, versicherte sich der Aufmerksamkeit eines jeden Einzelnen und sagte:
   »Es ist ganz einfach. Die Konsequenzen werden uns schreckliches Kopfzerbrechen bereiten, aber im Grundsatz ist es wirklich simpel und nahe liegend. Wir erleben keine Naturkatastrophe. Ebenso wenig haben wir es mit terroristischen Vereinigungen oder Schurkenstaaten zu tun. Auch die Evolution spielt nicht verrückt. Nichts von alledem trifft zu.« Er machte eine Pause. »Etwas völlig anderes geschieht. Wir werden in diesen Tagen Zeuge des viel beschriebenen Krieges zwischen den Planeten. Zwei Planeten, die wir nur als solche nicht erkennen, weil sie zu einem verschmolzen sind. Während wir nach oben geschaut haben in Erwartung fremder Intelligenzen aus dem All, zeigen sie sich nun als Teil unserer Welt, den wir uns nie wirklich zu verstehen bemüht haben. Zwei grundverschiedene Systeme intelligenten Lebens koexisitieren auf diesem Planeten, die einander bis heute in Ruhe gelassen haben. Aber während das eine System um die Entwicklung des anderen wusste, hat das andere bis heute keinerlei Vorstellung von der Komplexität der Welt unter Wasser, oder — wenn Sie so wollen — von dem fremden Universum, mit dem wir diesen Globus teilen. Der Weltraum liegt in den Ozeanen. Die Außerirdischen kommen nicht aus weit entfernten Galaxien, sondern haben sich am Grund der Tiefsee entwickelt. Das Leben im Wasser ist weit älter als das zu Lande, und ich schätze, diese Wesen werden weit älter sein als wir. Ich habe keine Vorstellung davon, wie sie aussehen oder wie sie leben, wie sie denken und kommunizieren. Aber wir werden uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass es eine zweite göttliche Rasse gibt, deren Lebensbereich wir seit Jahrzehnten systematisch zerstören. — Und, ladies and gentlemen, die da unten scheinen mit einiger Berechtigung stinksauer auf uns zu sein.«
   Niemand sagte etwas.
   Vanderbilt starrte ihn an. Seine Hängebacken zitterten. Sein ganzer gewaltiger Körper begann zu beben, als schaukele sich darin ein Lachen auf, das über Johanson hereinbrechen würde wie die Salve eines Exekutionskommandos. Die fleischigen Lippen zuckten. Vanderbilt öffnete den Mund.
   »Ihr Gedanke leuchtet mir ein«, sagte Li.
   Es war, als habe man dem Stellvertretenden Direktor der CIA ein Messer zwischen die Rippen gestoßen. Sein Mund klappte wieder zu. Er zuckte heftig zusammen und schaute Li entgeistert an.
   »Das ist nicht Ihr Ernst«, keuchte er.
   »Doch«, erwiderte Li ruhig. »Ich habe nicht gesagt, dass Dr. Johanson Recht hat, aber es erscheint mir sinnvoll, ihm zuzuhören. Ich denke, er wird seine Annahme begründen können.«
   »Danke, General«, sagte Johanson mit einer leichten Verbeugung. »Das kann ich tatsächlich.«
   »Dann schlage ich vor, dass Sie fortfahren. Versuchen Sie Ihre Ausführungen knapp zu halten, damit wir baldmöglichst in die Diskussion einsteigen können.«
   Vanderbilt schien unter Schock zu stehen. Johanson ließ seinen Blick die Reihen entlang wandern. Er versuchte es beiläufig geschehen zu lassen, um nicht den Eindruck zu erwecken, er sei auf Reaktionen aus. Kaum jemand trug offene Ablehnung zur Schau. Die meisten Gesichter waren in Verwunderung erstarrt, manche fasziniert, andere ungläubig, einige ausdruckslos. Jetzt musste er den zweiten Schritt tun. Er musste sie dazu bringen, seine Idee aufzugreifen und selbständig weiterzuentwickeln.
