»Du hast es dir gewünscht. Warum?«
   »Weil ihr meine Freunde seid.«
   Eine Weile herrschte wieder Schweigen. Anawak erkannte immer mehr Details in den Wolken. Details einer Welt, die viele Kilometer entfernt lag. Unendlich viel weiter als die Welt der Yrr.
   »Ich schätze, das sind wir«, nickte Greywolf.
   Anawak lächelte. »Weißt du, ich bin eigentlich mit allen Menschen gut ausgekommen, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals Freunde gehabt zu haben. Richtige Freunde. Schon gar nicht hätte ich gedacht, dass ich eine anstrengende kleine Doktorandin als Freundin bezeichnen würde, die alles besser weiß. Oder einen baumlangen Spinner, mit dem ich mich fast geprügelt hätte.«
   »Die kleine Doktorandin hat getan, was Freunde auszeichnet.«
   »Und das wäre?«
   »Sie hat sich für dein dämliches Leben interessiert.«
   »Ja. Das hat sie allerdings.«
   »Und wir beide sind immer Freunde gewesen. Wahrscheinlich waren nur …« Greywolf zögerte, dann hielt er die Skulptur hoch und grinste. »… nur unsere Köpfe eine Weile verschlossen.«
   »Was meinst du, warum träumt man so was?«
   »Dein Eisberg-Traum?«
   »Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, und du weißt, ich bin alles, nur kein Esoteriker. Ich hasse diesen Scheiß. Aber irgendetwas war da in Nunavut, das ich nicht erklären kann. Etwas ist mit mir passiert. Spätestens draußen auf dem Eis, als ich diesen Traum hatte.«
   »Was glaubst du denn selber?«
   »Diese unbekannte Macht, diese Bedrohung, sie lebt unter Wasser. In der Tiefsee. Vielleicht werde ich sie dort treffen. Vielleicht ist es meine Aufgabe, runterzugehen und …«
   »Die Welt zu retten?«
   »Ach, vergiss es.«
   »Willst du wissen, was ich glaube, Leon?«
   Anawak nickte.
   »Ich denke, du liegst völlig daneben. Jahrelang hast du dich verbuddelt und dein blödes Eskimo-Trauma mit dir rumgeschleppt. Du bist dir und allen auf den Sack gegangen. Vom Leben hast du gar nichts verstanden. Dein Eisberg, auf dem du einsam dahingetrieben bist, das warst du selber. Ein eisiger, unnahbarer Klotz. Aber du hast Recht, irgendwas ist dort mit dir passiert, und der Klotz hat angefangen zu schmelzen. Dieser Ozean, in den du sinken wirst, ist nicht das Meer, in dem die Yrr wohnen. Es ist das Leben der Menschen. Da gehörst du hin. Das ist das Abenteuer, das auf dich wartet. Freundschaften, Liebe, all das. Und auch Feinde, Hass und Wut. — Deine Rolle ist nicht, den Helden zu spielen. Du musst niemandem beweisen, dass du Mut hast. Die Heldenrollen in dieser Geschichte sind bereits verteilt, und es sind Rollen für Tote. — Du gehörst in die Welt der Lebenden.«
 
Nacht
 
   Jeder von ihnen ruhte anders.
   Crowe, klein und zierlich, hatte sich fest in ihr Bettzeug gerollt. Ihr eisgrauer Schopf schaute zur Hälfte heraus. Sie verschwand fast in den Laken, während Weaver auf dem Bauch schlief, nackt und ohne Decke, den Kopf seitwärts gedreht, den Unterarm als Kissen benutzend. Die kastanienfarbenen Locken ringelten sich üppig nach allen Seiten, sodass nur der halb geöffnete Mund zu sehen war. Shankar gehörte augenscheinlich zu den Leuten, deren Betten am nächsten Morgen jedes Mal so aussahen, als hätten sich die Alpträume vieler Nächte darin abgesetzt. Er war ein Wühler, der im Schlaf das halbe Bettzeug umsortierte und dabei sporadisches, ersticktes Schnarchen und Gemurmel von sich gab.
   Rubin war die meiste Zeit wach.
   Auch Greywolf und Delaware schliefen wenig, weil sie beständig Sex hatten, vornehmlich auf dem Kabinenboden. Meist lag Greywolf auf dem Rücken, kupferbraun und mächtig wie ein mythisches Tier, und trug Delawares milchweißen Körper. Zwei Kabinen weiter ruhte Anawak auf der Seite, bekleidet mit einem T-Shirt. Auch Oliviera ließ konventionelles Schlafgebaren erkennen. Beide atmeten ruhig, drehten sich im Verlauf der Nacht ein— bis zweimal um, und das war’s.
   Johanson lag auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt, Handflächen nach außen. Nur die Betten in Flaggland und Offiziersland ließen derart raumgreifende Gewohnheiten zu. Die Pose war dem Norweger so sehr zu Eigen, dass ihn eine Verehrerin vor Jahren mitten in der Nacht geweckt hatte, nur um ihm zu sagen, er schlafe wie ein Großgrundbesitzer. Er hatte die Geschichte an einem Abend im Chateau zum Besten gegeben, und tatsächlich schlief er jede Nacht so — ein Mann, der noch mit geschlossenen Augen wirkte, als wolle er das Leben umarmen.
   Sie alle schliefen oder wachten auf einer Reihe glimmender Bildschirme. Jeder der Monitore überblickte eine komplette Kabine. Zwei Männer in Uniform saßen im Halbdunkel davor und beobachteten die Wissenschaftler. Hinter ihnen standen Li und der Stellvertretende CIA-Direktor.
   »Die reinsten Engelchen«, sagte Vanderbilt.
   Li sah mit unbewegter Miene zu, wie Delaware zum Höhepunkt kam. Der Ton war leise gestellt, trotzdem drang einiges von der Konzertierung des Liebesakts in die kühle Atmosphäre des Kontrollzentrums.
   »Freut mich, dass es Ihnen gefällt, Jack.«
   »Der kleine Muskelprotz da wäre mehr nach meinem Geschmack«, sagte Vanderbilt und zeigte auf Weaver. »Bemerkenswerter Arsch, finden Sie nicht?«
   »Verliebt?«
   Vanderbilt grinste. »Ich muss doch sehr bitten.«
   »Setzen Sie Ihren Charme ein«, sagte Li. »Immerhin haben Sie gut zwei Zentner davon.«
   Der CIA-Direktor tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Sie sahen noch eine Weile zu. Wenn Vanderbilt Gefallen an dem Geschehen fand, sollte er sich ruhig amüsieren. Li war es gleichgültig, ob die Leute auf den Monitoren schnarchten, miteinander schliefen oder das Rad schlugen. Ihretwegen hätten sie sich mit den Füßen an die Decke hängen oder geifernd übereinander herfallen können.
