Riskant war es trotzdem.
   Zehn Meter unter ihm wogte die See.
   Immer noch herrschten diffuse Sichtverhältnisse, aber der Eispartikelregen hatte aufgehört. So weit das Auge reichte, war das Wasser marmoriert von streifiger Gischt. Schieferfarbenes, weiß geädertes Meer in stetigem Auf und Ab. Eine Wüste.
   Wie seltsam. Mehr als die Hälfte seines Lebens war er im gemäßigten Klima der kanadischen Westküste untergekrochen. Jetzt hatte ihn das Schicksal gleich zweimal hintereinander ins Eis verschlagen.
   Der Wind zerrte an seinen Haaren. Allmählich fühlte er seine Haut taub werden von der Kälte. Er hielt die Hände wie eine Muschel vor seinen Mund und blies seinen warmen Atem hinein.
   Dann ging er zurück ins Innere.
 
Labor
 
   Johanson hatte Oliviera versprochen, sie zu einem richtigen Hummeressen einzuladen, wenn alles überstanden sei. Dann fischte er mit Hilfe des Spherobot eine Krabbe aus dem Simulator. Der kugelförmige Roboter schwebte, das fast bewegungslose Tier in seiner Greifzange haltend, zurück in die Garage, wo hermetisch verschließbare Boxen mit PVC-Lackierung bereitstanden. Es sah merkwürdig aus, wie der Automat die Krabbe mit augenscheinlichem Ekel von sich weg hielt, ins Innere einer der Boxen fallen ließ und sie verschloss.
   Ein kleiner Roboter, von den Umständen angewidert.
   Die Box wurde durch eine Schleuse in einen Trockenraum gefahren und mit Peressigsäure besprüht, mit Wasser abgewaschen, einem Schwall Natronlauge ausgesetzt und über eine weitere Schleuse aus dem Simulator hinausbefördert. Wie tödlich das Wasser im Tank auch vergiftet sein mochte, die Box war jetzt sauber.
   »Sind Sie sicher, dass Sie alleine klarkommen?«, fragte Johanson. Er hatte sich zur Telefonkonferenz mit Bohrmann verabredet, der auf La Palma den Einsatz des Saugrüssels vorbereitete.
   »Kein Problem.« Oliviera nahm den Behälter mit der Krabbe an sich. »Falls doch, werde ich schreien. In der Hoffnung, dass Sie mir helfen kommen und nicht dieser Affenarsch von Rubin.«
   Johanson schmunzelte. »Sollten wir da eine Abneigung teilen?«
   »Ich hab nicht wirklich was gegen Mick«, sagte Oliviera. »Er ist nur so gottverdammt bemüht, den Nobelpreis zu kriegen.«
   »Scheint mir auch so. Und Sie?«
   »Was soll mit mir sein?«
   »Keine Lust auf Lorbeeren? Ein bisschen berühmt werden wir wohl alle, wenn wir das hier überleben.«
   »Gegen ein paar Groupies hätte ich nichts einzuwenden. Die Wissenschaft ist trocken genug.« Oliviera hielt inne.
   »Bei der Gelegenheit, wo ist er eigentlich?«
   »Wer? Rubin?«
   »Ja. Er wollte hier sein, wenn ich die DNA-Analyse im Hochsicherheitslabor durchführe.«
   »Seien Sie doch froh.«
   »Ich bin froh. Ich frage mich trotzdem, wo er sich rumtreibt.«
   »Irgendwas Sinnvolles wird er schon tun«, sagte Johanson versöhnlich. »Ich meine, er ist ja kein schlechter Kerl. Er riecht nicht, hat niemanden umgebracht und eine Menge Auszeichnungen im Regal stehen. Wir müssen den Typ nicht mögen, solange er uns weiterbringt.«
   »Tut er das? Finden Sie, er hat bis jetzt irgendwas Sinnvolles geleistet?«
   »Aber gnädige Frau.« Johanson breitete die Hände aus. »Ist es einer guten Idee nicht scheißegal, wer sie hat?«
   Oliviera grinste.
   »Die Lebenslüge der zweiten Garnitur.« Sie zuckte die Achseln. »Na ja. Soll er machen, was er will. Wer weiß, wofür es gut ist.«
 
Sedna
 
   Anawak trat an den Beckenrand.
   Das Deck war immer noch geflutet. Er sah Delaware und Greywolf mit Neoprenanzügen bekleidet im Wasser paddeln und den Delphinen das Geschirr abnehmen. Lärm erfüllte die Halle. Weiter heckwärts wurde eines der Deepflight- Tauchboote von der Decke gelassen. Roscovitz und Browning überwachten den Vorgang vom Kontrollpult aus. Langsam sank der flache, raumschiffartige Rumpf abwärts, bis er die Oberfläche berührte und sanft schaukelnd auflag. Im kräuseligen Wasser leuchtete die Schleuse am Grund.
   Roscovitz schaute zu ihm herüber.
   »Fahren Sie raus?«, rief Anawak.
   »Nein.« Der Leiter der Tauchstation zeigte auf das Boot.
   »Dieses Baby hat ‘ne Macke. Irgendwas mit der Vertikalsteuerung.«
   »Schlimm?«
   »Keine große Sache, aber nachschauen ist besser.«
   »Mit dem waren wir doch draußen, oder?«
   »Keine Angst, Sie haben nichts kaputtgemacht.« Roscovitz lachte. »Möglicherweise ein Defekt in der Software. In wenigen Stunden ist alles wieder heile.«
   Ein Schwall Wasser traf Anawaks Beine.
   »He, Leon!« Delaware grinste ihn aus dem Becken an. »Was stehst du da rum? Komm rein.«
   »Gute Idee«, meinte Greywolf. »Du könntest was Sinnvolles tun.«
   »Wir tun eine Menge Sinnvolles da oben«, erwiderte Anawak.
   »Zweifellos.« Greywolf streichelte einen der Delphine, der sich an ihn schmiegte und leise schnatternde Laute von sich gab. »Schnapp dir einen der Anzüge.«
   »Ich wollte nur kurz nach euch sehen.«
   »Nett von dir.« Greywolf versetzte dem Delphin einen Klaps und sah zu, wie er davonschnellte. »Nun hast du uns gesehen.«
   »Gibt’s irgendwas Neues?«
   »Wir machen die zweite Staffel fertig«, sagte Delaware. »MK-6 hat nichts Außergewöhnliches registriert, abgesehen von heute Morgen, als sie die Anwesenheit der Orcas meldeten.«
   »Und zwar, bevor die Elektronik sie gesehen hat«, bemerkte Greywolf nicht ohne Stolz. »Ja, ihr Sonar ist …«
   Anawak bekam einen weiteren Schwall ab, als diesmal eines der Tiere wie ein Torpedo aus dem Wasser stieg und ihn nass spritzte. Offenbar fand der Delphin großes Vergnügen daran. Er quiekte und schnatterte und reckte die Schnauze.