   »Unser Hauptproblem in den vergangenen Tagen und Wochen«, sagte er, »hat darin bestanden, die unterschiedlichen Vorfälle in Bezug zueinander zu setzen. Es schien keine Verbindung zu geben, bis wir auf eine gallertartige Substanz stießen, die in unterschiedlichen Quantitäten auftritt und an der frischen Luft rasch zerfällt. Leider hat diese Entdeckung unsere Verwirrung nur gesteigert, weil wir das Zeug in Krebsen und Muscheln ebenso fanden wie in den Köpfen von Walen, also in Lebewesen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Als mögliche Erklärung bot sich eine Art Seuche an. Ein Schimmelpilz, eine Substanz gewordene Tollwut, irgendeine Art von Befall wie BSE oder Schweinepest. Aber das erklärt wiederum nicht die Schiffsuntergänge oder warum die Krebse Killeralgen in sich tragen. Und die Würmer an den Kontinentalhängen weisen nichts Gallertiges auf. Dafür transportieren sie Methan reduzierende Bakterien und sind verantwortlich für die Freisetzung von Treibhausgas in großen Mengen, was letztlich zur Abrutschung des Schelfrandes und zum Tsunami führte. In weiten Teilen der Welt treten unterdessen Organismen auf, die offenbar mutiert sind, und Fischschwärme verhalten sich wider ihre Natur. — Das alles ergibt kein Bild. Jack Vanderbilt hat darum absolut Recht, wenn er einen planenden Geist heraufbeschwört, der für all das verantwortlich ist. Aber er verkennt, dass kein Wissenschaftler annähernd genug über marine Ökosysteme weiß, um sie derart manipulieren zu können. Es wird gerne behauptet, wir wüssten über den Weltraum mehr als über die Tiefsee. Das stimmt. Man sollte ergänzend sagen, warum das so ist: weil wir uns im Weltraum besser bewegen und besser sehen können als in den Meeren. Das Hubble-Teleskop schaut mühelos in fremde Galaxien. Hingegen lassen uns selbst stärkste Scheinwerfer die Welt unter Wasser nur im Umkreis weniger Dutzend Meter erkennen. Ein Mensch in einem Raumanzug kann sich im Weltraum nahezu überall frei bewegen, aber ein Taucher wird ab einer gewissen Tiefe zerquetscht, selbst in einem Hightech-Anzug. Unterseeboote, AUVs und ROVs, sie alle funktionieren nur unter ganz bestimmten Bedingungen. Definitiv besitzen wir weder die technische Ausstattung noch die Physis, um Milliarden Würmer auf Hydraten abzusetzen, und schon gar nicht verfügen wir über das erforderliche Wissen, um sie für eine Welt zu züchten, die wir kaum kennen. — Tiefseekabel sind zerstört worden, und nicht nur durch die Rutschung. Aus den Abyssalen steigen Schwärme von Muscheln, Medusen und Quallen empor. — Ja, es ist richtig, wir erleichtern uns die Erklärung dieser Phänomene, indem wir einen planenden Geist voraussetzen, aber dann müssen wir den Gedanken konsequent zu Ende denken: dass nämlich alles, was geschieht, nur geschehen kann, weil jemand sich da unten ebenso gut auskennt, wie wir uns an der Oberfläche auskennen. Also jemand, der dort lebt und in seinem Universum die herrschende Rolle einnimmt.«
   »Habe ich Sie richtig verstanden?«, rief Rubin aufgeregt. »Sie wollen sagen, wir teilen uns diesen Planeten mit einer zweiten intelligenten Rasse?«
   »Ja. Das glaube ich.«
   »Wenn das so ist«, fragte Peak, »warum haben wir bis heute nie etwas von dieser Rasse gehört oder gesehen?« »Weil es sie nicht gibt«, sagte Vanderbilt mürrisch. »Falsch.« Johanson schüttelte energisch den Kopf. »Es gibt mindestens drei Gründe. Erstens, das Gesetz vom unsichtbaren Fisch.« »Das was?«
   »Die meisten Lebewesen der Tiefsee sehen im herkömmlichen Sinne nicht mehr als wir, aber sie haben andere Sinnesorgane ausgebildet, die das Sehen ersetzen. Sie reagieren auf leichteste Druckveränderungen. Schallwellen erreichen sie über Hunderte und Tausende von Kilometern. Jedes Unterwasserfahrzeug wird wahrgenommen, lange bevor seine Insassen selber etwas sehen. In einer Region können theoretisch Millionen Fische einer bestimmten Art leben, aber wenn sie sich in der Dunkelheit halten, bekommen wir sie nicht zu Gesicht.
