»Wollen Sie damit sagen, Sie haben alles im Griff?«
   »Wir arbeiten dran.«
   »Einige meinen, Sie versagen.«
   »Ich weiß nicht, was die Leute von uns erwarten. Der Staat wird kaum mit Kriegsschiffen und Black Hawks gegen Wale zu Felde ziehen.«
   »Wir hören täglich von neuen Opfern. Die kanadische Regierung jedenfalls hat sich bislang darauf beschränkt, die Gewässer vor British Columbia zur Krisenregion zu erklären …«
   »Für Kleinschiffe. Der normale Fracht-und Fährenverkehr ist nicht betroffen.«
   »Hat es in jüngster Vergangenheit nicht wiederholt Meldungen über das Verschwinden von Schiffen gegeben?«
   »Noch einmal: Das waren Fischerboote, kleine Motorschiffe«, erklärte Li im Tonfall unendlicher Geduld. »Es kommt immer wieder zum Verlust von Schiffen. Wir gehen diesen Berichten nach. Selbstverständlich wird mit allem Aufwand nach Überlebenden gesucht. Ich möchte dennoch davor warnen, jeden ungeklärten Vorfall auf hoher See sofort mit Tierattacken in Verbindung zu setzen.«
   Der Moderator rückte seine Brille zurecht. »Helfen Sie mir, sollte ich mich irren — aber gab es da nicht auch die Havarie eines Großfrachters der Inglewood -Reederei in Vancouver, in deren Verlauf ein Hochseeschlepper sank?«
   Li legte die Fingerspitzen aufeinander. »Sie meinen die Barrier Queen
   Der Moderator warf einen Blick auf die Notizen in seiner Rechten. »Korrekt. Es ist so gut wie nichts darüber bekannt geworden.«
   »Natürlich nicht«, entfuhr es Anawak.
   Er hatte es gewusst. Er hatte nur vergessen, in den letzten beiden Tagen mit Shoemaker darüber zu sprechen.
   »Die Barrier Queen«, sagte Li, »hatte einen Schaden am Ruderblatt. Ein Schlepper sank durch ein falsch durchgeführtes Ankopplungsmanöver.« »Nicht als Folge eines Angriffs? Meine Notizen …« »Ihre Notizen sind falsch.« Anawak erstarrte. Was zum Teufel redete diese Frau da? »Nun, General, können Sie uns wenigstens etwas über den Absturz eines Wasserflugzeugs der Tofino Air vor zwei Tagen sagen?« »Ein Flugzeug ist abgestürzt, ja.« »Es ist angeblich mit einem Wal kollidiert.«
   »Wir untersuchen auch diesen Vorfall. Verzeihen Sie, wenn ich nicht zu jedem Ereignis Stellung beziehen kann, aber meine Arbeit ist eher übergeordneter Natur …«
   »Natürlich.« Der Moderator nickte. »Also reden wir über Ihre Position. Was umfasst Ihre Arbeit? Wie muss man sich das vorstellen? Augenblicklich können Sie ja offenbar nur reagieren.«
   Ein Anflug von Belustigung zuckte über Lis Gesichtszüge. »Es liegt nicht in der Natur von Krisenstäben, ausschließlich zu reagieren, wenn ich das sagen darf. Wir nehmen Krisenlagen auf, führen und wickeln sie ab. Das beinhaltet Früherkennung, vollständige und klare Darstellung, Prävention, Evakuierung, all das. — Aber wie ich schon sagte, haben wir es hier mit etwas Neuem zu tun. Vorsorge und Früherkennung waren sicher nicht in dem Maße möglich wie in vertrauteren Szenarien. Alles andere haben wir im Griff. Kein Schiff fährt noch hinaus aufs Meer, dem die Tiere gefährlich werden könnten. Wichtige Transporte gefährdeter Schiffe haben wir auf den küstennahen Flugverkehr umgelegt. Größere Schiffe erhalten militärisches Geleit, wir betreiben eine lückenlose Luftüberwachung und haben umfangreiche Mittel bewilligt zur wissenschaftlichen Erforschung.«
   »Sie haben militärische Gewalt ausgeschlossen …«
   »Nicht ausgeschlossen. Relativiert.«
   »Umweltschützer meinen, die Verhaltensänderungen seien auf zivilisatorische Einflüsse zurückzuführen. Lärm, Gifte, Seeverkehr …«
   »Wir sind auf dem besten Wege, es herauszufinden.«
   »Und wie weit sind Sie?«
   »Ich wiederhole: Wir werden uns nicht in Spekulationen ergehen, solange keine konkreten Resultate vorliegen, und wir werden auch niemandem gestatten, es zu tun. Ebenso wenig werden wir aufgebrachten Fischern, der Industrie, Reedereien, Whale-Watching-Firmen oder Anhängern des Walfangs erlauben, die Situation eigenmächtig in die Hand zu nehmen und möglicherweise eskalieren zu lassen. Wenn Tiere angreifen, sind sie entweder in die Enge getrieben oder krank. In beiden Fällen ist es unsinnig, Gewalt gegen sie anzuwenden. Wir müssen zu den Ursachen vorstoßen, dann werden die Symptome verschwinden. Und so lange werden wir halt das Wasser meiden.«
   »Danke, General.«
   Der Moderator wandte sein Gesicht in die Kamera.
   »Das war General Commander Judith Li von der US Navy, die seit wenigen Tagen als Militärische Leiterin der Vereinigten Krisenstäbe und Untersuchungskommissionen von Kanada und den USA amtiert. Und jetzt weitere Nachrichten vom Tage.«
   Anawak stellte den Fernseher leiser und rief John Ford an. »Wer zum Teufel ist diese Judith Li?«, fragte er.