   »Gib dir keine Mühe«, sagte Delaware zu dem Tier, als könne es sie verstehen. »Leon kommt nicht rein. Er würde sich den Arsch abfrieren, weil er nämlich gar kein richtiger Inuk ist, sondern ein Angeber. Er kann überhaupt kein Inuk sein. Sonst wäre er längst …«
   »Okay, okay!« Anawak hob die Hände. »Wo ist der verdammte Anzug?«
   Fünf Minuten später half er Delaware und Greywolf, den Tieren der zweiten Staffel die Kameras und Sender anzulegen. Plötzlich fiel ihm ein, wie Delaware ihn gefragt hatte, ob er ein Makah sei.
   »Wie bist du damals eigentlich darauf gekommen?«, wollte er wissen.
   Sie zuckte die Achseln. »Du hast dich ausgeschwiegen. Irgendwas Indianisches musstest du sein. Wie ein Friese hast du jedenfalls nicht ausgesehen. Jetzt, wo ich’s besser weiß …« Sie strahlte ihn an. »… hab ich auch was für dich!«
   »Du hast was für mich?«
   Sie zurrte einen Riemen um die Brust eines Delphins.
   »Ich bin im Internet darauf gestoßen. Dachte, ich mache dir eine Freude. Hab’s auswendig gelernt, willst du wissen, was es ist?«
   »Raus damit!«
   »Die Geschichte deiner Welt!« Es klang wie von Fanfarenstößen begleitet.
   »Du lieber Himmel.«
   »Kein Interesse?«
   »Doch«, sagte Greywolf. »Leon interessiert sich brennend für seine geliebte Heimat, er würde es nur ums Verrecken nicht zugeben.« Er kam herbeigeschwommen, flankiert von zwei Delphinen. In seinem gepolsterten Anzug sah er aus wie ein mittelgroßes Seeungeheuer. »Lieber lässt er sich für einen Makah halten.«
   »Du hast’s gerade nötig«, bemerkte Anawak.
   »Kein Streit, Kinder!« Delaware legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. »Ich meine, wusstet ihr, wo all die Wale und Delphine und die Robben herkommen? Wollt ihr die wahre Erklärung hören?«
   »Spann uns nicht auf die Folter.«
   »Also, es beginnt in frühester Zeit, als Menschen und Tiere noch eins waren. Da lebte in der Nähe von Arviat ein Mädchen.«
   Anawak horchte auf. Das also hatte sie gefunden! Als Heranwachsender hatte er die Geschichte in allen möglichen Varianten gehört, aber dann war sie ihm zusammen mit seiner Kindheit verloren gegangen.
   »Wo ist Arviat?«, wollte Greywolf wissen.
   »Arviat ist die südlichste Siedlung von Nunavut«, erwiderte Anawak. »War der Name des Mädchens Talilayuk?«
   »Oh ja, sie hieß Talilayuk, so hieß sie«, fuhr Delaware mit einigem Pathos fort. »Sie hatte schönes Haar, und viele Männer zeigten großes Interesse an Talilayuk, aber erst ein Hundemann konnte ihr Herz gewinnen. Talilayuk wurde schwanger und gebar Inuit und Nicht-Inuit, alles durcheinander. Bis eines Tages, als der Hundemann gerade Fleisch holen war, ein unglaublich gut aussehender Sturmvogelmann in einem Kajak vor Talilayuks Camp erschien. Er lud sie ein, zu ihm ins Boot zu steigen, und wie das so geht — sie brannten miteinander durch.«
   »Das Übliche.« Greywolf inspizierte das Objektiv einer Kamera. »Und wann kommen die Wale ins Spiel?«
   »Langsam. — Irgendwann erscheint Talilayuks Vater auf Besuch, aber seine Tochter ist verschwunden, und der Hundemann heult rum. Der Alte rudert auf dem Meer umher, bis er zum Camp des Sturmvogelmannes kommt. Da sieht er sie schon von weitem vor dem Zelt sitzen und macht ein Riesentheater, sie solle sich auf der Stelle nach Hause scheren. Talilayuk steigt folgsam zu Papa ins Boot, und sie paddeln heimwärts. Nach einiger Zeit bemerken sie plötzlich, wie das Meer zu wogen beginnt. Die Wellen werden immer höher, und plötzlich bricht ein gewaltiger Sturm los! Weit und breit kein Land in Sicht. Brecher schlagen ins Boot, und der Alte bekommt es mit der Angst zu tun, sie könnten sinken. Es ist die Rache des Sturmvogels, die über sie gekommen ist, und Papa denkt, deswegen will ich nicht ersaufen. Und weil er ohnehin einen Rochus hat auf seine Tochter, die an dem ganzen Schlamassel schuld ist, packt er Talilayuk und stürzt sie über Bord. Das Mädchen klammert sich verzweifelt an den Bootsrand. Der Alte schreit, lass los, aber Talilayuk klammert sich nur noch fester an die Reling. Da packt ihn der Wahnsinn, er greift zum Beil, holt aus und schlägt ihr die vorderen Fingerglieder ab! Aber kaum berühren die das Wasser, was glaubst du? Sie verwandeln sich in Narwale und die Fingernägel in Narwalstoßzähne. Talilayuk will nicht loslassen, also haut der Alte ihr auch noch die mittleren Fingerglieder ab, und sie werden zu Weißwalen, zu Belugas. Immer noch hängt das Mädchen an der Reling. Die letzten Fingerglieder müssen dran glauben, und es entstehen lauter Robben daraus. Talilayuk gibt nicht auf. Selbst mit ihren Handstümpfen bringt sie es irgendwie noch fertig, sich ans Boot zu klammern, und es beginnt voll zu laufen. Da packt den Alten das Grauen! Er stößt ihr das Paddel mitten ins Gesicht, haut ihr das linke Auge raus, und endlich lässt sie los und versinkt in den Wellen.«
   »Rüde Sitten.«
   »Aber Talilayuk stirbt nicht, jedenfalls nicht richtig. Sie verwandelt sich in die Meeresgöttin Sedna und herrscht seitdem über die Tiere des Meeres. Einäugig gleitet sie durchs Wasser, die Armstümpfe von sich gestreckt, und sie hat immer noch sehr schönes Haar, das sie ohne Hände leider nicht kämmen kann. Darum ist es oft durcheinander, woran man sieht, dass sie zürnt. — Doch wer es schafft, ihr Haar zu kämmen und zu einem Zopf zu flechten, der kann Sedna besänftigen, und dem gibt sie ihre Meerestiere zur Jagd frei.«
   »Als ich klein war, in den langen Winternächten, ist diese Geschichte oft erzählt worden, immer ein bisschen anders«, sagte Anawak leise.