   Hauptsache, man wusste, wo sie waren, was sie taten und was sie miteinander sprachen.
   »Weitermachen«, sagte sie und wandte sich ab. Im Hinausgehen fügte sie hinzu: »Und in alle Kabinen schauen.«
 

13. August

Besuch
 
   Die Antwort blieb aus.
 
   Unablässig war die Nachricht ins Meer abgestrahlt worden, bislang ohne Ergebnis. Um 07.00 Uhr hatte sie der Weckruf aus den Kojen geworfen. Die meisten waren unausgeschlafen. Normalerweise lullten einen die Bewegungen des Riesenschiffes ein, und da keine Flugeinsätze stattfanden, drang vom Dach kein Lärm nach unten. Das CPS sorgte mit leichtem Brummen für angenehm gleich bleibende Temperaturen, und die Betten waren wirklich bequem. Hin und wieder ließen sich auf den Gängen Schritte vernehmen, wenn jemand von der Besatzung unterwegs war. Im Bauch des Schiffes hummelten leise die Generatoren. Man hätte wunderbar schlummern können, wäre da nicht diese Erwartungshaltung gewesen. So fanden die meisten nur zu halb wachen Grübeleien wie Johanson, der sich vorzustellen versuchte, was die Botschaft in den Tiefen der Grönländischen See auslösen mochte, bis ihn die wildesten Phantasien heimsuchten.
   Dass sie überhaupt vor Grönland lagen und nicht weiter südlich, verdankte sich seinem Plädoyer und der Unterstützung durch Weaver und Bohrmann. Anawak, Rubin und einige andere hatten vorgeschlagen, den Kontakt unmittelbar über den Vulkanketten des Mittelatlantischen Rückens zu suchen. Rubins entscheidendes Argument war die Ähnlichkeit der dort ansässigen Schlotkrabben mit den Krabben gewesen, die New York und Washington überfallen hatten. Zudem gab es sonst kaum Plätze in der Tiefsee, die Voraussetzungen für höher entwickeltes Leben boten. An den Vulkangräben hingegen waren sie ideal. Heißes Wasser trat aus meterhohen Felskaminen und förderte alle möglichen Mineralien und lebenswichtigen Stoffe zutage. Würmer, Muscheln, Fische und Krabben lebten dort unter Bedingungen, die sich durchaus mit denen auf einem fremden Planeten vergleichen ließen — warum also nicht auch die Yrr?
   Johanson hatte Rubin in den meisten Punkten Recht gegeben. Aber zwei Gründe sprachen gegen Rubins Vorschlag. Einer war, dass die Vulkanketten zwar den lebensfreundlichsten Bereich der Tiefsee darstellten, zugleich aber auch den lebensfeindlichsten — in kurzen Abständen brach sich flüssiges Gestein dort Bahn, wenn die ozeanischen Platten auseinander strebten. Es kam zu Eruptionen, in deren Verlauf die Biotope vollständig vernichtet wurden. Wenig später fasste neues Leben dort Fuß. Eine komplexe, intelligente Zivilisation, schlussfolgerte Johanson, würde sich dennoch kaum in einer derartigen Zone ansiedeln.
   Der zweite Grund war, dass die Chance der Kontaktaufnahme wuchs, je näher man den Yrr kam. Wo genau sie zu finden waren, darüber gingen die Meinungen auseinander. Jeder hatte wahrscheinlich auf seine Weise Recht. Einiges sprach dafür, dass sie im Benthos lebten, in den tiefsten Meeresregionen. Viele Phänomene der jüngeren Zeit waren in unmittelbarer Nähe solcher Tiefseegräben aufgetreten. Ebenso viel sprach für die Abyssale, die gewaltigen Tiefseebecken, und natürlich waren Rubins Hinweise auf die Leben spendende Umgebung der mittelozeanischen Oasen nicht von der Hand zu weisen. Am Ende hatte Johanson darum vorgeschlagen, das Augenmerk nicht auf den natürlichen Lebensraum der Yrr zu lenken, sondern eine Stelle auszuwählen, an der sie definitiv sein mussten.
   In der Grönländischen See war der Absturz der kalten Wassermassen gestoppt worden. Als Folge erlahmte der Golfstrom. Nur zwei Ursachen konnten dieses Phänomen erklären: eine unmittelbare Erwärmung des Meeres oder ein Überangebot an Süßwasser, das von der Arktis südwärts floss und das salzige Nordatlantikwasser verdünnte, sodass es zu leicht wurde um abzustürzen. Beides deutete auf eine rege und umfangreiche Manipulation der Verhältnisse vor Ort hin. Irgendwo in der Arktis waren die Yrr damit beschäftigt, diese ungeheuren Umwälzungen voranzutreiben.
   Irgendwo ganz in der Nähe.
   Blieb der Sicherheitsaspekt. Selbst Bohrmann, der sich angewöhnt hatte, das Schlimmste zu befürchten, räumte ein, dass die Gefahr durch einen Methan-Blowout im grönländischen Tiefseebecken eher gering war. Bauers Schiff hatte es in Landnähe vor Svalbard erwischt, wo massenhaft Hydrat im Kontinentalhang lagerte. Unter dem Kiel der Independence erstreckten sich jedoch dreieinhalbtausend Meter Wassertiefe. So weit unten lagerte vergleichsweise wenig Methan, jedenfalls kaum genug, um ein Schiff von der Größe der Independence zu versenken. Dennoch, für alle Fälle, hatte die Independence im Verlauf ihrer Fahrt regelmäßige seismische Messungen durchgeführt, um Methanvorkommen im Meeresboden nachzuweisen, und auf diese Weise einen Standort gefunden, der weitgehend frei davon schien. Selbst ein Tsunami, wie hoch er an Land auch werden mochte, würde sich hier draußen kaum bemerkbar machen — sofern nicht La Palma abrutschte.
   Aber dann war ohnehin alles zu spät.
   Aus diesen Gründen waren sie nun hier, im ewigen Eis.
   Sie saßen in der riesigen, gähnend leeren Offiziersmesse bei Rühreiern und Speck. Anawak und Greywolf fehlten. Johanson hatte nach dem Weckruf einige Minuten mit Bohrmann telefoniert, der in La Palma eingetroffen war und den Einsatz des Saugrüssels vorbereitete. Die Kanaren lagen eine Zeitzone zurück, aber Bohrmann war schon mehrere Stunden auf den Beinen gewesen.
