»Was genau ist seltsam?«
   »Seewespen kommen in Strandnähe vor, da, wo es flach ist. Weit draußen vor der Küste findest du sie kaum. Schon gar nicht an den vorgelagerten Inseln des Great Barrier Reef. Ich hörte aber, da sind sie auch. Bei Velella ist es genau andersrum. Sie gehören normalerweise auf hohe See. Wir wissen bis heute nicht, was sie alle paar Jahrzehnte an die Strände treibt, wir wissen ohnehin wenig über Quallen.«
   »Werden die Strände nicht durch Netze geschützt?«
   Olsen lachte laut auf. »Ja, darauf bilden sie sich mächtig was ein, aber es bringt nichts. Die Quallen bleiben in den Netzen hängen, aber die Tentakel lösen sich ab und treiben durch die Maschen. Dann siehst du sie überhaupt nicht mehr.« Er machte eine Pause. »Warum bist du eigentlich so scharf darauf, das alles zu erfahren? Du weißt doch selber schon eine Menge.«
   »Ja, aber du weißt mehr darüber. Mich interessiert, ob wir es tatsächlich mit Anomalien zu tun haben.«
   »Darauf kannst du wetten«, knurrte Olsen. »Schau mal, das Auftreten von Quallen ist immer an hohe Wassertemperaturen und die Entwicklung des Planktons gebunden. Du weißt ja, wenn es hübsch warm wird, gedeiht Plankton umso besser, und Quallen fressen Plankton, also da hast du dein Einmaleins. Darum treten die Viecher im Spätsommer scharenweise auf und verschwinden ein paar Wochen später wieder. Das ist der Lauf der Dinge. — Warte mal eben.«
   Im Hintergrund war lautes Gebrüll zu hören. Johanson fragte sich, wann Olsens Kinder ins Bett gingen und ob sie es überhaupt jemals taten. Wann immer er in der Vergangenheit mit Olsen telefoniert hatte, war es dort hoch hergegangen.
   Olsen rief etwas von Streit beilegen und vertragen. Es wurde kurzzeitig noch lauter, dann war er wieder am Telefon.
   »Entschuldige. Geschenke. Sie streiten sich drum. Also, wenn du meine Meinung hören willst, entstehen solche Quallenplagen durch die Überdüngung der Meere. Wir sind schuld. Die Überdüngung fördert das Planktonwachstum, und so weiter, und so fort. Wenn dann die Winde westlich oder nordwestlich stehen, haben wir sie hier oben vor der Haustür.«
   »Ja, aber das sind die normalen Invasionen. Wir reden hier von …«
   »Warte. Du wolltest wissen, ob wir es mit einer Anomalie zu tun haben. Die Antwort lautet: ja! Und zwar mit einer, die wir wahrscheinlich nicht als solche erkennen. Hast du Pflanzen zu Hause?«
   »Was? Äh, ja.«
   »Eine Yuccapalme?«
   »Ja. Zwei.«
   »Anomalien. Verstehst du? Die Yuccapalme wurde eingeschleppt, und rate mal, von wem.«
   Johanson verdrehte die Augen.
   »Du fängst jetzt hoffentlich nicht an, von einer Yuccapalmeninvasion zu sprechen. Meine Palmen verhalten sich gemeinhin friedlich.«
   »Das meine ich nicht. Ich meine, wir sind einfach nicht mehr in der Lage zu beurteilen, was natürlich ist und was nicht. 2000 war ich im Golf von Mexiko zu Untersuchungen über Quallenplagen. Riesige Schwärme von dem Gewabbel bedrohten die lokalen Fischbestände. Sie waren in die Laichgründe von Louisiana, Mississippi und Alabama eingefallen und fraßen die Eier und Larven der Fische, und das Plankton fraßen sie ihnen sowieso weg. Den meisten Schaden hat eine Spezies angerichtet, die da überhaupt nichts zu suchen hat: eine australische Qualle aus dem Pazifik. Eingeschleppt.«
   »Invasionsbiologie.«
   »Genau. Sie zerstörten die Nahrungskette und beeinträchtigten den Fischfang. Eine Katastrophe. Ein paar Jahre zuvor drohte im Schwarzen Meer ein ökologisches Desaster, weil während der Achtziger irgendein Handelsschiff in seinem Ballastwasser Lappenrippenquallen eingeschleppt hatte. Auch die gehörten da nicht hin, und das Schwarze Meer war ziemlich konsterniert und wenig später im Arsch. Von jetzt auf gleich tummelten sich da über achttausend Quallen pro Quadratmeter, weißt du, was das heißt?«
   Olsen redete sich in Rage.
   »So, und jetzt die Sache mit den Portugiesischen Galeeren. Sie sind vor Argentinien aufgekreuzt, das ist nicht ihr Gebiet. Mittelamerika ja, auch Peru, vielleicht noch Chile, aber weiter unten? Vierzehn Tote auf einen Schlag! Das klingt nach Attacke. Als seien die Leute überrascht worden. Dann Seewespen. So weit draußen vor der Küste, was tun die da? Als hätte sie jemand da hingezaubert.«
   »Was mich stutzig macht«, sagte Johanson, »ist, dass es sich ausgerechnet um die zwei gefährlichsten Arten handelt.«
   »Ganz recht«, sagte Olsen gedehnt. »Aber jetzt warte mal, wir sind nicht in Amerika, bastel dir keine Verschwörungstheorie zusammen. Es gibt noch eine weitere Erklärung für die Zunahme der Plagen. Einige meinen, El Niño sei schuld, andere sagen, die Erwärmung des Erdklimas. In Malibu haben sie Quallenplagen wie seit Jahrzehnten nicht mehr, vor Tel Aviv sind Riesenapparate aufgetaucht. Erderwärmung, Einschleppung, alles macht Sinn.«
   Johanson hörte kaum noch zu. Olsen hatte etwas gesagt, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging.
   Als hätte sie jemand dort hingezaubert.
   Und die Würmer?
   Als hätte sie jemand dort hingezaubert.
   »… kommen zur Paarung in seichte Gewässer«, sagte Olsen gerade. »Und noch was: Wenn die von ungewöhnlich hohen Aufkommen sprechen, meinen sie nicht Tausende, dann reden sie von Abermillionen. Und sie haben gar nichts unter Kontrolle. Da sind nicht vierzehn Menschen gestorben, sondern weit mehr, das garantiere ich dir.«
   »Mhm.«
   »Hörst du mir überhaupt noch zu?«
   »Natürlich. Weit mehr. Ich glaube, jetzt versteigst du dich in Verschwörungstheorien.« Olson lachte. »Quatsch. Aber es sind Anomalien, ja.