   »Hat sie dir gefallen?«
   »Es hat mir gefallen, dass du sie erzählt hast.«
   Sie lächelte zufrieden. Anawak fragte sich, was sie auf die Idee gebracht hatte, die alte Legende von Sedna für ihn auszugraben. Ihm schien mehr dahinter zu stecken als ein zufälliger Fund im Internet. Sie hatte nach so etwas gesucht. Es war tatsächlich ein Geschenk an ihn. Ein Beweis ihrer Freundschaft.
   Irgendwie war er gerührt.
   »Blödsinn.« Greywolf pfiff den letzten Delphin heran, der noch nicht mit Kamera und Hydrophonen ausgestattet war. »Leon ist ein Mann der Wissenschaft. Dem kannst du mit Meeresgöttinnen nicht kommen.«
   »Euer dämlicher Kleinkrieg«, sagte Delaware kopfschüttelnd.
   »Außerdem stimmt die Geschichte nicht. Wollt ihr wissen, wie wirklich alles entstanden ist? Es gab kein Land. Es gab nur einen Häuptling, der unter Wasser eine Hütte bewohnte. Er war ein fauler Sack, weil er niemals aufstand, sondern immer nur mit dem Rücken zum Feuer lag, in dem irgendwelche Kristalle verbrannten. Er lebte ganz alleine da unten, und sein Name war ›Der Wunderbare Macher‹. Eines Tages kam sein Gehilfe hereingeplatzt und meinte, die Geister und übernatürlichen Wesen fänden kein Land, um sich darauf niederzulassen, und er solle seinem Namen gerecht werden und was dagegen machen. Als Antwort hob der Häuptling zwei Steine vom Boden und gab seinem Gehilfen beide mit der Anweisung, er solle sie ins Wasser werfen. Der tat, wie ihm geheißen, und die Steine wuchsen und formten die Queen Charlotte Islands und das ganze Festland.«
   »Danke«, grinste Anawak. »Endlich mal eine streng wissenschaftliche Erklärung.«
   »Die Erzählung stammt aus einem alten Haida-Zyklus: Hoyá Káganas, die Reisen des Raben«, sagte Greywolf. »Bei den Nootka gibt es ähnliche Geschichten. Viele drehen sich um das Meer. Entweder du entstammst ihm, oder es vernichtet dich.«
   »Vielleicht sollten wir besser hinhören«, meinte Delaware. »Falls wir mit der Wissenschaft nicht weiterkommen.«
   »Seit wann interessierst du dich für Mythen?«, wunderte sich Anawak.
   »Es macht Spaß.«
   »Du bist doch noch empirischer als ich.«
   »Na und? Jedenfalls sagen die Mythen ziemlich klar, wie man friedlich mit der Natur zusammenlebt. Wen interessiert’s, ob ein Wort davon wahr ist? Du nimmst was und gibst was zurück. Das ist die ganze Wahrheit.«
   Greywolf grinste und tätschelte den Delphin. »Dann hätten wir die Probleme ja im Griff, was, Licia? Du musst einfach ein bisschen mehr Körpereinsatz zeigen.«
   »Wieso denn das?«
   »Ich kenne zufällig ein paar alte Bräuche aus der Beringsee. Die haben es wie folgt gemacht: Bevor die Jäger in See stachen, musste der Harpunenwerfer mit der Tochter des Kapitäns schlafen, um ihren Vaginalgeruch anzunehmen. Nur der zog den Wal in die Nähe des Boots und besänftigte ihn, sodass er sich töten ließ.«
   »Auf so was können wirklich nur Männer kommen«, sagte Delaware.
   »Männer, Frauen, Wale …«, lachte Greywolf. »Hishuk ish ts’awalk — Alles ist eins.«
   »Okay«, rief Delaware. »Tauchen wir zum Meeresgrund, suchen Sedna und kämmen ihre Haare.« Alles ist eins, echote es in Anawaks Kopf. Akesuk hatte gesagt: Dieses Problem könnt ihr nicht mit Wissenschaft lösen. Ein Schamane würde dir sagen, dass ihr es mit Geistern zu tun bekommen habt, den Geistern der belebten Welt, die in den Wesen wandern. Die Quallunaat haben begonnen, das Leben zu vernichten. Sie haben die Geister gegen sich aufgebracht, die Meeresgöttin Sedna. Wer immer deine Wesen im Meer sind, ihr werdet nichts erreichen, wenn ihr versucht, gegen sie vorzugehen. Vernichtet sie, und ihr vernichtet euch selber. Begreift sie als Teil von euch, und ihr teilt dieselbe Welt. Der Kampf um die Herrschaft lässt sich nicht gewinnen.
   Hier schwammen sie mit Delphinen, während Roscovitz und Browning ein Stück weiter das Deepflight reparierten, und erzählten einander alte Legenden von Geistern und Meeresgöttinnen. Lachend paddelten sie umher, und ganz allmählich, unmerklich, verloren ihre Körper die Wärme an das Meerwasser, trotz Temperierung und schützender Anzüge.
   Wie sollten sie das Haar der Meeresgöttin kämmen? Bis heute hatten die Menschen nur Toxide und Atommüll nach Sedna geworfen. Eine Ölpest nach der anderen verklebte ihr Haar. Ohne zu fragen, hatten sie ihre Tiere gejagt und viele davon ausgerottet. Anawak spürte sein Herz klopfen im eisigen Wasser. Ihn fröstelte. Etwas sagte ihm, dass dieser Moment des Glücks von kurzer Dauer sein würde. Er hatte seinen Frieden mit so vielem gemacht, hatte Freunde gewonnen, fühlte sich befreit vom Ballast falsch verstandenen Daseins.
   Dumpf überkam ihn die Ahnung, dass soeben etwas zu Ende ging. Nie wieder würden sie so zusammenkommen.
   Greywolf überprüfte den Sitz des Geschirrs am sechsten und letzten Tier der Staffel und nickte befriedigt.