   »Ein 500 Meter langer Staubsauger macht nun mal Arbeit«, hatte er lachend gesagt.
   »Saugen Sie auch in den Ecken«, empfahl Johanson.
   Er vermisste den Deutschen. Bohrmann war ein feiner Kerl. Andererseits mangelte es an Bord der Independence nicht an bemerkenswerten Persönlichkeiten. Gerade unterhielt er sich mit Crowe, als Floyd Anderson hereinkam, der Erste Offizier. Er trug einen topfgroßen Thermosbecher mit der Aufschrift USS Wasp LHD-8 vor sich her, ging hinüber zur Getränkebar und füllte ihn randvoll mit Kaffee.
   »Wir haben Besuch«, bellte er in die Runde.
   Alle schauten ihn an.
   »Kontakt?«, fragte Oliviera.
   »Das wüsste ich.« Crowe schob gelassen eine Riesenportion Speck in den Mund. Im Aschenbecher qualmte ihre dritte oder vierte Zigarette. »Shankar sitzt im CIC. Er hätte uns informiert.«
   »Was dann? Ist jemand gelandet?«
   »Kommen Sie raus aufs Dach«, sagte Anderson geheimnisvoll. »Dann sehen Sie’s.«
 
Flugdeck
 
   Draußen legte sich eine Maske aus Kälte über Johansons Gesicht. Der Himmel war von diffusem Weiß. Graue Wellen schoben sich zu gischtigen Kämmen auf. Der Wind hatte über Nacht zugelegt und blies stecknadeldünne Eiskristalle über die asphaltierte Fläche des Decks. Johanson sah eine Gruppe dick vermummter Personen an der Steuerbordseite stehen. Im Näherkommen erkannte er Li, Anawak und Greywolf. Gleich darauf wurde ihm klar, was ihre Aufmerksamkeit fesselte.
   In einigem Abstand zur Independence schoben sich die Silhouetten spitz zulaufender Schwerter durch die See. »Orcas«, sagte Anawak, als Johanson neben ihn trat. »Was tun sie?«
   Anawak kniff die Augen gegen den Eispartikelregen zusammen. »Seit etwa drei Stunden umkreisen sie das Schiff. Die Delphine haben sie gemeldet. Ich würde sagen, dass sie uns beobachten.«
   Shankar kam aus der Insel gelaufen und gesellte sich an ihre Seite. »Was ist los?« »Jemand ist auf uns aufmerksam geworden«, sagte Crowe. »Vielleicht eine Antwort.« »Auf unsere Botschaft?« »Worauf denn sonst?«
   »Komische Antwort auf eine Mathematikaufgabe«, meinte der Inder. »Ich würde ein paar handfeste Gleichungen bevorzugen.«
   Die Orcas hielten respektvollen Abstand zum Schiff. Es waren viele. Hunderte, schätzte Johanson. Sie schwammen in gleichmäßigem Tempo und hoben von Zeit zu Zeit ihre schwarz glänzenden Rücken aus den Wellen. Das Ganze machte tatsächlich den Eindruck einer Patrouille. »Könnten sie befallen sein?«, fragte er. Anawak wischte sich Wasser aus den Augen. »Möglich.« »Sagt mal …« Greywolf rieb sich das Kinn. »Wenn dieses Zeug ihre Hirne kontrolliert … Habt ihr mal darüber nachgedacht, dass es uns dann auch sehen kann? Und hören?«
   »Du hast Recht«, sagte Anawak. »Es nutzt ihre Sinnesorgane.« »Eben. Auf diese Weise verschafft sich der Glibber Augen und Ohren.« Sie starrten weiter hinaus.
   »Wie auch immer.« Crowe zog an ihrer Zigarette und blies Rauch in die eisige Luft. Er trieb in Fetzen davon. »Sieht jedenfalls ganz so aus, als hätte es begonnen.«
   »Was?«, fragte Li.
   »Das Kräftemessen.«
   »Auch gut.« Ein dünnes Lächeln umspielte Lis Lippen.
   »Wir sind für alles gerüstet.« »Für alles, was wir kennen«, fügte Crowe hinzu.
 
Labor
 
   Auf dem Weg nach unten — Rubin und Oliviera im Schlepptau — fragte sich Johanson, wann eine Psychose wohl begann, ihre eigene Wirklichkeit zu erzeugen.
   Er hatte den Stein ins Rollen gebracht. Gut — wäre er nicht gewesen, hätte jemand anderer die Theorie aufgestellt. Jedenfalls schufen sie Fakten auf der Basis einer Hypothese. Ein Rudel Orcas umrundete die Independence, und sie sahen die Augen und Ohren von Aliens darin. Überall sahen sie Aliens. Als Folge wurden Botschaften ins Meer geschickt und Erwartungen an einen Kontakt geknüpft, der vielleicht nie zustande kommen würde, weil sie auf einen marinen Schimmelpilz hereingefallen waren.
   Der fünfte Tag. Nur eine Phantasie, die sich selbständig gemacht hatte? Benahmen sie sich wie die Idioten?
   Wir kommen nicht richtig weiter, dachte er frustriert. Irgendetwas muss geschehen. Etwas, das uns Gewissheit gibt, damit wir nicht von Theorien verblendet in die völlig falsche Richtung laufen.
   Mit hallenden Schritten gingen sie die Rampe hinunter, passierten das Hangardeck und stiegen weiter hinab. Die Stahltür zum Laborraum war verschlossen. Johanson gab einen Zahlencode ein, und sie glitt mit leisem Zischen auf. Nacheinander schaltete er die Decken— und Standbeleuchtung ein. Kaltes weißes Licht überflutete die Arbeitsinseln. Vom Simulator drang das Summen der elektrischen Systeme herüber.
   Sie erstiegen den Rundgang des Hochdrucktanks und traten vor das große, ovale Fenster. Von hier überblickte man den gesamten Beckenraum. Über den künstlichen Meeresboden verteilten sich im Licht der Innenscheinwerfer kleine weiße Körper mit Spinnenbeinen. Einige bewegten sich zögerlich und offenbar ohne Orientierung. Sie liefen im Kreis oder blieben nach wenigen Schritten wieder stehen, als sei ihnen nicht ganz klar, wohin sie eigentlich wollten. Je tiefer man in den Tank hineinsah, desto mehr trübte das Wasser den Blick auf Details. Nahaufnahmen lieferten Kameras im Innern und übertrugen sie auf die Monitore eines vorgelagerten Kontrollpults.
   Ratlos betrachteten sie die Krabben.
   »Viel hat sich nicht getan seit gestern«, bemerkte Oliviera.