   Oberflächlich betrachtet hat es den Anschein eines zyklisch auftretenden Phänomens, aber ich halte es für etwas anderes.«
   »Das sagt dir dein Bauch?«
   »Mein Bauch sagt, ich hätte heute Abend Rinderroulade gegessen. Er ist zu nichts anderem mehr in der Lage. Nein, das sagt mein Kopf.«
   »Gut. Danke. Ich wollte nur deine Meinung hören.«
   Er überlegte. Sollte er Olsen von den Würmern erzählen? Aber das ging ihn nichts an. Wahrscheinlich war Statoil nicht sonderlich erpicht darauf, das Thema zu diesem Zeitpunkt in der Öffentlichkeit wiederzufinden, und Olsen redete ein bisschen viel.
   »Sehen wir uns morgen zum Mittagessen?«, fragte Olsen.
   »Ja. Gerne.«
   »Ich werde mal schauen, ob ich noch mehr über die Sache rauskriegen kann. Man hat so seine Quellen über Quallen.« Er lachte laut, entzückt von seinem eigenen Kalauer.
   »Gut«, sagte Johanson. »Bis morgen.«
   Er legte auf. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er Olsen auch nach den verschwundenen Schiffen hatte fragen wollen. Aber er mochte kein weiteres Mal anrufen. Morgen würde er genug erfahren.
   Er fragte sich, ob ihn die Quallenplagen ebenso elektrisiert hätten ohne das Wissen um diese Würmer.
   Nein. Wahrscheinlich nicht. Es waren nicht die Quallen. Es waren die Zusammenhänge. Falls es welche gab.
   Am nächsten Morgen schaute Olsen in seinem Büro vorbei, kaum dass Johanson eingetroffen war. Auf der Fahrt zur NTNU hatte er Nachrichten gehört und nicht mehr erfahren, als er schon wusste: In verschiedenen Teilen der Welt wurden Menschen und Boote vermisst. Spekulationen gab es zur Genüge, eine echte Erklärung lieferte niemand.
   Johansons erste Vorlesung war um zehn. Reichlich Zeit, neu hereingekommene E-Mails abzufragen und die Post zu sichten. Draußen goss es in Strömen. Der Himmel überzog Trondheim mit bleiernem Grau. Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein und verzog sich mit einem Becher Kaffee hinter seinen Schreibtisch, um in Ruhe wach zu werden, als Olsen den Kopf zur Tür reinsteckte.
   »Irre, was?«, sagte er. »Es reißt nicht ab.«
   »Was reißt nicht ab?«
   »Na, eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Hörst du denn überhaupt keine Nachrichten?«
   Johanson musste sich kurz sammeln. »Du meinst die verschwundenen Boote? Deswegen wollte ich dich ohnehin fragen. Ich hab’s nur gestern vor lauter Quallen vergessen.«
   Olsen schüttelte den Kopf und kam ganz herein. »Ich gehe recht in der Annahme, dass du mir einen Kaffee anbieten willst«, sagte er, während er sich interessiert umsah. Zu Olsens gleichermaßen nützlichen wie anstrengenden Eigenschaften gehörte seine Neugier.
   »Nebenan«, sagte Johanson.
   Olsen lehnte sich durch die offene Verbindungstür ins Nebenbüro und orderte lautstark einen Kaffee. Dann setzte er sich und ließ weiterhin seine Blicke schweifen. Die Sekretärin kam herein, stellte knallend einen Becher auf den Schreibtisch und bedachte Olsen mit einem vernichtenden Blick, bevor sie wieder nach nebenan ging.
   »Was hat sie denn?«, wunderte sich Olsen.
   »Ich hole mir den Kaffee immer selber«, sagte Johanson. »Die Kanne steht gleich nebenan, Milch, Zucker, Tassen.«
   »Empfindlich, die Dame, was? Tut mir Leid. Ich bringe ihr kommende Woche selbst gebackene Kekse mit. Meine Frau backt tolle Kekse.« Olsen schlürfte vernehmlich. »Du hast tatsächlich keine Nachrichten gehört, was?«
   »Doch, im Auto auf der Hinfahrt.«
   »Vor zehn Minuten kam eine Sondermeldung auf CNN. Du weißt ja, ich hab den kleinen Fernseher im Büro, er läuft den ganzen Tag.« Olsen beugte sich vor. Das Licht der Deckenbeleuchtung spiegelte sich in seiner beginnenden Glatze. »Vor Japan ist ein Gastanker in die Luft geflogen und gesunken. Zur gleichen Zeit sind in der Malakkastraße zwei Containerschiffe und eine Fregatte kollidiert. Eines der Containerschiffe sinkt, das andere ist manövrierunfähig, und auf der Fregatte brennt es. Eine Militärfregatte. Es hat eine Explosion gegeben.«
   »Meine Güte.«
   »Und das am frühen Morgen, was?«
   Johanson wärmte die Hände an seinem Becher.
   »Was die Malakkastraße angeht, wundert mich nichts«, sagte er. »Erstaunlich, dass da nicht noch mehr passiert.«
   »Ja, aber es ist doch ein irrer Zufall, oder?«
   Drei Meerengen konkurrierten um den Titel der meistbefahrenen Wasserstraße der Welt, der Ärmelkanal, die Straße von Gibraltar und die Malakkastraße, die Teil des Seewegs von Europa nach Südostasien und Japan war. Das Problem der Welthandelsschifffahrt bestand unter anderem in der Bedeutung solcher Meerengen. Allein in der Malakkastraße verkehrten an einem einzigen Tag rund 600 große Tanker und Frachtschiffe. An manchen Tagen konnte es geschehen, dass bis zu 2000 Schiffe das Gewässer zwischen Malaysia und Sumatra passierten, das zwar 400 Kilometer lang, an seiner schmälsten Stelle aber nur siebenundzwanzig Kilometer breit war. Indien und Malaysia insistierten darauf, die Tankerkapitäne sollten auf die weiter südlich gelegene Straße von Lombok ausweichen, stießen indes auf taube Ohren. Der Umweg verringerte den Profit. So blieb es dabei, dass sich rund fünfzehn Prozent des gesamten Welthandels durch die Malakkastraße und die benachbarten Meerengen drängte.