   Und hier haben wir es mit intelligenten Wesen zu tun! Wir werden sie nie beobachten können, solange sie es nicht wollen. — Der zweite Grund ist, dass wir keine Vorstellung davon haben, wie diese Wesen aussehen. Wir haben einige rätselhafte Phänomene auf Video gebannt, die blaue Wolke, die blitzartigen Entladungen, das Ding am norwegischen Kontinentalhang. Sind sie Ausdruck einer fremden Intelligenz? Was ist diese Gallerte? Was sind das für Geräusche, die Murray Shankar nicht zuordnen kann?
   — Und es gibt einen dritten Grund. Früher dachte man, nur die obere, sonnendurchflutete Schicht der Meere sei bewohnbar. Inzwischen wissen wir, dass es in allen Schichten von Leben wimmelt. Noch in elftausend Metern Tiefe herrscht Leben. Für viele Organismen gibt es nicht den geringsten Grund, sich weiter oben anzusiedeln. Die meisten könnten es gar nicht, weil ihnen das Wasser zu warm wäre, der Druck zu gering, weil ihnen nicht die Nahrung zur Verfügung stünde, die sie benötigen. Wir wiederum haben die oberen Wasserschichten erkundet, aber tief unten waren eben mal ein paar Menschen in gepanzerten Tauchbooten und einige Roboter. Wenn wir diese gelegentlichen Ausflüge mit den berühmten Stecknadeln vergleichen, müssen wir uns einen Heuhaufen von der Größe unseres Planeten vorstellen. — Es ist, als würden Außerirdische in einem Raumschiff Kameras zur Erde hinunterlassen, deren Objektive nur abbilden können, was im Umkreis weniger Meter zu sehen ist. Eine dieser Kameras filmt ein Stückchen mongolische Steppe. Eine andere macht Momentaufnahmen aus der Kalahari, und eine dritte wird über der Antarktis heruntergelassen. Eine weitere schafft es tatsächlich in eine Großstadt, sagen wir in den New Yorker Central Park, wo sie ein paar Quadratmeter Grünzeug aufnimmt und einen Hund, der einen Baum anpinkelt. Zu welchem Schluss würden die Außerirdischen gelangen? — Ein unbesiedelter Planet, auf dem sporadisch primitive Lebensformen anzutreffen sind.«
   »Was ist mit ihrer Technologie«, fragte Oliviera. »Sie müssen über eine Technologie verfügen, um das alles zu bewerkstelligen.«
   »Auch darüber habe ich mir Gedanken gemacht«, erwiderte Johanson. »Ich glaube, dass es eine Alternative zu einer Technologie wie der unseren gibt. Wir verarbeiten tote Materie zu technischen Gerätschaften, zu Häusern, Fortbewegungsmitteln, Radio, Kleidung und so weiter. Aber Meerwasser ist ungleich aggressiver als Luft. Da unten zählt nur eines: die optimale Anpassung. Und optimal angepasst sind in der Regel Lebensformen, also könnten wir uns eine reine Biotechnologie vorstellen. Wenn wir von einer hohen Intelligenz ausgehen, werden wir auch ein hohes Maß an Kreativität voraussetzen können und eine genaue Kenntnis der Biologie mariner Organismen. — Ich meine, was tun denn wir? Menschen machen sich seit Jahrtausenden andere Lebewesen zunutze. Pferde sind lebende Motorräder. Hannibal zog mit biologischen Schwerlastern über die Alpen. Immer schon wurden Tiere abgerichtet. Heute werden sie genetisch verändert. Wir klonen Schafe und bauen genveränderten Mais an. Was, wenn wir diesen Gedanken weiterentwickeln? Hin zu einer Rasse, die ihre Kultur und Technologie ausschließlich auf biologischer Basis errichtet hat! Sie züchten einfach, was sie brauchen. Für das tägliche Leben, zur Fortbewegung, zur Kriegsführung.«
   »Du lieber Himmel«, stöhnte Vanderbilt.