   »Nein, sie hocken da und geben uns Rätsel auf.« Johanson rieb sich den Bart. »Wir sollten ein paar öffnen und sehen, was passiert.«
   »Krabben knacken?«
   »Warum nicht? Dass sie unter hohem Druck weiterleben, wissen wir. Die Erkenntnis wird mit keinem Tag spannender.«
   »Weitervegetieren«, korrigierte ihn Oliviera. »Wir haben nicht mal hinreichend geklärt, ob man das Leben nennen kann.«
   »Das Zeug in ihrem Innern lebt«, sagte Rubin nachdenklich. »Der Rest ist nicht lebendiger als ein Auto.«
   »Einverstanden«, sagte Oliviera. »Aber was ist mit diesem Innenleben? Warum unternimmt es nichts?«
   »Was sollte es denn unternehmen, Ihrer Meinung nach?«
   »Rumlaufen.« Oliviera zuckte die Achseln. »Mit den Scheren wackeln. Was weiß ich. Die Panzer verlassen. Sehen Sie sich die Biester an. Ich meine, wenn sie darauf programmiert sind, sich an Land zu begeben, um dort Schaden anzurichten und anschließend zu krepieren, stellt sie diese Situation vor echte Schwierigkeiten. Keiner kommt, um ihnen neue Order zu erteilen. Sie sind quasi im Leerlauf.«
   »Eben«, sagte Johanson ungeduldig. »Sie sind lethargisch und langweilig, und sie verhalten sich wie batteriegetriebenes Spielzeug. Ich bin Micks Ansicht. Diese Krabbenkörper sind schon tot gezüchtet worden, da ist lediglich ein bisschen Nervenmasse drin, ein Armaturenbrett für die Insassen. Und die will ich jetzt endlich aus der Reserve locken, versteht ihr? Ich will wissen, wie sie sich unter Tiefseebedingungen verhält, wenn man sie zwingt, die Panzer zu verlassen.«
   »Gut«, nickte Oliviera. »Schreiten wir zum Gemetzel.«
   Sie verließen den Rundlauf, kletterten hinab und traten zur Steuerkonsole. Der Computer bot ihnen die Kontrolle über mehrere Arbeitsroboter im Innern des Tanks an. Johanson wählte eine kleine, zweikomponentige ROV-Einheit namens Spherobot. Über einem Bedienpult mit zwei Joysticks flammten mehrere hoch auflösende Monitore auf. Einer zeigte das Innere des Simulators. Lang und diffus lag es vor ihnen. Das Weitwinkelobjektiv des Spherobot vermochte den kompletten Tank zu überblicken, übertrug das Bild als Folge jedoch in Fischaugenverzerrung.
   »Wie viele öffnen wir?«, wollte Oliviera wissen.
   Johansons Hände glitten über die Tastatur des Bedienmanuals, und der Blickwinkel der Kamera verschob sich leicht nach oben.
   »Wie bei einem guten Scampi-Essen«, sagte er. »Mindestens ein Dutzend.«
   Eine der Schmalseiten im Innern des Tanks glich einer zweistöckigen, offenen Garage, in der alles mögliche Tiefsee-Equipment untergebracht war. Mehrere Unterwasser-Roboter unterschiedlicher Größe und Funktion waren darin geparkt, die sich von außen steuern ließen. Anders konnte man in der künstlichen Welt nicht operieren, und ganz nebenbei bot die Garage den Erbauern von AUVs und ROVs die Möglichkeit, ihre Konstruktionen unter den Extrembedingungen der Tiefsee zu testen.
   Im Moment, da Johanson die Steuerung aktivierte, flammten an der Unterseite eines Roboters starke Lichter auf, und zwei Propeller begannen sich zu drehen. Ein kastenförmiger Schlitten von der Größe eines Einkaufswagens schwebte langsam aus der Garage hinaus. Sein oberer Bereich war abgedeckt, voll gepackt mit Technik, der untere bestand aus einem leeren Korb mit feinmaschigen Gitterwänden. Er glitt über den künstlichen Meeresboden auf die Krabben zu und stoppte kurz vor einer kleinen Gruppe reglos dahockender Tiere. Klar und deutlich waren die augenlosen, gebogenen Schalen mit den kräftigen Scheren zu sehen.
   »Ich schalte um auf die Sphäre«, sagte Johanson.
   Das verzerrte Bild wich einer klaren und gestochen scharfen Detailaufnahme.
   Aus dem Schlitten, der bewegungslos über den Krebsen hing, schob sich eine rot lackierte Kugel, nicht größer als ein Fußball. Sie war der eigentliche Namensgeber des Gefährts. Wie sie nach draußen schwebte, nur über Kabel mit dem größeren Gerät verbunden, das glänzende Auge des Kameraobjektivs starr geradeaus gerichtet, erinnerte sie an den fliegenden Kampfroboter aus Krieg der Sterne, mit dem Luke Skywalker den Lichtschwertkampf hatte trainieren müssen. Tatsächlich war der Spherobot mit seinen sechs kleinen Steuerdüsen dem cineastischen Vorbild bis ins Detail nachempfunden. Nach kurzer Fahrt sank er langsam tiefer, bis er dicht über den Krabben verharrte. Keines der Tiere ließ sich von dem merkwürdigen roten Ball aus der Ruhe bringen, auch nicht, als Teile seiner Unterseite auseinander glitten und sich aus dem Innern zwei schlanke, mehrgelenkige Arme entfalteten.
   Am Ende der Arme begannen Arsenale mit Instrumenten zu rotieren. Dann schob sich links eine Zange hervor und rechts eine kleine Säge. Johansons Hände umspannten die beiden Joysticks und bewegten sie vorsichtig nach vorne, und die Arme des Roboters im Tank folgten seinen Bewegungen.
   »Hasta la vista, baby«, sagte Oliviera mit Schwarzenegger-Akzent.
   Die Zange fuhr nach unten, packte eine der Krabben um Bauch und Rücken und hob sie vor die Linse der Kamera. Auf dem Monitor hatte das Tier die Größe eines Monsters. Seine Mundwerkzeuge bewegten sich, die Beine strampelten, aber die Scheren hingen schlaff herab. Johanson ließ die Zange um 360° rotieren und beobachtete aufmerksam das Verhalten des sich drehenden Tiers.
   »Motorik einwandfrei«, sagte er. »Laufapparat funktioniert.«
   »Dafür keine arttypischen Reaktionen«, bemerkte Rubin.