   »Weiß man denn, was da passiert ist?«
   »Nein. Kam ja erst vor wenigen Minuten.«
   »Schrecklich.« Johanson trank einen Schluck. »Was ist das überhaupt für eine Geschichte mit den verschwundenen Booten?«
   »Was? Das weißt du auch nicht?«
   »Ich würde sonst kaum fragen«, sagte Johanson etwas gereizt.
   Olsen beugte sich vor und senkte die Stimme.
   »Offenbar verschwinden seit längerem Schwimmer und kleine Fischerboote vor Südamerika. Pazifikseite. Es ist kaum darüber berichtet worden, jedenfalls nicht in Europa. Angefangen hat das Ganze wohl in Peru. Erst verschwand ein Fischer, und sie fanden das Boot Tage später. Es trieb auf hoher See, ein Binsenboot, nichts Großes. Sie dachten, er sei vielleicht von einer Welle ins Meer gespült worden, aber seit Wochen ist das Wetter in der Region ganz manierlich. Danach passierten solche Dinge am laufenden Band. Schließlich verschwand ein kleiner Trawler.«
   »Warum hat man nichts davon gehört, um Himmels willen?«
   Olsen breitete die Hände aus. »Weil man so was da nicht gerne an die große Glocke hängt. Der Tourismus ist zu wichtig. Außerdem findet es weit weg in Gegenden statt, wo viele braune Menschen mit schwarzen Haaren leben, die für uns alle gleich aussehen.«
   »Über die Quallen haben sie auch berichtet. Das ist auch weit weg.«
   »Ich bitte dich! Das ist ja wohl ein Unterschied. Da sind aufrechte amerikanische Touristen gestorben und ein Deutscher und was weiß ich. Jetzt ist vor Chile eine norwegische Familie verschwunden. Sie sind mit einem Fischerboot rausgeschippert unter Leitung des ortsansässigen Veranstalters. Hochseeangeln. Zack, weg! Norweger, Herrgott, wertvolle blonde Menschen, darüber muss man doch berichten.«
   »Schon gut, ich hab’s kapiert.« Johanson lehnte sich zurück. »Und es sind keine Funksprüche durchgegeben worden?«
   »Nein, Sherlock Holmes. Einige Male SOS. Das war’s. Bei den meisten der verschwundenen Boote erschöpfte sich die bordeigene Hightech im Außenborder.«
   »Kein Sturm?«
   »Herrgott, nein! Nichts, was Boote kentern lässt.«
   »Und was passiert da vor Westkanada?«
   »Diese Schiffe, die angeblich kollidiert sind? Keine Ahnung. Irgendwer meinte, sie seien mit einem übellaunigen Wal zusammengerasselt. Was weiß ich? Die Welt ist mysteriös und grausam, und du bist auch ein bisschen rätselhaft mit deinen Fragen. Gib mir noch einen Kaffee … nein, warte, ich hole mir selber einen.«
   Olsen setzte sich in Johansons Büro fest wie Hausschwamm. Als er endlich genug Kaffee getrunken hatte und ging, sah Johanson auf die Uhr. Bis zur Vorlesung blieben ihm noch wenige Minuten.
   Er rief Lund an.
   »Skaugen hat Kontakt zu anderen Explorationsgesellschaften aufgenommen«, sagte sie. »Weltweit. Er will wissen, ob sie mit ähnlichen Phänomenen konfrontiert werden.«
   »Mit Würmern?«
   »Genau. Er vermutet übrigens, dass die Asiaten mindestens so viel über die Viecher wissen wie wir.«
   »Wieso das?«
   »Erinnere dich deiner Worte. Asien versucht sich im Abbau von Methanhydraten. Hat dir das nicht dein Mann in Kiel erzählt? Skaugen hat diesen Firmen auf den Zahn gefühlt.«
   An sich keine schlechte Idee, dachte Johanson. Skaugen hatte eins und eins zusammengezählt. Wenn die Polychäten tatsächlich so wild auf Hydrat waren, mussten sie vor allem dort aufgefallen sein, wo der Mensch seinerseits wild auf Methan war. Andererseits …
   »Die Asiaten werden es Skaugen kaum auf die Nase binden«, sagte er. »Sie werden es ebenso halten wie er.«
   Lund schwieg einen Moment. »Du meinst, Skaugen würde es denen auch nicht sagen?«
   »Vielleicht nicht in der Tragweite. Und nicht im Augenblick.«
   »Was wäre die Alternative?«
   »Na ja.« Johanson suchte nach den geeigneten Worten. »Ich will euch nichts unterstellen, aber nehmen wir mal an, jemand kommt auf die Idee, den Bau einer Unterwasserfabrik zu forcieren, obwohl da irgendwelches unbekanntes Zeugs rumkrabbelt.«
   »Tun wir nicht.«
   »Nur angenommen.«
   »Du hast doch gehört, Skaugen ist deinem Rat gefolgt.«
   »Das ehrt ihn. Aber hier geht es um Geld, oder? Man könnte sich auf den Standpunkt stellen und sagen: Würmer? Wissen wir nichts von. Haben wir nie gesehen.«
   »Und trotzdem bauen?«
   »Es muss ja nichts passieren. Und wenn doch — ich meine, man kann jemanden für technische Mängel haftbar machen, aber doch nicht für Methan fressendes Viehzeug. Wer will hinterher nachweisen, dass man im Vorfeld je auf Würmer gestoßen ist?«
   »Statoil würde so was nicht vertuschen.«
   »Lassen wir euch mal beiseite. Für die Japaner beispielsweise wäre ein funktionierender Methanexport einem Ölboom gleichzusetzen. Mehr als das! Sie würden unermesslich reich werden. Glaubst du, die Asiaten spielen in der Sache mit offenen Karten?«
   Lund zögerte. »Nein.«
   »Und ihr?«
   »Das hilft uns jetzt nicht weiter. Wir müssen es von denen erfahren, bevor sie es von uns erfahren. Wir brauchen unabhängige Beobachter. Leute, die man nicht mit Statoil in Verbindung bringt. Zum Beispiel …« Sie schien zu überlegen. Dann sagte sie: »Könntest du dich nicht ein bisschen umhören?«
   »Was, ich? Bei Ölgesellschaften?«
   »Nein, bei Instituten, Universitäten, bei Leuten wie bei deinen Kielern. Wird nicht weltweit in Sachen Methanhydrate geforscht?«
   »Schon, aber …«
   »Und bei Biologen. Meeresbiologen! Hobbytauchern! Weißt du was?«, rief sie begeistert. »Vielleicht übernimmst du einfach diesen ganzen Part. Vielleicht richten wir ein Ressort für dich ein. Ja, das ist gut, ich rufe Skaugen an und bitte ihn um ein Budget! Wir könnten …«
   »He. Mal langsam.«
   »Es würde sicher gut bezahlt, abgesehen davon, dass du damit nicht viel Arbeit hättest.«
   »So was bedeutet eine Scheißarbeit. Ihr könnt das genauso gut machen.«
   »Es wäre besser, wenn du es übernimmst. Du bist neutral.«
   »Ach, Tina.«
   »In der Zeit, die wir hier diskutieren, hättest du schon dreimal mit dem Smithsonian Institute telefonieren können. Bitte, Sigur, es wäre einfach … Versteh doch, wenn wir da als Konzern mit vitalen Interessen auftreten, hängen uns gleich tausend Umweltschutzorganisationen im Nacken. Die warten doch nur drauf.«
   »Aha! Ihr habt nämlich wohl ein Interesse daran, es untern Teppich zu kehren.«
   »Du bist ein blöder Arsch.«
   »Mitunter.«
   Lund seufzte. »Was sollen wir denn deiner Ansicht nach tun? Meinst du, alle Welt würde uns nicht sofort das Schlimmste unterstellen? Ich schwöre dir, Statoil wird nichts unternehmen, bevor wir nicht Klarheit über die Rolle dieser Würmer haben. Aber wenn wir offiziell an zu viele Türen klopfen, macht das die Runde. Dann geraten wir dermaßen in den Fokus, dass wir keinen Finger mehr rühren können.«
   Johanson rieb sich die Augen. Dann sah er auf die Uhr.