   »Wir züchten Ebola— und Pesterreger und experimentieren mit Pocken herum«, fuhr Johanson fort, ohne den CIA-Mann zu beachten. »Also mit Lebewesen. Noch packen wir sie in Sprengköpfe, aber das ist umständlich, und eine Rakete, selbst wenn sie satellitengesteuert ist, kommt nicht unbedingt ins Ziel. Würden wir Hunde abrichten, die solche Erreger in sich tragen, wäre das vielleicht der effizientere Weg, Schaden anzurichten. Oder Vögel. Insekten meinetwegen! Was wollen Sie gegen einen virenverseuchten Mückenschwarm oder kontaminierte Ameisen ausrichten? Oder gegen Millionen Krabben, die Killeralgen transportieren?« Er machte eine Pause. »Diese Würmer am Kontinentalhang wurden gezüchtet. Kein Wunder, dass wir sie nie zuvor gesehen haben. Es hat sie nicht gegeben. Ihr Zweck besteht darin, Bakterien ins Eis zu transportieren, also haben wir es gewissermaßen mit Cruise Missiles aus der Familie der Polychäten zu tun. Mit Biowaffen, die von jemandem entwickelt wurden, dessen gesamte Kultur auf der Manipulation organischen Lebens beruht. — Und schon erhalten wir auf einen Schlag die Erklärung für sämtliche Mutationen! Einige Tiere wurden nur geringfügig verändert, andere stellen etwas völlig Neues dar. Diese Gallerte beispielsweise: Sie ist ein biologisches, höchst wandelbares Produkt, aber ganz bestimmt kein Ergebnis natürlicher Auslese. Auch sie erfüllt einen Zweck. Sie steuert andere Lebewesen, indem sie ihre neuronalen Netze befällt. Irgendwie verändert sie das Verhalten der Wale. — Die Krabben und Hummer hingegen wurden von Anfang an auf ihre bloßen mechanischen Funktionen reduziert. Leere Hüllen mit Resten von Nervenmasse. Die Gallerte steuert sie, und als Fracht sind Killeralgen mit an Bord. Wahrscheinlich haben diese Krabben nie wirklich gelebt. Sie wurden als organische Raumanzüge gezüchtet, um in den Outer Space vorstoßen zu können, in unsere Welt.«
   »Dieses Zeug, diese Gallerte«, sagte Rubin, »könnte die nicht ebenso gut ein Mensch gezüchtet haben?«
   »Kaum.« Anawak mischte sich ein. »Was Dr. Johanson sagt, ergibt für mich mehr Sinn. Wenn ein Mensch dahinter steckt, warum wählt er dann den Umweg durch die Tiefsee, um Städte zu verseuchen?«
   »Weil Killeralgen im Meer vorkommen.«
   »Warum probiert er’s nicht mit was anderem? Wer Killeralgen züchten kann, die giftiger als Pfiesteria sind, wird doch irgendeinen Erreger finden, der nicht erst durchs Wasser muss. Wozu züchtet er Krabben, wenn er es mit Ameisen oder Vögeln oder meinethalben Ratten schaffen könnte?«
   »Mit Ratten erzeugt er keine Tsunamis.«
   »Das Zeug kommt aus einem menschlichen Labor«, beharrte Vanderbilt. »Es ist eine synthetische Substanz …«
   »Das glaube ich nicht«, rief Anawak. »Nicht mal der Navy traue ich so was zu, und die ist weiß Gott fit darin, Meeressäuger zu verbiegen.«
   Vanderbilt schüttelte den Kopf, als sei er von der Parkinson’schen Krankheit befallen.