   »In Ordnung«, sagte er. »Lassen wir sie raus.«
 
Hochsicherheitslabor
 
   »Ich blöde Kuh. Ich muss blind gewesen sein!«
   Oliviera starrte den Bildschirm an, auf dessen Oberfläche das Fluoreszenzmikroskop die Vergrößerung der Probe übertrug. In Nanaimo hatte sie die Gallerte mehrfach untersucht, beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war, nachdem sie das Zeug aus den Hirnen der Wale gepult hatten. Auch den Fetzen, der nach dem Tauchgang unter der Barrier Queen an Anawaks Messer hängen geblieben war, hatte sie unter die Lupe genommen. Aber nie wäre sie auf die Idee gekommen, von einer zerfallenden Substanz auf einen Zusammenschluss aus Einzellern zu folgern.
   Es war geradezu peinlich!
   Dabei hätte sie es längst schon wissen können. Aber in der Pfiesteria -Hysterie hatten alle nur noch Killeralgen vor Augen gehabt. Selbst Roche war entgangen, dass die zerflossene gallertige Substanz gar nicht verschwunden, sondern auf dem Objektträger seines Mikroskops zu sehen gewesen war, die ganze Zeit über, in Gestalt einzelliger, toter oder sterbender Organismen. Im Innern der Hummer und Krabben war bereits alles vertreten gewesen, und alles hatte sich miteinander gemischt, Killeralgen, Gallerte — und Meerwasser.
   Meerwasser!
   Vielleicht wäre Roche der fremdartigen Substanz auf die Schliche gekommen, hätte nicht ein einziger Tropfen davon Universen an Lebensformen beherbergt. Jahrhundertelang hatte man vor lauter Fischen, Säugern und Crustaceen 99 Prozent des marinen Lebens schlicht übersehen. In Wahrheit beherrschten nicht Haie, Wale und Riesenkraken die Ozeane, sondern Heerscharen mikroskopischer Winzlinge. In einem einzigen Liter Oberflächenwasser wuselten Dutzende Milliarden Viren, eine Milliarde Bakterien, fünf Millionen tierische Einzeller und eine Million Algen bunt durcheinander. Selbst Wasserproben aus der lichtlosen und lebensfeindlichen Tiefe jenseits 6000 Meter förderten noch Millionen Viren und Bakterien zutage. In dem Getümmel die Übersicht zu behalten, war so gut wie aussichtslos. Je tiefer die Forschung vordrang in den Kosmos des Allerkleinsten, desto unüberschaubarer bot er sich dar. Meerwasser? Was sollte das sein? Ein genauer Blick durch ein modernes Fluoreszenzmikroskop legte den Schluss nahe, es eher mit einer Art dünnem Gel zu tun zu haben. Wie Hängebrücken durchzog ein Flechtwerk untereinander verknüpfter Makromoleküle jeden Tropfen. Zwischen Bündeln transparenter Fäden, Häutchen und Filme fanden unzählige Bakterien ihre ökologische Nische. Um zwei Kilometer ausgespannter DNS-Moleküle, 310 Kilometer Proteine und 5600 Kilometer Polysaccharide zu messen, brauchte man eben mal einen Milliliter. Und irgendwo dazwischen verbargen sich die Mitglieder einer möglicherweise intelligenten Lebensform. Sie verbargen sich, indem sie sich offen präsentierten als Allerweltsmikroben. So bizarr sich die Gallerte ausnahm, bestand sie keineswegs aus exotischen Lebewesen, sondern aus hundsordinären Tiefseeamöben.
   Oliviera stöhnte auf.
   Es lag offen zutage, warum Roche nichts begriffen hatte, sie selber nicht, keiner der Leute, die das Wasser aus dem Trockendock analysiert hatten. Niemand war auf die Idee gekommen, Tiefseeamöben könnten zu Kollektiven verschmelzen, die Krabben und Wale steuerten.
   »Es kann nicht sein«, beschied Oliviera.
   Ihre Worte klangen seltsam kraftlos. Ohne Nachhall blieben sie unter der Haube ihres Schutzanzugs stecken. Erneut verglich sie die taxonomischen Resultate miteinander, aber es änderte nichts an dem, was sie schon wusste. Augenscheinlich setzte sich die Gallerte aus Vertretern einer Amöbenart zusammen. Wissenschaftlich beschrieben. Eine Spezies, die größtenteils unterhalb von 3000 Metern vorkam und bisweilen höher, und das in unvorstellbaren Massen.
   »Blödsinn«, zischte Oliviera. »Du verarschst mich doch, Kleines. Hast dich verkleidet. Siehst aus wie eine Amöbe. Ich glaub dir nichts, ich glaub dir gar nichts! Was zum Teufel bist du wirklich?«
 
DNA
 
   Nach Johansons Rückkehr machten sie sich gemeinsam daran, einzelne Zellen der Gallerte zu isolieren. Ohne Unterlass vereisten und erhitzten sie die Amöben, bis die Zellwände platzten. Nach Zugabe von Proteinase zerbrachen die Eiweißmoleküle in Ketten von Aminosäuren. Sie mischten Phenol bei und zentrifugierten die Proben, ein aufwändiges und langwieriges Procedere, befreiten die Lösung von Eiweißtrümmern und Zellwandbestandteilen, nahmen die Fällung vor und erhielten endlich eine wenig klare, wässrige Flüssigkeit, den Schlüssel zum Verständnis des fremden Organismus.
   Reine DNA-Lösung.
   Der zweite Schritt forderte ihre Geduld noch mehr. Um die DNA zu entschlüsseln, mussten sie Teile davon isolieren und vervielfältigen. Als Ganzes war das Genom nicht lesbar, weil zu komplex, also stürzten sie sich in Sequenzanalysen bestimmter Teilabschnitte.
   Es war eine Heidenarbeit, und von Rubin hieß es, er sei krank.
   »Dieses Arschloch«, schimpfte Oliviera. »Jetzt hätte er wirklich helfen können. Was fehlt ihm überhaupt?«
   »Migräne«, sagte Johanson.
   »Der Gedanke hat allerdings was Tröstliches. Migräne tut weh.«
   Oliviera pipettierte die Proben in die Sequenziermaschine. Es würde einige Stunden dauern, sie durchzurechnen. Einstweilen konnten sie nichts tun, also ließen sie den obligatorischen Säureregen über sich ergehen und traten aufatmend ins Freie. Oliviera schlug eine Zigarettenpause auf dem Hangardeck vor, solange die Maschine rechnete, aber Johanson hatte eine bessere Idee. Er verschwand in seiner Kabine und kehrte fünf Minuten später mit zwei Gläsern und einer Flasche Bordeaux zurück.