   Zehn durch. Seine Vorlesung.
   »Tina, ich muss Schluss machen. Ich rufe dich später an.«
   »Kann ich Skaugen sagen, du machst mit?«
   »Nein.«
   Schweigen.
   »Okay«, sagte sie schließlich mit kleiner Stimme.
   Es klang, als werde sie zur Schlachtbank geführt.
   Johanson atmete tief durch. »Darf ich’s mir wenigstens durch den Kopf gehen lassen?«
   »Ja. Natürlich. Du bist ein Schatz.«
   »Ich weiß. Genau das ist mein Problem. Ich rufe dich an.«
   Er packte seine Unterlagen zusammen und hastete zum Hörsaal.
 
Roanne, Frankreich
 
   Zur gleichen Zeit, als Johanson in Trondheim seine Vorlesung begann, begutachtete Jean Jérôme rund zweitausend Kilometer weiter mit kritischem Blick zwölf bretonische Hummer.
   Jérôme schaute grundsätzlich kritisch. Die permanente Skepsis war er der Adresse schuldig, für die er arbeitete. Das Troisgros erfreute sich als einziges Restaurant Frankreichs seit über 30 Jahren in ungebrochener Folge dreier Michelin-Sterne, und Jérôme wollte nicht in die Geschichte eingehen als derjenige, der daran etwas änderte. Sein Verantwortungsbereich umfasste alles, was aus dem Meer kam. Er war sozusagen der Herr der Fische und seit dem frühen Morgen auf den Beinen.
   Der Tag des Zwischenhändlers, über den Jérôme die Ware bezog, hatte noch weit früher begonnen als seiner, nämlich um 3.00 Uhr in Rungis, einem bis vor wenigen Jahren unbedeutenden Vorort 14 Kilometer außerhalb von Paris, der über Nacht zum Mekka der gehobenen Küche avanciert war. Auf einem Gebiet von vier Quadratkilometern, bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, versorgte Rungis nun diese und andere Großstädte, Händler, Köche und alle, die wahnsinnig genug waren, ihr Leben in einer Küche zu verbringen, mit Nahrung. In Rungis war das ganze Land vertreten. Milch, Sahne, Butter und Käse aus der Normandie, exquisites bretonisches Gemüse, aromatische Früchte aus dem Süden. Austernlieferanten von der Belon, aus Marennes und vom Bassin d’Arcachon und Thunfisch-Fischer von St-Jean-de-Luz waren mit ihrer Fracht in rasender Fahrt über die Autobahn hergedonnert. Thermoswagen mit Schalen— und Krustentieren bahnten sich ihren Weg zwischen Kleinlastern und Privatfahrzeugen. Nirgendwo in Frankreich gelangte man früher an die Köstlichkeiten als hier.
   Qualität war allerdings ein endlicher Faktor. Hummer kamen selbstverständlich aus der Bretagne, aber auch darunter gab es wiederum attraktive und wenig verlockende Exemplare. Kurz, es hatte einiges zu geschehen und zu stimmen, um beispielsweise Jean Jérôme in Roanne zufrieden zu stellen.
   Er nahm die Hummer der Reihe nach auf und drehte sie, um sie von allen Seiten zu betrachten. Je sechs Tiere teilten sich eine große Styroporkiste ausgekleidet mit einer Art Farn. Sie regten sich kaum, aber natürlich lebten sie, wie es sich gehörte. Ihre Scheren waren zusammengebunden.
   »Gut«, sagte Jérôme.
   Es war das höchste Lob, das er zu vergeben hatte.
   Tatsächlich gefielen ihm die Hummer sogar ausnehmend gut. Sie waren eher klein, aber schwer für ihre Größe, mit glänzend dunkelblauem Panzer.
   Bis auf die letzten beiden.
   »Zu leicht«, sagte er.
   Der Fischhändler runzelte die Stirn, nahm einen der Hummer, die Jeromes Beifall gefunden hatten, und einen der Beanstandeten und wog sie in beiden Händen gegeneinander ab.
   »Sie haben Recht, Monsieur«, sagte er bestürzt. »Ich muss mich entschuldigen.« Er stand da wie eine Justitia des Fischmarkts, die Unterarme abgewinkelt, die Hände ausgestreckt. »Aber viel ist es nicht. Eine Kleinigkeit, nicht wahr?«
   »Nein, viel ist es nicht«, sagte Jérôme. »Für eine Fischpinte. Aber wir sind keine Fischpinte.«
   »Es tut mir Leid. Ich kann zurückfahren und …«
   »Machen Sie sich keine Mühe. Dann müssen wir eben erspüren, welcher der Gäste einen kleineren Magen hat.«
   Der Händler entschuldigte sich erneut. Er entschuldigte sich im Hinausgehen, und wahrscheinlich entschuldigte er sich noch auf der Rückfahrt bei sich selber, während Jérôme schon wieder in der prachtvollen Küche des Troigros stand und sich mit den Anforderungen der Abendkarte auseinander setzte. Die Hummer hatte er vorübergehend in einer Wanne mit frischem Wasser zwischengelagert, wo sie apathisch verharrten.