   »Nein. Kein Spreizen der Scheren, keine Drohgebärden. Das ist einfach nur ein Automat, eine Laufmaschine.« Er bewegte den zweiten Joystick und drückte einen Knopf an der Oberseite. Die Kreissäge begann sich zu drehen und fuhr seitlich in den Panzer. Kurz zuckten die Beine der Krabbe wie wild.
   Der Panzer brach auf.
   Etwas Milchiges flutschte nach draußen und hing einen Moment lang zitternd über dem zerstörten Tier.
   »Mein Gott«, entfuhr es Oliviera.
   Das Ding hatte mit nichts Ähnlichkeit, weder mit einer Qualle noch mit einem Tintenfisch. Es war ganz und gar formlos. Wellen durchliefen seine Ränder, der Körper blähte und verflachte sich. Johanson kam es vor, als zucke ein Blitz durch sein Inneres, aber im grellen Schein der Tankbeleuchtung konnte das auch eine Sinnestäuschung gewesen sein. Während er noch darüber nachdachte, verformte sich das Wesen plötzlich zu etwas Langem, Schlangenartigem und schoss davon.
   Er fluchte, hob die nächste Krabbe hoch und schnitt sie auf. Diesmal ging alles noch viel schneller, und der gallertige Insasse machte sich davon, bevor sie ihn richtig anschauen konnten.
   »Oh, Mann!« Rubin war offensichtlich begeistert. »Absolut irre! Was ist das bloß für ein Zeug?«
   »Etwas, das uns durch die Lappen geht«, knurrte Johanson. »Zu blöde. Wie kriegen wir diese Schleimbeutel bloß eingefangen?«
   »Wieso? Wir haben sie doch eingefangen.«
   »Ja, zwei tennisballgroße Platschen ohne Form und Farbe in einem Schwimmbad. Viel Spaß beim Suchen.«
   »Ich würde den nächsten direkt im Korb des Trägerroboters öffnen«, schlug Oliviera vor.
   »Der ist nach vorne offen. Es wird abhauen.«
   »Nein, wird es nicht. Der Korb lässt sich schließen. Sie müssen nur schnell genug sein.«
   »Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege.«
   »Probieren Sie’s einfach.«
   Oliviera hatte Recht. Vorne am Käfig des Trägerroboters war eine vergitterte Klappe. Johanson packte ein weiteres Tier, drehte den Spherobot um 180° und ließ ihn auf den Trägerroboter zufahren, bis er seine elektronischen Arme ins Innere des Käfigs strecken konnte. Dort stieß er die Kreissäge in die Seite der Krabbe.
   Der Panzer zerbarst.
   Nichts geschah.
   »Leer?«, wunderte sich Rubin.
   Sie warteten einige Sekunden, dann fuhr Johanson den kugelförmigen Roboter langsam wieder zurück.
   »Scheiße!«
   Das Gallertwesen schnellte aus dem Krabbenkörper hervor, aber es hatte die falsche Richtung gewählt. Heftig prallte es gegen die Käfigrückwand, zog sich zu einem zitternden Ball zusammen und taumelte vor dem Gitter auf und ab. Seine Verwirrung, falls es so etwas wie Verwirrung kannte, währte nur einen Augenblick. Es streckte sich.
   »Es will abhauen!« Johanson ließ den Spherobot zurückfahren. Er schlug gegen die Seitenwand des Käfigs, dann war er draußen. Einer der Arme bekam die Drahtklappe zu fassen und warf sie hoch. Das Ding verflachte sich vollends und kam herangeschossen. Wenige Zentimeter vor der Klappe prallte es zurück, wobei es erneut die Form veränderte. Seine Ränder breiteten sich nach allen Seiten aus, bis es wie eine transparente Glocke im Wasser hing und fast den halben Käfig einnahm. Der Körper bog sich. Für Sekunden sah es aus wie eine Qualle, dann rollte es sich zusammen. Im nächsten Moment schwebte wieder eine Kugel im Käfig. »Absolut irre«, flüsterte Rubin. »Seht euch das mal an«, rief Oliviera. »Es schrumpft.« Tatsächlich zog sich die Kugel zusammen und verlor dabei zunehmend an Transparenz. Sie wurde milchiger. »Das Gewebe kontraktiert«, sagte Rubin. »Das Ding kann seine molekulare Dichte ändern.« »Erinnert euch das an irgendwas?« »Frühe Formen von sehr einfachen Polypen.« Rubin überlegte. »Kambrium. Es gibt immer noch Organismen, die so was können. Die meisten Tintenfische lassen ihr Gewebe kontraktieren, aber sie verändern nicht die Form.
   — Wir müssen noch welche einfangen. Wir müssen sehen, wie sie reagieren.«
   Johanson lehnte sich zurück.
   »Nochmal gelingt mir das nicht«, sagte er. »Beim zweiten Versuch wird das hier entwischen. Sie sind zu schnell.«
   »Auch gut. Eines reicht ja vorläufig zur Beobachtung.«
   »Ich weiß nicht.« Oliviera schüttelte den Kopf. »Beobachten ist schön und gut, aber ich will das Zeug untersuchen, nicht immer nur in Auflösung befindliche Reste. Vielleicht sollten wir das Ding einfrieren und in Scheiben schneiden.«
   »Sicher.« Rubin starrte fasziniert auf den Monitor. »Aber nicht sofort. Erst beobachten wir es eine Weile.«
   »Wir haben immer noch die beiden anderen. Sieht jemand zufällig eines?«
   Johanson schaltete nacheinander sämtliche Monitore ein. Das Innere des Tanks erschien aus verschiedenen Blickwinkeln.
   »Verschwindibus.«
   »Quatsch. Sie müssen irgendwo sein.«
   »Na schön, knacken wir noch ein paar«, sagte Johanson. »Wollten wir ohnehin. Je mehr von dem Glibber im Tank unterwegs ist, desto größer ist die Chance, dass wir was davon zu Gesicht bekommen. Unseren Kriegsgefangenen hier lassen wir zur Sicherheit erst mal im Käfig. Später sehen wir weiter.« Er grinste und legte die Finger um die Joysticks. »Knick knack. Macht ja auch irgendwie Spaß, oder?«
   Sie öffneten noch ein Dutzend Krabben, ohne den Versuch zu unternehmen, die entschlüpfenden Substanzen einzufangen. Die Gallertwesen flitzten davon, kaum dass die Panzer aufbrachen, und verloren sich irgendwo in den Weiten des Tanks.
   »Auf jeden Fall machen ihnen die Pfiesterien nichts aus«, stellte Oliviera fest.