   »Oh, ich habe sie noch nicht persönlich kennen gelernt«, erwiderte Ford. »Sie fliegt ständig durch die Gegend.«
   »Ich wusste nichts davon, dass Kanada und die USA ihre Krisenstäbe zusammengelegt haben.«
   »Du musst ja auch nicht alles wissen. Du bist Biologe.«
   »Hat dich jemals einer zu den Walattacken interviewt?«
   »Es gab Anfragen, die im Sande verliefen. Dich wollten sie mehrfach im Fernsehen haben.«
   »Ach nein! Und warum hat mich niemand …«
   »Leon.« Ford klang noch müder als am Vormittag. »Was soll ich sagen? Li hat alles abgeblockt. Vielleicht ist das gut so. Sobald du einen staatlichen oder militärischen Stab unterstützt, wird von dir erwartet, das Maul zu halten. Alles, was du tust, unterliegt der Geheimhaltung.«
   »Und warum können wir beide uns dann ungehindert austauschen?«
   »Weil wir im selben Boot sitzen.«
   »Aber diese Generalin erzählt Mist! Das von der Barrier Queen zum Beispiel …«
   »Leon.« Ford gähnte. »Warst du dabei, als es passierte?«
   »Fang jetzt nicht so an.«
   »Tue ich gar nicht. Ich zweifle ebenso wenig wie du daran, dass es sich exakt so zugetragen hat, wie dein Mr. Roberts von Inglewood sagt. Trotzdem, überleg mal: eine Invasion von Muscheln. Komische Tierchen, wissenschaftlich nicht beschrieben. Ominöser Glibber. Ein Wal springt auf eine Trosse. Das alles zusammen ergibt deinen Barrier-Queen -Vorfall — ach ja, nicht zu vergessen, dass dir im Dock irgendwas ins Gesicht geflatscht und abgehauen ist und Fenwick und Oliviera Glibberzeug in Walgehirnen vorfinden. Willst du das so in aller Öffentlichkeit breittreten?«
   Anawak schwieg.
   »Warum ist Inglewood nicht für mich erreichbar?«, fragte er schließlich. »Keine Ahnung.« »Irgendwas musst du doch wissen. Du bist Wissenschaftlicher Leiter des Kanadischen Stabs.«
   »Klar! Und darum legen sie mir stapelweise Dossiers auf den Tisch. Mann, Leon, ich weiß es nicht! Sie halten uns kurz.«
   »Inglewood und der Krisenstab sitzen auch in einem Boot.«
   »Prima. Wir können stundenlang darüber diskutieren, aber ich würde gerne fertig werden mit den verdammten Videos, und es wird länger dauern, als ich dachte. Einer unserer Leute hat sich eben mit der Scheißerei ins Bett gelegt. Herzlichen Glückwunsch. Vor heute Nacht können wir uns gar nichts ansehen.«
   »Mist«, fluchte Anawak.
   »Pass auf, ich ruf dich an, okay? Oder Licia, falls du ein Nickerchen …«
   »Ich bin erreichbar.«
   »Sie macht sich übrigens gut, findest du nicht?«
   Natürlich machte sie sich gut. Sie war so engagiert, wie man es sich überhaupt nur wünschen konnte.
   »Ja«, brummte Anawak. »Nicht übel. Kann ich irgendwas tun?«
   »Nachdenken. Vielleicht machst du einen Spaziergang oder fährst ein paar Nootka-Häuptlinge besuchen.« Ford lachte meckernd. »Die Indianer wissen bestimmt was. Wär doch toll, wenn sie dir plötzlich erzählen, das alles sei vor tausend Jahren schon mal passiert.«
   Witzbold, dachte Anawak.
   Er beendete das Gespräch und starrte in den laufenden Fernseher.
   Nach einigen Minuten begann er im Raum auf und ab zu laufen. Sein Knie pochte, aber er lief weiter, als wolle er sich dafür bestrafen, nicht voll einsatzfähig zu sein.
   Wenn es so weiterging, würde er in Paranoia verfallen. Jetzt schon beschlich ihn der Verdacht, dass ihn jeder zu umgehen versuchte. Niemand rief ihn an und erzählte ihm etwas, sofern er nicht danach fragte. Sie behandelten ihn wie einen Pflegefall. Dabei konnte er nur nicht richtig laufen. Gut, es war ein bisschen viel gewesen in letzter Zeit. Erst aus einem Boot geschleudert zu werden und ein paar Tage später aus einem abstürzenden Flugzeug, okay, okay …
   Das alles war es nicht.
   Er blieb vor den Plastikwalen stehen.
   Niemand versuchte ihn irgendwo herauszuhalten. Kein Mensch behandelte ihn wie einen Kranken. Ford konnte ihm nichts zeigen, solange er nicht das komplette Material gesichtet hatte, und er wollte Anawak nicht damit belasten, ins Aquarium zu kommen und ihm dabei zu helfen. Delaware tat alles, um ihn zu unterstützen. Sie waren rücksichtsvoll, nicht mehr und nicht weniger. Er selber war es, der sich als Versehrten betrachtete und sich nicht leiden konnte.
   Was sollte er tun?
   Wenn du dich im Kreis drehst, dachte er, was machst du dann am besten? Durchbrich den Kreis. Tu etwas, das dich wieder auf geraden Kurs bringt. Etwas, bei dem du nicht die anderen forderst, sondern dich selber. Tu etwas Ungewöhnliches.
   Was konnte er Außergewöhnliches tun?
   Wie hatte Ford gesagt? Er solle ein paar Nootka-Häuptlinge interviewen.
   Die Indianer wissen bestimmt was.
   Wussten sie wirklich etwas? Die Indianer Kanadas hatten über Generationen ihr Wissen aneinander weitergegeben, bis der Indian Act 1885 die Kette der mündlichen Weitergabe durchbrach. Man begann, ihnen ihre Identität abzukaufen, indem man sie dazu brachte, ihre Heimat zu verlassen und ihre Kinder auf die Residential School zu schicken, um sie — wie es hieß — in die Gemeinschaft der Weißen zu integrieren. Der Indian Act war eine Schlange gewesen, doppelzüngig: Integration in etwas Fremdes, eine großzügig ausgestreckte Hand, obwohl man doch integriert war, nämlich in die eigene Gemeinschaft, aber die war der Schlange unlieb gewesen. Immer noch wirkte der Alptraum des Indian Act nach. Seit einigen Jahrzehnten hatten die Indianer zunehmend wieder die Kontrolle über ihr Leben ergriffen. Viele knüpften das Band der Überlieferungen dort an, wo es fast 100 Jahre zuvor zerschnitten worden war, während sich die kanadische Regierung um Wiedergutmachung bemühte, aber von einer Wiederherstellung ihrer Kultur konnte keine Rede sein. Immer weniger Indianer kannten die alten Überlieferungen.
   Wen konnte er fragen?
   Die Alten.
   Anawak humpelte auf die Veranda und sah die Hauptstraße entlang.
   Er pflegte so gut wie keinerlei Kontakt zu den Nootka, den Nuuchah-nulth, wie sie sich selber nannten: Die entlang der Berge leben. Neben den Tsimshian, Gitskan, Skeena, Haida, Kwagiulth und Coast Salish waren die Nootka einer der Hauptclans, welche die Westküste British Columbias bewohnten. Die unterschiedlichen Clans, Stämme und Sprachfamilien ins richtige Verhältnis zu setzen war einem Laien so gut wie unmöglich. Schon hier scheiterten die meisten am Einstieg in die sogenannte indianische Kultur, womit sie ins Reich der regionalen Dialekte und Lebensweisen noch gar nicht vorgestoßen waren, die von Bucht zu Bucht differierten.