   Eine Stunde verging, dann beschloss Jérôme, die Tiere anzublanchieren. Er hatte einen großen Kessel Wasser aufsetzen lassen. Es empfahl sich, lebende Hummer schnell zu verarbeiten. Die Tiere neigten dazu, sich in Gefangenschaft selber innerlich aufzuzehren.
   Anblanchieren hieß, sie nicht gar zu kochen, sondern nur in siedendem Wasser zu töten. Später, unmittelbar vor dem Servieren, wurden sie dann fertig gegart. Jérôme wartete, bis das Wasser kochte, entnahm die Hummer der Wanne und ließ sie schnell kopfüber hineingleiten. Mit vernehmlichem Quietschen entwich Luft aus den Hohlräumen der Panzerungen. Einen nach dem anderen beförderte er auf diese Weise in den Kessel und sofort wieder heraus. Der neunte, der zehnte Hummer gab sein Leben auf. Jeromes Hand bekam den elften zu fassen — ach, richtig, der war ja leichter! — und entließ ihn ins kochende Wasser. Zehn Sekunden würden reichen. Ohne richtig hinzuschauen hebelte er das Tier mit seiner großen Schaumkelle wieder nach draußen …
   Ein unterdrückter Fluch entfuhr ihm.
   Was um alles in der Welt war mit dem Tier geschehen? Der Panzer war regelrecht auseinander gerissen, eine der Scheren abgesprengt. Nicht zu fassen. Jérôme schnaubte vor Wut. Er legte den Hummer, genauer gesagt dessen derangierte Reste, vor sich auf die Arbeitsplatte und drehte ihn auf den Rücken. Auch die Unterseite war demoliert, und im Innern, wo sich kräftiges Fleisch hätte verbergen müssen, zeigte sich nur ein schmieriger, weißlicher Belag. Fassungslos sah er in den Kessel. Im blubbernden Wasser trieben Stücke und Fäden von etwas, das nicht mal mit viel Phantasie als Hummerfleisch durchging.
   Nun gut. Sie würden nur zehn der Tiere wirklich brauchen. Jérôme kaufte nie zu knapp ein, er war dafür bekannt, die Waage zu halten. Man musste sehr genau wissen, welche Mengen tatsächlich benötigt wurden, sowohl im Interesse der Wirtschaftlichkeit als auch im Hinblick auf Sicherheitsreserven, und soeben ging das Konzept mal wieder auf.
   Ärgerlich war die Sache dennoch.
   Er fragte sich, ob das Tier krank gewesen war. Sein Blick fiel auf die Wanne. Ein Hummer war noch übrig. Der Zweite von den beiden, mit denen er unzufrieden war. Egal. Ab mit ihm in den Topf.
   Ach nein, darin schwamm ja das weiße Zeug.
   Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Das kranke Tier war zu leicht gewesen. Der noch lebende Hummer war ebenfalls zu leicht. Hatte es damit etwas zu tun? Vielleicht, dass die Tiere begonnen hatten, sich selber aufzuzehren, oder dass ein Virus oder Parasit sie innerlich auflöste. Jérôme zögerte. Dann nahm er den zwölften Hummer aus der Wanne und legte ihn vor sich auf die Arbeitsplatte, um ihn zu betrachten.
   Die langen, rückwärts gerichteten Antennen zuckten. Schwach bewegten sich die zusammengebundenen Scheren. Sobald sie ihrem natürlichen Lebensraum entrissen wurden, neigten Hummer zu großer Trägheit. Jérôme stupste das Tier leicht an und beugte sich tiefer darüber. Es bewegte die Beine, als wolle es davonkriechen, verharrte aber auf der Platte. Wo der segmentierte Schwanz in den Rückenpanzer überging, quoll etwas Transparentes hervor.
   Was war das schon wieder?
   Jérôme ging in die Hocke. Er war nun ganz dicht an dem Tier, auf Augenhöhe sozusagen.
   Der Hummer richtete leicht den Oberkörper auf. Eine Sekunde schien er Jérôme aus seinen schwarzen Augen anzusehen. Dann platzte er.
   Der Auszubildende, den Jérôme mit dem Schuppen von Fischen beauftragt hatte, war nur drei Meter entfernt, allerdings verstellte ihm ein schmales, deckenhohes Regal mit Arbeitsutensilien und Gewürzen die Sicht auf den Herd. Darum hörte er zuerst Jeromes markerschütternden Schrei. Zu Tode erschrocken ließ er sein Messer fallen. Er sah Jérôme vom Herd wegtaumeln, die Hände vors Gesicht gepresst, und sprang hinzu. Gemeinsam polterten sie gegen die dahinter liegende Arbeitsfläche. Töpfe schepperten, etwas fiel zu Boden und zerbrach geräuschvoll.
   »Was ist passiert?«, schrie der Lehrling voller Panik. »Was ist geschehen?«
   Andere Köche kamen hinzu. Die Küche war in bestem Sinne eine Fabrik, in der jeder seine Aufgabe hatte. Einer war nur für Wild zuständig, ein weiterer für Saucen, ein dritter für Farcen, wieder einer für Salate und ein anderer für die Pâtisserie, und so fort. Im Nu herrschte rund um den Herd das größte Durcheinander, bis Jérôme die Hände herunternahm und zitternd auf die Arbeitsplatte neben dem Herd zeigte. Aus seinen Haaren tropfte klumpiges, durchsichtiges Zeug. Es hing brockenweise in seinem Gesicht und rann schmelzend in seinen Kragen.
   »Er … er ist explodiert«, keuchte Jérôme.
   Der Lehrling trat näher an die Platte und starrte angewidert auf den zerborstenen Hummer. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges gesehen. Intakt waren einzig die Beine. Die Scheren lagen auf dem Fußboden, der Schwanz sah aus, als sei er mit Hochdruck abgesprengt worden, und der Rückenpanzer klaffte in scharfkantigen Stücken auseinander.
   »Was haben Sie denn mit dem gemacht?«, flüsterte er.