   »Natürlich nicht«, sagte Johanson. »Die Yrr werden dafür gesorgt haben, dass sich das eine mit dem anderen verträgt. Die Gallerte steuert die Krabben, die Pfiesterien sind die Fracht. Logisch, dass sie kein Taxi losschicken, in dem der Gast den Fahrer tötet.«
   »Glauben Sie, diese Gallerte ist auch eine Züchtung?«
   »Keine Ahnung. Möglicherweise war sie schon vorher da. Möglicherweise wurde sie gezüchtet.«
   »Und wenn es … die Yrr sind?«
   Johanson schwenkte den Spherobot, sodass die Kamera den Käfig erfasste. Er starrte auf das gefangene Exemplar. Es hatte seine Kugelgestalt beibehalten und lag wie ein glasig weißer Tennisball auf dem Boden des Käfigs.
   »Diese Dinger?«, fragte Rubin ungläubig. »Warum nicht?«, rief Oliviera. »Wir haben welche in den Köpfen der Wale gefunden, sie saßen im Bewuchs der Barrier Queen, im Innern der Blauen Wolke, sie sind überall.« »Ja, eben, die Blaue Wolke. Was ist damit?« »Sie hat irgendeine Funktion. Die Dinger verstecken sich darin.« »Mir scheint eher, die Gallerte ist genauso wie die Würmer und die anderen Mutationen eine biologische Waffe.« Rubin zeigte auf den reglosen Ball im Käfig. »Glaubt ihr, es ist tot? Es rührt sich nicht mehr. Vielleicht zieht es sein Gewebe zur Kugel zusammen, wenn es stirbt.« Im selben Moment ertönte ein pfeifendes Signal aus den Deckenlautsprechern, und sie hörten Peaks Stimme über das bordeigene Durchsagesystem:
   »Guten Morgen. Da wir mit dem Eintreffen von Dr. Crowe nun vollzählig sind, haben wir für 10.30 Uhr ein Treffen im Welldeck anberaumt. Wir wollen Sie mit den Tauchbooten und der Ausrüstung vertraut machen, es wäre also nett, wenn Sie erscheinen. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass wir um 10.00 Uhr unsere routinemäßige Zusammenkunft im Flagg-Besprechungsraum abhalten. Danke.«
   »Gut, dass er uns dran erinnert«, sagte Rubin eilig. »Ich hätt’s glatt vergessen. Ich vergesse Zeit und Raum, wenn ich forsche. Mein Gott, entweder ist man Forscher oder keiner! Oder?«
   »Richtig«, sagte Oliviera gelangweilt. »Bin gespannt, ob es was Neues aus Nanaimo gibt.«
   »Warum rufen Sie Roche nicht an«, schlug Rubin vor. »Erzählen Sie ihm von unseren Erfolgen. Vielleicht hat er ja auch was vorzuweisen.« Er grinste und stupste Johanson vertraulich an. »Vielleicht erfahren wir es noch vor Li und können im Meeting damit glänzen.«
   Johanson lächelte zurück. Er mochte Rubin nicht sonderlich. Der Mann war gut in seinem Job, aber ein Schleimer. Johanson schätzte, dass er seine Großmutter verkauft hätte, wenn es seiner Karriere dienlich gewesen wäre. Oliviera trat zur Sprechfunkeinheit gleich neben dem Steuerpult und ließ die Automatik wählen. Die Satellitenschüssel hoch oben auf der Insel ermöglichte jede Art der elektronischen Datenkommunikation. Überall auf dem Schiff konnte man eine Vielzahl von Fernsehsendern empfangen, Handfernseher oder Radiogeräte einstöpseln und Laptops anschließen, und natürlich telefonierte man auf abhörsicheren Kanälen in alle Welt. Auch Nanaimo im fernen Kanada war mühelos zu erreichen.
   Oliviera sprach eine Weile mit Fenwick und dann mit Roche, die wiederum mit einer Vielzahl von Wissenschaftlern rund um den Globus in Verbindung standen. Wie es aussah, hatten sie das Mutations-Spektrum der Pfiesterien eingegrenzt, aber ein Durchbruch war nicht in Sicht. Stattdessen waren Heerscharen von Krabben über Boston hergefallen. Oliviera gab ihre eigenen Erkenntnisse weiter und legte auf.
   »Schöner Mist«, fluchte Rubin.
   »Vielleicht helfen uns ja unsere Freunde im Tank«, sagte Johanson. »Irgendwas schützt sie schließlich vor den Algen. Legen wir eine Runde Sicherheitslabor ein. Sobald wir wissen, was unser Gefangener …«
   Er starrte auf den Videoschirm.
   Das Wesen im Käfig war verschwunden.
   Oliviera und Rubin folgten seinem Blick und rissen die Augen auf.
   »Das gibt’s doch nicht!«
   »Wie ist der denn rausgekommen?«
   Auf den Bildschirmen war nichts zu sehen außer Krebsen und Wasser.
   »Die Dinger sind weg.«
   »Quatsch. Wo sollen sie denn hin sein?«
   »Moment mal! Wir haben inzwischen über ein Dutzend von denen da rumsausen. So unsichtbar können die sich gar nicht machen.«
   »Sie werden schon da sein. Aber wo ist das aus dem Käfig?«
   »Hat sich dünnegemacht.«
   Johanson betrachtete den Schirm, und seine Miene hellte sich auf.
   »Dünne? Gar kein schlechter Hinweis«, sagte er langsam. »Natürlich. Es kann seine Form verändern. Die Maschen sind dicht, aber für etwas sehr Langes und Dünnes wahrscheinlich nicht dicht genug.«
   »Was für ein unglaubliches Zeug«, flüsterte Rubin.
   Sie begannen, den Tank abzusuchen. Sie teilten sich auf, übernahmen jeder einen Monitor, um das komplette Becken simultan unter Kontrolle zu bringen, ließen die Kameras zoomen, aber nirgendwo war etwas von den Gallertklumpen zu sehen. Schließlich ließ Johanson nacheinander die Tauchroboter aufsteigen und aus der Garage fahren, aber auch dort hatte sich nichts versteckt.
   Die Wesen waren verschwunden.
   »Haben wir vielleicht ein Problem mit dem Leitungssystem«, fragte Oliviera. »Stecken sie in einem der Wasserrohre?«
   Rubin schüttelte den Kopf. »Kann nicht sein.«
   »Wie auch immer«, knurrte Johanson, »wir müssen hoch zur Besprechung. Vielleicht fällt uns ja oben ein, wo sie sein könnten.«
   Verwirrt und frustriert schalteten sie die Lichter im Simulator aus und gingen nach draußen. Rubin löschte die Laborbeleuchtung und machte Anstalten, ihnen zu folgen.