   »Was reden Sie da?«
   »Ich rede von Experimenten, die unter dem Begriff MKO durchgeführt wurden.«
   »Nie gehört.«
   »Wollen Sie abstreiten, dass die Navy seit Jahren versucht, die Gehirnströme von Delphinen und anderen Meeressäugern zu manipulieren, indem man Elektroden in die Schädeldecke einführt und …«
   »So ein Quatsch!«
   »Was aber bislang nicht klappte. Jedenfalls nicht wie gewünscht, also studiert man die Arbeit von Ray Kurzweil …«
   »Kurzweil?«
   »Eine der Koryphäen auf dem Gebiet der Neuroinformatik«, warf Fenwick ein, und plötzlich erhellten sich seine Züge. »Und Kurzweil hat eine Vision entwickelt, die über den heutigen Stand der Hirnforschung weit hinausgeht. Wenn man wissen will, wozu Menschen diesbezüglich in der Lage sind … nein, mehr noch, seine Arbeit könnte Aufschluss darüber geben, wie eine fremde Intelligenz vorgehen würde!« Fenwick geriet sichtlich in Wallung. »Kurzweils Neuronencomputer! Das ist in der Tat eine Möglichkeit.«
   »Entschuldigung«, sagte Vanderbilt. »Ich habe keine Ahnung, wovon hier die Rede ist.«
   »Nicht?«, schmunzelte Li. »Ich dachte immer, die CIA hätte ein vitales Interesse an Gehirnwäsche.«
   Vanderbilt schnaubte und sah sich nach allen Seiten um. »Wovon redet der? Ich weiß es nicht. Kann mir verdammt nochmal einer sagen, wovon er redet?«
   »Der Neuronencomputer ist ein Modell zur kompletten Rekonstruktion eines Hirns«, sagte Oliviera. »Sehen Sie, unser Gehirn setzt sich aus Milliarden von Nervenzellen zusammen. Jede Zelle ist mit unzähligen anderen verbunden. Sie kommunizieren untereinander durch elektrische Impulse. Auf diese Weise werden Wissen, Erfahrung und Emotion ständig aktualisiert, neu geordnet oder archiviert. In jeder Sekunde unseres Lebens, auch wenn wir schlafen, ist unser Gehirn einer fortgesetzten Neustrukturierung unterworfen. Mit heutiger Technik lassen sich aktive Hirnareale bis auf einen Millimeter genau darstellen. Wie eine Landkarte. Wir können zusehen, wie gedacht und gefühlt wird, welche Nervenzellen zeitgleich aktiviert werden, etwa im Moment eines Kusses oder eines erlittenen Schmerzes oder einer Erinnerung.«
   »Man kennt die Stellen, und die Navy weiß, wo man elektrisch pulsen muss, um eine gewünschte Reaktion hervorzurufen«, nahm Anawak den Faden auf. »Aber das ist immer noch sehr grob. Wie eine Landkarte, deren Detailschärfe bei 50 Quadratkilometern endet. Kurzweil hingegen glaubt, dass wir schon bald über die Möglichkeit verfügen werden, ein komplettes Hirn zu scannen, und zwar einschließlich jeder einzelnen Nervenverbindung, jeder Synapse und der genauen Konzentration aller chemischen Botenstoffe — bis ins letzte Detail einer jeden Zelle!«
   »Uff«, sagte Vanderbilt.