   Man konnte Fords Hinweis nur als Scherz auffassen. Eine nette Idee für einen Spielfilm, in dem geheimnisvolle Überlieferungen zur Lösung des Rätsels führten. Das Problem war, dass es die Indianer nicht gab. Um etwas über den Pazifik vor Vancouver Island zu erfahren, machte es grundsätzlich Sinn, sich an die Nootka zu halten, die Indianer des Inselwestens. Vielleicht wurde man fündig. Vielleicht verstrickte man sich aber auch in den Mythen der diversen Stämme, aus denen sich die Nootka zusammensetzten. Jeder dieser Stämme besiedelte sein eigenes Territorium. Dass die Traditionen der Nootka eng mit der Landschaft Vancouver Islands verbunden waren und die Mythologie tief in der Natur wurzelte, war der Hut, unter den sich alles bringen ließ. Ab da wurde es vertrackt. Grundsätzlich erzählte man sich bei den Nootka Schöpfungsgeschichten, in denen die Figur des Transformers, des Gestaltwandlers, die Hauptrolle spielte. Speziell im Stamm der Dididath kam Wölfen eine große Bedeutung zu, aber es gab natürlich auch Geschichten über Orcas. Wer allerdings im Bemühen, etwas über Orcas zu erfahren, die Wolfsgeschichten außer Acht ließ, beging schon den ersten großen Fehler, weil im Transformer-Zyklus Menschen und Tiere geistig miteinander verbunden waren. Als Folge verfügten nicht nur alle Kreaturen über die Möglichkeit der Transformation in andere Wesen, manche waren zu allem Überfluss auch noch mit einer Doppelnatur ausgestattet: Ging ein Wolf ins Wasser, verwandelte er sich natürlich in einen Killerwal, kam ein Killerwal an Land, wurde er zum Wolf. Orcas und Wölfe waren ein und dieselbe Wesenheit, und Geschichten über Orcas zu erzählen, ohne dabei an Wölfe zu denken, war in den Augen eines Nootka völliger Blödsinn.
   Weil die Nootka aus alter Tradition Walfänger waren, hatten sie unzählige Geschichten über Wale in petto. Aber noch lange nicht jeder Stamm erzählte die gleichen Geschichten, und die gleichen wurden etwas anders erzählt, je nachdem, wohin man kam. Zu den Nootka gehörten im Übrigen auch die Makah — oder auch nicht, wie einige meinten, zumindest sprachen beide Wakashan — , die neben den Eskimos als einziger Stamm Nordamerikas ein vertragliches Recht auf Walfang hatten und derzeit für Diskussionsstoff sorgten, weil sie nach fast einem Jahrhundert Fangabstinenz wieder davon Gebrauch machen wollten. Die Makah lebten nicht auf Vancouver Island, sondern auf dem gegenüberliegenden nordwestlichen Zipfel des Staates Washington. In ihren Mythen gab es diverse Geschichten über Wale, die sich auch bei den Nootka auf der Insel fanden. Was hingegen die Beweggründe eines Wals anging, sein Denken und Fühlen, seine Absichten, hatte jeder seine eigene Betrachtungsweise. Wie auch anders bei einem Wesen, das man nicht einfach als Wal kannte, sondern als iihtuup, als ›Großes Mysterium‹.
   Tu etwas Außergewöhnliches.
   Nun, außergewöhnlich war es allemal, die Indianer zu Rate zu ziehen. Ob es außergewöhnlich viel brachte, würde sich zeigen.
   Anawak grinste säuerlich. Ausgerechnet er.
   Für jemanden, der seit zwei Jahrzehnten in der Gegend von Vancouver lebte, wusste er wenig über die hiesigen Indianer, weil er im Grunde nichts wissen wollte. Nur hin und wieder überkam ihn eine unbestimmte Sehnsucht nach ihrer Welt. Das Gefühl war ihm jedes Mal peinlich, sodass er es niederkämpfte, bevor es an Größe gewinnen konnte. Unterm Strich war er, den Delaware für einen Makah hielt, denkbar ungeeignet, sich in einheimische Mythen zu versenken.
   Und Greywolf war es noch viel weniger.
   Greywolf ist jämmerlich, dachte er voller Erbitterung. Kein Indianer läuft heute noch mit einem läppischen Wildwest-Nachnamen herum. Die Chiefs der Stämme hießen Norman George oder Walter Michael oder George Frank. Keiner nannte sich John Two Feathers oder Lawrence Swimming Whale. Nur ein hirnloser Angeber wie Jack O’Bannon leistete sich diese Kinderbuchromantik. Ausgerechnet Jack, der das Wort Indianer auf der Stirn stehen hatte, war zu blöde, wenigstens wie ein richtiger Indianer zu heißen.
   Greywolf war ein Ignorant!
   Und er selber?
   Wir schenken uns nichts, dachte er verdrossen. Der eine sieht aus wie ein Indianer und weist alles Indianische von sich. Der andere ist keiner und versucht mit aller Gewalt, einer zu sein. Wir sind beide Ignoranten.
   Jeder eine lächerliche Figur. Zwei Versehrte.
   Dieses verdammte Knie! Es machte ihn nachdenklich. Er wollte nicht nachdenken! Er brauchte keine Alicia Delaware, die ihn mit altkluger Studentenmiene den Weg zurückstieß, den er gekommen war.
   Wen konnte er fragen?
   George Frank!
   Das war einer der Chiefs, die er kannte. Man war ja nicht aus der Welt. Weder Weiße noch Indianer pflegten außerhalb der offiziellen Zusammenkünfte im Job und bei einem gelegentlichen Bier ausgiebigen Kontakt, aber man hatte auch nichts gegeneinander. Es herrschte Koexistenz, Zwei Welten, die einander in Frieden ließen. Dennoch entstanden hin und wieder Freundschaften. George Frank war weniger als ein Freund, aber immerhin eine Bekanntschaft: ein netter Kerl und außerdem taayii hawil der Tla-o-qui-aht, eines Nootka-Stammes auf dem Gebiet um Wickaninnish. Ein hawil war ein Chief, ein Häuptling, der taayii hawil sogar noch etwas mehr, der oberste Chief sozusagen. Mit den taayii hawiih war es ein bisschen wie mit dem englischen Königshaus. Ihr Rang war durch die Erbfolge festgelegt. Im Alltag wurden die meisten Stämme mittlerweile von gewählten Chiefs regiert, aber die Erbhäuptlinge erfreuten sich dennoch höchster Achtung.