   Aber er kam nicht.
   Johanson sah ihn in der offenen Schleuse stehen und in das dunkle Labor starren. Er konnte erkennen, dass Rubins Mund weit offen stand. Langsam ging er zurück, gefolgt von Oliviera, und sah, was Rubin sah.
   Hinter dem ovalen Fenster des Tiefseesimulators leuchtete etwas. Ein schwaches, diffuses Leuchten.
   Blau.
   »Die Blaue Wolke«, flüsterte Rubin.
   Zugleich rannten sie durch die Dunkelheit zum Simulator, ohne auf Hindernisse zu achten, hasteten die Stiege hinauf und drängten sich vor die Panzerglasscheibe.
   Das blaue Leuchten hing im Nichts. Eine kosmische Wolke in der Lichtlosigkeit der Weltraums, nur dass der Weltraum ein Tank und gefüllt mit Wasser war. Ihre Ausdehnung umfasste einige Quadratmeter. Sie pulsierte. Die Ränder waberten.
   Johanson kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Was war jenseits der Ränder los? Ihm schien, als entstünden dort winzige Lichtpunkte, die ins Innere der Wolke strömten, immer schneller. Wie Materiepartikel im Gravitationsfeld eines Schwarzen Lochs.
   Das Blau wurde intensiver.
   Dann kollabierte es.
   Einem rückwärts verlaufenden Urknall gleich stürzte die Wolke in sich zusammen. Alles strebte auf das Innere zu, das heller und dichter wurde. Lichtblitze zuckten darin auf, bildeten komplizierte Muster. In rasender Geschwindigkeit wurde die Wolke in ihr eigenes Zentrum gesaugt, in einen turbulenten Wirbel, und dann …
   »Ich glaub’s nicht«, sagte Oliviera.
   Vor ihren Augen hing ein kugelförmiges Ding von der Größe eines Fußballs. Ein blau leuchtendes Etwas aus kompakter Materie. Pulsierende Gallerte.
   Sie hatten die Wesen wieder gefunden.
   Die Wesen waren eins geworden.
 
Flagg-Besprechungsraum
 
   »Einzeller!«, rief Johanson. »Es sind Einzeller.«
   Er war ungeheuer aufgeregt. Die Gruppe starrte ihn schweigend an. Rubin rutschte auf seinem Stuhl herum und nickte heftig, während Johanson auf und ab ging. Er hätte nie im Leben auf seinem Hintern sitzen können in dieser Situation.
   »Wir haben die ganze Zeit geglaubt, die Gallerte und die Wolke seien zwei verschiedene Dinge, aber sie sind ein und dasselbe. Das Zeug ist ein Verbund aus Einzellern. Die Gallerte kann nicht nur nach Belieben ihre Form ändern, sie löst sich vollständig auf und schließt sich ebenso rasch wieder zusammen.«
   »Diese Wesen lösen sich auf?«, echote Vanderbilt.
   »Nein, nein! Nicht die Wesen, ich meine, die Einzeller sind die Wesen, und sie verschmelzen miteinander. Wir haben Krabben aufgeschnitten und einige dieser Gallertklumpen zum Vorschein gebracht, die alle in irgendeinen Winkel des Simulators entwischten. Einen hatten wir festgesetzt. Dann waren plötzlich alle verschwunden, restlos. Nichts war mehr übrig — Herrgott, ich Idiot, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! —, weil man Einzeller natürlich nicht in einem Käfig halten kann, und um sie mit bloßem Auge wahrzunehmen, sind die meisten zu klein. Und weil der Simulator von innen beleuchtet war, konnten wir keine Biolumineszenz wahrnehmen, nichts. Das gleiche Problem hatten wir vor Norwegen, wo uns dieses Riesending vor die Kamera geriet. Damals haben wir nur die helle Oberfläche gesehen, angestrahlt von den Scheinwerfern des Victor, aber in Wirklichkeit leuchtete es. Es leuchtete, es war ein riesiger Zusammenschluss aus biolumineszierenden Mikroorganismen. Das, was jetzt da unten im Tank schwimmt, ist die Summe der Substanzen, die wir aus den Krabben geholt haben, es kommt genau hin.«
   »Das erklärt einiges«, sagte Anawak. »Das formlose Wesen am Rumpf der Barrier Queen, die blaue Wolke vor Vancouver Island …«
   »Die Aufnahmen des URA, genau! Ein großer Teil der Zellen schwebte frei im Wasser, aber im Zentrum hatten sie sich verfestigt. Die Masse bildete Tentakel. Sie injizierte sich selber in die Köpfe der Wale.«
   »Augenblick.« Li hob die Hand. »Da war sie doch schon drin.«
   »Dann …« Johanson überlegte. »Nun, irgendeine Verbindung fand statt. Jedenfalls schätze ich, dass sie auf diese Weise hineingelangt ist. Vielleicht wurden wir Zeuge eines Austauschs. Alte Gallerte raus, neue rein. Oder es fand so etwas wie eine Kontrolle statt. Vielleicht gab das Zeug in den Köpfen etwas an die Gesamtmasse weiter.«
   »Informationen«, sagte Greywolf.
   »Ja«, rief Johanson. »Ja!«
   Delaware zog die Nase kraus. »Das heißt, sie nehmen jede beliebige Größe an? So viel, wie gerade erforderlich ist?«
   »Jede Größe und jede Form«, nickte Oliviera. »Um einen Krebs zu steuern, reicht eine Hand voll. Das Ding vor Vancouver Island, um das sich die Wale versammelten, hatte die Größe eines Hauses, und …«
   »Das ist das Entscheidende an unserer Entdeckung«, fuhr ihr Rubin dazwischen. Er sprang auf. »Die Gallerte ist ein Rohmaterial, um definierte Aufgaben zu bewältigen.«
   Oliviera wirkte verärgert.
   »Ich habe mir die Aufnahmen vom norwegischen Kontinentalhang sehr genau angesehen«, sagte Rubin atemlos. »Ich glaube, ich weiß, was da passiert ist! Wenn dieses Zeug nicht den letzten Anstoß für das Abrutschen der Hänge gegeben hat, will ich nicht geboren sein. Wir stehen kurz davor, die ganze Wahrheit zu begreifen!«
   »Sie haben eine Masse gefunden, die einen Haufen Drecksarbeit erledigt«, sagte Peak unbeeindruckt. »Schön.
   — Und wo sind die Yrr?« »Die Yrr sind …« Rubin stockte. Plötzlich war seine Selbstsicherheit verflogen. Sein Blick wanderte unsicher zu Johanson und Oliviera. »Nun ja …«
   »Glauben Sie, das sind die Yrr?«, fragte Crowe.