   »Gemacht? Gemacht?«, schrie Jérôme, die Hände mit gespreizten Fingern erhoben, das Gesicht eine Fratze des Ekels. »Ich habe überhaupt nichts gemacht! Er ist geplatzt, das ist er. Geplatzt!«
   Sie brachten ihm Tücher, um sich zu reinigen, während der Lehrling mit spitzen Fingern das Zeug berührte, das überall verteilt war. Was er anfasste, war von enorm zäher, gummiartiger Konsistenz, aber es löste sich schnell auf und floss über die Arbeitsplatte davon. Einem Impuls folgend nahm er ein fest verschraubbares Glas von einem Bord und schaufelte mit einem Esslöffel Brocken der Gallerte hinein, strich noch etwas Flüssigkeit zusammen und ließ sie dazutropfen. Dann verschloss er das Glas, so fest es ging.
   Jérôme zu beruhigen war gar nicht so einfach. Jemand brachte ihm schließlich ein Glas Champagner, und erst danach kriegte sich der Meister halbwegs wieder ein.
   »Räumt das da weg«, befahl er mit erstickter Stimme. »Räumt um Gottes willen diese Sauerei weg. Ich gehe mich waschen.«
   Und er ging. Die Küchenhilfen machten sich unverzüglich daran, Jeromes Arbeitsplatz wiederherzustellen, sie putzten den Herd und alles drum herum, entsorgten die Überreste, reinigten den Kessel, und natürlich kippten sie auch das Wasser in den Ausguss, in dem das Dutzend Hummer die Stunde vor seinem Ableben verbracht hatte. Es trat den Weg jeglichen Wassers in den Untergrund an, gluckerte in die Kanalisation und mischte sich dort mit allem, was eine Stadt abfließen lässt, um es in recycelter Form wieder in sich aufzunehmen.
   Das Glas mit der Gallerte nahm der Lehrling an sich. Er wusste noch nicht, was genau er damit anfangen sollte, also fragte er Jérôme, als dieser mit gewaschenen Haaren und sauberer Kluft wieder in der Küche auftauchte.
   »Es war vielleicht gut, dass du was von dem Zeug aufbewahrt hast«, sagte Jérôme düster. »Der Himmel weiß, was das ist.«
   »Wollen Sie es sehen?«
   »Bewahre, nein! Aber man sollte es untersuchen lassen. Wir schicken es irgendwohin, wo man so was macht. Aber bitte unter Auslassung der Begleitumstände, hörst du? Das alles ist nie geschehen. So etwas geschieht nicht im Troisgros.«
   Die Geschichte verließ tatsächlich nicht die Küche des Restaurants. Und das war gut so, denn es hätte ein falsches Licht auf das Troisgros geworfen. Auch wenn man hier nicht die geringste Schuld an dem Vorfall trug, hätte manch einer genüsslich kolportiert, dass im Troisgros die Hummer in die Luft flogen und mit ominösem Gelee um sich spritzten. Nichts war schlimmer für den Ruf eines Spitzenrestaurants als Zweifel an der Hygiene.
   Der Lehrling beobachtete das Zeug im Glas sehr genau. Nachdem es sich ebenfalls aufzulösen begann, ließ er etwas Wasser hineinlaufen, weil er dachte, es könne nicht schaden. Die Substanz erinnerte ihn — falls überhaupt an irgendetwas — an Quallen, und die überdauerten ja nur im Wasser, weil sie selber aus nichts anderem bestanden. Offenbar war es eine gute Idee. Die Brocken blieben fürs Erste stabil. Das Troisgros führte einige höchst diskrete Telefonate, an deren Ende man das Glas zur Universität ins nahe gelegene Lyon schickte, um den Inhalt untersuchen zu lassen.
   Dort landete es auf dem Schreibtisch von Professor Bernard Roche in der Molekularbiologie. Inzwischen war der Zersetzungsprozess der Gallerte trotz Wasserzusatz weiter fortgeschritten, und kaum noch feste Substanz trieb in dem Glas. Das bisschen, was übrig war, unterzog Roche augenblicklich verschiedenen Tests, jedoch zerflossen die allerletzten Klümpchen, bevor er sie eingehender untersuchen konnte. Roche gelang es lediglich, einige molekulare Verbindungen nachzuweisen, die ihn verblüfften und irritierten. Unter anderem stieß er auf ein hochwirksames Neurotoxin, von dem er allerdings nicht wusste, ob es der Gallerte entstammte oder dem Wasser in dem Glas.
   Dieses Wasser, so viel stand fest, war gesättigt mit organischer Materie und diversen Stoffen. Weil er vorläufig nicht die Zeit hatte, es zu untersuchen, beschloss Roche, den verbliebenen Inhalt des Glases zu konservieren und in den nächsten Tagen einer eingehenderen Analyse zu unterziehen, und das Wasser wanderte in den Kühlschrank.
   Am selben Abend wurde Jérôme krank. Es begann damit, dass er leichte Übelkeit verspürte. Das Restaurant war voll besetzt. Er achtete nicht weiter darauf und folgte der Choreographie der Küche wie gewohnt. Die zehn nicht geplatzten Hummer waren von einwandfreier Qualität, und kein weiterer wurde benötigt. Trotz des unerfreulichen Vorfalls vom Vormittag lief alles wie am Schnürchen, eben wie man es vom Troisgros gewohnt war.
   Gegen zehn nahm Jeromes Übelkeit zu, und außerdem stellte sich leichter Kopfschmerz ein. Kurz darauf bemerkte er an sich Konzentrationsschwächen. Er vergaß, ein Gericht fertig zu stellen und einige Anweisungen zu geben, und der elegante, perfekte Ablauf geriet unmerklich ins Stocken.
   Jean Jérôme war Profi genug, um augenblicklich die Reißleine zu ziehen. Er fühlte sich nun wirklich elend, also legte er die Verantwortung für alles Weitere in die Hände seiner Stellvertreterin, einer aufstrebenden, hoch talentierten Köchin, die ihre Lehrjahre in Paris beim ehrwürdigen Ducasse verbracht hatte, ließ sie wissen, dass er einen kleinen Spaziergang im Restaurantgarten machen wolle, und ging hinaus. Der Garten war direkt der Küche angeschlossen. Er war von ausnehmender Schönheit. Bei mildem Wetter wurden die Gäste dort willkommen geheißen, nahmen ihren Aperitif und die ersten Hors d’œuvres ein, um dann mitten durch die Küche ins Restaurant geführt zu werden, nicht ohne interessante Einblicke zu erhalten und hin und wieder eine kleine Demonstration. Jetzt lag der Garten verlassen da, dezent illuminiert.