   Anawak überlegte. Im Norden der Insel nannten sie die obersten Chiefs taayii hawiih, im Süden taayii chaachaabat. Er wollte sich nicht lächerlich machen. Wahrscheinlich war George Frank eher taayii chaachaabat, aber wer zum Teufel sollte sich das merken?
   Besser, indianische Ausdrücke zu meiden.
   Er könnte George Frank besuchen. Es war nicht weit. Frank wohnte unweit des Wickaninnish Inn. Je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Gedanke.
   Anstatt auf Fords Anruf zu warten, konnte er den Kreis durchbrechen und sehen, wohin es ihn führte. Er blätterte im Telefonbuch nach Franks Nummer und rief ihn an.
   Der taayii hawiih war zu Hause. Er schlug vor, gemeinsam am Fluss spazieren zu gehen.
   »Du bist also gekommen, um etwas über die Wale zu erfahren«, sagte Frank, als sie eine halbe Stunde später unter dicht belaubten Riesenbäumen hindurchgingen.
   Anawak nickte. Er hatte Frank erklärt, warum er hier war. Der Chief rieb sich das Kinn. Er war ein kleiner Mann mit knittrigem Gesicht und freundlichen dunklen Augen. Sein Haar war ebenso schwarz wie das von Anawak. Unter seiner Windjacke trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift Salmon Corning Home.
   »Du erwartest jetzt hoffentlich keine Indianerweisheiten von mir?«
   »Nein.« Anawak war froh über diese Antwort. »John Ford hatte die Idee.«
   »Welcher?« Frank lächelte. »Der Regisseur oder der Direktor des Vancouver Aquarium?«
   »Der Regisseur ist, glaube ich, tot. Wir versuchend halt an allen Fronten. Und sei es nur, dass es in irgendeiner eurer Geschichten etwas gibt, das auf ähnliche Vorfälle hindeutet.«
   Frank wies auf den Fluss, an dessen Ufer sie entlangwanderten. Das Wasser bahnte sich gurgelnd seinen Weg. Es trieb Geäst und Blätter mit sich. Der Fluss entsprang in den rauen Hochgebirgslandschaften und war teilweise versandet.
   »Da hast du deine Antwort«, sagte er.
   »Im Fluss?«
   Frank grinste. »Hisbuk ish ts’awalk.«
   »Okay. Also doch Indianerweisheiten.«
   »Nur eine. Ich dachte, du kennst sie.«
   »Ich kann eure Sprache nicht. Hier und da mal ein paar Brocken aufgeschnappt. Das war’s.«
   Frank musterte ihn einige Sekunden.
   »Na ja, es ist der Kerngedanke fast aller indianischen Kulturen. Die Nootka reklamieren ihn für sich, aber ich schätze, anderswo sagen die Menschen dasselbe in anderen Worten: Alles ist eins. Was mit dem Fluss passiert, passiert mit den Menschen, den Tieren, dem Meer. Was einem geschieht, geschieht allen.«
   »Stimmt. Andere nennen es Ökologie.«
   Frank bückte sich und zog einen losen Ast ans Ufer, der sich im Wurzelgestrüpp entlang des Flusses verfangen hatte.
   »Was soll ich dir erzählen, Leon? Wir wissen nichts, was du nicht auch weißt. Ich kann gerne für dich die Ohren spitzen. Ich rufe ein paar Leute an. Es gibt viele Lieder und Legenden. Aber ich kenne keines, das euch weiterhelfen würde. Ich meine, in allen unseren Überlieferungen wirst du exakt das finden, wonach du suchst, und genau da liegt das Problem.«
   »Ich verstehe dich nicht.«
   »Na ja, wir sehen Tiere etwas anders. Die Nootka haben nie einfach das Leben eines Wals genommen. Der Wal hat sein Leben geschenkt, das ist ein bewusster Akt, verstehst du? Im Glauben der Nootka ist sich die ganze Natur ihrer selbst bewusst, ein großes, miteinander verflochtenes Bewusstsein.« Er ging einen morastigen Pfad entlang. Anawak folgte ihm. Der Wald öffnete sich zu einer großen, kahl geschlagenen Fläche. »Schau dir das an, eine Schande. Der Wald ist abgeholzt, Regen, Sonne und Wind erodieren den Boden, und die Flüsse verkommen zu Kloaken. Sieh es dir an, wenn du wissen willst, was die Wale umtreibt. Hishuk ish ts’awalk.«
   »Mhm. Habe ich dir eigentlich je erzählt, worin meine Arbeit besteht?«
   »Du suchst nach Bewusstsein, glaube ich.«
   »Nach Selbstbewusstsein.«
   »Ja, ich erinnere mich. Du hast es erzählt im Verlauf eines schönen Abends. Letztes Jahr war das. Ich habe Bier getrunken und du Wasser. Du trinkst immer Wasser, stimmt’s?«
   »Ich mag keinen Alkohol.«
   »Nie welchen getrunken?«
   »So gut wie nie.«
   Frank blieb stehen. »Tja, der Alkohol. Du bist ein guter Indianer, Leon. Trinkst Wasser und kommst zu mir, weil du denkst, wir sind im Besitz geheimen Wissens.« Er seufzte. »Wann werden Leute endlich aufhören, einander als Klischees zu behandeln. Die Indianer hatten ein Alkoholproblem und manche haben es immer noch, aber es gibt auch welche, die einfach hin und wieder gerne mal was trinken. Wenn heute ein Weißer einen Indianer bei einem Bier sieht, sagt er sofort, wie tragisch, schrecklich, wir haben die Leute an die Flasche gebracht. Entweder sind wir die armen Verführten oder die Hüter höherer Weisheiten. — Was bist du eigentlich, Leon? Christ?«
   Anawak war nicht sonderlich überrascht. Die wenigen Male, die er mit George Frank zusammengewesen war, waren immer ähnlich verlaufen. Der taayii hawil führte Unterhaltungen scheinbar ziellos, er sprang wie ein Eichhörnchen von einem Thema zum nächsten.
   »Ich bin in keiner Kirche«, sagte Anawak.