   »Gehen wir«, sagte er.
   »Wo haben Sie die denn aufgetrieben?«, staunte Oliviera, während sie die Rampe emporschritten.
   »So was treibt man nicht auf«, schmunzelte Johanson. »So was bringt man mit. Ich bin ein Meister im Mitführen verbotener Dinge.«
   Sie beäugte neugierig die Flasche.
   »Ist der gut? Ich verstehe nicht so furchtbar viel davon.«
   »Ein 90er Chateau Clinet. Pomerol. Lockert den Geldbeutel und die Gesinnung.« Johanson erspähte eine metallene Kiste neben einem der Spantenbüros und hielt darauf zu. Sie setzten sich. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Ihnen gegenüber klaffte das Tor zur Steuerbordplattform und gab den Blick frei aufs Meer. Ruhig und glatt erstreckte es sich im Dämmer der polaren Nacht, überzogen von Schleiern aus Dunst und Frost, eisfrei. Es war kalt im Hangar, aber nach den vielen Stunden im Hochsicherheitslabor brauchten sie dringend frische Luft. Johanson entkorkte die Flasche, goss ein und stieß sein Glas leicht gegen ihres. Ein helles Ping verlor sich in der düsteren Weite.
   »Schmeckt!«, beschied Oliviera.
   Johanson schmatzte mit den Lippen.
   »Ich habe ein paar Flaschen für besondere Anlässe mitgenommen«, sagte er. »Und das ist ein besonderer Anlass.«
   »Sie glauben, wir kommen diesen Dingern auf die Spur?«
   »Vielleicht sind wir es ja schon.«
   »Den Yrr?«
   »Tja, das ist die Frage. Was haben wir da im Tank? Kann man sich eine Intelligenz vorstellen, die aus Einzellern besteht? Aus Amöben?«
   »Wenn ich mir die Menschheit so anschaue, frage ich mich bisweilen, was uns sonderlich von Amöben unterscheidet.«
   »Komplexität.«
   »Ist das von Vorteil?«
   »Was glauben Sie?«
   Oliviera zuckte die Achseln. »Was soll schon einer glauben, der sich seit Jahren mit nichts anderem als Mikrobiologie beschäftigt. Ich habe keinen Lehrstuhl wie Sie. Ich tausche mich nicht mit zornigen jungen Studenten aus, teile mich keiner breiten Öffentlichkeit mit, leide unter mangelnder Distanz zu mir selber. Eine Laborratte in Menschengestalt. Wahrscheinlich trage ich Scheuklappen, aber ich sehe überall nur Mikroorganismen. Wir leben im Zeitalter der Bakterien. Seit über drei Milliarden Jahren behalten sie ihre Form unverändert bei. Menschen sind eine Modeerscheinung, aber wenn die Sonne explodiert, wird es immer noch irgendwo ein paar Mikroben geben. Sie sind das wahre Erfolgsmodell des Planeten, nicht wir. Ich weiß nicht, ob Menschen Vorteile gegenüber Bakterien haben, aber wenn wir jetzt noch den Beweis erbringen, dass Mikroben Intelligenz besitzen, stecken wir meines Erachtens ganz tief in der Scheiße.«
   Johanson nippte an seinem Glas.
   »Ja, es wäre fatal. Alleine, was die christlichen Kirchen ihren Gläubigen zu erklären hätten. Dass Gottes Schöpfung ihren Höhepunkt am fünften Tag hatte und nicht am siebten.«
   »Darf ich Sie was Persönliches fragen?«
   »Sicher.«
   »Wie kommen Sie eigentlich mit alldem hier klar?«
   »Solange es ein paar seltene Bordeaux gibt, sehe ich keine nennenswerten Schwierigkeiten.«
   »Empfinden Sie keine Wut?«
   »Auf wen?«
   »Auf die da unten.«
   »Sollten wir dieses Problem mit Wut lösen?«
   »Keineswegs, o Sokrates!« Oliviera grinste schief. »Es interessiert mich wirklich. Ich meine, die haben Ihnen Ihr Zuhause genommen.«
   »Ja. Einen Teil davon.«
   »Vermissen Sie es nicht schrecklich? Ihr Haus in Trondheim.«
   Johanson schwenkte den Inhalt seines Glases.
   »Weniger, als ich dachte«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. »Sicher, es war ein wunderschönes Haus, voller wunderbarer Sachen — aber es enthielt nicht mein Leben. Man ist verblüfft, wie leicht man sich von so einem Weinkeller lösen kann und von einer gut sortierten Bibliothek. Außerdem, so merkwürdig es klingt, ich hatte beizeiten losgelassen. Am Tag, als ich auf die Shetlands flog, muss ich mich wohl von meinem Haus verabschiedet haben, irgendwie, ohne es zu merken. Ich hab die Türe geschlossen und bin weggefahren, und in meinem Kopf war ebenfalls etwas abgeschlossen. Ich dachte, wenn du jetzt sterben müsstest, was würdest du am meisten vermissen? — Und es war nicht das Haus. Nicht dieses.«
   »Gibt es noch eines?«
   »Ja.« Johanson trank. »An einem See im Hinterland. Wenn man dort auf der Veranda sitzt und aufs Wasser schaut, Sibelius oder Brahms im Ohr, ein Schluck von diesem Zeug hier … das ist ganz was anderes. Diesen Platz vermisse ich wirklich.«
   »Klingt schön.«
   »Wissen Sie, warum ich das alles hier heil überstehen möchte? Um dorthin zurückzukehren.« Johanson griff nach der Flasche und füllte ihre Gläser auf. »Sie müssen dort gewesen sein und den Abendstern gesehen haben, wie er sich im Wasser spiegelt. Das vergessen Sie nicht. Ihre ganze Existenz bündelt sich in diesem einsamen Funkeln. Das Universum wird nach beiden Seiten durchlässig. — Eine außerordentliche Erfahrung, aber man kann sie nur alleine machen.«
   »Sind Sie nochmal dort gewesen nach der Welle?«
   »Nur in der Erinnerung.«
   Oliviera trank.
   »Ich hatte Glück bis jetzt«, sagte sie. »Keine Verluste zu beklagen. Freunde und Familie wohlauf, alles steht noch.« Sie hielt inne und lächelte. »Dafür hab ich kein Haus am See.«
   »Jeder hat ein Haus am See.«
   Es schien ihr, als wolle Johanson noch etwas hinzufügen. Stattdessen ließ er einfach nur den Wein in seinem Glas kreisen. So saßen sie da, tranken Bordeaux und sahen zu, wie der Dunst übers Meer zog.