   »Wenn man erst mal die komplette Information hat«, fuhr Oliviera fort, »ließe sich ein Gehirn samt aller Funktionen in einen Neuronencomputer übertragen. Der Computer würde eine perfekte Kopie des Denkens der Person herstellen, deren Hirn gescannt wurde, mitsamt ihrer Erinnerungen und Fähigkeiten. Ein zweites Ich.«
   Li hob die Hand. »Ich kann Ihnen versichern, dass MKO noch nicht so weit ist«, sagte sie. »Kurzweils Neuronencomputer bleibt vorerst eine Vision.«
   »Jude«, flüsterte Vanderbilt entsetzt. »Wozu erzählen Sie das hier? Das geht keinen was an, das unterliegt strengster Geheimhaltung.«
   »MKO gründet auf militärischen Notwendigkeiten«, sagte Li ruhig. »Die Alternative wäre, Menschen zu opfern. Wir können uns unsere Kriege nicht immer aussuchen, wie Sie unzweifelhaft festgestellt haben. Tatsächlich befindet sich das Projekt in einer Sackgasse, aber das wird ein vorübergehender Stillstand sein. Der Weg zur künstlichen Intelligenz ist beschritten. Die Medizin ist nicht weit davon entfernt, menschliche Organe durch Mikrochips zu ersetzen. Blinde können mit Hilfe solcher Implantate bereits Konturen erkennen. Es werden völlig neue Formen von Intelligenz entstehen.« Sie machte eine Pause und heftete ihren Blick auf Anawak. »Das ist es doch, was Sie meinen, nicht wahr? Alles spräche für die Nahost-Hypothese, um bei dem leidigen Wort zu bleiben, wenn die Menschheit so weit wäre, wie Kurzweil gedacht hat. Aber wir sind es nicht. Amerika ist es nicht und niemand sonst. Kein Mensch kann diese Gallerte gezüchtet haben, die offenbar wie ein Neuronencomputer funktioniert.«
   »Der Neuronencomputer bedeutet in der Praxis die vollkommene Kontrolle über jedes Denken«, sagte Anawak. »Wenn die Gallerte etwas in dieser Art darstellt, dann steuert sie das Tier nicht einfach, sie wird zu diesem Tier. Sie wird Teil seines Hirns. Zellen der Substanz übernehmen die Funktion von Hirnzellen. Entweder sie erweitern das Gehirn eines Lebewesens …«
   »Oder sie ersetzen es«, schloss Oliviera. »Leon hat Recht. Ein solcher Organismus entspringt keinem menschlichen Labor.«
   Johanson hörte mit klopfendem Herzen zu. Sie griffen seine Theorie auf. Sie arbeiteten damit und fügten ihr neue Aspekte hinzu, und mit jedem Wort, das gesprochen wurde, verfestigte sie sich. Er begann sich diesen biologischen Computer vorzustellen, der Hirnzellen kopieren konnte, während um ihn herum die Diskussion wogte, bis Roche aufsprang und das Wort ergriff.
   »Eines verstehe ich noch nicht, Dr. Johanson. Wie erklären Sie sich, dass die da unten so viel über uns wissen? Ich meine, Ihre Theorie in allen Ehren, aber wie kann ein Bewohner der Tiefsee derart viel über uns herausfinden?«
   Johanson sah Vanderbilt und Rubin beifällig nicken.
   »Das ist nicht schwer«, sagte er. »Wenn wir einen Fisch sezieren, geschieht das in unserer Welt, nicht in seiner. Warum sollten diese Wesen ihr Wissen nicht in ihrer Welt erlangen? Jedes Jahr ertrinken eine Menge Menschen, und falls man weitere Exemplare braucht, holt man sich eben welche. — Andererseits haben Sie Recht: Wie viel wissen die wirklich über uns? Kurz vor dem Abrutschen des Schelfs war ich erstmalig so weit, an einen organisierten Angriff zu glauben. Seltsamerweise habe ich nie in Erwägung gezogen, dass Menschen dahinter stecken könnten. Zu fremdartig erschien mir die ganze Strategie. Wie auf einen Schlag große Teile der nordeuropäischen Infrastruktur vernichtet wurden, war brillant geplant und mit