   »Weißt du was? Ich habe mich mal mit der Bibel beschäftigt. Voll höherer Weisheit. Fragst du einen Christen, warum es im Wald brennt, wird er dir antworten, Gott manifestiere sich in den Flammen. Er wird auf die alten Überlieferungen verweisen, und da findest du dann tatsächlich einen brennenden Dornbusch. Was meinst du, würde ein Christ auf diese Weise einen Waldbrand erklären?«
   »Natürlich nicht.«
   »Trotzdem wird ihm die Geschichte vom brennenden Dornbusch viel bedeuten, wenn er ein gläubiger Christ ist. Auch die Indianer glauben an ihre Überlieferungen, aber sie wissen sehr genau, welche Schnittmenge diese Geschichten mit der Wirklichkeit aufweisen. Es geht nicht darum, ob etwas so oder so ist, sondern um die Idee davon, wie es ist. In unseren Legenden wirst du alles und gar nichts finden, nichts davon wirst du wörtlich nehmen können, aber alles macht Sinn.«
   »Weiß ich, George. Ich habe einfach nur das Gefühl, wir kommen nicht voran. Wir zermartern uns den Kopf darüber, was die Tiere wild gemacht hat.«
   »Und du glaubst, ihr seid mit eurer Wissenschaft am Ende?«
   »Irgendwie ja.«
   Frank schüttelte den Kopf. »Das seid ihr nicht. Die Wissenschaft ist eine großartige Sache. Die Menschen vermögen unglaublich viel damit. Das Problem ist die Sichtweise. Worauf schaust du, wenn du dein Wissen anwendest? Du schaust auf den Wal, der sich verändert hat. Du erkennst ihn nicht wieder, deinen Freund. Warum? Er ist zum Feind geworden. Was hat ihn dazu bewogen? Hast du ihm etwas angetan? Oder seiner Welt? Aber in welcher Welt lebt ein Wal? Du suchst nach Schaden, der ihm unmittelbar zugefügt wurde, und du findest eine Menge. Da gibt es das sinnlose Abschlachten, die Gewässer werden vergiftet, der Waltourismus gerät aus den Fugen, wir zerstören die Nahrungsgrundlage der Tiere und verschmutzen ihre Welt mit Lärm. Wir nehmen ihnen die Stätten, wo sie ihre Jungen aufziehen — soll nicht in der Baja California eine Salzgewinnungsanlage entstehen?«
   Anawak nickte düster. 1993 hatte die UNESCO die Lagune San Ignacio in der Baja California zum Weltnaturerbe erklärt. Sie war die letzte ursprüngliche und unberührte Geburtslagune der Pazifischen Grauwale und beherbergte zudem eine Vielzahl weiterer vom Aussterben bedrohter Pflanzen— und Tierarten. Ungeachtet dessen baute der Mitsubishi-Konzern dort nun eine Salzgewinnungsanlage, die künftig pro Sekunde über 20000 Liter Salzwasser aus der Lagune pumpen und damit 116 Quadratmeilen Verdunstungspools an Land fluten würde. Das Wasser floss als Abwasser zurück. Kein Mensch wusste, welche Auswirkungen das auf die Wale haben würde. Unzählige Forscher, Aktivisten und ein Konsortium von Nobelpreisträgern protestierten gegen die Anlage, die ein tragischer Präzedenzfall zu werden drohte.
   »Siehst du«, fuhr Frank fort, »das ist die Welt der Wale, wie du sie kennst. Sie leben darin, aber ist diese Welt nicht ungleich mehr als eine Kette von Bedingungen, unter denen sich Wale wohl oder unwohl fühlen? Vielleicht sind gar nicht die Wale das Problem, Leon. Vielleicht sind sie nur der Teil des Problems, den wir sehen.«
 
Aquarium, Vancouver
 
   Während Anawak den Worten des taayii hawil lauschte, sah John Ford doppelt.
   Er hatte zwei Monitore gleichzeitig zu kontrollieren, und das nun schon seit Stunden. Der eine zeigte die Magnetbandaufnahmen der Kamera, mit denen der LIRA Lucy und die anderen Grauwale gefilmt hatte, der andere einen virtuellen Raum, ein Koordinatengefüge aus Linien, in dem ein Dutzend grüner Lichter hingen wie hineingeworfen. Sie wiesen das Rudel aus und veränderten stetig ihre Position. Ziemlich schnell nach seiner Wasserung hatte der Roboter einen Abgleich von Lucys Flukenmuster mit ihren spezifischen Lauten hergestellt, sodass er das Tier alleine dadurch lokalisieren und seine Position bestimmen konnte, die nun als Punkt im Koordinatenraum erschien. Auf diese Weise hatte er Lucy selbst in tiefer Finsternis nicht verlieren können.
   Über den zweiten Monitor liefen die Daten der Sonde, die immer noch im Walspeck steckte: Herzfrequenzen, Tauchtiefen, Positionsdaten, Temperaturerfassung, Druck— und Lichtmessung. Sonde und URA zusammen lieferten ein recht komplettes Bild dessen, was Lucy im Verlauf von 24 Stunden widerfahren war. 24 Stunden im Dasein eines verrückt gewordenen Wals.
   Das Beobachtungslabor bot vier Leuten Platz zur Datenauswertung. Ford und zwei Helfer saßen im Dämmerlicht, die Gesichter beschienen von den Monitoren. Der vierte Platz war leer. Ein harmloser Magen— und Darmvirus hatte das Team reduziert und ihnen eine Nachtschicht eingebrockt.
   Ford langte neben sich, ohne den Blick von den Monitoren zu nehmen, griff in eine Pappschachtel und schob eine Hand voll kalt gewordener Pommes frites in seinen Mund.
   Einen verrückten Eindruck machte Lucy eigentlich nicht.
   In den vergangenen Stunden hatte sie vorwiegend das getan, was die Weidetiere der Ozeane nun mal taten. Sie hatte gefressen, in Gesellschaft eines halben Dutzends erwachsener Artgenossen und zweier heranwachsender Kälber. Jedes Mal war dabei eine Menge Schlamm aufgewirbelt worden, wenn Lucy zwischen Vorhängen aus Seetang auf Grund ging und den weichsandigen Schlick durchpflügte, um Würmer und Flohkrebse herauszufiltern. Sie hatte sich auf die Seite gedreht und mit ihrem schmalen, bogenförmigen Kopf regelrechte Ackerfurchen in den Boden gegraben. Anfangs hatte er fasziniert vor den Bildschirmen gesessen, obwohl es bei weitem nicht die ersten Aufnahmen waren, die er von fressenden Grauwalen sah. Dennoch lieferte der URA Bilder einer ganz neuen Qualität, weil er den Walen folgte, als sei er Teil des Rudels. Vieles war deutlich zu erkennen. Einem Pottwal in die Fressgründe zu folgen hätte geheißen, sich in die finsterste Tiefsee zu begeben. Aber Grauwale liebten es flach. So erblickte Ford nun seit Stunden ein ständiges Wechselspiel zwischen Helligkeit und Halbdämmer. Einige Minuten dümpelte Lucy an der Oberfläche, presste Schlamm durch ihre Barten, sog die Lungen voller Luft, stieß sie aus und sank auf Grund. Dabei kam sie dem Ufer so nahe, dass ein Großteil der Aufnahmen in nicht mal 30 Metern Tiefe zustande gekommen war.