   Jérôme ging einige Minuten auf und ab. Von hier konnte er durch die breite Glasfront das rege Treiben in der Küche weiterverfolgen, aber er merkte, dass es ihm schwer fiel, seinen Blick länger als einige Sekunden zu fokussieren. Er atmete schwer und spürte einen lastenden Druck auf der Brust, trotz der frischen Luft. Seine Beine kamen ihm vor wie aus Gummi. Sicherheitshalber ließ er sich an einem der Holztische nieder und dachte über das Geschehnis vom Vormittag nach. Er hatte das Innenleben des Hummers in den Haaren und im Gesicht gehabt. Ganz sicher hatte er irgendetwas eingeatmet, wahrscheinlich war Flüssigkeit in seinen Mund gelaufen, oder er hatte irgendetwas mit der Zunge aufgenommen, als er sich die Lippen leckte.
   Ob es nun der Gedanke an das zerplatzte Tier war oder einfach die Folge seiner plötzlichen Erkrankung, jedenfalls erbrach sich Jérôme mit plötzlicher Heftigkeit in die Zierpflanzen. Noch während er da hing, würgend und keuchend, dachte er, dass es jetzt wohl draußen war, das Zeug. Gut so. Er würde einen Schluck Wasser trinken, und dann würde es ihm bestimmt sehr schnell besser gehen.
   Er stemmte sich hoch. Alles um ihn herum drehte sich. Sein Kopf fühlte sich glühend heiß an, sein Blickfeld verengte sich, und er schaute in eine Spirale. Du musst aufstehen, dachte er. Aufstehen und in der Küche nach dem Rechten sehen. Nichts darf schief gehen. Nicht im Troisgros.
   Mühsam kam er auf die Beine und schlurfte davon, aber er ging in die verkehrte Richtung. Nach zwei Schritten wusste er nicht mehr, dass er in die Küche hatte gehen wollen. Er wusste eigentlich überhaupt nichts mehr, und er sah auch nichts mehr.
   Unter den Bäumen, die den Garten umstanden, brach er zusammen.
 

18. April

Vancouver Island, Kanada
 
   Es nahm kein Ende.
 
   Anawak fühlte seine Augen kleiner und kleiner werden. Er spürte, wie sie sich röteten, wie die Lider aufquollen und sich drum herum Fältchen bildeten, für die er zu jung war. Kurz davor, mit dem Kinn auf die Tischplatte zu knallen, starrte er weiter auf den Bildschirm. Seit der Wahnsinn über die Westküste gekommen war, hatte er kaum etwas anderes getan, als Bildschirme anzustarren, ohne bislang mehr als einen Bruchteil des Materials gesichtet zu haben — Aufzeichnungen, deren Existenz sich einer der bahnbrechendsten Erfindungen in der Verhaltensforschung verdankte:
   Der Tiertelemetrie.
   Ende der siebziger Jahre hatten Forscher eine Methode entwickelt, Tiere auf völlig neuartige Weise zu beobachten. Bis dahin waren nur sehr ungenaue Aussagen über Verbreitungsgebiet und Wanderungsverhalten der Arten möglich gewesen. Wie ein Tier lebte, wie es jagte und sich paarte, welche individuellen Ansprüche und Bedürfnisse es hatte, blieb der Spekulation überlassen. Natürlich unterlagen Tausende von Tieren ständiger Beobachtung. Aber fast immer fand sie unter Bedingungen statt, die keine wirklichen Rückschlüsse auf ihr natürliches Verhalten ermöglichten. Ein Tier in Gefangenschaft tat nun mal nicht, was es in freier Wildbahn tat, ebenso wenig wie ein Häftling in einer Zelle repräsentative Daten über sein Leben als freier Mensch geliefert hätte.
   Selbst dort, wo man Tieren in ihrem angestammten Lebensraum begegnete, blieben die Erkenntnisse unzureichend. Entweder suchten sie augenblicklich das Weite oder kamen gar nicht erst zum Vorschein. Tatsächlich wurde so ziemlich jeder Forscher länger vom Objekt seiner Neugier in Augenschein genommen, als er selber es beobachtete. Andere Spezies, die weniger scheu waren — wie etwa Schimpansen oder Delphine —, richteten ihr Verhalten auf den Beobachter aus, reagierten aggressiv oder neugierig, wurden mitunter kokett und setzten sich in Pose, kurz, sie taten alles, um jeder objektiven Erkenntnis entgegenzuwirken. Hatten sie genug, verschwanden sie im Dickicht, erhoben sich in die Lüfte oder tauchten unter die Wasseroberfläche, wo sie sich endlich so verhielten, wie es ihrer Natur entsprach — nur dass man ihnen dorthin nicht folgen konnte.
   Doch genau diesen Traum hatten die Biologen seit Darwin geträumt: Wie überlebte man als Robbe oder Fisch in den dunklen und kalten Gewässern der Antarktis? Wie erhielt man Einblick in ein Biotop, das von einer geschlossenen Eisdecke überzogen war? Wie sah man die Welt während des Flugs über das Mittelmeer nach Afrika, wenn man nicht in einem Flugzeug saß, sondern auf dem Rücken einer Wildgans? Was widerfuhr einer einzelnen Biene innerhalb von vierundzwanzig Stunden? Wie erhielt man Daten über die Frequenz von Flügelschlägen, über Herzrhythmus, Blutdruck, Fressverhalten, tauchphysiologische Leistungen, Sauerstoffspeicherung und die Folgen anthropogener Einflüsse auf Meeressäuger wie Schiffslärm oder Unterwasserdetonationen?
   Wie folgte man Tieren dorthin, wohin kein Mensch folgen konnte?
   Die Antwort fand sich in einer Technologie, mit deren Hilfe Spediteure die Position ihrer Schwerlaster bestimmen konnten, ohne ihr Büro zu verlassen, und die Autofahrern half, eine Straße in einer völlig fremden Stadt zu finden. Jeder moderne Mensch war mit dieser Technologie vertraut, ohne zu ahnen, dass sie zugleich die Zoologie revolutionierte.
   Telemetrie.