weit reichenden Folgen für uns verbunden. Kleine Boote durch Wale versenken zu lassen erscheint dagegen naiv. Die Überfischung der Meere stoppt man nicht mit hochgiftigen Quallenschwärmen. Schiffskatastrophen treffen uns hart, aber ob diese mutierten Schwärme die weltweite Schifffahrt wirklich lahm legen können, wage ich zu bezweifeln. Allerdings fällt auf, dass sie sehr genau über Schiffe Bescheid wissen. Alles, was unmittelbar ihren Lebensraum berührt, kennen sie gut. Die Welt darüber ist ihnen weniger vertraut. Killeralgen in Krabben über Land zu schicken, zeugt von exzellenter militärischer Planung, aber der Anfang mit den bretonischen Hummern war eher misslungen. Offenbar hatten sie das Problem des Unterdrucks nicht bedacht. Als die Gallerte da unten in die Hummerkörper schlüpfte, war sie durch den Tiefendruck komprimiert. Zur Oberfläche hin dehnte sie sich natürlich aus, und einige der Hummer platzten.«
   »Bei den Krabben scheint man dazugelernt zu haben«, meinte Oliviera. »Sie bleiben stabil.«
   »Na ja.« Rubin schürzte die Lippen. »Sie krepieren, kaum dass sie an Land sind.«
   »Warum auch nicht?«, erwiderte Johanson. »Ihre Aufgabe ist erfüllt. Alle diese Züchtungen sind zum schnellen Sterben verurteilt. Sie sollen unsere Welt bekämpfen, nicht besiedeln. — Wohin Sie auch schauen in diesem Krieg, Menschen würden so nicht vorgehen! Warum der Umweg übers Meer? Warum sollte sich ein Mensch in derartige Experimente versteigen? Welchen vernünftigen Grund hätte er, ausgerechnet die Gene von Lebewesen zu verändern, die viele Kilometer unter Wasser leben wie beispielsweise Schlotkrabben? Hier sind keine Menschen am Werk. Hier wird experimentiert, um herauszufinden, wo unsere Schwachstellen sind. Und vor allem wird abgelenkt.«
   »Abgelenkt?«, echote Peak.
   »Ja. Der Feind macht viele Fronten gleichzeitig auf. Einige bescheren uns Alpträume, andere sind eher lästig, aber sie halten uns auf Trab. Die meisten der verabreichten Nadelstiche schmerzen gewaltig. Das eigentlich Perfide daran ist, dass sie verschleiern, was wirklich geschieht. Dass wir vor lauter Schadensbegrenzung blind für die wirklichen Gefahren werden. Wir finden uns in der Rolle des Zirkusjongleurs, der Teller auf Stöcke stellt und sie in Drehung versetzt, damit sie nicht herunterfallen können. Er muss ständig zwischen den Stöcken hin— und herlaufen. Hat er den letzten Teller stabilisiert, wackelt der erste. Je mehr Teller es werden, desto schneller muss er laufen. In unserem Fall hat die Anzahl der Teller die Fähigkeiten des Jongleurs weit überschritten. Wir werden dieser Vielzahl von Attacken nicht gewachsen sein. Für sich betrachtet mögen Walangriffe und ausbleibende Fischschwärme kein unlösbares Problem darstellen. In der Summe erfüllen sie ihren Zweck, nämlich uns zu lähmen und zu überfordern. Wenn sich die Phänomene weiter ausbreiten, werden ganze Staaten die Kontrolle verlieren, andere Staaten werden das ausnutzen, es wird zu regionalen und größeren Konflikten kommen, die aus dem Ruder laufen und für niemanden zu gewinnen sind. Wir werden uns selber schwächen. Die Strukturen der internationalen Hilfsorganisationen werden in sich zusammenbrechen, die medizinischen Versorgungsnetze zum Erliegen kommen. Wir werden nicht genügend Mittel, Kraft, Know-how und schließlich nicht genügend Zeit haben, um zu verhindern, was sich abseits der offenen Kampfhandlungen im Stillen vollzieht.«
   »Und was soll das sein?«, fragte Vanderbilt gelangweilt.