   Johanson schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
   Eine Weile herrschte Schweigen.
   Crowe spitzte die Lippen und zog an ihrer Zigarette. »Wir haben noch keine Antwort erhalten. Wer könnte uns antworten? Ein intelligentes Wesen oder ein Verbund aus intelligenten Wesen? Was meinen Sie, Sigur, benehmen sich die Dinger im Tank intelligent?«
   »Sie wissen selber, dass die Frage müßig ist«, erwiderte Johanson.
   »Ich wollte es von Ihnen hören«, lächelte Crowe.
   »Wie sollen wir das erkennen? Wie sollte eine außerirdische Intelligenz eine Hand voll menschlicher Kriegsgefangener in einem Lager beurteilen, die nichts von Mathematik verstehen, Angst haben, frieren, jammern oder apathisch in der Ecke sitzen?«
   »Du lieber Himmel«, stöhnte Vanderbilt leise. »Jetzt haut er uns die Genfer Konvention um die Ohren.« »Gilt die auch für Außerirdische?«, grinste Peak.
   Oliviera bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick.
   »Wir werden die Masse im Tank weiteren Tests unterziehen«, sagte sie. »Nebenbei gesagt verstehe ich nicht, dass wir so lange gebraucht haben, um die Sache zu kapieren. Leon, was ist dir aufgefallen, als du im Trockendock der Barrier Queen rumspioniert hast?«
   Anawak sah sie an.
   »Kurz bevor sie mich rausfischten? Ein blaues Leuchten.«
   »Das meine ich«, sagte Oliviera zu Li gewandt. »Sie wollten ja unbedingt Ihren Alleingang, General, dort im Dock, als Sie wochenlang im Rumpf der Barrier Queen herumgestochert haben, ohne etwas zu erreichen. Nun, halb daneben ist auch vorbei. Ihre Leute müssen etwas Entscheidendes übersehen haben, als sie die Wasserproben aus dem Trockendock untersuchten. Ist keinem dieses Leuchten aufgefallen? Oder ein Haufen Einzeller in den Wasserproben?«
   »Doch«, sagte Li. »Natürlich haben wir Wasser zur Untersuchung entnommen.«
   »Und?«
   »Nichts. Normales Wasser.«
   »Na schön«, seufzte Oliviera. »Können Sie mir den Bericht noch einmal zukommen lassen? Inklusive aller Laborergebnisse.«
   »Natürlich.«
   »Dr. Johanson.« Shankar hob die Hand. »Was schätzen Sie, wie diese Verschmelzung zustande kommt? Ich meine, was löst sie aus?«
   »Und noch dazu gleichzeitig«, wunderte sich Roscovitz. Es war das erste Mal, dass er das Wort ergriff. »Wie soll das gehen? Zu welchem Zweck? Irgendeine von diesen Zellen muss doch sagen, hey, Leute, kommt mal alle her, wir feiern ‘ne Party.«
   »Nicht unbedingt«, sagte Vanderbilt schlau. »Den höchsten Grad der Zusammenarbeit findet man bei menschlichen Körperzellen, richtig? Und da sagt auch keine, wo’s langgeht.«
   »Reden Sie von der Organisationsstruktur der CIA?«, lächelte Li.
   »Vorsicht, Suzie Wong.«
   »Hey!« Roscovitz hob die Hände. »Leute, ich bin nur U-Boot-Fahrer. Ich will das hier kapieren. Beim Menschen, da pappen die Zellen doch wohl immer hübsch zusammen, das ist was anderes. Wir lösen uns nicht von Zeit zu Zeit in Wohlgefallen auf, und außerdem gibt es ein zentrales Nervensystem, das Boss ist bei der ganzen Sache.«
   »Bei Körperzellen läuft die Kommunikation über chemische Botenstoffe«, sagte Delaware.
   »Und was heißt das? Müssen wir uns diese Zellen wie einen Fischschwarm vorstellen, wo alle gleichzeitig in dieselbe Richtung schwimmen?«
   »Fischschwärme verhalten sich nur scheinbar simultan«, erklärte Rubin. »Das Verhalten von Schwärmen hat was mit Druck zu tun.«
   »Das weiß ich, Mann, ich wollte nur …«
   »An der Seite der Fischkörper sitzen Lateralorgane«, belehrte ihn Rubin unbeirrt weiter. »Verändert ein Körper seine Position, gibt er eine Druckwelle an seinen Nachbarn weiter, der dreht sich automatisch in die gleiche Richtung, und so fort, bis der ganze Schwarm die Drehung mitvollzieht.«
   »Ich sagte doch, das weiß ich!«
   »Aber natürlich!« Delawares Miene erhellte sich. »Das ist es!«
   »Was?«
   »Druckwellen. Damit könnte eine größere Masse dieser Gallerte ganze Schwärme einfach umleiten. Ich meine, wir haben uns gefragt, welche Zauberei vonnöten ist, dass Fischschwärme nicht mehr in Netze schwimmen, aber das wäre eine Erklärung.«
   »Einen ganzen Schwarm umleiten?«, sagte Shankar zweifelnd.
   »Doch, sie hat Recht«, rief Greywolf. »Sie hat verdammt Recht damit! Wenn die Yrr Millionen Krebse steuern und Abermillionen Würmer an Hänge transportieren können, lenken sie auch Schwärme um. Mit einer Druckwelle kann man so was machen. Druckempfindlichkeit ist praktisch der einzige Schutz, über den ein Schwarm verfügt.«
   »Du meinst, diese Einzeller unten im Tank reagieren auf Druck?«
   »Nein.« Anawak schüttelte den Kopf. »Das wäre zu einfach. Fische mögen Druck erzeugen, aber Einzeller?«
   »Aber irgendwie muss die Verschmelzung ausgelöst werden.«
   »Wartet mal«, sagte Oliviera. »Es gibt ähnliche Formen der Kommunikation bei Bakterien. Myxococcus xanthus zum Beispiel. Eine bodenlebende Art. Sie setzt sich aus kleinen, lockeren Verbänden zusammen. Wenn einzelne Zellen nicht genug zu fressen finden, geben sie eine Art Hungersignal ab. Anfangs reagiert die Kolonie kaum darauf, aber je mehr Zellen hungern, desto intensiver wird das Signal, bis es eine gewisse Schwelle überschreitet. Die Mitglieder der Kolonie beginnen sich zusammenzuscharen. Nach und nach formt sich ein komplexes vielzelliges Gebilde, ein Fruchtkörper, den man mit bloßem Auge sehen kann.«