   »Ich habe eine Freundin verloren«, sagte Johanson schließlich.
   Oliviera schwieg.
   »Sie war ein bisschen kompliziert. Hat alles im Laufschritt gemacht.« Er lächelte. »Komisch, eigentlich haben wir uns erst so richtig gefunden, nachdem wir einander aufgegeben hatten. Na ja. Lauf der Dinge.«
   »Das tut mir Leid«, sagte Oliviera leise.
   Johanson nickte. Er sah sie an und dann an ihr vorbei. Sein Blick bekam etwas Starres. Oliviera runzelte die Stirn und wandte den Kopf.
   »Ist irgendwas?«
   »Ich hab Rubin da gesehen.«
   »Wo?«
   »Da drüben.« Johanson zeigte zur mittschiffs gelegenen Wand des Hangars. »Er ist da reingegangen.«
   »Reingegangen? Da ist nichts, wo man reingehen könnte.«
   Das Ende der Halle lag in düsterem Zwielicht. Eine mehrere Meter hohe Wand schottete den Hangar zu den dahinter liegenden Decks ab. Oliviera hatte Recht. Nirgendwo dort gab es eine Tür.
   »Ist vielleicht was in dem Wein?«, frotzelte sie.
   Johanson schüttelte den Kopf. »Ich könnte schwören, dass es Rubin war. Er tauchte kurz auf und war verschwunden.«
   »Da sind Sie ganz sicher?«
   »Ziemlich sicher.«
   »Hat er uns gesehen?«
   »Kaum. Wir sitzen hier im schattigen Eckchen. Er hätte schon sehr genau hinschauen müssen.«
   »Fragen wir ihn doch einfach, wenn er wieder auf dem Damm ist.«
   Johanson sah weiterhin zur Wand. Dann zuckte er die Achseln.
   »Ja. Fragen wir ihn.«
   Als sie zurück ins Labor gingen, hatten sie die Flasche Bordeaux zur Hälfte geleert, aber Oliviera fühlte sich nicht im Mindesten betrunken. Irgendwie wirkte das Zeug nicht in der kalten Luft. Sie war nur wunderbar beschwingt und von dem Gedanken beseelt, phantastische Entdeckungen zu machen.
   Und die machte sie auch.
   Im Hochsicherheitslabor hatte die Maschine ihre Arbeit beendet. Sie ließen sich das Ergebnis auf die Computerkonsole außerhalb des Labors legen. Der Bildschirm zeigte eine Reihe von Basensequenzen. Olivieras Pupillen bewegten sich im Zickzack hin und her, während sie die Zeilen von oben nach unten durchging, und mit jeder Zeile sackte ihr Unterkiefer ein weiteres Stück nach unten.
   »Das gibt’s doch nicht«, sagte sie leise.
   »Was gibt’s nicht?« Johanson beugte sich über ihre Schulter. Er las es. Zwischen seinen Brauen bildeten sich zwei steile Falten. »Sie sind alle unterschiedlich!«
   »Ja.«
   »Unmöglich! Identische Wesen haben identische DNA.«
   »Wesen einer Spezies — ja.«
   »Aber das sind Wesen einer Spezies.«
   »Die natürliche Mutationsrate …«
   »Vergessen Sie’s!« Johanson wirkte fassungslos. »Die ist weit überschritten. Das da sind unterschiedliche Wesen, allesamt! Keine DNA ist exakt wie die andere.«
   »Auf jeden Fall sind es keine normalen Amöben.«
   »Nein. An denen ist überhaupt nichts normal.«
   »Was dann?«
   Er starrte auf die Ergebnisse.
   »Ich weiß es nicht.«
   »Ich auch nicht.« Oliviera rieb sich die Augen. »Ich weiß nur eines. Dass in der Flasche noch was drin ist. Und dass ich es jetzt brauchen könnte.«
 
Johanson
 
   Eine Weile surfte sie durch die Datenbanken, um die Sequenzanalyse der Gallert-DNA mit anderswo beschriebenen Analysen zu vergleichen. Direkt zu Anfang stieß Oliviera auf ihren eigenen Befund vom Tag, als sie das Zeug in den Walköpfen untersucht hatte. Damals hatte sie keine Unterschiede in der Abfolge der Basenpaare feststellen können.
   »Ich hätte mehr von diesen Zellen untersuchen müssen«, fluchte sie.
   Johanson schüttelte den Kopf.
   »Vielleicht wären Sie auch dann nicht drauf gestoßen.«
   »Dennoch!«
   »Wie hätten Sie ahnen sollen, dass wir es mit Verschmelzungen von Einzellern zu tun haben. Kommen Sie, Sue, das ist müßig. Denken Sie vorwärts.«
   Oliviera seufzte. »Ja, Sie haben Recht.«
   Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Okay, Sigur. Gehen Sie schlafen. Es reicht, wenn sich einer die Nacht um die Ohren schlägt.«
   »Und Sie?«
   »Ich mache weiter. Ich will wissen, ob dieses DNA-Chaos schon anderswo beschrieben wurde.«
   »Wir können uns die Arbeit teilen.«
   »Auf keinen Fall.«
   »Es macht mir nichts aus.«
   »Wirklich, Sigur! Hauen Sie sich aufs Ohr. Sie brauchen Ihren Schönheitsschlaf, ich nicht. Als ich vierzig wurde, hat mir die Natur Falten und Tränensäcke verpasst. Bei mir macht’s keinen Unterschied, ob ich wach oder müde aus der Wäsche gucke. Gehen Sie, und nehmen Sie den Rest Ihres köstlichen Rotweins mit, bevor ich meine wissenschaftliche Objektivität damit vertrinke.«
   Johanson hatte den Eindruck, als wolle sie die Sache lieber allein durchfechten. Sie war unzufrieden mit sich selber. Natürlich hatte sie nicht die geringste Veranlassung, sich etwas vorzuwerfen, aber vermutlich tat er besser daran, sie in Ruhe zu lassen.
   Er nahm die Flasche und verließ das Labor.
   Draußen stellte er fest, dass er kein bisschen müde war. Jenseits des Polarkreises ging die Zeit verloren. Die vorherrschende Helligkeit dehnte den Tag zur Endlosschleife, unterbrochen von wenigen Stunden Dämmerlicht. Soeben kroch die Sonne, den Blicken entzogen, dicht unter dem Horizont dahin. Mit etwas gutem Willen ließ sich das als Nacht bezeichnen. Psychologisch die beste Gelegenheit, schlafen zu gehen.
   Aber Johanson hatte keine Lust.
   Stattdessen stapfte er die Rampe hinauf.