   Ford sah zu, wie die schartigen, marmorierten Körper durchs Sediment robbten, wie sich das Wasser trübte. Der Roboter hatte keinerlei Mühe, den Tieren zu folgen, weil sie eigentlich nirgendwohin schwammen. Sie änderten immer wieder die Richtung, ein paar Meter hierhin, eine kurze Strecke dorthin, aufwärts, abwärts, fressen, aufwärts, abwärts. Ford pflegte zu sagen, Vancouver Island sei die Autobahnraststätte der Wale, an der sie faul rumhingen, und eigentlich traf es das ganz gut.
   Aufwärts, abwärts, fressen.
   Irgendwann wurde es langweilig.
   Einmal tauchten in der Ferne die schwarzweißen Silhouetten einiger Orcas auf, aber sie waren schnell wieder verschwunden. Im Allgemeinen verliefen solche Begegnungen friedlich, obwohl Orcas zu den wenigen ernst zu nehmenden Feinden der Großwale gehörten. Nicht mal vor Blauwalen machten sie Halt. Wenn sie angriffen, dann zu mehreren und immer mit äußerster Brutalität. Sie fraßen Zunge und Lippen der Opfer und ließen sterbende, verstümmelte Kolosse zurück, die langsam dem Meeresboden entgegensanken.
   Fressen, tauchen, aufsteigen.
   Irgendwann schlief Lucy. Zumindest glaubte Ford, dass sie schlief. Gemeinsam mit seinen beiden Assistenten beobachtete er, wie es dunkler wurde, weil der Abend hereinbrach. Ein Schatten blieb, kaum auszumachen gegen den Hintergrund. Lucys Körper, der aufrecht im Wasser hing, langsam nach unten sank und ebenso langsam wieder stieg. Es gab eine ganze Reihe von Meeressäugern, die auf diese Weise ruhten. Alle paar Minuten kamen sie im Halbschlaf an die Oberfläche, atmeten, sanken wieder hinab und schliefen. Bemerkenswerterweise schliefen die Tiere nie länger als fünf bis sechs Minuten, schafften es jedoch, die kurzen Phasen zu einem erholsamen Schlaf aufzusummieren.
   Schließlich wurde es schwarz auf den Monitoren. Nur noch der Koordinatenraum zeigte die Verteilung des Rudels an.
   Nacht.
   Nichts zu sehen und trotzdem hinschauen zu müssen, war besonders öde. Hin und wieder blitzte etwas auf, eine Qualle oder ein Tintenfisch. Ansonsten herrschte biblische Finsternis, während weiterhin Daten über den zweiten Monitor tickerten, Angaben über Lucys Metabolismus und die physikalische Umgebung. Die grünen Punkte bewegten sich träge im virtuellen Raum. Es war keineswegs so, dass alle Tiere des Rudels über Nacht schliefen. Wale ruhten zu unterschiedlichsten Zeiten. Der Datenmonitor wies Höhen— und Tiefenschwankungen auf, die zeigten, dass Lucy und die anderen auch jetzt ihr Tauch— und Fressverhalten einhielten. Je nach Tiefe schwankte die Temperatur um ein halbes Grad. Mehr tat sich nicht. Stetig schlug das Herz des Grauwals, mal langsamer, mal etwas schneller. Die Hydrophone des URA erfassten alle möglichen Unterwassergeräusche, Rauschen und Blubbern, Orcarufe und Buckelwalgesänge, Röhren und Knurren, das ferne Wummern eines Schiffspropellers. Nichts, was man nicht kannte.
   So saß Ford vor seinem schwarzen Monitor und gähnte, bis seine Kiefer knackten.
   Er klaubte die letzten Pommes frites zusammen.
   Seine gekrümmten, fettigen Finger verharrten. Dann ließ er die Fritten wieder los und kniff die Augen zusammen.
   Auf dem Datenschirm tat sich etwas.
   Während der ganzen Zeit hatte die Sonde Tiefen zwischen 0 und 30 Metern angezeigt. Jetzt wies sie 40, plötzlich 50 Meter aus. Lucy veränderte ihren Standort. Sie schwamm aufs offene Meer hinaus und ging dabei tiefer. Die anderen Wale folgten ihr zügig. Kein Herumhängen mehr. Das war Migrationsgeschwindigkeit!
   Wo willst du denn so schnell hin, dachte Ford.
   Lucys Herzschlag verlangsamte sich. Sie tauchte, und zwar rapide. Zu diesem Zeitpunkt enthielten ihre Lungen wohl nur noch zehn Prozent ihres Sauerstoffvorrats, vielleicht sogar weniger. Der Rest war in Blut und Muskeln gespeichert. Eine perfekte Vorratshaltung für große Tiefen.
   Lucy unterschritt 100 Meter. Nicht lebenswichtige Körperbereiche hatte der Wal jetzt vom Kreislauf abgekoppelt. Blutdrucküberschüsse wurden in einem Netz fein verknäulter, äußerst dehnbarer Adern verstaut, Muskel-und Stoffwechselvorgänge ohne Sauerstoffverbrauch abgewickelt. Das Zusammenwirken einer Reihe erstaunlicher Prozesse hatte im Verlauf von Jahrmillionen dafür gesorgt, dass die ehemaligen Landbewohner problemlos über hunderte und tausende Meter zwischen Oberfläche und Tiefe pendeln konnten, während die meisten Fische schon bei 100 Metern Schichtendifferenz in Lebensgefahr gerieten. Lucy sank weiter, 150 Meter, 200 Meter, und entfernte sich dabei konstant vom Festland. »Bill? Jackie?«, sagte Ford über die Schulter zu den beiden Assistenten, ohne sich umzudrehen. »Kommt mal rüber und seht euch das an.« Die Assistenten versammelten sich um die beiden Monitore. »Sie geht runter.« »Ja, ziemlich schnell. Schon drei Kilometer vom Festland entfernt. Das ganze Rudel schwimmt ins offene Meer hinaus.« »Vielleicht wandern sie einfach weiter.« »Aber warum so tief?«
   »Weil nachts das Plankton absinkt, war’s nicht so? Und der Krill. Die ganzen Leckereien verziehen sich nach unten.«
   »Nein.« Ford schüttelte den Kopf. »Das macht für andere Wale Sinn, aber nicht für Bodenfresser. Sie haben keinen Grund …«
   »Seht euch das an! 300 Meter.«
   Ford lehnte sich zurück. Grauwale waren nicht besonders schnell. Durchaus fähig zu einem kurzen Spurt, ansonsten mit zehn Stundenkilometern im oberen Bereich. Solange es keinen Grund zur Flucht gab oder sie auf Wanderschaft gingen, dümpelten sie träge dahin.