   »Die Vernichtung der Menschheit.«
   »Wie bitte?«
   »Liegt das nicht auf der Hand? Die haben beschlossen, mit uns in gleicher Weise zu verfahren, wie der Mensch mit Schädlingen verfährt. Sie wollen uns ausrotten …«
   »Jetzt reicht’s aber!«
   »… bevor wir das Leben in den Meeren ausrotten.«
   Der CIA-Mann wuchtete sich hoch und richtete einen zitternden Zeigefinger auf Johanson. »Das ist der größte Schwachsinn, der mir jemals untergekommen ist! Was glauben Sie eigentlich, wozu Sie hier sind? Waren Sie zu oft im Kino? Wollen Sie uns weismachen, da sitzen diese … diese besseren ETs aus Abyss unten im Meer und drohen uns mit dem Finger, weil wir unartig waren?«
   »Abyss?« Johanson überlegte. »Ach richtig. Nein, solche Wesen meine ich nicht. Das waren Außerirdische.«
   »Das war genauso ein Blödsinn.«
   »Nein. In Abyss lassen sich Wesen aus dem All in unseren Meeren nieder. Der Film verkauft sie als bessere Menschen. Sie haben eine moralische Botschaft. Vor allen Dingen verbannen sie uns nicht vom Gipfel der irdischen Evolution, wie es eine intelligente Rasse tun würde, die sich hier auf diesem Planeten entwickelt hat, parallel zu uns.«
   »Doktor!« Vanderbilt zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von Stirn und Oberlippe. »Sie sind kein berufsmäßiger Geheimniskrämer wie wir. Sie haben nicht unsere Erfahrung. Es ehrt Sie, uns ein Viertelstündchen prima unterhalten zu haben, aber wenn Sie Lumpereien aufdecken wollen, müssen Sie als Erstes erkennen, welchem Zweck sie dienen. Wer hat Vorteile davon! Das bringt Sie auf die richtige Spur! Nicht dieses Herumstochern in …«
   »Niemand hat Vorteile davon«, sagte jemand.
   Vanderbilt drehte sich schwerfällig um.
   »Sie irren, Vanderbilt.« Bohrmann hatte sich erhoben. »Bis gestern Nacht hat Kiel Szenarien entwickelt, was geschehen wird, wenn weitere Kontinentalabhänge kollabieren.«
   »Ich weiß«, sagte Vanderbilt unwirsch. »Tsunamis und Methan. Wir bekommen ein Klimaproblemchen …«
   »Nein.« Bohrmann schüttelte den Kopf. »Kein Problemchen. Wir bekommen unser Todesurteil. Es ist allgemein bekannt, was vor 55 Millionen Jahren auf der Erde passierte, als schon einmal alles Methan in die Atmosphäre entwich und …«
   »Woher zum Teufel wollen Sie wissen, was vor 55 Millionen Jahren geschah?«
   »Wir haben es ausgerechnet. Und jetzt haben wir es wieder ausgerechnet. Über die Küsten werden Tsunamis hereinbrechen und die Küstenpopulationen vernichten. Dann wird es langsam heiß auf der Erdoberfläche, unerträglich heiß, und wir werden alle sterben. Auch der Nahe Osten, Mr. Vanderbilt. Auch Ihre Terroristen. Alleine die Freisetzung des Methans vor Ostamerika und im Westpazifik dürfte ausreichen, unser aller Schicksal zu besiegeln.«
   Plötzlich herrschte Totenstille.
   »Und dagegen«, sagte Johanson leise, während er Vanderbilt ansah, »können Sie gar nichts machen, Jack. Denn Sie wissen nicht, wie. Und Sie haben keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, weil Sie mit Walen, Haien, Muscheln, Quallen, Krabben, Killeralgen und unsichtbaren Kabelfressern schon überfordert sind, die unsere Taucher und Tauchroboter und alles, womit wir einen Blick unter Wasser werfen könnten, eliminieren.«
   »Wie lange kann es dauern, bis sich die Atmosphäre so weit aufgeheizt hat, dass die Menschheit ernsthaft bedroht ist?«, fragte Li.
   Bohrmann runzelte die Stirn. »Ich schätze, einige hundert Jahre.«
   »Wie beruhigend«, knurrte Vanderbilt.
   »Nein, keineswegs«, sagte Johanson. »Wenn diese Wesen ihren Feldzug darauf gründen, dass wir ihren Lebensraum gefährden, müssen sie uns schnell loswerden. Erdhistorisch betrachtet sind ein paar hundert Jahre gar nichts. Aber der Mensch hat schon in kürzerer Zeit das Schlimmste angerichtet. Also sind sie in aller Ruhe noch einen Schritt weitergegangen. — Sie haben es geschafft, den Golfstrom zu stoppen.«