   Die Ausmaße des riesigen Hangardecks verloren sich in kubistischen Schatten. Immer noch war niemand zu sehen. Er warf einen Blick auf die Stelle, wo sie die Flasche geöffnet hatten, und fand die Kiste in der Dunkelheit verborgen.
   Rubin konnte sie nicht gesehen haben.
   Aber er hatte Rubin gesehen!
   Wozu schlafen? Er sollte sich diese Wand noch einmal ansehen.
   Zu seiner Enttäuschung und Verwunderung blieb die Inspektion ergebnislos. Mehrfach schritt er sie ab, fuhr mit den Fingern über die vernieteten Stahlplatten, über Rohre und Kästen, aber Oliviera schien Recht zu behalten. Er musste einer Täuschung zum Opfer gefallen sein. Da war nichts, weder eine Tür noch irgendeine Form von Durchgang.
   »Ich täusche mich aber nicht«, sagte er leise zu sich selber.
   Sollte er doch schlafen gehen? Aber dann würde ihm die Sache im Kopf umherwandern. Vielleicht empfahl es sich, jemanden zu fragen. Li zum Beispiel oder Peak, Buchanan oder Anderson. Aber was, wenn er sich tatsächlich getäuscht hatte?
   Irgendwie peinlich.
   Du bist Forscher, dachte er trotzig. Dann forsche.
   Ohne Eile zog er sich in den heckwärtigen Teil des Hangars zurück, setzte sich auf die Kiste, die Oliviera und ihm als provisorische Kneipe gedient hatte, und wartete. Der Platz war nicht schlecht. Selbst wenn man am Ende zu der Einsicht gelangte, dass migränegeplagte Kollegen nicht durch Wände gingen, ließ es sich hier eine Weile aushalten mit Blick auf die See.
   Er trank einen Schluck aus der Flasche.
   Der Bordeaux erwärmte ihn. Seine Augenlider begannen schwerer zu werden. Mit jeder Minute legten sie einige Gramm zu, bis er sie kaum noch offen halten konnte. Tatsächlich war er doch müde, nur dass Johanson zu den Menschen zählte, die sich weigerten, der Natur Verfügungsgewalt über ihren Körper zu geben. Irgendwann, als nichts mehr in der Flasche war, dämmerte er schließlich weg, und sein Geist trieb hinaus auf die dunstbedeckte grönländische See.
   Ein leises, metallisches Geräusch schreckte ihn auf.
   Zuerst wusste er nicht, wo er war. Dann spürte er die Stahlwand des Hangars schmerzhaft im Kreuz. Über dem Meer hatte sich der Himmel aufgehellt. Er rappelte sich hoch und sah zur Wand hinüber.
   Ein Teil davon stand offen.
   Benommen rutschte Johanson von seiner Kiste. Da hatte sich ein Tor aufgetan, vielleicht drei Meter im Quadrat.
   Leuchtend hob es sich gegen den dunklen Stahl ab.
   Sein Blick wanderte zu der leeren Flasche auf der Kiste.
   Träumte er?
   Langsam begann er, auf das helle Quadrat zuzugehen.
   Im Näherkommen erkannte er, dass dort ein Gang mit nackten Wänden mündete. Neonröhren verstrahlten kaltes Licht. Nach wenigen Metern stieß der Gang gegen eine Wand und knickte seitlich ab.
   Johanson spähte ins Innere und lauschte.
   Von jenseits erklangen Stimmen und Geräusche. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Er überlegte, ob es nicht besser wäre, schnellstmöglich von hier zu verschwinden. Immerhin befand er sich auf einem Kriegsschiff. Irgendeine Funktion würde der Bereich schon haben. Etwas, das man Zivilisten nicht unbedingt auf die Nase band.
   Dann dachte er an Rubin.
   Nein! Wenn er jetzt das Weite suchte, würde ihm nur pausenloses Grübeln bevorstehen.
   Rubin war hier gewesen!
   Johanson ging hinein.
 

14. August

Heerema, vor La Palma, Kanaren
 
   Bohrmann versuchte, das schöne Wetter zu genießen, aber es gab nichts zu genießen. Nicht mit Millionen Würmern vierhundert Meter unter sich und Abermilliarden Bakterien, die sich in beängstigend kurzer Zeit ihren Weg durch die feinen Hydratverästelungen im Vulkankegel La Palmas bahnten.
   Er ging über die Plattform zum Haupthaus. Die Heerema war ein Halbtaucher, eine schwimmende Plattform von mehrfacher Fußballfeldgröße. Das rechteckige Deck ruhte auf sechs quer verstrebten Säulen, die massigen Pontons entwuchsen. Auf dem Trockenen glich die Insel einem überdimensionierten, plumpen Katamaran. Jetzt waren die Pontons teilgeflutet und nicht zu sehen unter der Wasseroberfläche. Nur ein Teil der sechs Säulen ragte aus den Wellen. Mit 21 Meter Tiefgang und einer Verdrängung von über 100000 Tonnen befand sich die schwimmende Insel in einer äußerst stabilen Position. Halbtaucher steckten selbst in schweren Stürmen die leidigen Tauch— und Stampfbewegungen weg. Vor allem waren sie wendig und vergleichsweise schnell. Zwei Düsenpropeller befähigten die Heerema zu einer Transitgeschwindigkeit von immerhin sieben Knoten, mit denen sie sich in den vergangenen Wochen von Namibia nach La Palma hochgearbeitet hatte. Im Heck lag ein zweistöckiges Gebäude, das Mannschaftsquartiere, Messe und Küche, Brücke und Kontrollraum in sich vereinte. Frontseitig ragten zwei gewaltige Kräne in die Höhe. Jeder davon hob 3000 Tonnen. Über den rechten Kran wurde der Saugrüssel in die Tiefe gelassen, der andere senkte das dazugehörige Beleuchtungssystem ab, eine separate Einheit mit integrierten Kameras. Vier Leute in den hoch gelegenen Führerhäusern waren ausschließlich damit befasst, Rüssel und Lichtinsel zu koordinieren und zu steuern.
   »Gärraad!«
   Frost kam von einem der Kräne zu ihm herübergelaufen. Bohrmann hatte ihm angeboten, ihn der Einfachheit halber Gerd zu nennen, aber Frost bestand in breitestem Texanisch auf der korrekten Form. Gemeinsam betraten sie das Heckgebäude und den abgedunkelten Kontrollraum. Einige Leute aus Frosts Team und Techniker von De Beers waren anwesend, auch Jan van Maarten. Der Technische Leiter hatte innerhalb kürzester Zeit das versprochene Wunder vollbracht. Der erste Tiefseewurmstaubsauger der Menschheitsgeschichte war einsatzbereit.