   Schon Ende der Fünfziger hatten amerikanische Wissenschaftler Konzepte entwickelt, um Tiere mit Sonden auszurüsten. Die US Navy begann wenig später mit dressierten Delphinen zu arbeiten, allerdings scheiterten die ersten dieser Programme an der Größe der Sender. Sie waren einfach zu schwer. Was nützte ein Fahrtenschreiber auf dem Rücken eines Delphins, der Aufschluss über dessen natürliches Verhalten liefern sollte, wenn er eben dieses Verhalten beeinflusste? Man drehte sich eine Weile im Kreis, bis die Mikroelektronik den Umschwung brachte. Plötzlich lieferten schokoriegelgroße Fahrtenschreiber und ultraleichte Kameras alle gewünschten Daten direkt aus freier Wildbahn — unbemerkt von ihren Trägern, die mit knapp 15 Gramm Hightech durch Regenwälder spazierten oder unter den Eisschollen des McMurdo Sounds hindurchtauchten. Endlich gaben Grizzlybären, Wildhunde, Füchse und Karibus Aufschluss über ihre Lebensweise, über Paarung, Jagdverhalten und Wanderrouten. Man flog mit Seeadlern und Albatrossen, Schwänen, Gänsen und Kranichen um die halbe Welt. Am vorläufigen Ende der Entwicklung wurden Insekten mit Minisendern ausgerüstet, die gerade mal ein tausendstel Gramm wogen, ihre Betriebsenergie aus Radarwellen bezogen und die Strahlen in doppelter Frequenz zurückwarfen, sodass die Daten noch in über 700 Metern Entfernung klar zu empfangen waren.
   Den Großteil der Messungen bewältigte die satellitengestützte Telemetrie Das System war ebenso einfach wie genial. Die Signale des Tiersenders wurden in den Orbit entsandt und dort von ARGOS, einem Satellitensystem der französischen Raumfahrtorganisation CNES, aufgenommen. Sie fanden ihren Weg zurück zur Betreiberzentrale in Toulouse und zu einer Bodenstation in Fairbanks, USA, von wo sie innerhalb von 90 Minuten an eine Reihe weltweit angeschlossener Institute weitergeleitet wurden — fast so gut wie Echtzeitübertragung.
   Die Erforschung von Walen, Robben, Pinguinen und Meeresschildkröten entwickelte sich schnell zu einem eigenen Bereich der Telemetrie. Sie gewährte Einblick in den faszinierendsten, weil unerforschtesten Lebensraum der Erde. Ultraleichte Fahrtenschreiber speicherten Daten aus beträchtlicher Tiefe, registrierten Temperatur, Tauchtiefe und -dauer, Standort, Schwimmrichtung und Geschwindigkeit. Dummerweise durchdrangen ihre Signale kein Wasser, was die ARGOS-Satelliten gegenüber der Tiefsee zur Blindheit verdammte. Buckelwale etwa, die einen Großteil ihres Lebens vor der Küste Kaliforniens verbrachten, hielten sich höchstens eine Stunde pro Tag an der Wasseroberfläche auf. Während Ornithologen ziehende Störche zugleich beobachten und Daten empfangen konnten, waren die Meeresforscher wie abgeschnitten, sobald die Wale abtauchten. Um sie wirklich zu erforschen, hätte man ihnen mit laufender Kamera zum Grund des Pazifik folgen müssen, aber das schaffte kein Taucher, und U-Boote waren zu langsam und zu unbeweglich.
   Wissenschaftler der University of California in Santa Cruz fanden schließlich die Lösung in Form wenige Gramm schwerer, druckfester Unterwasserkameras. Sie befestigten die Geräte nacheinander an einem Blauwal, einem See-Elefanten, einigen Weddellrobben und schließlich auch an einem Delphin. Innerhalb kürzester Zeit wurden erstaunliche Phänomene offenbar. Wenige Wochen reichten, um das Wissen über Meeressäuger enorm zu erweitern. Alles wäre wunderbar gewesen, hätte man Wale und Delphine so einfach besonden können wie andere Tiere, doch eben dies gestaltete sich schwierig bis unmöglich. Darum lagen längst nicht so viele Aufzeichnungen über den Lebensraum der Wale vor, wie Anawak sich in diesen Stunden gewünscht hätte, und andererseits mehr als genug. Da niemand zu sagen wusste, wonach man Ausschau halten musste, war jede Aufzeichnung wichtig — und damit Tausende Stunden Bild— und Tonmaterial, Messungen, Analysen und Statistiken.
   Projekt Sisyphos, wie John Ford es nannte.
   Wenigstens über Mangel an Zeit konnte sich Anawak nicht beklagen. Davies Whaling Station war rehabilitiert — und geschlossen. Nur noch sehr große Schiffe befuhren das Küstengebiet des kanadischen und nordamerikanischen Westens. Das Desaster vor Vancouver Island hatte sich beinahe zeitgleich von San Francisco bis hinauf nach Alaska abgespielt. Im Verlauf der ersten Angriffswelle waren über hundert kleinere Schiffe und Boote entweder gesunken oder schwer beschädigt worden. Am Wochenende schließlich sank die Zahl der Angriffe, weil sich nun überhaupt niemand mehr hinauswagte, sofern er nicht wenigstens den Kiel einer großen Fähre oder eines Frachters unter sich wusste. Immer noch jagten widersprüchliche Meldungen einander. Auch über die Zahl der Todesopfer gab es kaum verlässliche Angaben. Verschiedene Kommissionen und Krisenstäbe unter nationalem Management hatten ihre Arbeit aufgenommen, was eine geradezu invasive Präsenz von Fluggerät zur Folge hatte — allenthalben knatterten Helikopter die Küste entlang, aus denen Soldaten, zusammengepfercht mit Wissenschaftlern und Politikern, aufs Meer starrten und sich an Ratlosigkeit gegenseitig überboten.
   Der Natur solcher Stäbe folgend hatten die Dezernatsleiter des Regierungsteams begonnen, externe Spezialisten hinzuzuziehen. Das Vancouver Aquarium mit Ford an der Spitze wurde als wissenschaftliches Lagezentrum rekrutiert, in dem sämtliche relevanten Daten zusammenliefen. Angeschlossen waren nahezu jedes Institut und jede Forschungseinrichtung, die sich mit marinem Leben befasste. Für Ford eine erdrückende Bürde. Er nahm eine Arbeit auf, von der er nicht wusste, worin sie eigentlich bestand. Vom Jahrhundertbeben bis zur nuklearen Terrorattacke existierten Schubladen voller Szenarien, aber nicht hierfür. Ford zögerte nicht lange und schlug seinerseits Anawak als Berater vor, der von allen Wissenschaftlern Nordamerikas und Kanadas vermutlich mehr als jeder andere wusste, was einem Wal im Kopf herumging. Denn nur dort konnte die Antwort liegen: Wenn Wale über Intelligenz verfügten — hatten sie dann noch alle Tassen im Schrank? Und wenn nicht, was war mit ihnen passiert?