   Was trieb die Tiere an?
   Er war nun sicher, anomales Verhalten zu beobachten. Grauwale lebten fast ausschließlich von Bodentieren. Wenn sie wanderten, waren sie nie weiter als zwei Kilometer von der Küste entfernt, meist weit näher dran. Ford wusste nicht, wie ihnen eine Tauchtiefe von 300 Metern bekommen würde. Wahrscheinlich gut. Es war nur einfach ungewöhnlich, dass sich die Grauen tiefer als 120 Meter wagten.
   Sie starrten auf die Bildschirme.
   Plötzlich erstrahlte etwas am unteren Rand des virtuellen Gitterwerks. Ein grüner Blitz, der kurz aufflammte und wieder erlosch.
   Ein Spektrogramm! Die optische Darstellung von Schallwellen.
   Dann noch einmal.
   »Was ist das?«
   »Geräusche! Ein ziemlich starkes Signal.«
   Ford hielt die Aufzeichnung an und ließ das Programm zurückfahren. Sie betrachteten die Sequenz ein zweites Mal.
   »Es ist sogar ein enorm starkes Signal«, sagte er. »Wie von einer Sprengung.«
   »Es gibt hier keine Sprengungen, und außerdem würden wir eine Sprengung hören. Das hier ist Infraschall.«
   »Weiß ich auch. Ich sagte ja nur, wie von einer …«
   »Da! Da ist es wieder!«
   Die grünen Punkte im Koordinatenraum waren zum Stillstand gekommen. Der starke Ausschlag wiederholte sich ein drittes Mal, dann war er verschwunden. »Sie haben gestoppt.« »Wie tief sind sie?« »360 Meter.« »Unglaublich. Was machen die bloß da unten?«
   Fords Blick wanderte hinüber zum linken Monitor mit der Videoaufzeichnung des URA. Zu dem schwarzen Monitor. Sein Mund öffnete sich und wollte sich nicht mehr schließen.
   »Seht euch das mal an«, flüsterte er.
   Der Monitor war nicht mehr schwarz.
 
Vancouver Island
 
   Anawak empfand Franks Gesellschaft als höchst entspannend.
   Sie schlenderten den Strand zum Wickaninnish Inn entlang. Eine Weile hatten sie über das Umweltprojekt gesprochen, in dem Frank sich engagierte. Eigentlich war der taayii hawil Inhaber eines Restaurants, hineingeboren in eine Familie von Fischern. Aber die Tla-o-quiaht hatten eine Initiative ins Leben gerufen, um die Folgen des Kahlschlags zu mildern. Salmon Coming Home stand für den Versuch, das komplexe Ökosystem des Clayoquot Sound wieder auf seine Ursprünge zurückzuführen. Die Holzindustrie hatte große Teile davon vernichtet. Niemand unter den Tla-o-qui-aht gab sich der Illusion hin, den verschwundenen Regenwald zurückbringen zu können, aber es gab genug anderes zu tun. Dem Kahlschlag war es zuzuschreiben, dass Waldboden nun in der Sonne verdorrte und durch starke Regenfälle abgetragen wurde. Er wurde in Flüsse und Seen gespült, die er zusammen mit Steinen und Resten gefällter Riesenbäume verstopfte, sodass die Lachse keinen Platz mehr zum Laichen fanden und allmählich verschwanden, was wiederum anderen Tieren die Nahrungsgrundlage entzog. Im Restaurationscamp von Salmon Coming Home wurden darum Freiwillige ausgebildet, um Flüsse zu säubern und stillgelegte Straßen und Wege zu durchbrechen, die ihren Lauf blockierten. Entlang der Wasserläufe errichtete man Schutzwälle aus organischem Abfall und bepflanzte sie mit schnell wachsenden Erlen. Langsam brachten die Aktivisten so etwas von dem zurück, was einmal das Gleichgewicht zwischen Wald, Tier und Mensch ausgemacht hatte, mit unermüdlicher Tatkraft und ohne Hoffnung auf einen schnellen Erfolg.
   »Du weißt, dass euch eine Menge Leute anfeinden, weil ihr wieder Wale jagen wollt«, sagte Anawak nach einer Weile.