   »Gut, Leute«, trompetete Frost, während sie hinter den Technikern Aufstellung nahmen. »Der Herr sei mit uns. Wenn das hier klappt, nehmen wir uns Hawaii vor. Gestern war ein Roboter unten und entdeckte an der Südostflanke Gewürm in rauen Mengen. Danach brach die Verbindung ab. Auch andere Vulkaninseln werden gezielt attackiert, ganz wie ich’s mir dachte. Aber dem Bösen keine Chance! Wir putzen sie weg mit unserem Rüssel. Wir säubern die ganze Welt von dem Geschmeiß!«
   »Schöne Idee«, sagte Bohrmann leise. »Wir haben hier ein überschaubares Gebiet. Willst du mit dieser einen Konstruktion den kompletten amerikanischen Kontinentalhang säubern?«
   »Quatsch!« Frost sah ihn erstaunt an. »Hab ich doch nur wegen der Motivation gesagt.«
   Bohrmann hob die Brauen und richtete seine Blicke wieder auf die Monitore. Er hoffte, dass die ganze Sache überhaupt funktionierte. Selbst wenn sie die Würmer da unten wegbekamen, stand immer noch die Frage im Raum, wie viele der Bakterienkonsortien schon ins Eis gelangt waren. Insgeheim quälte ihn die Sorge, dass es längst zu spät war, den Absturz des Cumbre Vieja zu verhindern. Nachts träumte er von einem gigantischen Wasserdom, der sich bis in die Wolken hob und über den Ozean auf ihn zu raste, und er wachte jedes Mal schweißgebadet auf. Dennoch übte sich Bohrmann in Optimismus. Es würde schon klappen. Und vielleicht schafften sie es ja an Bord der Independence, die unbekannte Macht zum Einlenken zu bewegen. Wenn die Yrr zur Zerstörung eines ganzen Abhangs fähig waren, konnten sie ihn wohl auch wieder reparieren.
   Frost hielt eine weitere flammende Ansprache gegen alle Feinde der Menschheit und lobte das De-Beers-Team über den grünen Klee. Dann gab er das Zeichen, den Rüssel und die Lichtinsel runterzulassen.
   Die Lichtinsel war ein mehrfach gefalteter, gigantischer Flutlichtstrahler. Im Augenblick, da sie am Kranausleger über den Wellen hing, bildete sie ein kompaktes Bündel aus Stangen und Streben, zehn Meter lang und angefüllt mit Leuchten und Kameraobjektiven. Nun wurde sie abgesenkt und verschwand im Meer, über Glasfaser mit der Heerema verbunden. Nach zehn Minuten blickte Frost auf die Anzeige des Tiefenmessers und sagte: »Stopp.« Van Maarten gab den Befehl an den Piloten weiter. »Aufklappen«, fügte er hinzu. »Erst mal halbe Fläche.
   Wenn wir nirgendwo anecken, komplett.« In vierhundert Metern Tiefe vollzog sich eine elegante Metamorphose. Das Bündel entfaltete sich zu einer filigranen Konstruktion. Als die Gestänge keinen Widerstand fanden, klappte die Insel weiter auseinander, bis ein gitterartiges Element von den Ausmaßen eines halben Fußballfeldes in der Tiefe hing.
   »Einsatzbereit«, meldete der Pilot.
   Frost warf einen Blick auf die Instrumente. »Wir müssten dicht vor einer Wand sein.«
   »Beleuchtung und Kameras«, befahl van Maarten.
   An der Konstruktion flammten Reihen um Reihen starker Halogenlampen auf. Zugleich nahmen die acht Kameras ihre Arbeit auf und übertrugen ein trübes Panorama auf den Monitor. Plankton trieb durchs Bild.
   »Näher ran«, sagte van Maarten.
   Das Flutlichtelement rückte, von kleinen, schwenkbaren Propellern angetrieben, langsam vor. Nach wenigen Minuten schälte sich eine schartige Struktur aus der Dunkelheit. Im Näherkommen wurde sie zu einer schwarzen, bizarr geformten Lavawand.
   »Runter.«
   Die Insel sank weiter. Der Pilot navigierte mit äußerster Vorsicht, bis das Sonar einen terrassenförmigen Vorsprung anzeigte. Übergangslos tauchte zum Greifen nah ein breiter Grat auf. Die Oberfläche war übersät mit zuckenden Leibern. Bohrmann starrte auf die acht Monitore und fühlte Mutlosigkeit in sich aufsteigen. Hier begegnete er dem Alptraum wieder, der ihn seit dem Kollaps des norwegischen Kontinentalhangs begleitete. Wenn es überall so aussah wie auf diesen 40 Metern, die das Lichtelement der Dunkelheit abtrotzte, konnten sie ebenso gut wieder fahren.
   »Miese kleine Dreckswürmer«, knurrte Frost.
   Wir sind zu spät gekommen, dachte Bohrmann.
   Dann schämte er sich seiner Angst. Es war nicht gesagt, dass die Würmer ihre Bakterienfracht schon vollständig entladen hatten und ob es überhaupt genug waren. Außerdem gab es da noch diesen rätselhaften Faktor, der die Rutschung letztendlich ausgelöst hatte. Es war nicht zu spät. Sie würden sich nur fürchterlich beeilen müssen.
   »Na schön«, sagte Frost. »Kippen wir die Insel um 45 Grad und heben sie ein Stück an, um bessere Draufsicht zu erhalten. Und dann runter mit dem Rüssel. Ich hoffe, das Ding hat ordentlich Appetit.«
   »Es hat einen Mordshunger«, sagte van Maarten.
   Voll ausgefahren, reichte der Saugrüssel einen halben Kilometer in die Tiefe, ein segmentiertes, kautschukisoliertes Ungetüm von drei Metern Durchmesser, das in einem schlundartigen Maul endete. Rings um das Maul waren Scheinwerfer, zwei Kameras und mehrere schwenkbare Propeller angebracht. Per Fernsteuerung konnte das Ende des Rüssels hoch und runter, vorwärts, rückwärts und seitwärts navigiert werden. Im Pilotenstand liefen die Kamerabilder von Lichtinsel und Rüssel zusammen und boten einen großzügigen Blick auf Panorama und Details. Ungeachtet der guten Sicht erforderte die Arbeit mit den Joysticks Fingerspitzengefühl und einen Copiloten, der aufpasste, dass der Steuermann nichts übersah.