   »Und du?«, sagte Frank. »Was hältst du davon?«
   »Es ist nicht sehr weise.«
   Frank nickte versonnen. »Da hast du vielleicht Recht. Die Wale sind geschützt, warum sollte man sie jagen. Es gibt auch unter uns viele, die gegen eine Wiederaufnahme des Walfangs sind. Wer weiß schon noch, wie man einen Wal fängt. Wer geht noch hin und unterwirft sich dem?uusimch, der spirituellen Vorbereitung? Andererseits haben wir seit beinahe hundert Jahren keinen Wal mehr gefangen, und wenn wir heute davon reden, sprechen wir von fünf oder sechs Tieren. Das ist eine unbedeutende Quote. Wir sind wenige. Unsere Vorfahren haben von den Walen gelebt. Die Walfänger unterzogen sich monate— und jahrelangen Ritualen. Sie haben ihren Geist gereinigt, bevor sie auf Walfang gingen, um würdig zu sein für das Geschenk des Lebens, das der Wal ihnen machte. Sie haben auch nicht den erstbesten Wal harpuniert, sondern den, der für sie und für den sie bestimmt waren vermittels einer geheimnisvollen Kraft, einer Vision, in der Wal und Fänger einander erkannten. Verstehst du? Es ist diese Spiritualität, die wir erhalten wollen.«
   »Andererseits bringt ein Wal einen Haufen Geld«, sagte Anawak. »Der Fischerei-Manager der Makah hat den Wert eines Grauwals mit einer halben Million US-Dollar veranschlagt. Er hat unverblümt darauf hingewiesen, dass Fleisch und Öl in Übersee hoch geschätzt würden, und damit hat er natürlich Asien gemeint. Im selben Atemzug betont er die wirtschaftlichen Probleme der Makah und die hohe Arbeitslosigkeit. Das ist nicht sehr geschickt. Plump sogar. Von Spiritualität keine Spur.«
   »Auch richtig, Leon. Sieh es, wie du willst, ob die Makah nun aus ehrlicher Liebe zur Tradition oder aus Geldgier wieder jagen wollen — fest steht, dass sie ein verbrieftes Recht nicht wahrnahmen und in dieser Zeit die Weißen die Bestände ausrotteten. Auch nicht gerade aus spirituellen Gründen, oder? Die Weißen waren es, die damit angefangen haben, Leben als Ware zu betrachten. So haben wir nie gedacht. Und jetzt, nachdem sich alle bedient haben, wagt es einer von uns, über Geld zu sprechen, und man fällt über uns her, als würde das Überleben der Natur einzig von uns abhängen. Fällt dir nichts auf? Immer leben die Naturvölker wohl dosiert von etwas, das die Weißen dann verschwenden. Haben sie es verschwendet, reiben sie sich die Augen und wollen es plötzlich schützen. Also schützen sie es vor denen, vor denen es nie geschützt werden musste, und spielen sich auf. Nationen wie Japan und Norwegen sind schuld, wenn weiterhin Wale ausgerottet werden, aber sie dürfen ungehindert hinausfahren und ihre Harpunen verschießen. Wir trugen nie Schuld an der Ausrottung einer Art, aber bestraft werden nun wir. So ist es immer. So ist es auf der ganzen Welt.«
   Anawak schwieg.
   »Wir sind ein ratloses Volk«, sagte Frank. »Vieles hat sich verbessert. Und doch denke ich oft, dass wir in einem Konflikt gefangen sind, den wir kaum alleine werden meistern können. Hatte ich dir erzählt, dass ich nach jedem Fischzug, nach jedem Geschäft, das ich erfolgreich abschließe, nach jedem Fest eine Kleinigkeit abzweige und dem Raben gebe, weil der Rabe immer hungrig ist?«
   »Nein. Das hattest du nicht.«
   »Wusstest du es?«
   »Nein.«
   »Der Rabe ist nicht mal die Hauptfigur der Mythen unserer Insel, da musst du höher hinauf zu den Haida und Tlingit. Bei uns findest du eher die Geschichten von Kánekelak, dem Transformer. Aber auch der Rabe ist uns lieb. Die Tlingit sagen, er spricht für die Armen, so wie es Jesus Christus tat. Also zweige ich ein Stückchen Fleisch oder Fisch ab für den nimmersatten Raben, der einst ein Sohn der Tiermenschen war und von seinem Vater Ashamed in die Rabenhaut gesteckt und Wigyét genannt wurde. Wigyét wurde in die Welt geschickt, nachdem er sein Dorf arm gefressen hatte. Er bekam einen Stein mit auf den Weg, damit er einen Platz habe, um sich auszuruhen, und aus dem Stein wurde das Land, auf dem wir leben. Er stahl durch einen Trick das Sonnenlicht und brachte es auf die Erde. Ich gebe dem Raben, was des Raben ist. Andererseits weiß ich, dass Raben das Resultat eines evolutionsgeschichtlichen Prozesses sind, an dessen Beginn Proteine, Aminosäuren und einzellige Organismen standen. Ich liebe unsere Schöpfungsmythen, aber ich sehe auch fern und lese und weiß, was ein Urknall ist. — Und auch die Christen wissen das und erzählen dennoch in ihren Kirchen von den sieben Tagen der Schöpfung und von den zehn Geboten. Aber sie konnten sich den Luxus eines langsamen Umdenkens leisten und über Jahrhunderte einen Weg finden, Mythologie und moderne Wissenschaft harmonisch zu vereinen. Uns hingegen hat man dies innerhalb kürzester Zeit zugemutet. Wir sind in eine Welt geworfen worden, die nicht unsere war und niemals werden konnte. Nun kehren wir zurück in unsere Welt und stellen fest, dass sie uns fremd geworden ist. Das ist der Fluch der Entwurzelung, Leon. Du bist am Ende nirgendwo mehr heimisch, nicht in der Fremde und nicht in der Heimat. Die Indianer sind entwurzelt worden. Die Weißen tun mittlerweile ihr Bestes, alles wieder gutzumachen, aber wie sollen sie uns helfen, da sie sich selber entwurzelt haben? Sie zerstören die Welt, die sie hervorgebracht hat. Auch sie haben ihre Heimat verspielt. Auf die eine oder andere Weise haben wir das alle.«
   Frank sah Anawak lange an. Dann grinste er wieder sein knitteriges Grinsen. »War das nicht ein schöner, pathetischer Indianervortrag, mein Freund? Komm, lass uns was trinken gehen. Ach, zu dumm — du trinkst ja nicht.«
 

1. Mai

Trondheim, Norwegen
 
   Eigentlich hatten sie sich in der Cafeteria treffen wollen, bevor sie gemeinsam hochgingen zum großen Palaver, aber Lund erschien nicht. Johanson trank einen Kaffee und sah den Zeigern der Uhr hinter der Theke zu, wie sie über das Zifferblatt krochen. Mit ihnen krochen die Würmer, ebenso stoisch und unbeirrbar, ohne innezuhalten. Mit jeder Sekunde bohrten sie sich tiefer ins Eis, jetzt in diesem Moment, ohne dass es eine Möglichkeit gab, sie aufzuhalten.
   Johanson fröstelte.
   Die Zeit verstreicht nicht, sie läuft ab, flüsterte eine Stimme in ihm.
   Der Beginn von etwas.
   Ein Plan. Alles ist gesteuert …
   Abwegiger Gedanke. Wessen Plan? Was planten Heuschrecken, wenn sie die Ernte eines Sommers wegfraßen? Nichts. Sie kamen, und sie hatten Hunger. Was planten Würmer, was planten Algen oder Quallen?
   Was plante Statoil?
   Skaugen war aus Stavanger hergeflogen. Er wollte einen detaillierten Bericht. Wie es aussah, war er ein Stück weitergekommen und drängte nun darauf, die Resultate zu vergleichen. Es war Lunds Idee gewesen, Johanson vorher unter vier Augen zu sprechen, um eine gemeinsame Position zu vertreten, aber nun trank er seinen Kaffee allein.